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ОглавлениеKapitel 2
Wie wir die Realität wahrnehmen
Wir schreiben unsere Lebensgeschichten
Einleitung
In Geschichten interpretieren wir die Ereignisse in unserem Leben. Jeder Einzelne und wir alle gemeinsam erzählen Geschichten, um zu verstehen, was mit uns geschehen ist, und um in diesen Erfahrungen einen Sinn zu erkennen. Das Geschichtenerzählen ist eine Grundlage aller menschlichen Kulturen, und unsere gemeinsamen Geschichten schaffen eine Verbindung zu anderen, die uns das Gefühl gibt, zu einer bestimmten Gemeinschaft zu gehören. Die Geschichten einer bestimmten Kultur prägen die Art, wie ihre Mitglieder die Welt wahrnehmen. Auf diese Weise erfinden wir Geschichten, welche wiederum uns prägen. Aus diesem Grund sind Geschichten ein zentraler Bestandteil individueller und kollektiver menschlicher Erfahrung.
Wir alle haben unsere individuellen Geschichten, die persönlichen Erzählungen unseres Lebens, mit deren Hilfe wir unsere Selbsterkenntnis vertiefen und zu einem besseren Verständnis von uns selbst und unseren Beziehungen zu anderen gelangen. Mit autobiografischen Erzählungen versuchen wir einen Sinn in unser Leben zu bringen – sowohl in das, was uns widerfahren ist, als auch in unser eigenes inneres Erleben, jenes prachtvolle Gewebe einzigartigen, subjektiven Lebensgefühls, das jedem Individuum innewohnt. Indem wir durch das Erforschen der Ereignisse und mentalen Abläufe in unserem Leben lernen, uns selbst besser zu verstehen, werden unsere autobiografischen Geschichten wachsen und sich entwickeln.
Auch Kinder versuchen ihre Erfahrungen zu verstehen und einen Sinn darin zu sehen. Wenn Sie Ihren Kindern die Geschichte eines Erlebnisses erzählen, können Sie ihnen helfen, sowohl die Ereignisse als auch den emotionalen Gehalt der Erfahrung zu verarbeiten. Ein solcher Austausch mit den Kindern kann ihnen sehr dabei helfen, einen Sinn in das Geschehene zu bringen und ihnen Mittel zur Verarbeitung von Erfahrungen an die Hand geben, die sie zu nachdenkenden und einsichtigen Menschen machen. Ohne das emotionale Verständnis einer erwachsenen Bezugsperson kann ein Kind schnell Kummer oder sogar Scham empfinden.
Annika kam im Alter von drei Jahren in Marys Kindergarten. Sie sprach nur Finnisch. Ihre Familie war für zwei Jahre nach Kalifornien gezogen, da der Vater als Gastdozent an der Universität in Los Angeles arbeitete. Als Annika neu in den Kindergarten kam, blieb ihre Mutter so lange bei ihr, bis sie sich in der Umgebung und bei den Erziehern wohl fühlte. Sie war ein sehr nettes und aufgeschlossenes Kind, das gern mit anderen spielte, und die Sprachbarriere war nahezu unbedeutend bei dem Spaß, den die Kinder miteinander hatten.
Ihre Mutter konnte sie schon seit einigen Wochen ohne Schwierigkeiten im Kindergarten lassen, als etwas geschah, das deutlich zeigte, wie wichtig eine Geschichte für ein Kind sein kann, um seinen Kummer zu verarbeiten. Annika hatte den ganzen Morgen fröhlich gespielt, da fiel sie hin und schlug sich das Knie auf. Wie die meisten Kinder nach einem Sturz rief sie weinend nach ihrer Mutter. Bei ihrer Erzieherin konnte sie keinen Trost finden und so war sie weiterhin tiefunglücklich. Die Erzieherin bat die Bürohilfe nach der Mutter zu telefonieren und bemühte sich weiter, Annika zu trösten. Normalerweise hilft es einem Kind sehr, den Ablauf des Ereignisses und die damit verbundenen Gefühle noch einmal zu erzählen, um das Erlebnis zu verstehen und Trost bei einem einfühlsamen Erwachsenen zu finden. Da die Erzieherin jedoch nicht Finnisch sprach und Annika nur sehr wenig Englisch verstand, hatten die Worte der Erzieherin keinen nennenswerten Erfolg. Daher sammelte sie rasch ein paar Requisiten und begann die Geschichte erneut mit Hilfe einiger Puppen und einem Spieltelefon zu erzählen. Eine kleine Puppe stellte Annika dar und wurde von der Erzieherin verwendet, um Annikas Erlebnis nachzuspielen. Das Erzählen einer Geschichte beinhaltet die Beschreibung einer Abfolge von Ereignissen und der Erfahrungen der an diesen Ereignissen Beteiligten. Erst spielte die Puppe, die Annika darstellte, dann fiel sie auf den Boden. Die Erzieherin machte ein das Weinen imitierendes Geräusch. Annika hörte auf zu weinen und sah zu. Die Geschichte ging weiter. Die „Erzieherinnen-Puppe“ sprach sanft mit der Annika-Puppe, und da begann die wirkliche Annika erneut zu weinen. Als die „Erzieherinnen-Puppe“ das Spieltelefon abhob, um die Mama-Puppe anzurufen, hörte Annika wieder auf zu weinen und sah und hörte zu.
Mit Hilfe der Puppen spielte die Erzieherin mehrmals die Geschichte von dem aufgeschlagenen Knie und dem Anruf bei Mama, damit sie zur Schule kommt und Annika abholt. Annika verstand „Mama“ und ihren eigenen Namen und durch die Wiederholung der Geschichte mit den sichtbaren Requisiten begann sie zu verstehen, was geschehen war und was nun weiter geschehen würde. Mit jeder Wiederholung verschwand ihr Kummer mehr und mehr. Nach kurzer Zeit rutschte sie vom Schoß der Erzieherin und kehrte fröhlich zu ihrem Spiel zurück, offenbar sicher, dass ihre Mama kommen würde, um sie zu holen. Als ihre Mutter kam, brachte Annika die Puppen und das Telefon zu der Erzieherin, denn sie wollte die Geschichte noch einmal hören und die Erfahrung von dem aufgeschlagenen Knie und ihrem Kummer mit ihrer Mutter teilen.
Das Erzählen der Geschichte tröstete Annika und erlaubte ihr nicht nur, zu verstehen, was geschehen war, sondern auch den Ausgang in Form der Ankunft ihrer Mutter vorauszusehen. Als Erwachsene erzählen wir unsere Geschichten normalerweise mit Worten. Kinder jedoch, auch solche, die gesprochene Sprache verstehen, ziehen einen großen Nutzen aus der Verwendung von Requisiten wie Puppen und Marionetten oder aus dem Zeichnen von Bildern, um mit ihrer Hilfe das Geschehene zu verarbeiten. Wenn Kinder verstehen, was ihnen widerfahren ist und was ihnen wahrscheinlich noch geschehen wird, lindert dies ihren Kummer normalerweise erheblich.
Es mag Erfahrungen aus Ihrer Kindheit geben, die Sie zu jener Zeit nicht verarbeiten konnten, weil kein verständnisvoller Erwachsener verfügbar war, der ihnen half, das Erlebte zu verstehen. Der Geist versucht vom Beginn des Lebens an, einen Sinn in der Welt zu sehen und seinen inneren Gefühlszustand durch die Art der Beziehung, hier des Kindes zu den Eltern, zu regulieren. Eltern helfen ihren Kindern dabei, ihre innere Verfassung zu regulieren und ihren Erlebnissen Sinn zu geben. Wenn sie älter werden, entwickeln Kinder die Fähigkeit, diese Erlebnisse zu einer autobiografischen Erzählung zusammenzufügen. Diese Fähigkeit, Geschichten zu erzählen spiegelt die grundlegende Weise wider, wie sich ein Kind den Sinn der Welt hergeleitet und gelernt hat, seinen Gefühlszustand zu regulieren.
Die Art, wie wir unsere Lebensgeschichte erzählen, zeigt, wie wir das verstehen, was uns in unserem Leben widerfahren ist. Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen? Empfinden Sie sich als distanzierter Erzähler oder durchleben Sie Ihre Gefühle erneut, wenn Sie Ihre Geschichte erzählen? Erscheinen Ihnen bestimmte Dinge mit intensiven Gefühlen verknüpft und ungelöst, obwohl sie vielleicht schon lange zurückliegen? Erinnern Sie sich an viele Details aus Ihrer frühen Kindheit? Was fühlen Sie, wenn Sie über Ihre frühesten Erlebnisse berichten?
Unsere Lebensgeschichten können uns Aufschluss darüber geben, wie unsere Vergangenheit unsere Gegenwart beeinflusst. Die Art, wie wir sie erzählen und dabei bestimmte Aspekte betonen, kann zeigen, auf welche Weise wir die Welt und uns selbst verstehen. Sie können zum Beispiel an die Ereignisse im Familienkreis denken, ohne besonders auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander einzugehen. Bei einigen Familien verhalten sich die Mitglieder sehr distanziert zueinander, man zeigt nur selten Gefühle, und jeder lebt mit seinen eigenen Gefühlen für sich. In solchen Familien kann es sowohl Eltern als auch Kindern schwer fallen, eine ausdrucksvolle autobiografische Geschichte zu erschaffen. In dieser Situation lassen sich nur schwer Einzelheiten abrufen, und manchmal fehlen jegliche Gefühle. In den Familien tauscht man sich häufig nur über die äußeren Ereignisse und nicht über die Befindlichkeiten der Mitglieder aus. In emotional distanzierten Familien scheint die wichtige Fähigkeit der Geistsicht, die Fähigkeit, den eigenen Geist und den anderer wahrzunehmen, sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern nur sehr minimal vorhanden zu sein. Geschichten sind der Versuch unseres Geistes, unser eigenes reiches Innenleben und das anderer zu verstehen.
Wege des Verstehens
Der Geist, der aus den Aktivitäten des Gehirns entsteht, verfügt über viele verschiedene Verarbeitungsmethoden. Auf einer sehr grundlegenden Ebene haben wir die verschiedenen Wahrnehmungssysteme Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen. Auf einer weiteren Ebene befinden sich die unterschiedlichen Arten von „Intelligenz“, etwa die sprachliche, räumliche, kinästhetische, musikalische, mathematische, selbstbezogene und zwischenmenschliche. Der Geist ist komplex und zeigt sich in Myriaden wundersamer und unterschiedlicher Arten, die Welt wahrzunehmen und sich mit ihr auszutauschen. Wie wir wahrnehmen wirkt sich unmittelbar auf unser Verhalten aus. Als Organismen mit Eingabe- und Ausgabewegen haben wir Gehirne, die dazu ausgelegt sind, Daten von der Welt aufzunehmen, sie innerlich zu verarbeiten (was oft als Kognition bezeichnet wird) und dann eine entsprechende Antwort in Gang zu setzen: Eingabe – interne Verarbeitung – Ausgabe. Das ist die einfachste Beschreibung für die Rolle des Gehirns und des gesamten Nervensystems.
Wir können untersuchen, wie sich die rechte und die linke Gehirnhälfte bei der Verarbeitung eintreffender Daten unterscheiden. Beide Seiten haben sich über Jahrmillionen aus den asymmetrischen Nervensystemen niederer Tiere entwickelt und sind ziemlich verschieden voneinander. Die beiden physisch getrennten Seiten des Gehirns sind durch Stränge aus Nervengewebe, die Corpus Callosum oder Balken genannt werden, miteinander verbunden. Diese Trennung lässt beide Seiten relativ unabhängig voneinander funktionieren und ermöglicht ihnen recht unterschiedliche Arten der Informationsverarbeitung. Durch die Hin- und Herleitung der Informationen zwischen beiden Gehirnhälften wird eine integrierte Form der Verarbeitung möglich, durch die das Gehirn höhere Funktionsebenen erreichen kann. Jede Seite des Gehirns nimmt auf die ihr eigene Weise wahr und verarbeitet die Informationen unterschiedlich. Der Vorteil dieser Unterschiede ist, dass ein einzelnes Gehirn über mehr Funktionen verfügt, wenn seine Teile spezialisiert sind. Wenn jede ausdifferenzierte Seite etwas zu einem integrierten Ganzen beiträgt, dann lässt sich dadurch mehr erreichen, als es jede Seite für sich könnte. Wären beide Hälften gleich, dann wären wir weniger komplex und anpassungsfähig.
Diese beiden unterschiedlichen Arten des Ablaufs von Wahrnehmung – interner Verarbeitung – Ausgabe lassen sich unter anderem mit den Begriffen rechter und linker Verarbeitungsmodus bezeichnen. Der rechte Modus, der hauptsächlich durch die Aktivitäten der rechten Hemisphäre erzeugt wird, verarbeitet Informationen auf eine nichtlineare, ganzheitliche Weise. Er ist auf die Aufnahme und Verarbeitung visueller und räumlicher Daten spezialisiert. Autobiografische Daten, die Verarbeitung und Sendung von nonverbalen Signalen, ein ganzheitliches Körpergefühl, mentale Modelle des Selbst, intensive Gefühle und soziales Verständnis werden alle hauptsächlich auf der rechten Seite verarbeitet.
Im Gegensatz dazu beschäftigt sich der linke Modus, der hauptsächlich in der linken Gehirnhälfte beheimatet ist, mit weitgehend anderen Dingen: lineare, logische und Sprach-Verarbeitung. „Linear“ bedeutet, dass eine Information der anderen wie auf einer Linie folgt. Mit „logisch“ wird die Suche nach Ursache-Wirkungs-Beziehungen als Mustern in der Welt bezeichnet. Die Sprachverarbeitung verwendet die in Wörtern enthaltenen digitalen Informationen (ja/nein, ein/aus), wie sie zum Beispiel auf dieser Seite zu lesen sind.
Erzählungen und die Kombination von links und rechts
In dem Buch The Developing Mind wird der Gedanke entwickelt, dass Erzählungen, die dazu dienen, das eigene Leben zu verstehen, aus einer Kombination des links angesiedelten Bestrebens, alles zu erklären, und der rechts abgelegten autobiografischen, sozialen und emotionalen Informationen entstehen. Eine kohärente Erzählung, die Erlebnisse im Leben in einem sinnvollen Licht erscheinen lässt, kann durch die flexible Kombination der rechten und linken Verarbeitungsmodi entstehen. Aus der Zusammenarbeit des links gesteuerten Bestrebens zu erzählen und der nonverbalen und autobiografischen Verarbeitung der rechten Seite entsteht eine kohärente Erzählung.
Abb. 2: Seitenansicht des geteilten Gehirns
Abb. 3: Aufsicht auf das Gehirn
Tabelle 2: Rechts- und linkshemisphärische Verarbeitungsmodi
Rechtshemisphärische Verarbeitung
Nicht linear
Ganzheitlich
Räumlich-visuell
Spezialisiert auf
autobiografische Informationen
Senden und Empfangen nonverbaler Signale
intensive und ursprüngliche Gefühle
Aufmerksamkeit, Regulierung und integrierte Landkarte des Körpers
Soziales Denken und Geistsicht – andere Verstehen
Der Schwerpunkt der Verarbeitung kann in der rechten Gehirnhälfte liegen.
Linkshemisphärische Verarbeitung
Linear
Logisch
Spezialisiert auf
syllogistische Folgerungen – Suche nach Ursache-Wirkungs-Beziehungen
Linguistische Analyse – mit Hilfe von Worten die Welt definieren
„Richtig oder falsch“-Denken
Der Schwerpunkt der Verarbeitung kann in der linken Gehirnhälfte liegen.
Für Sie als Eltern ist es besonders wichtig, Ihr Leben in einem sinnvollen Zusammenhang zu sehen, denn es unterstützt Sie dabei, eine emotional verbindende und flexible Beziehung zu Ihren Kindern aufzubauen. Eine kohärente eigene Lebensgeschichte hilft Ihnen, Ihren Kindern Erfahrungen zu vermitteln, mit denen sie ihr wiederum eigenes Leben besser verstehen können. Sie können diesen Erkenntnisprozess unterstützen, indem Sie sich klar machen, wie sich der rechte und der linke Verarbeitungsmodus für Sie anfühlen. Jeder von uns hat die Fähigkeit, sich von den unkontrollierbaren, kaum vorhersehbaren, völlig freien Empfindungen unserer bloßen Gefühle zu distanzieren. Dieses Distanzieren kann als vorherrschend linker Modus der Verarbeitung angesehen werden: Der linke Modus setzt in diesem Moment die Eingaben aus der rechten Hälfte außer Kraft.
Im Gegensatz dazu können wir uns zu anderen Zeiten voller Empfindungen fühlen, die wir weder benennen noch logisch erklären können. Vor unserem geistigen Auge können Bilder entstehen, wir haben körperliche Empfindungen oder Gedanken, die in unserem Geist kommen und gehen. Wir können unser Zeitgefühl verlieren und uns dem, was wir wahrnehmen, eng verbunden fühlen, wobei die Ursache-Wirkungs-Beziehungen der Welt um uns herum weitgehend ihre Bedeutung für uns verlieren. Wir können uns völlig in die körperlichen Empfindungen, Emotionen und Wahrnehmungen, die alle zum rechten Verarbeitungsmodus gehören, versenken.
Wenn wir im linken Verarbeitungsmodus versuchen, eine Geschichte über unser Leben zu weben, verwenden wir den auf Sprache basierenden, linearen, logischen Ansatz, um Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu verstehen. Um eine solche lineare Geschichte über uns selbst linksseitig erzählen zu können, müssen wir auf Daten aus dem rechten Verarbeitungsmodus zugreifen. Wenn diese Daten entweder nicht verfügbar sind oder uns wie eine Flutwelle überschwemmen, können wir keine kohärente Geschichte erzählen. Der Grund für Inkohärenz können unerledigte Angelegenheiten sein. In einer solchen Situation wird die Erzählung inkohärent sein, da es ihr entweder an emotionaler und autobiografischer Tiefe mangelt oder weil die Beiträge aus dem rechten Modus keinen Sinn ergeben. Geschichten, die unser Leben in einem sinnvollen Licht erscheinen lassen, erfordern sowohl klares Denken als auch Zugang zu den genauso wichtigen emotionalen und autobiografischen Aspekten der Erfahrung.
Eine Frau in den Mittdreißigern, die schon als Jugendliche ihren Vater verloren hatte, hatte zum Beispiel nie wirklich um diesen Verlust getrauert. Immer wenn sie von ihren Teenager-Jahren sprach, brach sie in Tränen aus und konnte nicht weitererzählen. Ihr letztes Erlebnis mit ihrem Vater, kurz vor seinem Herzinfarkt, war in angespannter Atmosphäre verlaufen, da sie gestritten hatten, weil er ihren Freund nicht mochte. Sie konnte nicht wirklich um ihn trauern und diesen Verlust in eine kohärente Erzählung ihres Lebens aufnehmen, bevor sie nicht ihre Schuldgefühle verarbeitet hatte.
Wenn Sie über sich selbst nachdenken und sich etwas wie zwei unterschiedliche Modi subjektiven Erlebens anfühlt, versuchen Sie sich das bewusst zu machen. Diese beiden Modi zu kombinieren kann für die Ausgewogenheit und Stimmigkeit Ihres Geistes und das Erzählen einer kohärenten Lebensgeschichte essentiell sein.
Kohärenz und Integration
Unsere Beziehung zu unseren Kindern basiert auf den zahlreichen Erfahrungen, die wir miteinander teilen. Erfahrungen, die eine große Bandbreite innerer Prozesse mit einbeziehen, scheinen einen ausgewogenen Umgang mit anderen zu fördern. Werden separate und unterschiedliche „differenzierte“ Prozesse zu einem funktionierenden Ganzen zusammengefügt, können wir den Begriff „Integration“ verwenden. Lassen Sie uns die verschiedenen Arten betrachten, auf die das Gehirn in einen integrierten Zustand versetzt werden kann. Wenn die komplexere, reflektierende und konzeptuelle Verarbeitung der anatomisch höher liegenden Hirnrinde mit den eher grundlegenden, emotionalen und motivationalen Antrieben der tiefer liegenden Gehirnregionen kombiniert wird, erlangen wir die Fähigkeit, aus einem integrierten Zustand heraus zu handeln, aus einem vertikal integrierten, besseren Verarbeitungsmodus. Wenn die reflektierenden Funktionen des Cortex abgetrennt werden, verfallen wir in den nicht integrierten „niederen“ Reaktionsmodus und werden unflexibel.
Auch eine horizontale Integration, bei der die rechte und linke Gehirnhälfte zusammenarbeiten, ist möglich. Diese bilaterale Integration ist wahrscheinlich zentral für die Erschaffung kohärenter Erzählungen, wenn wir unser Leben ordnen. Da sich anhand einer kohärenten Lebensgeschichte am ehesten eine sichere Bindung unserer Kinder zu uns vorhersagen lässt, ist dieser Prozess bilateraler Integration wohl eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Eltern ihren Kindern eine förderliche Umgebung und eine sichere Basis bieten können.
Das Verfassen unserer Lebensgeschichten kann, zusätzlich zur vertikalen und horizontalen, noch von einer weiteren Integration abhängen: der temporalen Integration, welche die Prozesse durch die Zeit hindurch verbindet. Das ist ganz grundlegend etwas, was Geschichten bewirken: Sie verbinden das vergangene Selbst mit dem heutigen und dem der angenommenen Zukunft. Diese mentale Zeitreise ist eine zentrale Eigenschaft aller Geschichten, die man weltweit findet.
Gesunde Beziehungen und wohl auch unser eigenes inneres Gefühl von Kohärenz und Wohlbefinden, sind wahrscheinlich von einem fließenden und aktiven Integrationsprozess in unserem Geist abhängig. Unser geistiges Wohlbefinden kann auf viele Arten von den Integrationsschichten, die unser Gefühl von Verbundenheit mit uns selbst und anderen verstärken, abhängig sein. Wenn wir die Integration über diese vielen unterschiedlichen Bereiche fördern, können unsere Selbsterkenntnis und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gedeihen und unser Leben sowie das unserer Kinder bereichert werden.
Das Teilen von Geschichten – aus dem Geist einer Person mit dem anderer – ist eine universelle Art, Verbindung zueinander herzustellen. Geschichten befähigen uns zu zwischenmenschlicher Integration. Wenn wir an wichtige Leute in unserem Leben denken, erinnern wir uns oft an Momente der Verbundenheit, die sich in den persönlichen Geschichten ausdrücken, die wir in unseren Beziehungen so schätzen. Bei Hochzeiten, Abschluss- und Wiedersehensfeiern und bei Beerdigungen ist die Luft von Erzählungen erfüllt, wenn die Menschen Kontakt zueinander aufnehmen, indem sie über die Kraft ihrer gemeinsamen Erlebnisse reflektieren, die bezeugen, wie die Zeit vergeht.
Wenn Sie über Ihre eigene Lebensgeschichte nachdenken, können Sie zu einem besseren Verständnis Ihrer selbst gelangen, Ihre Emotionen in Ihren Alltag integrieren und so diesem wertvollen Weg zum Verstehen Ihren Respekt erweisen. Wenn sich Ihr Geist durch Selbstreflexion ändert, kann es geschehen, dass sich ebenso Ihre Erfahrungen mit Ihrem Kind ändern. Erfahrungen formen den Geist genauso wie der Geist die Erfahrungen. Das persönliche Wachstum und die gewonnene Selbsterkenntnis, die daraus resultieren, dass man seine Lebensgeschichten entwickelt, können zu einer besseren Geistsicht und zu mehr Empfindsamkeit gegenüber dem eigenen Kind führen.
Übungen von innen heraus
1. Sehen Sie sich noch einmal die Tabelle 2 auf Seite 56 an. Schreiben oder zeichnen Sie Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrung zu jedem Element in jedem Modus in Ihr Tagebuch, um Ihre Aufmerksamkeit gegenüber den verschiedenen Verarbeitungsarten zu trainieren. Wenn Sie zu einem besseren Verständnis Ihrer selbst gelangen, werden Sie vermutlich feststellen, dass Sie die links- und rechtshemisphärischen Verarbeitungsmodi deutlicher wahrnehmen. Achten Sie besonders auf die nonverbalen, unlogischen und oft nicht vorhersehbaren Empfindungen des rechtsseitigen Modus bei Ihnen und Ihrem Kind.
2. Wörter in ein Tagebuch zu schreiben kann den linksseitigen Modus überbetonen. Bitte unterstützen und respektieren Sie auch die Bilder des rechtsseitigen Verarbeitungsmodus, wenn Sie über Ihre Erfahrungen nachdenken. Wir sind uns des rechtshemisphärischen Modus oft so subtil bewusst, dass es sich nur schwer in Worten ausdrücken lässt! Notieren Sie im Bewusstsein dieser Vorstellungen die Bilder und Erinnerungen, die aufsteigen, wenn Sie versuchen, eine Geschichte über die Entwicklung und die Bedeutung einer bestimmten Angelegenheit zu erzählen, die Ihre Verbindung zu Ihrem Kind betrifft. Schreiben Sie auf, wann es angefangen hat, wie es Ihre Entwicklung beeinflusst hat und wie es sich auf Ihre Beziehung zu Ihrem Kind auswirkt. Welche Gesichtspunkte dieser Angelegenheit erscheinen Ihnen als besonders anstrengend? Stellen Sie sich vor, dass Sie etwas Unerledigtes oder Ungelöstes verarbeiten. Schreiben Sie eine neue Geschichte darüber, wie dessen Heilung aussehen würde. Inwiefern würden sich die Dinge in Zukunft vom jetzigen Zustand unterscheiden?
3. Überlegen Sie sich drei Wörter, die Ihre Beziehung zu Ihrem Kind beschreiben. Würden Sie ähnliche Wörter verwenden, um Ihre Erinnerungen an Ihre Kindheitserfahrungen mit Ihren Eltern zu beschreiben? Worin unterschieden sie sich? Fassen diese Wörter die Beziehungen korrekt zusammen? Erinnern Sie sich an Teile dieser wichtigen Beziehungen, zu welchen die Verallgemeinerungen nicht gut passen? Wie passen diese Ausnahmen in die größere Geschichte Ihres Lebens mit Ihren Eltern und Ihrem Kind?
IM LICHT DER WISSENSCHAFT
Die Wissenschaft der Erzählungen
Die Wissenschaft der Erzählungen greift auf eine Vielzahl unterschiedlicher akademischer Disziplinen zurück, von der Anthropologie und dem Studium der Kulturen zur Psychologie und dem Studium, wie Menschen einander ihre Gedächtnisinhalte nahe bringen. Unsere Erfahrungen innerhalb der Familie prägen, wie wir die Welt um uns wahrnehmen. Der Kulturkreis, in dem wir leben, hat ebenfalls großen Einfluss darauf, wie unser Geist Informationen verarbeitet und unserem Leben einen Sinn gibt. Neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung tragen ebenfalls zu unserem Verständnis der wichtigen Rolle von Geschichten im menschlichen Leben bei.
Diese Wissenschaften zeigen uns mehrere Dinge:
• Geschichten sind universell – sie finden sich in jeder menschlichen Kultur dieses Planeten.
• Geschichten begleiten uns unser Leben lang – sie haben ihren Platz schon früh im Leben beim Austausch zwischen Eltern und Kindern und spielen ihre Rolle in Beziehungen bis zum Erwachsenwerden weiter.
• Geschichten sind möglicherweise eine rein menschliche Angelegenheit – kein anderes Tier scheint über einen Instinkt oder ein Bedürfnis zum Erzählen von Geschichten zu verfügen.
• Geschichten erfordern einen logischen Ablauf von Ereignissen, aber sie spielen auch eine wichtige Rolle für das Regulieren von Gefühlen; so sind sie ein gutes Beispiel dafür, wie Emotionen und analytisches Denken ineinander verflochten sind.
• Geschichten spielen sowohl für die alltägliche Kommunikation als auch für das innere Selbstbild eine Rolle. Diese Mischung aus Zwischenmenschlichem und Persönlichem, die so charakteristisch für den menschlichen Geist ist, zeigt, wie sozial wir tatsächlich sind!
• Geschichten spielen möglicherweise eine entscheidende Rolle bei Erinnerungsprozessen – eine Annahme, die aus der Untersuchung des expliziten Gedächtnisses resultiert und daraus, wie es in der Endverarbeitung durch Träume permanente oder „kortikal konsolidierte“ Erinnerungen erzeugt.
• Geschichten werden mit Gehirnfunktionen in Zusammenhang gebracht. Besonders die linke Hemisphäre scheint darauf ausgerichtet zu sein, Vermutungen über logische Zusammenhänge zwischen verschiedensten Teilen von Informationen anzustellen, während die rechte Hemisphäre den emotionalen Kontext und die autobiografischen Daten beisteuert, die notwendig sind, damit eine Lebensgeschichte einen Sinn ergibt.
Mentale Modelle: Wie unsere Erfahrung bestimmt, wie wir sehen, uns verhalten und unsere eigene Realität erschaffen
Die Wissenschaft hat gezeigt, dass das Gehirn selbst schon bei ganz kleinen Kindern aus wiederholten Erfahrungen sehr gut Verallgemeinerungen ableiten kann, so genannte mentale Modelle. Diese mentalen Modelle sind Teil des impliziten Gedächtnisses, und man nimmt an, dass sie aus den Mustern neuronalen Feuerns in den Sinnesmodalitäten von Sehen, Hören, Tasten und Riechen entstehen, die sich durch wiederholte Interaktionen ansammeln. Das im Gehirn erzeugte Modell dient als eine Art Gesichtspunkt, Perspektive oder Geisteszustand, das unmittelbar beeinflusst, wie wir etwas wahrnehmen und wie wir in Zukunft reagieren werden. Implizite Erinnerungen, und besonders die mentalen Modelle aus unseren vielfältigen Erlebnissen, erschaffen wahrscheinlich die Themen der Geschichten, die wir erzählen, und organisieren, wie wir Entscheidungen für unser Leben treffen.
Mentale Modelle dienen als eine Art Trichter, durch den Informationen gefiltert werden, als Linsen, mit deren Hilfe wir die Zukunft voraussehen und dadurch unseren Geist auf die entsprechenden Aktionen vorbereiten können. Diese Linsen befinden sich außerhalb unserer bewussten Sicht und verfälschen unsere Wahrnehmung, ohne dass wir uns ihrer Existenz bewusst sind. Sie entstammen unseren früheren Erfahrungen, werden auf eine bestimmte Weise aktiviert und formen dann schnell unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, unsere Überzeugungen und Einstellungen und die Art, wie wir mit der Welt um uns herum in Verbindung treten.
Wenn Sie zum Beispiel als kleines Kind von einer Katze gebissen wurden, kann eine spätere Begegnung mit einer Katze zur Folge haben, dass sich Ihre Gemütsverfassung schlagartig ändert und Sie plötzlich Angst bekommen: Sie sind wachsam gegenüber der Katze, fixieren ihre Zähne, verspüren ein inneres Gefühl von Panik und sind bereit, schnell zu reagieren, sollte sich die Katze auf Sie zubewegen. Die veränderte Wahrnehmung, der innere Gefühlszustand und die Aktivierung des Selbsterhaltungstriebes (kämpfen – fliehen – erstarren) geschehen automatisch. Sie sind von der Fähigkeit des Gehirns geprägt, schnell und ohne bewusste Aufmerksamkeit oder Planung einen Geisteszustand herzustellen, der so organisiert ist, dass er die Wahrnehmung bestimmt und den Körper darauf vorbereitet, zu reagieren. Prinzipiell ist das die Art und Weise, wie mentale Modelle dafür sorgen, dass eintreffende Informationen in die richtigen Bahnen gelenkt und gefiltert werden und dass sich die Stimmung plötzlich ändert.
Mentale Modelle und die Zustände, die sie hervorrufen, sind ein grundlegender Bestandteil des impliziten Gedächtnisses. Wir nehmen ihren Ursprung als solche nicht bewusst wahr, aber wir spüren deutlich ihre Wirkung (Katze beobachten, Angst verspüren). Angelegenheiten aus unserer Vergangenheit können uns in der Gegenwart beeinflussen und verändern, wie wir uns in der Zukunft verhalten, indem sie unmittelbar bestimmen, wie wir das, was um uns herum und in uns vorgeht, wahrnehmen. Die Schatten, die implizite mentale Modelle auf unsere Entscheidungen und unsere Erzählungen über unser Leben werfen, können durch zielgerichtetes Nachdenken über sich selbst explizit gemacht werden. Ein solcher bewusster Prozess kann unser Verständnis von uns selbst verbessern und ein Weg sein, mentale Modelle zu verändern. Ein Weg, der uns die Tür zu lebenslanger Entwicklung öffnet. Damit wir uns aus dem Gefängnis dieser Schatten aus der Vergangenheit befreien können, müssen wir einen Prozess der Selbsterkenntnis durchlaufen, in dessen Rahmen wir uns vor Augen führen, wie diese Muster von verfälschter Wahrnehmung und Verhaltensimpulsen als grundlegende Bestandteile tief verwurzelter mentaler Modelle und unflexibler Geisteshaltungen in uns wirken. Wenn man sich die Zeit zum Nachdenken nimmt, öffnet man damit die Tür zur bewussten Wahrnehmung und erhält damit die Chance zur Veränderung.
Untersuchungen über das Kodieren von Erinnerungen lassen vermuten, dass unsere Wahrnehmungen durch unsere Erfahrungen geprägt werden. Doch unsere Wahrnehmung bestimmt wie wir unsere Erfahrungen verarbeiten. Wenn wir uns selbst besser verstehen, können explizites Wissen und implizite Erinnerung gemeinsam unser Selbstbild formen und bestimmen, wie wir uns mit der Welt austauschen. Endel Tulving und seine Kollegen in Toronto haben den Prozess des selbstverstehenden Bewusstseins oder der Autonoesis beschrieben, die im integrativen neuralen Schaltkreis in den präfrontalen Gehirnregionen auftreten. Selbsterkenntnis wird geschaffen durch eine Verbindung der verschiedenen Elemente der Erinnerung, die im gesamten Gehirn gespeichert sind, einem Gemisch von Elementen aus der Vergangenheit, Wahrnehmungen in der Gegenwart und Vorwegnahmen der Zukunft.
Die interaktive Rückkopplung der Erfahrung bestimmt, wie wir wahrnehmen und wie wir die Zukunft in mentalen Modellen der Welt vorwegnehmen. Das bedeutet, dass wir aktiv unsere eigene Realität konstruieren, während gleichzeitig unsere Erfahrung bestimmt, wie wir zu unserer Sicht der Realität gelangen. Erfahrungen, die unsere körperlichen Empfindungen mit denjenigen integrieren, die wir in Beziehungen mit wichtigen Bezugspersonen haben, können ein wichtiger Baustein des sich entwickelnden Selbst sein. Die Erfahrungen von Helen Keller (1880–1968), die von Geburt an blind und taub war, werden von Paul John Eakin als Beispiel dafür angeführt, wie Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen. Sie illustrieren diesen verbindenden Bestandteil in der Entwicklung: Die Schriften von Helen Keller, so Eakin, sind ein „seltener und möglicherweise einzigartiger Bericht, wie sich zu dem Zeitpunkt, in dem Sprache begriffen wird, das Selbst manifestiert. … Obwohl Keller schon zuvor ein schlichtes Vokabular von Finger-Wörtern, die ihr von ihrer Lehrerin Anne Sullivan in die Hand buchstabiert worden waren, gemeistert hatte, erlangte sie erst als Sullivan eine ihrer Hände unter einen Brunnen hielt und in die andere das Wort Wasser buchstabierte, gleichzeitig ein Verständnis von Sprache und von einem Selbst. Es war wahrhaftig eine intellektuelle und spirituelle Taufe: ‚Ich begriff, dass ›W-a-s-s-e-r‹ dieses wundervoll kühle Etwas bezeichnete, das über meine Hand rann. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele.‘ Ich habe das Ergebnis der Brunnenhaus-Episode schematisch folgendermaßen zusammengefasst. … Von den Grundzügen her stimmt die Keller-Episode mit der Sichtweise des sozialen Konstruktivismus hinsichtlich der Identitätsbildung überein. Mein schematischer Bericht über einen einzigen Augenblick (Selbst/Sprache/Andere) spiegelt die Tatsache wider, dass eine ganze Phase der Entwicklungsgeschichte, die normalerweise über einige Monate hinweg verläuft, im Fall von Keller auf die Dauer eines enthüllenden Augenblicks komprimiert wurde. … Keller betont sowohl die Beziehungsdimension dieser Episode (die entscheidende Rolle der ‚Lehrerin‘) als auch die Erdung der gesamten Erfahrung in ihrem Körper“ (Eakin, S. 66/67).
Die präfrontalen Bereiche des Gehirns, insbesondere der orbitofrontale Kortex, sind essentiell für die Vermittlung zwischenmenschlicher Kommunikation, Darstellungen des Körpers und autobiografische Bewusstheit. Die Fähigkeit des orbitofrontalen Kortex, unser ganzes Leben lang zu wachsen, gibt uns Hinweise darauf, wie eine bessere Selbstkenntnis die Art und Weise, wie wir andere und uns selbst wahrnehmen, verändern kann. Während unserer lebenslangen Entwicklung bilden unsere Erfahrungen mit anderen und die Erfahrungen in unserem Körper möglicherweise die Grundlage dafür, dass wir das Gefühl eines Selbst hervorbringen, das lebenslang weiterwächst.
Wenn wir uns die Zeit nehmen, über unsere zwischenmenschlichen und unsere inneren Erfahrungen nachzudenken, können uns die bessere Selbstkenntnis und die größere Aufmerksamkeit in die Lage versetzen, uns weiterzuentwickeln. Ein tiefer gehendes Selbst-Verständnis basiert außerdem auf einem kohärenten selbstverstehenden Bewusstsein, das unsere Vergangenheit und Gegenwart und die Art, wie wir die Zukunft vorwegnehmen, in einen sinnvollen Zusammenhang bringt. Die wichtige Botschaft hierbei ist, dass wir die aktiven Verfasser unserer eigenen Autobiografien werden können, und unseren Kindern damit helfen zu lernen, wie sie aktiv ihre Wahrnehmung beeinflussen und ihr eigenes Leben schaffen können!
Logik und Geschichte, Geist und Gehirn
Der Entwicklungspsychologe Jerome Bruner beschreibt zwei Arten, auf welche der Geist Informationen verarbeitet: Die eine ist ein „paradigmatisch“ deduktiver Modus, der eine Reihe linear in Zusammenhang stehender Fakten durch logische Schlussfolgerungen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen miteinander verknüpft. Das ähnelt dem logischen, linearen, sprachbasierten linksseitigen Modus des Denkens, der in der linken Gehirnhälfte angesiedelt ist. Die andere ist der Erzählmodus, in welchem der Geist durch das Verfassen von Geschichten Daten verarbeitet. Dieser Modus, der sich früher entwickelt und in alle Kulturen zu finden ist, ist ein eigener Prozess, der nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine mögliche Welt schafft. Nach Bruner wird in einer Geschichte sowohl eine Folge von Ereignissen als auch das innere geistige Leben ihrer Charaktere erzählt. Diese erzählerischen Prozesse erlauben es uns, tief in die subjektiven Welten von Menschen einzutauchen.
Der Erzählmodus des Denkens lässt sich nicht einfach auf einen Ort im Gehirn festlegen. Untersuchungen verwandter Vorgänge, wie der autobiografischen Erinnerung oder der Konfabulation (Erfinden erdachter Berichte als wahrer Erzählungen), deuten auf einige faszinierende Möglichkeiten hin. Die linke Hemisphäre des Gehirns scheint dazu angetrieben zu sein, Geschichten über Ereignisse zu erzählen. Angesichts der Tatsache, dass sie auf logisch-deduktives Denken spezialisiert ist, das versucht zu erklären, wie die Dinge in der Welt miteinander in Verbindung stehen, ist das nicht überraschend. Angefüllt mit Fakten, Sprache, linearer Verarbeitung und dem Drang, Kategorien zu erschaffen, hat die linke Hemisphäre, wie der Kognitionswissenschaftler Michael Gazzaniga es bezeichnet, eine Übersetzerfunktion. Wenn sie jedoch von der rechten Gehirnhälfte getrennt wird, erfindet die linke Seite Geschichten. Sie verfügt dann nicht über den Kontext, um aus dem, was sie wahrnimmt, schlau zu werden. Seltsamerweise scheint es ihr dabei nichts auszumachen, einfach Fakten aneinander zu reihen damit sie stimmig wirken, obwohl sie nicht zu dem größeren Sinn oder Kontext einer Situation passen. Auf diese Weise erscheinen Geschichten stimmig (also irgendwie logisch in ihrem Aufbau), aber nicht kohärent (sie ergeben keinen Sinn im gesamten emotionalen Kontext der Wahrnehmungen).
Wie kann das geschehen?
Diese Entdeckung lässt sich unter anderem mit der Rolle der rechten Hemisphäre als Lieferant für den sozialen und emotionalen Kontext erklären. Sie hat bei der Verarbeitung nonverbaler Signale eine zentrale Aufgabe in vorderster Reihe. Diese Hemisphäre ist direkter mit dem limbischen System des Gehirns verbunden, das Emotionen und Motivationszustände hervorbringt. Aus einer Vielzahl von Gründen scheint die Fähigkeit, das subjektive Leben anderer zu empfinden, ihre Signale zu empfangen und zu deuten, von einer funktionstüchtigen rechten Hemisphäre abhängig zu sein. Soziale, emotionale, nonverbale und Kontextinformationen dienen als Rohmaterial für die „Geistsicht“ – die Fähigkeit, den Geist anderer und den eigenen wahrzunehmen.
Geschichten erzählen von der Abfolge von Ereignissen und vom Innenleben der Charaktere in diesen Ereignissen. Inneres Erleben wird primär von der rechten Gehirnhälfte wahrgenommen und verstanden. Damit eine Geschichte „einen Sinn ergibt“ – damit sie die subjektive/soziale/emotionale Bedeutung des Innenlebens der Charaktere einschließt –, muss sie die rechtshemisphärische Verarbeitung mit einbeziehen. Darum können wir vermuten, dass der Geist der Integration der linken Hemisphäre mit der rechten bedarf, um eine kohärente Geschichte erzählen zu können, eine Geschichte, die das eigene Leben oder das anderer in einem sinnvollen Zusammenhang zeigt. Also entstehen kohärente Geschichten wahrscheinlich durch bilaterale, interhemisphärische Integration.