Читать книгу Zorn der Lämmer - Daniel Wehnhardt - Страница 7
PROLOG
ОглавлениеAls Sarah zu sich kam, hörte sie nur ein leises Wimmern.
Sofort schossen mehrere Fragen durch ihren Kopf. Was war bloß mit ihr passiert? Warum lag sie hier in dieser Grube? In einem Meer von steifen, kalten, leblosen Körpern. Umhüllt von einer Wolke des Gestanks nach Blut, Kot und Urin.
So roch der Tod, dachte Sarah.
Stück für Stück setzte sich ihre Erinnerung wieder zusammen. Da war diese herrische Stimme gewesen, die ihr befohlen hatte, sich auszuziehen. Der Tritt gegen den Unterschenkel, der sie auf die Knie fallen ließ, und die prankengleichen Hände, die ihre Arme gewaltsam hinter ihrem Kopf verschränkten.
Dann die ratternden Schüsse eines Maschinengewehrs.
Das Letzte, an das sie sich erinnerte, waren der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter und ihre geflüsterten Worte: »Vertraue auf Gott, denn er weist dir den Weg.« Im Gegensatz zum Rest der Familie war ihre Mutter schon immer sehr gläubig gewesen.
Sarah versuchte sich zu bewegen. Sie durfte keine weitere Zeit verlieren. Unverzüglich musste sie sich auf die Suche nach den anderen begeben. Aber wo waren sie nur geblieben? Hatten Gott oder das Schicksal es mit ihnen genauso gut gemeint wie mit ihr? Hatte außer ihr sonst noch jemand überlebt?
Plötzlich hörte Sarah in der Ferne Männer grölen. Waren das etwa … Soldaten? Auf jeden Fall waren es Deutsche, das erkannte sie am Klang ihrer Stimmen. Sie näherten sich. Begleitet von Gelächter und dem Geräusch klirrender Flaschen.
Am Rand der Grube angekommen, zückten die Männer ihre Maschinenpistolen. Luden durch … und feuerten hinein. Pfeifend schossen die Kugeln an Sarahs Kopf vorbei. Panisch vor Angst presste sie beide Hände auf ihren Mund. Der leiseste Mucks würde sie verraten.
Kurz darauf verstummten die Pistolen. Sarah hörte, wie einer der Männer seine Hose herunterließ. Sekunden später ging warme Flüssigkeit auf ihr nieder und lief an ihrem Rücken und an ihrer Brust hinab. Erneutes Gelächter hallte von oben herunter. Weitere Männer pinkelten in die Grube und verschwanden anschließend in der Dunkelheit.
Minutenlang blieb Sarah liegen. Bewegte sich keinen Zentimeter und lauschte stattdessen aufmerksam in die Schwärze der Nacht. Während sie betete, dass dieser Albtraum bald vorbei sein würde, fraß sich die Kälte durch ihre urin- und blutgetränkten Lumpen. Eine Ewigkeit verging, bis das Grölen endgültig verstummt war.
Sarah robbte vorsichtig an den Rand der Grube heran. Kroch so behutsam wie möglich über Rücken, Arme, Beine und Gesichter und zog sich mit letzter Kraft aus dem Loch heraus.
Vor ihren Augen erstreckte sich der Wald. Zu ihrer Überraschung sah er in der Dunkelheit beinahe friedlich aus. Als ob er die Todesangst nicht verspürte, die sie und die anderen durchlitten hatten, als sie von den Soldaten mit Maschinenpistolen in ihn hineingeführt worden waren.
Auf einmal wieder das Crescendo deutscher Stimmen. Fluchend kämpften sich die Soldaten einen Weg durch das Dickicht zurück zur Grube, und obwohl Sarah nicht verstand, was sie sagten, ließ der Klang ihrer Sprache das Blut in ihren Adern gefrieren. Ob sie bemerkt hatten, dass jemand mit dem Leben davongekommen war? Wenn ja, würden sie nun überall nach ihr suchen?
Sie musste sich verstecken, dachte Sarah. Jetzt oder nie. Denn eine Flucht würde ihr nicht gelingen, das spürte sie. Dafür waren die Deutschen zu viele, und außerdem würde sie durch das Unterholz zu langsam vorankommen. Zweifellos wäre sie früher oder später in Schussweite der Maschinenpistolen.
Mit riesigen Schritten hetzte sie in den Wald. Suchte Schutz zwischen den Bäumen, während ihr Herz raste und sie am ganzen Körper zitterte. Hektisch atmete sie ein und aus, sodass Atemwolken aus ihrem Mund schossen und sich auflösten in der Nachtluft.
Bei diesem Anblick kam Sarah auf eine Idee. Aber ob sie funktionierte? Sie musste es wenigstens versuchen. Den immer lauter werdenden Stimmen nach zu urteilen, blieben ihr nur noch wenige Minuten, bis die Soldaten wieder in ihrer unmittelbaren Nähe sein würden.
Deshalb stieß Sarah ihre Hände in die Erde hinein und grub wie besessen in den Boden. Ihre Fingernägel rissen ein, Blut quoll hervor, aber sie machte weiter, bis vor ihren Augen Sterne tanzten.
Dann plötzlich ein Schuss.
Sarah schreckte hoch. Zusammen mit dem Knall schoss das Echo ihres Schreis durch den Wald. Von Baum zu Baum, bis herüber zu der Grube, aus der sie soeben erst entkommen war. Hatten die Deutschen sie etwa gehört?
Das Knacken der Schritte wurde lauter, die Soldaten bewegten sich nun durchs Geäst auf sie zu. Keuchend rammte sie ihre blutigen Hände immer wieder in den Boden, bis sie endlich die erste Erdschicht abgetragen hatte. Dann legte sie sich in die Kuhle hinein und bedeckte ihren Körper in Windeseile mit Laub und Gestrüpp.
Sarah schloss die Augen. In Gedanken sprach sie das Gebet, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte. Es war das einzige, das sie sich je gemerkt hatte.
»Erhabener, es ströme Deine Barmherzigkeit und erbarme Dich über Dein Kind geliebtes. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, die Herrlichkeit Deiner Macht zu schauen! Dies ist das Sehnen meines Herzens: Erbarme Dich und verbirg Dich nicht!«
Die Schritte kamen näher und näher.