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ERSTES BUCH –
Die kultivierten Tage

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Zum wiederholten Mal fischte Vitka Kempner die Karte aus ihrer Tasche.

So ein Mist, fluchte sie innerlich. Wie sollte sie auf diesem zerfleddernden Fetzen Papier überhaupt etwas erkennen?

Immer wieder verglich sie die verwaschene Zeichnung mit der Landschaft vor ihren Augen und hielt verzweifelt Ausschau nach irgendeinem Anhaltspunkt. Nach irgendetwas, das ihr sagte, dass sie noch immer in die richtige Richtung ging. Doch dieses verfluchte Ding war einfach zu nichts zu gebrauchen. Vitka musste sich eingestehen, dass sie auf den verzweigten Wegen längst die Orientierung verloren hatte.

Frustriert stopfte sie die Karte wieder zurück in ihre Tasche und fuhr sich durchs Gesicht. Wegen der Strapazen der letzten Monate war sie immer dünner geworden. Ihre Wangenknochen traten inzwischen deutlich unter ihrer blassen Haut hervor, und der lange Marsch, zu dem sie vor Stunden aufgebrochen war, zehrte zusätzlich an ihren Kräften.

Trotzdem hatte Vitka immer noch keinen Hinweis auf ihr Ziel entdeckt. Hatte sie ihren Auftrag etwa unterschätzt? Die Warnungen der anderen hatte sie jedenfalls allem Anschein nach nicht ernst genug genommen.

Vor zwei Wochen waren Mitglieder der Jungen Garde im Wald auf ein Mädchen gestoßen. Nackt, halb erfroren, der Körper übersät von blauen Flecken und getrocknetem Blut. Tagelang war das Mädchen umhergeirrt und hatte sich vor den Deutschen versteckt. Dass es den Klauen dieser Bestien tatsächlich entkommen war, erschien vielen in der linksgerichteten zionistischen Jugendorganisation wie ein Wunder.

Doch das, was Sarah ihren Rettern anschließend berichtete, war noch viel dramatischer. So unvorstellbar, dass ihr niemand glauben wollte. Vor allem nicht Jakob Gens, der Chef der jüdischen Polizei, der sie für verrückt erklärte und sofort ins Krankenhaus bringen ließ.

Noch am selben Abend berief die Junge Garde eine Versammlung ein. Auch Vitka nahm an dem Treffen im Ratskeller teil. Stolz akzeptierte sie den Auftrag, den die anderen ihr erteilten: Sie sollte zu Abba Kovner gehen. Ihr Anführer, der sich in einem Frauenkloster außerhalb der Stadt versteckt hielt, musste dringend von Sarah erfahren. Alle hofften, dass er schon wissen würde, was zu tun sei.

Für ihre Mission war Vitka wie geschaffen. Ein polnisches Bauernmädchen wie sie, das nicht jüdisch aussah und auch keinen jiddischen Dialekt sprach, fiel bei den Deutschen nicht besonders auf. So war es der Jungen Garde erfolgreich gelungen, sie aus dem Getto zu schleusen und in einer Dachgeschosswohnung in einem Haus am Stadtrand unterzubringen. Vitka lebte dort zusammen mit ihrer Vermieterin, einer alten Dame, der sie im Haushalt half und deshalb keine Miete zahlte. Unbemerkt richtete sie in ihrem Zimmer ein kleines Lager ein, von wo aus sie regelmäßig Essen und Kleidung ins Getto schmuggelte. Denn dank ihrer Erscheinung war es für sie kein Problem, ungehindert durch das Tor in der Rudnitskaja-Straße zu gelangen. Durch das Tor, das für die Bewohner zugleich Anfang und Ende ihrer beengten, todbringenden Welt darstellte und durch das man in jenes Viertel gelangte, in das man die Juden im Mittelalter schon einmal eingesperrt hatte.

Dieser düstere Gedanke holte Vitka zurück in die Gegenwart. Enttäuscht, dass sie offenbar an ihrer Mission gescheitert war, schaute sie hinauf zum Himmel. Der Mond war bereits aufgegangen und durch sein fades Licht wirkte die Landschaft wie gefroren. Bauernhöfe, Felder, Bäume – über der Welt, wie sie sich Vitka zeigte, lag tiefe, friedliche Stille. Kraftspendende Ruhe inmitten einer Zeit des Sterbens.

Dann, als Vitka ihren Kopf wieder senkte und in die Ferne sah, erkannte sie plötzlich etwas. Wie ein Fingerzeig kletterte der Mondschein einen Hügel hinauf, der sich am Ende eines Feldwegs zum Himmel wölbte. War das etwa …? Viele in der Jungen Garde hätten wohl behauptet, dass dies ein Zeichen Gottes gewesen war.

Obwohl Vitka nicht an derartige Phänomene glaubte, folgte sie dem Weg und erklomm so die Spitze des Hügels. Oben angekommen, schnappte sie nach Luft. Erschöpft von dem langen Marsch ließ sie ihren Blick über die Landschaft zu ihren Füßen schweifen.

Jetzt endlich entdeckte sie es: Unrhythmisch flackernder Kerzenschein erhellte die Fenster des Dominikanerklosters. Schwaches, schummriges Licht, das einen zerbrechlichen Keil der Hoffnung in die Dunkelheit trieb.

*

Abba hockte im Schneidersitz auf seiner Matratze und blätterte in der Bibel.

Obwohl er kein gläubiger Jude war, hatten die kämpferischen Passagen der Heiligen Schrift es ihm so angetan, dass er sie manchmal, wenn er in der entsprechenden Stimmung dafür war, regelrecht verschlang. Vor allem waren es die Geschichten über die jüdischen Armeen der Vergangenheit, die ihn so faszinierten. Erzählungen über mutige junge Männer, die durch die Wüste Palästinas marschiert waren und dabei schmerzliche Niederlagen erlitten, aber ebenso berauschende Siege gefeiert hatten. Männer, wie auch Abba einer sein wollte.

Jedes Mal, wenn er diese Geschichten las, riefen sie ihm etwas in Erinnerung: sein Schicksal. Denn Abba war davon überzeugt, zu Höherem bestimmt zu sein. Nicht etwa durch Gott, wie viele ihm unterstellten. An dessen Existenz hegte Abba berechtigte Zweifel. Genauso wenig wusste er, was genau sein Schicksal für ihn bereithielt. Doch was auch immer es sein würde, er fühlte sich bereit dazu.

Dann hörte er plötzlich ein zaghaftes Klopfen. Abba hob den Kopf und erkannte das Gesicht der Mutter Oberin. Anna Borkowska, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, hatte seine Tür einen Spaltbreit geöffnet und lugte in seine Kammer hinein.

»Entschuldige die späte Störung«, flüsterte sie, »hier ist ein Mädchen, das dich unbedingt sprechen möchte.«

Abba schenkte der Frau ein Lächeln und schob die Bibel unter seine Matratze. »Lass sie ruhig herein«, sagte er und richtete sich auf.

Ihr, die von allen im Kloster nur »Mutter« genannt wurde, hatte Abba nichts Geringeres als sein Leben zu verdanken. Nachdem die lebhafte, heute fünfunddreißig Jahre junge Frau ihr Studium in Warschau beendet hatte, war sie in den Konvent in der Nähe von Kolonia Wilenska gegangen. Später, als die Deutschen in Litauen einmarschiert waren, hatte sie für Abba und sechzehn weitere Mitglieder der Jungen Garde die Tore ihres Stifts geöffnet. Hatte sie dort vor den Nazis versteckt, sie zur Tarnung in Trachten gehüllt und allesamt zum Arbeiten auf die Felder geschickt. Es hatte nicht lange gedauert, bis sich trotz der immensen Unterschiede zwischen den christlichen Schwestern und den säkularen Juden eine enge Beziehung entwickelte.

Als nun das Mädchen, das so dringend zu ihm wollte, seine Kammer betrat, hätte Abba sich am liebsten die Augen gerieben. Sie sah aus wie eine junge Bäuerin, etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Unter ihrem Kopftuch lugten hellblonde Strähnen hervor, während ihre müden Augen die leidvolle Geschichte einer Vertriebenen erzählten, einer jungen Frau, der man alles genommen hatte.

Sie, die um ein Treffen gebeten hatte, stand nun sprachlos da und zitterte am ganzen Körper. Auf dem Weg zum Kloster musste sie halb erfroren sein. Abba bückte sich, griff nach der Wolldecke auf seiner Matratze, schüttelte sie aus und legte sie dem Mädchen um die Schultern.

»Wie heißt du?«, fragte er.

Langsam, wie in Zeitlupe, formten sich ihre Lippen nun zu einem Lächeln. Als hätte dies ihr trauriges Gesicht neu erschaffen, wirkte sie plötzlich heiter und ausgelassen. Augenblicklich fühlte Abba sich von ihrer kindlichen Art eingenommen.

»Ich heiße Vitka«, sagte sie. »Ich soll dich zurückholen.«

Abba verzog das Gesicht. »Zurück?« Er kratzte sich am Kinn. »Wohin zurück?«

»Zurück ins Getto«, antwortete Vitka. »Es gibt dort jemanden, den du kennenlernen musst.«

*

Je näher sie dem Tor kam, desto schneller schlug ihr Herz. Bis zur Kontrollstelle waren es keine hundert Meter mehr. Vor ihr standen nur noch wenige Menschen in der Schlange. Wie eine ständige Bedrohung baumelte über ihrem Kopf das Schild mit der Aufschrift »Das Mitführen von Lebensmitteln ist untersagt! Zuwiderhandelnde werden erschossen!« im Wind hin und her.

Hannahs zittrige Finger glitten in ihre Tasche. Fest und voller Hoffnung umklammerte sie die Konserve. Eine alte Frau mit mitleidigen Augen hatte sie ihr im Vorbeigehen zugesteckt, gerade als Hannah nach der Arbeit in der Fabrik zurück ins Getto geführt worden war. Wenn es ihr doch nur irgendwie gelingen würde, sie an den Wächtern der jüdischen Polizei vorbeizuschleusen! Dann würde sie die Erbsen ihrer Mutter schenken, die von allen in ihrer Familie am meisten unter dem Hunger litt. Er hatte aus der Frau, die früher nur so vor Kraft und Lebensfreude gestrotzt hatte, ein klappriges, dem Leben überdrüssiges Skelett gemacht.

Dann, während Hannah wartete und im Stillen betete, entdeckte sie plötzlich ein bekanntes Gesicht. War das etwa … Levi? Vor einem Jahr hatte der schlaksige Junge in der Schule noch neben ihr gesessen. Eine Zeit lang war Hannah sogar überzeugt gewesen, dass er für sie geschwärmt hatte.

Jetzt stand er hier und bewachte das Tor an der Ecke zur Niemiecka-Straße. Trug einen feinen sauberen Anzug, mit der blau-weißen Binde der jüdischen Polizei um den linken Oberarm, dazu eine Trillerpfeife um seinen Hals und einen hölzernen Schlagstock an seinem Handgelenk. Mit eisigem Blick untersuchte er die Menschen auf verbotene Gegenstände.

»Arme hoch!«, befahl er auch ihr, als Hannah an der Reihe war.

Erst jetzt erkannte er sie. Mit einem Mal funkelten seine Augen und einen flüchtigen Moment lang formten sich seine Lippen zu einem zaghaften Lächeln. Levi wartete, bis Hannah ihre Arme in die Luft streckte, tastete sie anschließend nur mit spürbar sanftem Druck ab, aber als er die Dose in ihrer Tasche erfühlte, hielt er kurz inne. Mitleidig sah er sie an, während eine Träne an Hannahs Wange herunterkullerte. Sie zuckte mit den Schultern.

»Los! Weitergehen!«, befahl Levi zu ihrer Überraschung. Beherzt schob er sie an sich vorbei.

Hannah konnte ihr Glück kaum fassen! Sie nahm ihre Arme herunter, verschränkte sie vor ihrer Brust und flüsterte ein schüchternes »Danke«. Levi zwinkerte ihr zu und winkte schließlich den Nächsten aus der Schlange zu sich.

Mit gesenktem Kopf verließ Hannah die Kontrollstelle und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie freute sich bereits auf das Gesicht, das ihre Mutter machen würde, wenn sie –

»Halt!«, schallte es auf einmal zwischen den Häuserwänden. »Du da, sofort stehen bleiben!«

Wie ein Blitz schoss der Klang der sonoren Stimme durch Hannahs Körper. Obwohl sie den Mann nicht sehen konnte, spürte sie augenblicklich seine unmittelbare Anwesenheit. Widerwillig drehte sie sich herum und erkannte ihn sofort: Diese stahlblauen Augen, diese dunklen, zu einem strengen Seitenscheitel gekämmten Haare und diese akkurat sitzende Uniform würde sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen.

Franz Murer.

»Der Herr der Juden«, wie sie ihn nannten. Der Mann, der als Stellvertreter des Gebietskommissars für jüdische Angelegenheiten zuständig war und dessen Namen man im Getto nur hinter vorgehaltener Hand aussprach. Ihm gegenüberzustehen bedeutete meistens nur eines: den sicheren Tod.

»Komm her!«, schrie Murer. Mit seinem Schlagstock zeigte er auf Hannahs Hose. »Was hast du in der Tasche? Na los, hol’s raus!«

Hannah zögerte. Wie versteinert stand sie da, nur noch wenige Meter vom Haus ihrer Eltern entfernt. Sie konnte von hier aus sogar das ausgemergelte Gesicht ihrer Mutter ausmachen. Sie stand hinter einem der verdreckten Fenster und hielt sich die Hand vor den Mund.

Hannahs Knie schlotterten. Um sie herum herrschte Stille. Sogar die Kontrolleure am Tor hatten ihre Arbeit unterbrochen. Dutzende Augenpaare blickten sie an, während sie sich Murer mit wackeligen Schritten näherte.

Dann plötzlich der erste Hieb. Mit voller Wucht traf der Schlag des SS-Obersts sie im Gesicht. Hannah stürzte zu Boden, doch Murer trat und schlug sie weiter. Sie spürte jeden Tritt, krümmte sich vor Schmerzen. Blut lief ihr ins Gesicht. Um sie herum wurde es dunkel. Murers berauschtes Stöhnen entschwand langsam ihrem Bewusstsein.

Bis sie schließlich nichts mehr fühlte außer Wärme. Die Welt, die sie umgab, verschwamm zu einem verwaschenen Gemälde. Allumfassender Frieden breitete sich in ihrem Körper aus.

*

Schweigend trotteten Vitka und Abba zusammen durch die Nacht. Vom Mondschein geleitet durchquerten sie Felder, umliefen Ortschaften, in denen in manchen Häusern noch Licht brannte, und sprangen über Bäche, die sich als Ausläufer der Wilija wie Wurzeln eines Baumes durch die Landschaft zogen.

Seitdem sie das Kloster hinter sich gelassen hatten, hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Und das, obwohl Vitka davon ausgegangen war, dass Abba sie pausenlos über Sarah ausfragen würde. Dass er wissen wollen würde, was das Mädchen den Mitgliedern der Jungen Garde denn erzählt hatte und warum dies für ihren Kampf von solcher Bedeutung war. Doch zu ihrer Überraschung schien ihr Anführer, den sie sich aufgrund der Beschreibungen viel redseliger vorgestellt hatte, einfach nur die Stille zwischen ihnen zu genießen.

Trotzdem fühlte Vitka sich wohl bei ihm, so viel konnte sie bereits sagen. Abbas Gegenwart beruhigte sie, weckte in ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Etwas, das sie bisher nur im Kreis ihrer Familie empfunden hatte. Bis zu diesem Moment hatte sie geglaubt, dass sie es nie wieder empfinden würde.

Während die beiden sich den Toren der litauischen Hauptstadt näherten, blickte Vitka verstohlen zu Abba hinüber. Er sah genau so aus, wie die Mitglieder der Jungen Garde ihn beschrieben hatten: ein schlanker, drahtiger Mann mit langen Armen und Beinen. Dazu hochgezogene Schultern, dunkle, traurige Augen, die einen geheimnisvollen Glanz versprühten, und weiche, fast weibliche Gesichtszüge. Trotzdem, fand Vitka, strahlte er auf sie zugleich eine rohe, männliche Kraft aus.

Nach einiger Zeit brach Abba das Schweigen zwischen ihnen. »Was ist mit deinen Eltern?«, fragte er. »Sind sie auch im Getto?«

»Nein«, antwortete Vitka. Demütig senkte sie ihr Haupt. »Sie sind tot.«

»Das tut mir leid. Wenn du möchtest, kannst du mir davon erzählen.«

Vitka überlegte kurz, doch dann schüttelte sie nur den Kopf. Denn das Angebot ihres Anführers hatte dunkle Erinnerungen in ihr wachgerufen. Erinnerungen an den Tag, an dem sie ihren Eltern zum letzten Mal gegenübergestanden hatte. An den Moment, vor dem sie sich vorher immer gefürchtet hatte. Der Augenblick, in dem es hieß, für immer Abschied zu nehmen.

Das letzte Mal hatten sie sich in der Kirche gesehen. In dem verlassenen Gotteshaus, in das die SS alle dreitausend Juden nach der Eroberung von Vitkas Heimatstadt gesteckt hatte. Kalisz, so raunte man in den Straßen, sollte zur judenfreien Zone werden. Am Morgen dieses Tages, der ihr letzter gemeinsamer Tag werden sollte, waren Vitkas Eltern noch verzweifelt durch die Stadt gelaufen. Hatten bis zuletzt versucht, irgendetwas in Erfahrung zu bringen, während Vitka derweil zu Hause auf sie gewartet hatte. Erst am frühen Abend waren sie zurückgekehrt.

»Was geschieht nun mit uns?«, fragte Vitkas Mutter. Die Tränen in ihren Augen verrieten, dass sie die Antwort bereits zu kennen glaubte. Vielleicht hatte sie auch gehofft, dass Vitkas Vater ihr etwas anderes sagen würde. Dass er ihr versprechen würde, alles käme in beste Ordnung.

Doch stattdessen nahm er ihr Gesicht in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wir werden umgesiedelt«, erklärte er. Das war es, was die Deutschen ihm, dem die familiengeführte Schneiderei gehörte, erzählt hatten.

Am Abend klopfte es dann an ihrer Wohnungstür. »Los, alles einpacken und mitkommen!«, schrien zwei Soldaten mit vorgehaltenen Maschinenpistolen. Eine Viertelstunde später, nachdem sie eilig ihre Koffer gepackt hatten, bestiegen sie einen Lkw. Zusammen mit den jüdischen Nachbarn aus ihrer Straße quetschten sie sich auf die Ladefläche und fuhren in bedrückendem Schweigen durch die Dämmerung.

An der Kirche angekommen, pferchten die Soldaten sie mit gellenden Pfiffen und Geschrei in das Gotteshaus. Draußen, vor den großen, bemalten Bleiglasfenstern, sahen sie ein hellrotes Flackern.

Vitkas Vater begriff es als Erster. Für ihn waren die Fackeln der Beweis: Er war einem fatalen Irrtum unterlegen. In wenigen Minuten würde von den dreitausend Juden aus Kalisz niemand mehr am Leben sein. Verschlungen von den gefräßigen Flammen oder aber erstickt im Rauch des Feuers.

»Du musst verschwinden«, befahl er Vitka augenblicklich. Mit Tränen in den Augen fiel sich die kleine Familie um den Hals. Da war er, der Moment, den Vitka am liebsten niemals, auf keinen Fall aber bereits in so jungen Jahren, erleben wollte.

»Los, los!«, wiederholte ihr Vater. Er trennte Mutter und Tochter, die einander eng umschlungen hielten. »Gleich bleibt dir keine Zeit mehr!«

Dann kämpfte Vitka sich durch die Menschenmenge. Fuhr ihre Ellenbogen aus, wie ihre Mutter es ihr befohlen hatte, und boxte sich so einen schmalen Weg frei. Schließlich entdeckte sie die winzige Kammer, von der ihr Vater gesprochen hatte, und quetschte sich durch ein enges Fenster mühsam ins Freie. Während sie zu dem nahe gelegenen Waldstück rannte, hörte sie Schreie und spürte in ihrem Rücken die Hitze der Flammen. Keuchend erreichte sie die erste Reihe der Bäume. Als sie einen Blick zurück riskierte, waren die Schreie bereits verstummt. Unendlich lange Sekunden später war Vitka die einzige noch lebende Jüdin aus Kalisz.

Abbas mitfühlendes Nicken holte sie zurück in die Gegenwart.

»Ich kann verstehen, dass du darüber nicht sprechen magst«, sagte er. »Mögen deine Eltern in Frieden ruhen.«

»Danke«, sagte Vitka. »Ich hoffe sehr, dass sie es tun.«

Hand in Hand marschierten sie weiter den Lichtern der Stadt entgegen. Ein zarter, am Horizont wabernder Schimmer, der ihnen den Weg leitete.

Im Morgengrauen erreichten Abba und Vitka ihr Ziel. Von einem der bewaldeten Hügel, die Wilna wie eine Kette umschlossen, schauten sie herab auf die in einer Senke liegende Stadt. Im Dunst der frühen Morgenstunden hatte ihr Anblick etwas Malerisches. Gepflasterte Straßen schlängelten sich zwischen byzantinischen Ecken und zerfallenden Holzhäusern hindurch. Die Wilija, auf deren Wasser die wenigen Strahlen der Morgensonne tanzten, zog sich wie ein silbernes Band durch die Stadt. Vorbei an zahlreichen Kirchtürmen mit rostbraunen Kupferdächern, die sich in den Himmel streckten und einander wegen der engen Bebauung beinahe zu berühren schienen. Am Rande des Waldes, der an die Stadt grenzte, erhob sich majestätisch das Schloss.

Abba liebte Wilna. Seine Familie lebte schon seit mehreren Generationen hier. Bevor die Deutschen einmarschiert waren, hatte er zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester in bescheidenen Verhältnissen in einem Haus gewohnt. Sein Vater hatte sich immer gewünscht, dass Abba seinen Lebensunterhalt auf praktische Weise verdienen würde – genauso wie er. Doch dabei hatte er die Rechnung ohne seinen Sohn gemacht. Denn Abba hatte nie etwas anderes im Sinn gehabt, als Künstler zu werden. Zeichnen, Dichten, Bildhauen – das waren die Dinge, für die er sich begeisterte. Unzählige Male war deshalb zwischen ihnen ein heftiger Streit entbrannt. Heute fragte Abba sich, ob sie dazu überhaupt jemals wieder Gelegenheit haben würden.

»Du siehst traurig aus«, bemerkte Vitka.

Erschrocken drehte Abba sich zu ihr herum. Wieder schaute sie ihn aus ihren kindlich-naiven Augen an.

»Du hast recht«, antwortete er und nickte zaghaft. »Auch ich habe einen Teil meiner Familie verloren.«

Die Große Provokation hatte Abbas Leben für immer verändert. Noch immer blitzten die Erinnerungen an diesen Tag regelmäßig in ihm auf: das ohrenbetäubende Poltern der Soldaten, die durch die Treppenhäuser gestürmt waren und jeden Juden verhaftet hatten, den sie in die Finger bekamen. Die flehenden Rufe der Menschen, die die Deutschen aus ihren Wohnungen auf die Straße geschleift, verprügelt oder an Ort und Stelle hingerichtet hatten. Unter Tränen hatte Abba mit angesehen, wie ein Soldat ein Baby an den Füßen gepackt und seinen winzigen Kopf so lange gegen eine Hauswand gehämmert hatte, bis dessen Schreie für immer verstummt waren.

Ihm, Abba, hatte die Junge Garde hingegen ein sicheres Versteck besorgt. Von dort aus hatte der Anführer die Räumung des Gettos miterlebt. Auch seine Mutter war verschont blieben. Im Gegensatz zu seinem Vater, den ein anderes Schicksal ereilt hatte. Zusammen mit anderen Männern hatten die Deutschen ihn zu einem Bahnhof verschleppt, um sie in den Osten umzusiedeln, wie sie es nannten, wenn sie die Juden an die Orte brachten, von denen nie jemand zurückgekommen war. Deshalb befürchtete Abba, dass er seinem Vater am Morgen dieses Tages zum letzten Mal in die Augen gesehen hatte.

Jetzt spürte er plötzlich eine sanfte Berührung. Vitkas Hand ruhte auf seiner Schulter und schob seine Erinnerungen beiseite.

»Lass uns gehen«, sagte sie, »Sarah wartet auf uns.«

*

Ungläubig starrte Ruzka Korczak ihm ins Gesicht. Er war es tatsächlich: Abba Kovner, der Anführer der Jungen Garde.

Bisher hatte sie ihn noch nie gesehen, sondern immer nur gehört, wie sich die anderen Mitglieder über ihn unterhielten. Sie alle sprachen von ihm in den höchsten Tönen, und für viele, so bekam Ruzka den Eindruck, stellte er so etwas wie einen Retter dar. Einen Heilsbringer, der sie alle erlösen würde.

Ein Mensch allein konnte unmöglich solche Erwartungen erfüllen, dachte sie.

Doch nachdem Abba das Zimmer betreten hatte, erschien es ihr, als habe seine Energie augenblicklich den ganzen Raum erfüllt. Seine Anziehungskraft war gewaltig, und so ertappte Ruzka sich bei dem Gedanken, dass er wie geboren sei für seine Rolle als Anführer. Welch großes Glück sie doch hatten, dass es Vitka gelungen war, ihn an den Deutschen vorbei ins Getto zu schleusen.

Nun stand Abba leibhaftig neben ihr in dem Krankenhauszimmer. Mit wachen, einfühlsamen Augen schaute er auf das einzige Bett im Raum.

In ihm lag Sarah. Das Mädchen, auf das Mitglieder der Jungen Garde im Wald gestoßen waren, in dem es sich tagelang vor den Deutschen versteckt hatte.

Sarah war leichenblass. Obwohl die Schwestern sie mehrmals gekämmt und sich intensiv um ihre Verletzungen gekümmert hatten, war sie noch immer gezeichnet von den Strapazen ihrer Flucht. Als ob jede Zelle ihres Körpers stumme Schmerzensschreie ausstieß.

»Ich bin Abba«, stellte der Anführer der Jungen Garde sich vor. Behutsam streichelte er Sarahs Hand. Seine Stimme klang warm und kraftvoll. »Ich bin gekommen, um mir deine Geschichte anzuhören.«

Sarah schaute ihm wortlos in die Augen. Ihr Blick wanderte umher, als ob sie vor den Erwartungen, die die Anwesenden an sie und ihre Erzählungen knüpften, zu fliehen versuchte.

»Aktion Gelbe Scheine«, flüsterte sie schließlich. »Die Deutschen, sie haben alle aus dem Getto getrieben.« Ruzka erkannte eine Träne, die langsam an der Wange des Mädchens herunterkullerte. »Mein Vater hatte einen Arbeitsschein, das war sein Glück. Für meine Mutter und mich hatte er ein Versteck organisiert, eine dunkle, stickige Kammer. Da haben wir uns zusammen mit den anderen hineingequetscht. Den ganzen Tag lang war es laut auf der Straße. Wir haben Schreie gehört. Trillerpfeifen. Haben gehört, wie die Menschen davongerannt sind.« Sarahs Blick wirkte wie versteinert. »Plötzlich hat jemand die Tür eingetreten. Soldaten haben uns an den Haaren aus der Kammer gezerrt.«

Wieder verfiel sie in nachdenkliches Schweigen, als ob die Erinnerungen an diesen Tag zu schwer wogen, um sie ohne Pause zu erzählen. Erneut wanderten ihre glasigen Augen haltlos durch das Zimmer. An dem speckigen Fenster, durch das man nach draußen auf den Innenhof sehen konnte, blieben sie haften. Beklemmende Stille erfasste den Raum.

Nun ließ Abba sich achtsam auf der Matratze des Krankenbetts nieder. »Wohin haben sie euch gebracht?«

»Sie haben uns zu einer Lichtung gefahren«, antwortete Sarah. Ihre Stimme klang noch brüchiger als zuvor. »Wir mussten uns ausziehen und unsere Sachen auf einen Haufen werfen.« Mit ihren Händen malte sie einen Berg in die Luft. »Dann haben sie uns in den Wald geführt, eine Gruppe nach der anderen. Wir haben Schüsse gehört. Zurückgekommen sind nur die Soldaten. Irgendwann sind wir an der Reihe gewesen.«

Die Anwesenden lauschten Sarahs Bericht mit hängenden Köpfen und geschlossenen Augen. Nur Abba schaute von Zeit zu Zeit zu ihr hoch. Legte bedächtig seine Hand auf ihre Schulter oder streichelte ihr über den Kopf. Ruzka ertappte sich bei dem Gedanken, dass auch sie gerne seine Hände auf ihrem Körper gespürt hätte.

In Etappen erzählte Sarah den Rest ihrer Geschichte. Davon, wie sie sich vor den Deutschen im Unterholz versteckt hatte. Wie sie tagelang durch den Nadelwald gekrochen war und dabei den Soldaten, die ihre Fährte aufgenommen hatten, immer wieder nur knapp entkommen war.

Abba wirkte bestürzt. Ruzka beobachtete ihn von der Seite. Ob sich ihrem Anführer in diesem Augenblick dieselbe Erkenntnis aufgedrängt hatte? Dieses Massaker, dachte Ruzka, veränderte alles.

*

Wildes Geschrei erfüllte den Keller des Ratsgebäudes. Leipke Distel hielt sich die Ohren zu. Kopfschüttelnd beobachtete er das Schauspiel, das sich ihm vor seinen Augen bot. Er war der Einzige, der noch ruhig auf seinem Stuhl saß. Das Treffen der Jungen Garde, das Abba einberufen hatte, war völlig aus dem Ruder gelaufen.

»Wo bist du so lange gewesen?«, fragten einige Mitglieder ihren Anführer.

In der Tat hatte Abba sich eine Weile nicht blicken lassen. Dann war er plötzlich wie aus dem Nichts im Getto aufgetaucht. Viele waren erschrocken gewesen, als sie ihn wiedersahen, denn Abba hatte sich verändert. In seinen Augen lag nun ein kalter, unbeirrbarer Blick. Er trug schmutzige, zerlumpte Kleider und hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Ein seltenes Bild, das alle irritierte. Bisher war er doch dafür bekannt gewesen, großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres zu legen.

Zu Leipkes Überraschung ging Abba jedoch auf keine der Fragen ein. »Wir müssen uns den Tatsachen stellen«, begann er stattdessen. Obwohl er mit tiefer und fester Stimme sprach, war im flackernden Kerzenschein, der das Gewölbe spärlich beleuchtete, das nervöse Zittern seiner Hände zu sehen. »Die Deutschen sagen, sie hätten unsere Familien und Freunde in den Osten umgesiedelt. Wie wir aber nun durch Sarah wissen, ist das eine Lüge. Sie haben sie alle in den Wald nach Ponary gebracht.« Indem er einzelnen Zuhörern einen Moment lang tief in die Augen sah, verlieh er seinen folgenden Worten noch mehr Gewicht. »Sie haben sie nur aus einem Grund dort hingebracht: um sie alle zu erschießen.«

Ungläubig wanderten die Blicke der Mitglieder durch den Kellerraum. Selbst für Leipke, dessen Eltern im Rahmen der Umsiedlungsaktion ebenfalls mitten in der Nacht abgeholt worden waren, klang das unvorstellbar. Warum sollten die Deutschen so etwas tun? Schließlich waren es doch die Juden, die ihnen als Zwangsarbeiter in den kriegswichtigen Fabriken dienten. Für Leipke ergab das keinen Sinn.

Abba ging noch einen Schritt weiter. Er fragte in die Runde: »Wisst ihr, was ich dadurch verstanden habe? Dass das nur der Anfang ist.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Einen anderen Schluss lassen Sarahs Erzählungen nicht zu. Das war keine Einzelmaßnahme. Erinnert euch: Die Deutschen sind organisiert, sie denken systematisch. Womit wir es hier zu tun haben, liebe Freunde, ist eine Maschinerie, und diese Maschinerie dient nur einem einzigen Zweck: Das Judentum in Gänze zu vernichten.«

Nun meldete sich plötzlich Rachel zu Wort. Dank ihrer lauten, festen Stimme gelang es ihr, die wachsende Unruhe zu übertönen. »Natürlich sind wir alle zutiefst verstört durch das, was Sarah uns berichtet hat«, sagte sie. Um sich der Zustimmung der Anwesenden zu versichern, drehte sie sich kurz zu ihnen herum und sah einigen von ihnen flüchtig in die Augen. »Aber wenn du mit deinen Vermutungen richtigliegst, was schlägst du uns dann vor? Wie sollen wir es schaffen zu überleben?«

Eine Zeit lang schaute Abba in erwartungsvolle Gesichter. Als habe er die Verantwortung gespürt, die nun auf seinen Schultern lag, verlor sich sein kalter Blick in der Unendlichkeit.

»Wir müssen begreifen«, setzte er wieder an, »dass uns niemand retten wird. Wir sind auf uns allein gestellt.«

»Dann verschwinden wir«, brüllte jemand in den Raum hinein. »Wir hauen ab, bevor es noch schlimmer kommt.«

Abba schüttelte den Kopf. »Flucht ist eine Illusion, das werden die Deutschen nicht zulassen.« Nachdenklich kratzte er sich an seinem Kinn. »Deshalb stehe ich heute Abend vor euch: Lasst uns nicht wie Lämmer zur Schlachtbank gehen! Ich sage: Lieber sterben wir als freie Menschen im Kampf, als dass wir durch die Gnade unserer Mörder weiterleben.«

Jetzt klinkte sich Samuel Posner in die Diskussion ein. Per Handzeichen bat er ums Wort und wartete, bis sich die Unruhe gelegt hatte. »Bei allem, was uns manchmal trennt«, sagte er, »gibt es doch etwas, das uns vereint.« Er klang besonnen, als wollte er gerade einen lebensmüden Mann daran hindern, Selbstmord zu begehen. »Es ist der Glaube. Nicht nur der Glaube an Gott oder der Glaube an das Himmelreich. Nein: Es ist die Überzeugung, dass unser aller Platz in Eretz Israel ist.« Samuel stemmte eine Hand in die Hüfte und zeigte mit der anderen in südöstliche Himmelsrichtung. »Somit ist jeder Kampf, den wir hier austragen, umsonst. Ich plädiere dafür, dass wir unsere Kräfte nicht für eine sinnlose, zum Scheitern verurteilte Sache verschenken.« Jetzt legte auch er eine Kunstpause ein, um dem Schluss seiner Wortmeldung einen besonderen Ausdruck zu verleihen. »Was wir stattdessen tun sollten? In meinen Augen haben wir nur eine Pflicht: so viele Menschen wie möglich zu retten.«

Auch Ruzka ergriff nun das Wort. Sie war die Erste, die es nicht mehr auf ihrem Platz hielt.

Leipke überraschte ihre emotionale Reaktion, denn bisher hatte er die junge, auffallend kleine Frau als still und in sich gekehrt erlebt. Doch ihre neue, lebhafte Art gefiel ihm. Schmunzelnd beobachtete er, wie Ruzka schnaufte und mit einer Hand durch ihr braunes Kraushaar fuhr. Vor lauter Wut bekam ihr ohnehin kupferfarbenes Gesicht einen noch rötlicheren Ton, und ihre mandelbraunen Augen, die ansonsten Wärme und Jugend ausstrahlten, sprühten vor Erregung.

»Weißt du eigentlich, was du da sagst?«, fauchte sie in Samuels Richtung. »Dass wir tatenlos zusehen sollen, wie das jüdische Volk vernichtet wird? Dass wir uns verkriechen sollen wie feige Ratten? Warten, bis alles vorüber ist?« Mit dem Ausdruck größtmöglicher Verachtung schüttelte sie den Kopf. »Wie könntest du jemals wieder jemandem in Eretz Israel in die Augen sehen? Wirst du erzählen, dass du dich versteckt hast, als es darum ging, dein Volk zu verteidigen?«

Dieser Einwand brachte Samuel zur Weißglut. Nun sprang auch er, der soeben noch sachlich argumentiert hatte, von seinem Stuhl auf und stieg in das erregte Gestenspiel ein. Lautstark brüllten er, Ruzka, Abba und die anderen gegeneinander an. In dem Ratskeller standen sich nun zwei Lager feindlich gegenüber, die die Argumente der Gegenseite in Bausch und Bogen niederschrien.

Leipke brachte dafür kein Verständnis auf. Eines hatte die Versammlung ihm somit deutlich gezeigt: In der Frage des Widerstands würde in der Jungen Garde so schnell keine Einigkeit herrschen.

*

Erst zwei Wochen waren vergangen, seitdem ein Bote ihm den geheimnisvollen Umschlag ausgehändigt hatte. »Wir müssen uns treffen«, hatte in sauberer Handschrift in Großbuchstaben auf einem einzelnen Blatt gestanden. Jetzt saß der Verfasser dieser Botschaft vor ihm.

Am liebsten hätte Abba sich deshalb ungläubig die Augen gerieben, denn auch für ihn war Isaak Wittenberg bis zu diesem Augenblick nur eine mystische Gestalt gewesen. Eine okkulte Person, die niemand je gesehen hatte und über die nur sehr wenige Informationen im Getto kursierten. Niemand konnte Abba sagen, wie alt Wittenberg war, wie er aussah und wo er herkam. Das Einzige, das man über ihn wusste, war, dass er enge Kontakte nach Moskau pflegte.

Nun saßen sich die beiden glühenden Kommunisten gegenüber. Abba studierte Wittenbergs Gesichtszüge genau. So wie er es immer tat, ließ er seinen spontanen Eindrücken freien Lauf und speicherte sie in seiner Erinnerung ab. Immer wieder behauptete Vitka, dass das die typische Angewohnheit eines Künstlers sei. Eine eigentümliche Art, mit der diese die Menschen und ihre Umgebung betrachteten.

Von Wittenbergs Erscheinung war Abba überrascht. Wie ein intellektueller Revolutionär, für den er ihn gehalten hatte, sah dieser Mann beileibe nicht aus. Vielmehr hatte er ein breites Gesicht und einen immensen Stiernacken, wodurch er eher den Charme eines handfesten Bauern versprühte. Ständig zupfte er an seinem Anzug, der ihm nicht recht zu passen schien und in den er sich offensichtlich nur gegen heftige innere Widerstände der Tarnung wegen hineingezwängt hatte.

Von dem Moment an, in dem Wittenberg die Wohnung in der Straschun-Straße betreten hatte, war sein Blick ausgesprochen kühl gewesen. Ebenso wie seine Worte zur Begrüßung: »Normalerweise habe ich nicht viel übrig für Zionisten.« Er sprach mit einer Stimme, die nicht minder kräftig war als seine Schultern. Mit dem Kinn deutete er in die Richtung des einzigen Fensters. »Schon gar nicht für den da.«

Josef Glassmann, der Angesprochene, verzog keine Miene. Stattdessen lehnte er weiter lässig an der Wand, sodass sein römisches Profil deutlich zu sehen war. Ohne auf Wittenbergs Provokation einzugehen, schaute er aus seinen geheimnisvollen, dunklen Augen nach draußen auf die verschneite Winterlandschaft. Der Anführer der Betar, der im Gegensatz zur Jungen Garde rechtsgerichteten zionistischen Jugendorganisation, war Abbas Einladung gefolgt und ebenfalls zu diesem Treffen erschienen. Von ihm, der der jüdischen Polizei beigetreten war, um Jakob Gens im Auge zu behalten, erhoffte Abba sich wichtige Informationen.

Nach einer Weile ergriff schließlich auch Glassmann das Wort. »Es gibt vieles, das uns trennt«, sagte er besonnen, »und anscheinend sind wir einzig in unserer gegenseitigen Abneigung vereint. Trotzdem hoffe ich, dass diese Zusammenkunft noch eine andere Absicht verfolgt als die, uns unserer Differenzen zu versichern.«

Auf Wittenbergs Lippen bildete sich ein Schmunzeln. Anerkennend nickte er Glassmann zu, als habe dieser soeben eine Art Charaktertest bestanden. Mithilfe seiner bulligen Arme drückte er sich von der Matratze hoch, faltete seine Hände hinter dem Rücken und ging an der fensterlosen Wand hin und her. »Einmal mehr irren Sie sich«, setzte er zu einer kurzen, aber offensichtlich vorbereiteten Rede an. »In der Tat gibt es noch mehr, das uns vereint.« Immer wieder verlieh er seinen Sätzen durch wohl platzierte Kunstpausen Wirkung. Eine rhetorische Technik, derer sich auch Abba häufig bei seinen Reden bediente. Im Unterschied zu Wittenberg, der sich diese bewusst angeeignet zu haben schien, war sie ihm jedoch bereits in die Wiege gelegt worden. »Was uns verbindet, ist nicht der Glaube an Gott. Den haben wir längst eingetauscht. Nein, wir alle drei klammern uns an etwas anderes.«

»Die Hoffnung«, vervollständigte Glassmann. »Die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Der ewige Traum von einem Land der Verheißung.«

Wittenberg nickte. »Ja, wir mögen unterschiedliche Vorstellungen besitzen, wer der Urheber dieser Verheißung ist und wie das Gelobte Land aussehen soll«, sagte er und schüttelte daraufhin den Kopf, »aber kämpfen wir allein, wird keine davon wahr werden.« Er drehte sich um, zog eine Hand hinter seinem Rücken hervor und streckte sie den Männern entgegen.

Abba sah ihn fragend an. »Ein Pakt?«

»Nennen wir es Waffenstillstand«, korrigierte Wittenberg. »Für die Dauer des Krieges. Hier im Getto kämpfen wir nicht mehr als Kommunisten oder Zionisten. Wir kämpfen zusammen. Als Juden.« Mit seiner ausgestreckten Hand ging er weiter auf die anderen zu. »FPO – Fareinikte Partisaner Organisatzije.«

Glassmanns Lippen formten sich zu einem zaghaften Lächeln. Mit der Schulter stieß er sich von der Wand ab.

»FPO«, wiederholte er und legte seine Hand auf die von Wittenberg.

Erwartungsvoll sahen die beiden Männer zu Abba herab. Noch immer hockte der Anführer der Jungen Garde im Schneidersitz auf seiner Matratze. Doch schließlich erhob er sich, legte seine Hand auf die der anderen und sprach die drei Buchstaben leise vor sich hin.

»Darauf stoßen wir an«, sagte Wittenberg. Mit seiner freien Hand fischte er eine Flasche Wodka aus seinem Beutel. »Auf dass wir eines Tages als freie Männer miteinander trinken können.«

*

Mit pochendem Herzen lag Vitka im Gras. Inzwischen hatte das Zittern ihren ganzen Körper erfasst.

»Bleib ruhig«, sagte sie sich. »Verlier jetzt bloß nicht die Nerven!«

Vorsichtig tastete sie mit ihrer linken Hand nach dem Karabiner, der neben ihr im Gras lag. Mit der rechten umklammerte sie den Stiel der Handgranate, als ob ihr Leben davon abhing, und gewissermaßen tat es das auch: Für den Fall, dass etwas schiefging, waren das ihre einzigen Waffen.

Eine Woche lang hatte Vitka nach der perfekten Stelle gesucht. War stundenlang an den Gleisen entlanggelaufen, unermüdlich, trotz ihrer schmerzenden Füße, bis sie sie endlich gefunden hatte: die Brücke, von der Abba ihr erzählt hatte. Sie lag etwa zwanzig Kilometer von Wilna entfernt und führte über eine tiefe Schlucht. Hier sollte der deutsche Zug vorbeikommen, beladen mit Soldaten, Nahrungsmitteln und Nachschub für die Front. Er würde das erste Ziel der Partisanen sein. Von diesem Anschlag erhofften sie sich, dass sie der Wehrmacht einen spürbaren Schlag versetzen würden. Als es darum ging, wer den Plan ausführen sollte, hatte Vitka sich sofort freiwillig gemeldet.

Nun, während es zu dämmern begann, wurde sie ungeduldig. Mit aller Macht kämpfte sie gegen die Müdigkeit, die allmählich Besitz von ihr zu ergreifen drohte. Immer wieder fielen ihr für ein paar Sekunden die Augen zu. Sie glaubte, sich nicht mehr lange wachhalten zu können. Wann tauchte dieser verdammte Zug endlich auf?

Einen Moment lang befürchtete Vitka, dass sie mit ihrem Auftrag scheitern würde. So wie gestern Abend, als die Mission auf Messers Schneide gestanden hatte. Sie war so vertieft gewesen in die Untersuchung der Bahnschienen, dass ihr die Soldaten, die in dem nahe gelegenen Wald Schießübungen abgehalten hatten, nicht aufgefallen waren.

»Hände hoch!«, hatte plötzlich eine Stimme in Vitkas Rücken befohlen. »Hast du die Schilder nicht gelesen?«

Vor ihr stand ein junger Unteroffizier mit vorgehaltenem Karabiner. Als er sie misstrauisch beäugte, durchfuhr Vitka augenblicklich eine eisige Kälte. Sofort war ihr klar, dass jedes falsche Wort ihren Tod bedeuten könnte.

»Ich komme aus Wilna«, erklärte sie mit sanfter Stimme. Sie versuchte, so unschuldig wie möglich zu klingen. »Ich habe mich verlaufen. Können Sie mir helfen?«

Vermutlich war es ihr nicht jüdisches Aussehen, das ihr auch diesmal wieder das Leben rettete. Denn sofort winkte der junge Deutsche einen Bauern herbei, der gerade mit seinem Karren den Waldweg entlangkam. »Zeigen Sie diesem Mädchen den Weg nach Wilna«, befahl er ihm und zwinkerte Vitka vielsagend zu, bevor er wieder im Wald verschwand.

Doch erst nachdem auch der Bauer davongefahren war, wich allmählich die Anspannung aus Vitkas Körper. Es war pures Glück gewesen. Wäre der Deutsche nur kurze Zeit später aufgetaucht, hätte er sie auf frischer Tat ertappt, wie sie die Sprengladung angebracht hätte. Ihr Aufeinandertreffen wäre gänzlich anders verlaufen. Er hätte sie verhaftet und entweder der SS oder der Gestapo vorgeführt. So oder so wäre es ihr Todesurteil gewesen.

Ein flackerndes Licht holte Vitka aus ihren Erinnerungen. Sie schüttelte sich und kniff ihre Augen zusammen. Wie ein scheues Reh huschte das Licht zwischen den Bäumen umher. Über ihnen erkannte Vitka einen zarten, verblassenden Schweif, der in staccatoartigem Rhythmus mit dem Nachthimmel verschmolz.

Es musste der Rauch einer Dampflok sein. Der Zug, auf den sie nun schon seit Stunden wartete, näherte sich ihrer Stellung. Von jetzt auf gleich war Vitkas Müdigkeit verflogen.

Jeden Moment fuhr er über den Zünder, dachte sie, schloss die Augen und betete. In wenigen Sekunden würden die Rebellen das erste Zeichen ihres Widerstands setzen.

Es knallte, und Vitka zuckte zusammen. Mit lautem Krachen schoss eine meterhohe Stichflamme zwischen den Bäumen empor, und ein grelles Licht, das Vitkas Augen blendete, erleuchtete die umliegenden Felder taghell. Obwohl sie weit genug entfernt lag, spürte Vitka die Hitze der Explosion.

Als hätte diese ihre Wahrnehmung verlangsamt, spielte sich auf einmal alles wie in Zeitlupe ab. Trümmer rieselten wie übergroße Schneeflocken vom Himmel. Knisterndes Feuer hüllte den Zug in eine schwarze Rauchwolke, und die entgleiste Lok tuckerte mitsamt den angehängten Waggons unbeirrt der Schlucht entgegen.

Auf Vitkas Lippen breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. Mithilfe des Karabiners drückte sie sich aus dem Liegen auf die Knie und beobachtete die Szenen, die sich vor ihren Augen abspielten.

Das war für ihre Familie, dachte sie.

Wer Wind sät, wird Sturm ernten.

*

Ruzka schloss die Augen. Zwischen ihren Beinen wurde es warm und feucht.

Seit sie Abba in dem Krankenzimmer zum ersten Mal begegnet war, hatte sie sich gefragt, wie seine Küsse sich wohl anfühlen würden. Derart zart und sinnlich hatte sie sie sich jedoch nicht vorgestellt. Abba liebkoste ihre Brüste, als ob er jeden Zentimeter ihres nackten Körpers erkunden wollte, und wanderte anschließend hinab zu ihrem Bauch, während seine Atmung immer schneller und flacher wurde. Mit sanftem Griff fuhr Ruzka ihm durch seine lockigen Haare.

Jetzt fühlte sie auf einmal auch Vitkas Hände auf ihrem Körper. Spürte die Tropfen des Rotweins, die an der Innenseite ihrer Schenkel hinunter auf die Matratze flossen, und bemerkte, wie Abba sie mit seiner Zunge aufzuhalten versuchte. Im Hintergrund plätscherte leise Klaviermusik aus dem Radioempfänger.

Zur Feier des Tages hatte Abba drei Flaschen eines edlen französischen Tropfens ergattert. Nachdem Vitka von ihrer Mission zurückgekehrt war, hatten sie sich noch am selben Abend in ihrer Wohnung in der Straschun-Straße getroffen und miteinander angestoßen.

»Auf Vitka!«, hatte Abba gesagt und sein Glas gehoben. »Unsere tapfere Kriegerin.«

Die Stunden flogen dahin. Ihre Gespräche wurden heiterer, die Flaschen leerer. Die drei Freunde tanzten schwebend zu der flüsterleisen Musik durch den Raum. Ihre Körper berührten sich, erst flüchtig, dann intensiver und absichtsvoller, bis auch ihre Lippen zueinanderfanden. Mit wachsender Leidenschaft küssten sie sich. Zuerst auf den Mund, danach am Hals und schließlich an den Schultern und dem nackten Oberkörper.

Weitere Gläser Rotwein später drang Abba vorsichtig in sie ein. Für Ruzka war es das erste Mal, dass sie einem Mann so nahe war. Während Vitka weiterhin ihren Körper streichelte und mit zarten Küssen bedeckte, wurden Abbas Bewegungen schneller und heftiger, sodass er zu schwitzen begann. Neben dem Wein, den Vitka aus ihrem Mund auf Ruzkas Lippen träufelte, liefen nun auch warme Schweißtropfen an ihr herunter. Ruzka wollte seufzen, stöhnen, doch weil es zu gefährlich war, musste sie ihre Laute unterdrücken. Kurz bevor sie um ein Haar ihre Lust herausgeschrien hätte, presste Vitka eine Hand auf ihren Mund.

Hoffentlich, dachte sie, wiederholte sich dieser Abend noch viele Male.

*

Wer es wohl sein konnte, der nach ihm verlangt hatte? Zusammen mit dem Boten, einem aufgeweckten Jungen namens Gero, verließ Abba die Wohnung in der Straschun-Straße. »Da ist jemand am Tor, der dich sprechen möchte«, hatte er ihm mitgeteilt, »ich bringe dich hin.«

Als er hinaustrat, glitzerten die Strahlen der Morgensonne im Schnee, sodass Abba sich schützend eine Hand vor die Augen hielt. Die zurückliegende Nacht saß ihm in den Knochen. Den Rotwein, der für seine Kopfschmerzen verantwortlich war, hatte ein Schornsteinfeger für ihn ins Getto geschleust. Genauso wie die Zigaretten, den edlen französischen Käse, das Brot und die ungarische Salami. Als Anführer der Jungen Garde gehörte Abba zu den Privilegierten. Im Gegensatz zu den meisten anderen war es ihm möglich, an exklusive Dinge wie diese heranzukommen. Dinge, für die man im Getto getötet werden würde – nicht nur von den Deutschen, sondern auch von den anderen, von den hungernden Juden. Denn derartiger Luxus weckte Begehrlichkeiten.

Abba wusste um sein Glück. Wie so oft, wenn er sich durch die engen Straßen des Gettos bewegte, wurde es ihm auch an diesem Morgen erneut vor Augen geführt.

Die Bürgersteige waren voll von wandelnden Skeletten. Ein Mann, der Abba besonders aufgefallen war, sah aus, als wäre er in bettelnder Haltung eingeschlafen. Abba ahnte, was mit ihm geschehen würde. Er hatte dieses grauenvolle Schauspiel weiß Gott schon zu oft mitverfolgt. Bald würde eine deutsche Patrouille vorbeikommen und auf den Mann aufmerksam werden. Dann, weil er auf ihre Befehle nicht reagierte, würde es Knüppelschläge hageln. So lange, bis die Deutschen genug hätten und ihn schließlich in der Gosse liegen lassen würden. Dort würde sich niemand um den Leichnam kümmern, außer um seine Kleider, seine Schuhe und alles, was man auf dem Schwarzmarkt tauschen konnte. Der Wind, der an diesem Februarmorgen eisig durch die Straßen pfiff, würde den Leichengeruch bis in den letzten Winkel verteilen. Doch an ihn hatten sich die Bewohner bereits gewöhnt. Er gehörte dazu, lag wie eine Glocke über ihrem Viertel.

Nun näherten Abba und Gero sich dem Gettotor. Sie stoppten an einer blut- und kotverschmierten Hauswand, vor der eine unscheinbare junge Frau stand, die auf sie zu warten schien. Sie trug einen schäbigen Mantel, auf dessen linker Brust ein Davidstern genäht war. Erst als sie das Tuch von ihrem Kopf abstreifte, erkannte Abba sie.

Das durfte doch nicht …? Mit einem Schnippen schickte er Gero davon.

»Ima«, sprach er die Frau mit dem hebräischen Wort für Mutter an, »was machen Sie denn hier? Im Getto ist es viel zu gefährlich für Sie.«

Anna Borkowska lächelte. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie. Damit niemand sie belauschte, beugte sie sich zu Abba. »Ich möchte mich euch anschließen.«

»Uns anschließen? Was meinen Sie?«

»Den Juden. Ich möchte mit euch kämpfen.«

Abba konnte nicht glauben, was er hörte. Waren Nonnen wie die Mutter Oberin nicht zu absoluter Gewaltlosigkeit verpflichtet? »Ich halte das für keine gute Idee«, sagte er deshalb.

»Warum?«, fragte sie. »Gott ist auch im Getto. Und so wie ich das sehe, könnt ihr jeden Mann und jede Frau gebrauchen.«

Womit sie recht hatte. Trotz der erfolgreichen Gründung der FPO waren Abbas Aufruf in der Silvesternacht bisher erst wenige gefolgt. Dem Widerstand mangelte es an Menschen, die zu allem bereit waren. Allerdings gab es etwas, das ihnen noch viel mehr fehlte. Diese Erkenntnis brachte Abba auf eine Idee.

»Es ist zu gefährlich, wenn Sie ins Getto kommen«, sagte er. Noch bevor die Mutter Oberin ihm ins Wort fallen konnte, legte er einen Zeigefinger auf seine Lippen. Die Frau, ohne deren Mut weder er noch der jüdische Widerstand überhaupt existieren würden, verstand. »Wenn Sie uns unterstützen wollen …«

Abba rückte dicht an ihr Ohr heran. Als er ihr seinen Plan ins Ohr flüsterte, weiteten sich Anna Borkowskas Augen.

*

Verstohlen wagte Jakob Gens einen Blick auf die Zeiger: Es war kurz nach halb drei Uhr morgens. Der Chef der jüdischen Polizei seufzte. Schon wieder, wie so oft in den letzten Wochen, hockte er auch heute bis spät in die Nacht in seinem Büro im Ratsgebäude. Während er aus seinen schmalen Augen über die steilen Dächer des Gettos sah, lockerte er zunächst seine Krawatte und knöpfte schließlich sein Hemd auf. Nur langsam breitete sich in ihm ein Gefühl der Entspannung aus.

Wieder einmal hatten ihn die Listen, Dokumente und Aufzeichnungen, die er stets gewissenhaft durchstöberte, viel zu lang an seinen Schreibtisch gefesselt. Wie besessen hatte er auch heute nach Mitteln und Wegen gesucht, um das Überleben der Gettobewohner zu sichern – in der Hoffnung, dass sein Volk ihn dafür eines Tages als Held verehren würde.

Davon war Gens jedoch noch weit entfernt. Für die meisten Juden aus Wilna war er nicht nur der Chef der verhassten jüdischen Polizei, sondern sogar noch etwas weitaus Schlimmeres. Einen Verräter nannten sie ihn, beschimpften ihn als Kollaborateur, der mit den Deutschen blutige Geschäfte einging.

Wenn sie doch nur die Wahrheit wüssten, dachte Gens.

Quälend lange Stunden hatte er mit Franz Murer in seinem Büro verhandelt. Nur dank seines taktischen Geschicks war es ihm gelungen, die Forderungen des stellvertretenden Gebietskommissars zu reduzieren. Der österreichische SS-Oberst hatte nach dreitausend Juden verlangt, die zum Arbeiten in den Osten deportiert werden sollten.

Heute dachte Gens mit Stolz an diese Verhandlung zurück. Dass es ihm gelungen war, mehrere hundert Menschen vor der Deportation zu bewahren, betrachtete er als großen Erfolg, auch wenn die Menschen im Getto eine andere Meinung vertraten. Denn für sie war er von nun an derjenige gewesen, der dem Schlächter von Wilna Tausende Menschenleben geopfert hatte. Sie ahnten nicht, dass Murer ihm keine Wahl gelassen hatte. Dass er ihn damit erpresst hatte, die Selektion selbst zu übernehmen, falls die jüdische Polizei sie nicht dabei unterstützen würde.

Diesen ganzen Ärger hätte Gens sich ersparen können. Hätte weiter in den höchsten Kreisen der Stadt verkehren, ungestört Zeitschriften und Bücher lesen sowie Konzerte und Theateraufführungen besuchen können. Alles Privilegien, die er dem Status seiner Frau, einer reichen Nichtjüdin, zu verdanken hatte. Sich der Verbannung ins Getto zu entziehen, wäre daher ein Leichtes gewesen. Gens hätte einfach nur seinen Namen ändern müssen.

Doch obwohl ihn die Bewohner wegen seiner Position vermutlich nie als einen von ihnen akzeptieren würden, fühlte er sich ihnen dennoch verbunden. Für ihn kam es nicht infrage, sein Volk im Stich zu lassen, und so entschied er sich dafür, freiwillig ins Getto zu gehen. Wegen seiner damaligen steilen Karriere in der litauischen Armee, hatte ihn der Judenrat alsbald zum Chef der jüdischen Polizei befördert. Diese Position hatte ihm eine außerordentliche Machtfülle verschafft. Durch sie und mithilfe seines autoritären Führungsstils hatte Gens für Ruhe und Ordnung gesorgt. Jetzt, während der ersten Sommertage, lag daher sogar so etwas wie Frieden über dem Getto. Die Aktionen, wie die Deutschen ihre regelmäßigen Säuberungen nannten, hatten aufgehört. Für Gens war dies Beweis genug, dass seine Strategie die richtige war. »Wenn wir überleben wollen«, hatte er den Bewohnern stets gesagt, »müssen wir uns unentbehrlich machen.«

Mit der Zeit war eine neue Gesellschaft im Getto entstanden. Eine eigenständige kleine Welt, die sämtliche Facetten des menschlichen Zusammenlebens beinhaltete. Es gab Mächtige wie den Schneider Weißkopf, der zweihundert Arbeiter beschäftigte und von allen nur »Getto­könig« genannt wurde. Wohlhabende und Neureiche wie die Schornsteinfeger, die auf den Dächern der Stadt arbeiteten und gegen Bezahlung Lebensmittel schmuggelten. Vor allem aber gab es unzählige Arme und Mittellose, die in ständiger Angst vor dem kommenden Tag vor sich hin vegetierten. Im Getto machten sie unbestritten die absolute Mehrheit aus.

Sogar eine Art kulturelles Leben hatte sich entwickelt. Daran hatte Gens, der selbst vor allem an Literatur interessiert war, tatkräftig mitgewirkt. Einen seiner größten Erfolge verzeichnete er, als er bei Murer die Erlaubnis zur Veröffentlichung einer eigenen Zeitung heraushandelte. Im Getto-Anzeiger erschienen Artikel, Kommentare, Rezensionen und Namenslisten. Es gab eine eigene jüdische Bibliothek, und sogar ein Turnverein wurde gegründet.

Gegen das geplante Theater hatte sich jedoch großer Widerstand formiert. Sogar am Morgen der Eröffnung musste die jüdische Polizei Spruchbänder von dem Gebäude entfernen. »Auf einem Friedhof spielt man kein Theater«, hatte in Großbuchstaben auf ihnen gestanden. Die Schauspielgruppe erfreute sich dennoch zufriedenstellender Besucherzahlen. Hier, im Theater, konnten Schriftsteller nun ungestört ihre Texte vortragen, Maler ihre Kunstwerke ausstellen und das Orchester Lieder von Beethoven, Chopin und Tschaikowsky spielen.

Es seien kultivierte Tage, hörte man die Menschen auf der Straße sagen.

Jakob Gens mochte diesen Ausdruck. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er es war, der diese Errungenschaften maßgeblich ins Leben gerufen hatte. Nur dank ihnen gelang es den Bewohnern, das Leid für ein paar Stunden zu verdrängen.

*

Aus sicherer Entfernung observierte er das Gettotor. Leipke lehnte an einer bröckelnden Hauswand in der Ostrobramska-Straße und kaute auf einem Zahnstocher. In Gedanken ging er wieder und wieder die Schritte ihres Plans durch. Den litauischen Soldaten, der mit misstrauischem und geschultem Blick das Tor bewachte, verlor er dabei nicht aus den Augen.

Hoffentlich schöpfte dieser Scheißkerl keinen Verdacht, dachte Leipke.

Wie immer, wenn er nervös war, nestelte er an seiner Kleidung herum. So gut es eben ging, seitdem er bei der Explosion vor einem Jahr vier Finger an der rechten und drei an der linken Hand verloren hatte. Dennoch arbeitete er weiterhin in der Waffenfabrik, obwohl die Ursache des Unfalls nach wie vor nicht bekannt war. Von dem Unglückstag wusste Leipke nur noch, wie er mit bandagierten Händen im Krankenhaus aufgewacht war, denn die Detonation hatte auch den Großteil seiner Erinnerung geraubt. Manche seiner Kollegen behaupteten, es habe an einem fehlerhaften Zünder gelegen.

Plötzlich hörte Leipke das erlösende Geräusch: den Motor eines Lkw, der sich dem Gettotor näherte.

Äußerlich scheinbar desinteressiert, sah er dabei zu, wie das Fahrzeug im Schritttempo in die Niemiecka-Straße bog. Hinter dem Lenkrad erkannte er das unverwechselbare Gesicht von Shmuel Kaplinsky. Wie eine Landkarte der Gegend um Wilna sah es aus, gezeichnet von Hügeln und Tälern, durchzogen von roten und blauen Linien, die die Haupt- und Nebenstraßen markierten.

Nun kreuzten sich flüchtig die Blicke der beiden Männer. Doch obwohl sie einander kannten, reagierten sie nicht. Kein Nicken, kein geflüstertes Hallo, keine zum Gruß erhobene Hand. Nichts durfte ihren Plan gefährden.

Wenige Meter vor dem Tor kam der Lkw schließlich zum Stehen. Auf der Rückseite war das Firmenzeichen der Wilnaer Wasserwerke zu erkennen. Shmuel, der wie so viele in der Jungen Garde überzeugter Kommunist war, stieg aus, überquerte die Straße und strebte mit entschlossenen Schritten auf den Kanaldeckel in der Nähe des Gettozauns zu. Bekleidet mit einem blauen Arbeitsanzug und einem gelben Schutzhelm auf dem Kopf, trug er die perfekte Tarnung.

Wochenlang war Shmuel damit beschäftigt gewesen, Karten der Kanalisation anzufertigen. Dafür hatte er alle Männer, die Abbas Aufruf zum Widerstand gefolgt waren, auf Erkundungsgänge durch die Schächte geschickt. Manchmal, wenn der anhaltende Regen diese überschwemmte, gab es dort unten nur wenig Luft zum Atmen. Die Männer mussten dann ihre Köpfe in den Nacken legen und sich schweigend durch die engen Rohre schieben, während sie beteten, in dem Geflecht aus Kammern und Korridoren nicht die Orientierung zu verlieren. Leider verschlang dieses düstere Labyrinth so manche von ihnen und spuckte sie erst Tage später als aufgequollene und von Ratten angenagte Leichen wieder aus.

Der kritische Blick des litauischen Soldaten holte Leipke zurück. Shmuel hatte nun dessen volle Aufmerksamkeit erregt.

»So früh am Morgen?«, fragte der Soldat mit kräftiger Stimme. »Was zum Teufel tun Sie da?«

Doch Shmuel ließ sich nicht beirren. Ruhig sah er seinem Gegenüber in die Augen und setzte schließlich wie selbstverständlich seine Arbeit fort.

»Ein sieben Meter langes Rohr verlegen«, antwortete er kühl. Umstellte den Kanaldeckel mit Pylonen, sicherte den Bereich zusätzlich mit Absperrband und pfiff kurzerhand zwei weitere Arbeiter herbei. Die Männer, die mit Taschenlampen und Brecheisen bewaffnet waren, zerrten gerade eine offensichtlich schwere Holzkiste von der Ladefläche des Lkw. Zu Leipkes Erleichterung schien der Soldat auf ihr Schauspiel hereinzufallen.

»Sieht nach ’ner echten Plackerei aus«, kommentierte er und nickte in die Richtung der beiden Arbeiter.

»Wenn Sie uns unter die Arme greifen möchten?« Shmuel sah ihn einladend an. »Wir können jede Hilfe gebrauchen.«

Der Soldat schmunzelte und winkte ab. Wortlos drehte er sich daraufhin zur Seite, begann seinen Kontrollgang entlang des Zauns und überließ die drei Männer sich selbst.

Das war gerade noch mal gut gegangen.

Nun sah Leipke dabei zu, wie Shmuel mit einer Brechstange den Kanaldeckel anhob. Als ob er etwas Bestimmtes suchte, leuchtete er mit einer Taschenlampe in das dunkle Loch hinab. Anschließend signalisierte er seinen Begleitern grünes Licht. Die Arbeiter hoben die Kiste an den Griffen hoch, bugsierten sie durch die schmale Öffnung und verschwanden daraufhin mit ihr in der Kanalisation.

Erst jetzt warf Shmuel ihrem Beobachter einen flüchtigen Blick zu. Kaum erkennbar nickte er in Leipkes Richtung. In einer Stunde, so die Bedeutung dieses verabredeten Zeichens, würden sie wieder zurück sein.

Die Kiste allerdings wäre dann um einige Gewehre leichter. Die erste Waffenlieferung des Widerstands war erfolgreich über die Bühne gegangen.

*

Zunächst nahm sie nur ein flüchtiges Rascheln wahr. Als es jedoch lauter und regelmäßiger wurde, richtete Janina Marewska sich auf und lauschte.

»Hörst du das auch?«, fragte Maria. Ihre kleine Schwester, mit der sie sich ein Bett teilte, war zwölf Jahre jünger.

»Schlaf weiter«, beruhigte Janina sie. Mit einer Hand drückte sie sie zurück in die Waagerechte. »Das kommt von den Feldern.«

Dann legte auch sie sich wieder hin und schloss die Augen. Die tägliche Schufterei in der Bäckerei ihres Vaters forderte ihre ganzen Kräfte, und so war sie dankbar für jede Stunde Schlaf. In Gedanken ging sie noch einmal ihre Aufgaben für den kommenden Tag durch.

Plötzlich wieder ein Klappern.

Janina schoss hoch in die Senkrechte. Hatte sie aus dem Augenwinkel tatsächlich etwas an ihrem Fenster vorbeihuschen gesehen? Hastig griff sie nach ihrer Brille. Im Mondschein erkannte sie die Umrisse eines Helms. Ihr Puls begann zu rasen, als sie in die Augen eines deutschen Soldaten blickte.

Mit einem Mal überschlugen sich die Ereignisse. Janina hörte, wie die Haustür aufgebrochen wurde und eine Gruppe von Männern hineinstürmte.

»Los, los! Alle raus!«, brüllten sie. Dazwischen vernahm Janina das Wimmern ihrer Mutter, die ihren kleinen Bruder Moshe auf dem Arm trug, und das verzweifelte Flehen ihres Vaters. All das nützte nichts. Mit vorgehaltenen Gewehren trieben die Deutschen sie auf die Straße. Sie gaben ihnen nicht einmal Zeit, sich anzukleiden.

Draußen hatten sie bereits das halbe Dorf aufgereiht. Dicht aneinandergedrängt standen die Bewohner in ihren dünnen Nachtgewändern mit dem Rücken zur Kirchenmauer und zitterten vor Kälte. Zwischen ihnen entdeckte Janina das schockerstarrte Gesicht von Yaron. Für gewöhnlich hatte der Nachbarsjunge jeden Tag ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie von der Arbeit in der Bäckerei nach Hause an seinem Fenster vorbeiging. Jetzt konnte Janina trotz der Dunkelheit erkennen, dass in seinen Augen nicht das übliche, freudvolle Funkeln, sondern stattdessen nackte Angst lag.

Den Bewohnern gegenüber stand eine Gruppe deutscher Soldaten. Überwacht von einem hochgewachsenen Offizier, der sein Gesicht unter einer Mütze mit dem unverkennbaren Adler verbarg und seine Hände tief in den Taschen seines ledernen Trenchcoats vergraben hatte. Bei seinem Anblick lief es Janina kalt den Rücken hinunter. Augenblicklich wurde ihr klar, dass er derjenige war, der in dieser Nacht über ihr Leben und das ihrer Nachbarn entscheiden würde.

Als plötzlich ein Mädchen in der Reihe die Kräfte verließen und es auf die Knie fiel, nickte der Offizier dem Soldaten an seiner Seite knapp zu. In der tiefschwarzen Nacht erkannte Janina zwar nicht, was dieser antwortete, doch an den Bewegungen seiner Lippen erahnte sie, dass es die zwei deutschesten Worte überhaupt waren: »Zu Befehl!«

Der Soldat eilte zu der Kirchenmauer hinüber, zog hinter seinem Rücken eine Peitsche hervor und prügelte unter dem Flehen der Mutter auf das bewusstlos am Boden kauernde Mädchen ein, bis Blut aus Mund und Nase seines Opfers quoll. Als das Mädchen aufhörte zu zucken, trat der Soldat mit seinen Militärstiefeln so lange auf seinen Schädel ein, bis dieser zerbrach. Das Geräusch fuhr Janina durch Mark und Bein. Die Mutter brach in einen Heulkrampf aus.

»Runter, du Judensau!«, herrschte der Soldat sie an. Mit einer Hand zeigte er auf seine Stiefel. »Ablecken!«

Weil sie seinen Befehl nicht befolgte, schlug er nun auch auf sie ein. Hob sie immer wieder hoch, wenn sie vornüber in den blutgetränkten Matsch gefallen war, und schlug mit dem Ledergriff seiner Peitsche zu. Bis sie schließlich auf allen vieren zu ihm kroch und anfing, mit der Spitze ihrer Zunge seine Stiefel abzulecken. Als der Soldat genug gesehen hatte, zückte er grinsend seine Pistole, presste die Mündung an den Kopf der Mutter und drückte ab. Jegliches Geräusch erstarb mit dem Knall auf dem Dorfplatz. Alle Bewohner schienen zu verstehen, dass niemand von ihnen diese Nacht überleben würde.

»Achtung!«, hallte der Befehl eines Unteroffiziers zwischen den Steinmauern. Synchron schlugen die übrigen Soldaten ihre Hacken zusammen. »Legt an!«

Janinas Blicke schossen zwischen ihnen und Yaron hin und her. Die Hände hinter dem Kopf gefaltet, stand der schmächtige Kerl mit den kurzen Haaren, für den sie schon seit geraumer Zeit schwärmte, reglos da und starrte in den Lauf des auf ihn gerichteten Gewehrs.

»Juden«, ertönte mit einem Mal die Stimme des Offiziers im Trenchcoat aus einem Sprachrohr. »Vierhundert tapfere und ehrenhafte deutsche Soldaten sind bei einem feigen Anschlag ermordet worden. Wie wir wissen, haben Bewohner dieses Dorfes die Täter bei der Ausführung unterstützt. Auf Befehl des Führers werden die Verbrecher nun ihre gerechte Strafe erhalten.«

Janina hatte davon gehört. Nur ein paar Kilometer von hier war auf einer Brücke ein Zug der Wehrmacht explodiert und in die Schlucht gestürzt. Ihr Vater hatte sogar die Flammen gesehen, die am Himmel aufgetaucht waren. Im Dorf hatte man gerätselt, wer wohl für diesen Anschlag verantwortlich gewesen war. Es mussten Partisanen gewesen sein, hatte so mancher gemutmaßt. Viele äußerten die Sorge, dass die Widerstandskämpfer sie eines Tages noch alle ins Grab bringen würden, und so hatte es niemanden gegeben, der diese Aktion offen für gut befunden, geschweige denn sie unterstützt hätte. Außer Yaron, von dem Janina wusste, dass er die stille Kollaboration vieler Menschen immer wieder scharf verurteilt hatte. In ihren seltenen zweisamen Gesprächen hatte er davon fantasiert, nach Wilna ins Getto zu gehen und sich dort einer Gruppe von Rebellen anzuschließen. Für diesen Mut bewunderte Janina ihn, denn sie selbst hätte ihn niemals aufgebracht.

Ein plötzlicher Schrei holte sie zurück.

»Feuer!«, befahl der deutsche Unteroffizier. Ließ seinen Arm nach unten fallen wie das Beil eines Henkers und gab damit den Soldaten das Zeichen zum Abdrücken. In dem Bruchteil einer Sekunde riss die Salve die Menschen von den Beinen. Als Janina sah, wie Yaron getroffen fiel, brach auch sie zusammen, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Nur kurz spürte Janina den schmerzhaften Aufprall eines Gewehrkolbens, mit dem der Soldat in ihrem Rücken sie ohnmächtig schlug.

*

Abba konnte nicht glauben, was er da hörte. Mit leuchtenden Augen rückte er dicht an den Empfänger heran. Ihn lauter zu drehen, wäre zu riskant gewesen, denn den Juden war der Besitz von Radios und Telefonen strengstens verboten.

Davon ließ sich der Oberleutnant der FPO jedoch nicht beirren. Nacht für Nacht verbarrikadierte Abba sich in einem Keller im Getto, mehrere Meter unter der Straße. Rauchte eine Zigarette nach der anderen und hörte SWIT, den Rundfunksender des Untergrunds. In der Hoffnung, irgendein Lebenszeichen von außerhalb des Gettos zu erhalten.

Manchmal, wenn Vitka und Ruzka ihn begleiteten, ließ Abba sogar Musik laufen. Dann tanzten sie miteinander die Nächte durch, vergaßen für ein paar Stunden den quälenden Hunger, der sie schwächte, die Strapazen des Waffenschmuggels und die schwindende Hoffnung darauf, dass die Juden sich ihnen, den Rebellen, eines Tages anschließen und gegen die Deutschen kämpfen würden. Seltene, deshalb aber umso süßere und ungetrübtere Freude. Hinterher kam es vor, dass Abba sich manchmal schuldig fühlte, weil die Menschen im Getto niemals solche Momente, sondern nur tägliches, grenzenloses Leid erlebten. Ein Gefühl, das ihn auch befiel, als er von der Racheaktion in Oszmiana erfuhr. Eines der Rebellenmädchen, die auf seinen Befehl die Dörfer in der Umgebung abklapperten, hatte ihm die erschütternde Botschaft überbracht: Im Schutz der Nacht war die SS in das Dorf einmarschiert und hatte alle Bewohner erschossen. Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder und Neugeborene. Danach hatten sie sämtliche Häuser in Brand gesteckt und waren wieder abgezogen. In dem Dorf schwelte noch tagelang das Feuer. So blieben von Oszmiana nur Erinnerungen übrig. Als Vergeltung für den ersten Anschlag der FPO, die Sprengung des Wehrmachtszuges, hatten die Deutschen das Dorf von der Landkarte gelöscht.

Jetzt, als die Stimme des Ansagers im Empfänger knisterte, empfand Abba hingegen nichts als Begeisterung. »Achtung, Achtung! Hier spricht der polnische Widerstand. Seit heute, neunzehnter April 1943, befindet sich das Warschauer Getto im Aufstand.«

Zitternd vor Aufregung lauschte Abba den folgenden Ausführungen. Mit jeder weiteren Information funkelten seine Augen immer heller. Sie sprachen von Schusswechseln. Davon, dass die Warschauer Rebellen geschmuggelte Maschinengewehre einsetzten und zahlreiche deutsche Soldaten töteten. Von Molotowcocktails, die durch den Himmel schwirrten und ihn mit gleißenden Stichflammen erhellten. Von Bewohnern, die – aus ihren Hinterhalten feuernd – den Kugelhagel auf ihre Unterdrücker richteten.

Da war sie endlich. Die lang ersehnte Revolte, zu der Abba auch die Warschauer Juden gedrängt hatte. Zuria war erfolgreich gewesen: Vor einem Jahr hatte Abba das Mädchen nach Polen geschickt, damit sie den dortigen Zionisten vom Massaker in Ponary erzählte und seine Rede vom Silvesterabend vorlas. In Abbas Augen war es besser, als freier Mensch zu sterben, als durch die Gnade seines Mörders weiterzuleben. Das sollte sie ihnen mitteilen, und anscheinend hatten seine Worte nun Früchte getragen. Jetzt würden ihm hoffentlich auch die litauischen Juden folgen, dachte Abba.

*

Zielstrebig marschierte sie auf das Gettotor zu.

Anna Borkowskas Herz trommelte wie verrückt. Ein Gefühl, als würde es augenblicklich aus ihrer Brust springen. Der Judenstern, den Schwester Dalia an ihren Mantel genäht hatte, vibrierte bei jedem Schlag. Trotz der winterlichen Temperaturen lief warmer Schweiß unter ihrem Kopftuch an den Schläfen herunter. Für sie als gläubige Christin war es ein beklemmendes Gefühl, den Judenstern zu tragen. Nicht nur, weil sie sich dadurch selbst in Gefahr begab, sondern weil auch sie nun zum ersten Mal die Unterdrückung spürte, die mit ihm verbunden war. Die Entwürdigung, die permanente menschliche Herabsetzung. Wie grausam musste es wohl für die Menschen sein, die ihn jeden Tag zu tragen gezwungen waren. Es war Anna Borkowska nun klar, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wenn sie sich den Juden im Getto schon nicht anschließen konnte, dann würde sie ihren Kampf zumindest mit allen Mitteln unterstützen. Koste es, was es wolle. Denn so hatte sie Gottes Auftrag verstanden.

Trotzdem durfte sich die Mutter Oberin ihre Aufregung nicht anmerken lassen. Ihr Auftreten musste natürlich und selbstverständlich wirken. So, als wäre sie wirklich nur eine bettelarme, schüchterne Jüdin, die von der Plackerei in einer der Fabriken der Stadt nach Hause kam.

Jetzt, als es nur noch wenige Meter bis zu der Menschenschlange vor ihr waren, vernahm Anna die herrischen Stimmen der jüdischen Polizisten. So unauffällig wie möglich beobachtete sie die Männer bei ihrer Arbeit. Sah zu, wie sie mit finsteren Mienen einen nach dem anderen zu sich riefen und abtasteten. Mit dem, was Anna in ihrer Hose versteckte, würden sie sie direkt aussortieren. Würden sie an die Gestapo weiterleiten, was ihren sofortigen Tod bedeutete.

Doch sie hatte eine Eintrittskarte, und diese Eintrittskarte hieß Chajm. Chajm Goldmann – ein Junge an der Schwelle zur Volljährigkeit, den die FPO bestochen hatte. Ob es Gottes Wille war, dass sein Name auf Hebräisch »Leben« bedeutete? Denn er, der sich wegen der Privilegien freiwillig für die jüdische Polizei gemeldet hatte, würde darüber entscheiden, ob die Mutter Oberin weiterleben durfte – oder sterben musste.

Hoffentlich hatten sie sie ihm ausreichend beschrieben, dachte Anna. Spätestens wenn Chajm bei der Kon­trolle erfühlte, was sie ins Getto zu schmuggeln versuchte, würde die Stunde der Wahrheit schlagen.

»Der Nächste!«, rief der schmächtige junge Mann.

Anna stellte sich vor ihn und verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf. An einer Hauswand auf der anderen Straßenseite glaubte sie ihre Kontaktfrau zu erkennen. Wenn alles nach Plan verlief, würde Anna von ihr, die mit bangen Blicken zu ihr herübersah, zum Hauptquartier des Widerstands geführt werden. Dorthin, wo die Kämpfer bereits sehnsüchtig auf ihre Lieferung warteten.

Die Betonung lag auf »wenn«.

»Führst du etwas bei dir, Jude?« Chajms kräftige Stimme schoss durch Annas Körper. Es fühlte sich an, als würde er sie mit seinem Blick durchbohren. »Sag’s besser gleich. Wir finden es sowieso.«

Anna schüttelte den Kopf. Wieder rann Schweiß an ihren Schläfen herunter. Sie konnte einfach nicht aufhören zu schwitzen.

»Gut«, sagte Chajm und startete sein Kontrollprogramm. Tastete zunächst ihre angewinkelten Arme ab, dann Kopf, Nacken, Hals und Schultern. Wanderte an ihrem Oberkörper herunter, bis er zu ihrer Hüfte und zu ihren Oberschenkeln kam. Und schließlich zu der Stelle, an der Schwester Dalia die Handgranaten mit Tüchern festgebunden hatte.

Chajm stoppte. Sein Blick schoss nach oben.

Anna schloss ihre Augen und betete. Noch nie hatte sie Gottes Barmherzigkeit so sehr gebraucht wie jetzt.

*

Leider hatte Abba mit seiner Vermutung recht behalten: Sie hätten Jakob Gens nicht über den Weg trauen dürfen. Wie ihr Anführer vorhergesagt hatte, waren sie von diesem elendigen Verräter in eine hinterlistige Falle gelockt worden.

Leipke stand nur wenige Meter vom Hauptgebäude der jüdischen Polizei in der Szpitalna-Straße entfernt und beobachtete den Ausgang. Ähnlich wie Vitka war auch er die Idealbesetzung für Aufträge wie diese, denn dank seiner kräftigen Statur, seiner blonden Haare und seiner blauen Augen sah er exakt so aus, wie die Deutschen sich einen Arier vorstellten.

Aus diesem Grund fiel er auch den beiden SS-Männern, die zusammen mit Wittenberg aus dem Gebäude kamen, nicht auf. Indem er vortäuschte, in eine andere Richtung zu sehen, observierte Leipke aus dem Augenwinkel jede ihrer Handlungen. Sah zu, wie sie dem Löwen, wie Wittenberg bei den Rebellen hieß, schwere Ketten anlegten, die auf dem Boden schleiften. Er beobachtete, wie sie im Gänsemarsch auf das Gettotor zustrebten, vor dem ein dunkelgrauer Mercedes mit laufendem Motor auf sie wartete.

Dann war der Moment gekommen. Leipke holte tief Luft und blies kurz und kräftig in seine Trillerpfeife. Erschrocken schossen die SS-Männer zu ihm herum.

Shmuel, der auf dieses Zeichen gewartet hatte, nutzte den Moment ihrer Unaufmerksamkeit, sprang aus einer dunklen Seitenstraße, stürzte sich auf sie und versetzte ihnen mit einem Brecheisen blitzschnell zwei Schläge auf den Hinterkopf. Während die SS-Männer daraufhin benommen zu Boden sanken, winkte er hektisch Leipke herbei.

»Los, wir müssen von hier verschwinden«, befahl er und warf Wittenberg zur Tarnung einen Mantel über. »Wir haben nicht viel Zeit. Hier wird’s gleich vor Gestapo nur so wimmeln.«

Mit vereinten Kräften packten sie den Löwen unter den Armen und schleppten ihn in die Straschun-Straße. In den Keller des Hauses, in dem sich neben dem Hauptquartier des Widerstands sowie dem Waffenlager auch eine Werkstatt befand. Dort angekommen, schnappte Shmuel sich eine Metallsäge und befreite Wittenberg von den Ketten. Gemeinsam warteten sie darauf, dass die anderen wie verabredet eintreffen würden. Eine Viertelstunde später kamen sie an.

Leipke errötete, als Ruzka ihn erneut mit diesem für sie so typischen, warmen Blick begrüßte. Seitdem er sie bei Abbas Ansprache an Silvester im Keller des Ratsgebäudes zum ersten Mal so leidenschaftlich und wortgewandt erlebt hatte, ging ihm das krausköpfige Mädchen mit dem wippenden Gang einfach nicht mehr aus dem Kopf. Wie er inzwischen herausgefunden hatte, waren sie sogar gleich alt. Was ihm jedoch zu schaffen machte, waren die Gerüchte. Wie viel wohl an ihnen dran war? Ob es tatsächlich stimmte, dass Abba, Vitka und Ruzka eine Dreierbeziehung führten?

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Shmuel schließlich. Wittenberg, der von der Befreiungsaktion immer noch mitgenommen war, sah ihm reglos in die Augen. »Am besten ziehen Sie das hier an.«

Der Löwe kauerte sich auf einen Hocker, streifte sich das Kleid über, das sie ihm organisiert hatten, und band sich ein Tuch um den Kopf. Um seine Verwandlung perfekt zu machen, schminkten Vitka und Ruzka ihm die Lider und die Lippen. Als sie fertig waren, nickte Shmuel anerkennend.

»Wir müssen den Widerstand in Alarmbereitschaft versetzen«, sagte er. »Falls die Deutschen jetzt das Getto stürmen, werden wir kämpfen!«

*

Keuchend rannte Ruzka dem wütenden Mob hinterher. Durch ihre kurzen Beine war sie jedoch eindeutig im Nachteil, und schon bald drohte sie deshalb den Kontakt zu der aufgebrachten Menschenmenge zu verlieren. Abba, den sie vor sich herjagten, konnte sie kaum noch sehen. In ihrem Rücken lauerten weitere hysterische Bewohner, die ihr dicht auf den Fersen waren.

»Gebt uns Wittenberg!«, skandierten die Leute und bewarfen sie mit Abfall.

Nach der gelungenen Befreiung des Löwen war Murer unverhofft in Gens’ Büro aufgetaucht. Natürlich hatte der Oberst gewusst, dass der Chef der jüdischen Polizei auch Kontakte zum Untergrund pflegte.

»Richte diesen Schädlingen Folgendes aus«, hatte er Gens unmissverständlich befohlen, »entweder sie liefern mir Wittenberg oder ich lasse das Getto liquidieren.« In Windeseile hatte sich seine Drohung wie ein Lauffeuer unter den Bewohnern verbreitet.

Im Morgengrauen entbrannte sich der Zorn schließlich. Die Rebellen waren gerade dabei, sich in ihrem Hauptquartier in der Straschun-Straße zu beraten, als plötzlich eine Scheibe klirrte. Zunächst war nur ein einzelner Stein durchs Fenster geflogen. Kurz darauf ein zweiter, dann ein dritter. Alle warfen sich auf den Boden und schützten mit den Händen ihren Kopf.

Als der Boden großflächig mit Steinen und Scherben bedeckt war, kehrte eine kurze Feuerpause ein. Mutig krabbelte Ruzka auf den Knien zum Fenster und lugte durch den gesplitterten Holzrahmen hinaus auf die Straße. Dort unten hatte sich eine Horde johlender Männer formiert. Lautstark forderten sie Wittenbergs Auslieferung. »Gebt ihn raus! Gebt ihn raus!«, riefen sie unablässig.

»Wir müssen da runter«, sagte Abba.

»Und was willst du tun?«, wandte Shmuel ein. »Hört sich das an, als würden die mit uns reden wollen?«

»Wir müssen es versuchen.« Abba richtete sich behutsam auf und zeigte zum Fenster. »Der Löwe darf ihnen unter keinen Umständen in die Hände fallen.«

Unten angekommen, wurden die Rebellen von wütenden Männern und Frauen empfangen. Ruzka glaubte, unter ihnen sogar ein paar ihrer Freunde ausmachen zu können.

»Du bist ein Fanatiker!«, schrien die Bewohner in Abbas Richtung. Einige versuchten, ihm ins Gesicht zu spucken. »Wir wollen nicht für Wittenberg sterben!«

Auf einmal kam Bewegung in den Mob. Binnen Sekunden roch es auf der Straße nach Blut. Auf beiden Seiten stürzten Menschen zu Boden, kauerten sich schützend zusammen und japsten nach Luft. Eine plötzliche Entladung des Hasses, wie die Eruption eines Vulkans. Eine unbändige Wut, von der Ruzka vermutete, dass sie einzig in der ständigen Angst vor dem Tod begründet war, die über den Bewohnern des Gettos schwebte. Ein Ventil, das nach einem Ablass forderte. Zum Glück gelang es Ruzka, den Schlägen und Tritten auszuweichen.

Doch dann ließen die Angreifer überraschend von den Rebellen ab. Unverrichteter Dinge nahmen sie ihre Beine in die Hand und rannten davon.

»Hinterher!«, krächzte Abba. Obwohl er selbst einige Schläge einstecken musste, hatte er sich trotz seines schmächtigen Körperbaus wacker gehalten. Mühsam quälte er sich auf die Beine, und mitsamt den wenigen, die noch bei Bewusstsein waren, nahm er die Verfolgung auf. Ruzka, die verschont geblieben war, hatte alle Mühe, den Trupp nicht aus den Augen zu verlieren.

Wie entfesselt stürmten die Bewohner nun durchs Getto. Filzten Haus für Haus, durchwühlten alle Zimmer, rissen falsche Wände nieder und durchsuchten jeden Winkel nach Wittenberg. Aus Sicherheitsgründen wusste Ruzka selbst nicht, wo der Löwe sich versteckt hielt. Nicht mal Abba und Glassmann, die beiden Oberleutnants, wussten es. Shmuel, der an der Befreiungsaktion des Löwen beteiligt gewesen war, hatte ihn an einem streng geheimen Ort untergebracht.

Dann tauchte Wittenberg mit einem Mal auf der Straße auf. Der Mob hatte seinen Unterschlupf ausfindig gemacht. Der Löwe sprintete aus der Dachkammer, in der er sich versteckt gehalten hatte, verließ das Haus durch die Hintertür und rannte ins Freie. Als wäre die Stimmung nicht schon aufgebracht genug gewesen, lieferte sein Erscheinen nun den Startschuss für eine wilde Hetzjagd. Quer durchs Getto.

Bis Ruzka aus der Ferne plötzlich einen Trupp jüdischer Polizisten ausmachte. »Halt!«, wollte sie Wittenberg zurufen. Doch der Löwe hätte sie nicht gehört, und so musste Ruzka machtlos zusehen, wie er weiter auf die Polizisten zustürmte. Als sie ihn erkannten, stellten die jungen Männer sich dreiecksförmig auf, wie ein menschlicher Keil, und zückten ihre Schlagstöcke. Doch bevor der Löwe ihnen in die Arme lief, zog er in vollem Lauf eine Pistole hervor, zielte auf die Köpfe der Männer – und drückte ab.

Der Knall schoss Ruzka durch den ganzen Körper und ließ sie an Ort und Stelle erstarren.

*

Während er sich in dem Raum umsah, ließ Isaak Wittenberg die kleine Kapsel durch seine Finger wandern. Schon vor Stunden hatten sie ihn hierhergebracht. In ein Hinterzimmer im Hauptquartier der Gestapo, das sich in der prachtvollen, von Bäumen und luxuriösen Geschäften sowie noblen Lokalen gesäumten Vilnius-Straße befand. Hatten ihn zunächst durch einen langen Flur und schließlich in diese leere, fensterlose Kammer geführt. Als er sie betrat, empfing ihn der finstere Blick Adolf Hitlers, dessen übergroßes Porträt wie eine ständige Drohung an der Wand hing.

Wittenberg fiel es nicht schwer zu erahnen, welches Schicksal ihm bevorstand. Er rechnete damit, dass jeden Augenblick die schwere Zellentür aufgehen, man ihn in einen entlegenen Raum führen und dort das angekündigte Verhör beginnen würde. Doch egal, was sie auch mit ihm anstellten, er würde der geheimen Staatspolizei niemals die Waffenverstecke des Untergrunds verraten. Zu überzeugt war er davon, für die rechte Sache zu kämpfen, und wenn sein Tod das unvermeidliche Opfer war, das zu erbringen ihm von seinem Schicksal auferlegt wurde, würde er diesem mit Freude nachkommen. Er, als Angehöriger einer Generation von revolutionär denkenden und leidenschaftlich kämpfenden Bauernkriegern, würde den Lauf der Dinge jedenfalls nicht aufhalten.

Jetzt nahm Wittenberg die Kapsel genauer in Augenschein. Nachdenklich ließ er sie zwischen seinen Fingern tanzen. Es war Jakob Gens gewesen, der ihm das Zyankali zugesteckt und ihm empfohlen hatte, sie im Mund aufzubewahren.

»Du musst nur das erste Verhör durchhalten«, hatte er ihm bei seiner Verhaftung ins Ohr geflüstert, »danach werde ich meine Kontakte bemühen. Dann hole ich dich hier raus.«

Wittenberg glaubte diesem schmierigen Kollaborateur jedoch kein Wort mehr. Zu frisch war die Erinnerung an seinen Verrat. Daran, dass der Chef der jüdischen Polizei ihn, Kovner und Glassmann, die beiden Oberleutnants der FPO, unter einem Vorwand zu sich gelockt hatte. Nur um Wittenberg umgehend den beiden SS-Offizieren auszuliefern, die plötzlich in seinem Büro aufgetaucht waren. Noch während sie ihn abgeführt hatten, hatte Gens ihm schließlich die schlanke Kapsel mit Blausäure gegeben.

»Falls du es nicht mehr aushältst«, hatte er geflüstert und ihm dabei zugezwinkert.

Jetzt hörte Wittenberg dumpfe Geräusche hinter der Zellentür. Offensichtlich versuchte jemand, sich Zugang zu dem Kerker zu verschaffen.

Es ging los, dachte Wittenberg. Ein letztes Mal schwor er sich, dass sie kein Wort aus ihm herausbekommen würden. Was auch immer ihn erwartete.

*

Mit stolzgeschwellter Brust richtete Vitka sich auf. Neben ihr standen die Angehörigen des ersten von zwei Bataillonen, die Abba aufgestellt hatte. Ein Kampfgenosse schritt durch die Reihen und verteilte Gewehre und Granaten.

Vitka lächelte: Endlich hatte ihre Stunde geschlagen! Endlich verspürte sie wieder so etwas wie Hoffnung. Jetzt, da war sie sich sicher, würden sich sogar die restlichen Wilnaer Juden zum Aufstand gegen die Deutschen entschließen.

Denn die Nachricht vom Tod des Löwen hatte selbst diejenigen erzürnt, die dem Widerstand kritisch gegenüberstanden. Auch der Schuldige war schnell gefunden: Jakob Gens, dieser Verräter, der Murers Forderungen nach weiteren Menschen für die deutschen Arbeitslager immer widerspruchsloser nachkam. Doch obwohl er für seinen nächsten Auftrag sogar zweihundert neue jüdische Polizisten verpflichtet hatte, konnte er die Quote von fünftausend Menschen um Längen nicht erfüllen. Das Getto, in dem nur noch etwa zehntausend Bewohner lebten, glich mittlerweile einem leer gefischten See.

Deshalb waren im Morgengrauen deutsche Soldaten ins Getto einmarschiert. Hatten mit aufgepflanzten Bajonetten die verschlafenen Straßen durchwühlt, Menschen aus ihren Betten gezerrt und sie vor dem Hauptgebäude der jüdischen Polizei antreten lassen. Ihr Auftrag: So viele Juden wie möglich für die Arbeitslager zusammenzutreiben. Ein Kundschafter des Untergrunds, den das Geschrei aus seinem ohnehin unruhigen Schlaf gerissen hatte, sprintete daraufhin über Innenhöfe, kraxelte durch Fenster in zahllose Wohnungen, rüttelte so viele Menschen wie möglich wach und warnte sie vor der Ankunft der Deutschen.

Auch Vitka war eine von ihnen gewesen. Als man ihr die entscheidenden Worte ins Ohr flüsterte, sprang sie schlaftrunken aus dem Bett. Augenblicklich wusste sie, was sie zu tun hatte. Unverzüglich würde sie sich zum Treffpunkt des ersten Bataillons begeben und ihre Waffe in Empfang nehmen.

Sie brauchte ein paar Minuten, um sich an das fremde Umfeld, das Zimmer ihrer Freundin, zu gewöhnen. Ausnahmsweise hatte sie diesmal nicht im Hauptquartier des Widerstands geschlafen, sondern war bei ihrer Freundin Salome geblieben. Wenigstens für eine Nacht hatte sie Abstand gebraucht von dem Ort, den Abba und die anderen mittlerweile in einen Bunker verwandelt hatten: die Fenster mit dicken Büchern verbarrikadiert, um sich vor den Kugeln zu schützen, die Wände meterhoch vollgestellt mit Türmen aus Steinen und Flaschen mit Schwefelsäure sowie etlichen mit kochend heißem Wasser gefüllten Kanistern, die die Rebellen den Deutschen im Vorbeigehen übergießen würden.

Abba holte sie zurück in die Gegenwart. »Kameraden!«, rief er. »Ihr habt nun eure Waffen! Wir sind bereit zum Kampf!«

Dann teilte der Oberleutnant das Bataillon in drei Gruppen auf und gab den jeweiligen Anführern ihre Befehle. Die Vorhut, der auch Ruzka angehörte, sollte ihre Stellung im dritten Stock eines Hauses am Anfang der Straschun-Straße beziehen. Abbas Einheit hingegen würde sich etwa hundert Meter weiter hinten verschanzen. Für die dritte Gruppe, der Vitka zugeteilt war, lautete die Anweisung, sich im Haus gegenüber für den Angriff bereitzuhalten. So würden die Rebellen die Deutschen ins Kreuzfeuer nehmen, sobald sie die Vorhut passiert hätten.

»Juden!«, richtete Abba sein Wort noch einmal an die Widerstandskämpfer. »Es ist so weit: Die deutschen Henker stehen vor dem Tor. Wir haben nichts mehr zu verlieren, denn ihr Beil wird jeden von uns treffen. Deshalb sage ich euch: Erschlagen wir die Hunde, bevor sie uns erschlagen!« Die Rebellen streckten ihre Gewehre zum Himmel und jubelten dem Oberleutnant zu. »Heute ist die Stunde unserer Rache gekommen. Rächen wir uns für Ponary! Für unsere ermordeten Familien! Denn nur wenn wir kämpfen, können wir unser Leben und unsere Ehre bewahren.« Abba griff nach seinem Gewehr, lud es durch und ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die Reihen vor ihm wandern. »Deshalb, liebe Freunde, fallen wir lieber im Kampf, als dass wir uns ihnen widerstandslos geschlagen geben.«

*

Yeichel Steinbaum legte sein Ohr ans Fenster und lauschte. Doch alles, was der Anführer der Vorhut hörte, war sein ruhiges Atmen.

Direkt nach Abba Kovners Ansprache versteckten sich die Rebellen in ihren Unterschlupfen. Während sie auf die Ankunft der Deutschen warteten, war bereits der Morgen verstrichen. Dann der Nachmittag, und nun sah Yeichel, wie Schatten der Abendsonne an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses hinaufkletterten. Die wenigen anderen, die trotz der Warterei noch nicht eingenickt waren, schauten ihn mit einer Mischung aus Angst, Wut und Hoffnung in die Augen.

Irgendetwas musste schiefgelaufen sein. Ob Jakob Gens dabei seine Hände im Spiel hatte? Ging er davon aus, dass der Widerstand den deutschen Soldaten auflauerte? In diesem Fall hätte der Chef der jüdischen Polizei mit Sicherheit auch alles getan, um die drohende gewaltsame Auseinandersetzung noch abzuwenden. Denn eine solche hätte Gens’ Konzept zunichtegemacht. Wie konnte dieser Verräter nur tatsächlich glauben, dass er mit dieser Strategie der Kollaboration der größtmöglichen Zahl von Juden das Überleben sicherte?

Jetzt, kurz nach Sonnenuntergang, hörte Yeichel schließlich etwas. Ein stetig lauter werdendes Grollen, das sich ihnen von der Oszmianska-Straße her näherte. Wenig später konnte er sie durch das Fenster sehen: etwa zwanzig Männer in deutschgrauen Uniformen, die die Straße entlangmarschierten und mit ihren Gewehrkolben gegen die Fassaden schlugen.

»Kommt raus, ihr Judenschweine!«, schallten ihre Schreie zwischen den Häuserschluchten. »Oder wir sprengen euch in die Luft!«

Mit einem Handzeichen erteilte Yeichel den anderen den Befehl, die Gewehre zu laden und Stellung zu beziehen. Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen und flüsterte: »Alles wartet auf mein Kommando.«

Yeichel wagte einen Blick auf die Straße. Aus dem Augenwinkel sah er einen Deutschen mit Schnauzbart, der eine große Kiste in das Haus gegenüber schleppte und kurze Zeit später ohne sie wieder herauskam. Auf sein Rufen hin flüchteten sich die übrigen Soldaten in nahe gelegene Toreinfahrten, warfen sich zu Boden oder gingen hinter der nächsten Ecke in Deckung.

Dann ertönte ein Knall und eine gewaltige Feuersbrunst schoss aus den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes. Yeichel sah, wie Trümmer und Leichenteile auf die Straße regneten. Die Explosion hatte das Nachbarhaus mitsamt den Juden, die sich darin versteckt hielten, in Schutt und Asche zerlegt. Yeichels Augen weiteten sich. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Sein Herz galoppierte. Er spürte, dass der entscheidende Moment nun gekommen war.

»Feuer«, rief er, »mäht diese Hunde um!«

Die Rebellen schossen. Ein rauschender Kugelhagel prasselte auf die Deutschen ein, und inmitten des tödlichen Pfeifkonzerts der Projektile suchten die Soldaten panisch nach Schutz. Auch Yeichel zielte auf die uniformierten Männer drei Stockwerke unter ihm. Dabei war er so sehr auf sie konzentriert, dass er den Mann, der sich inmitten der Trümmer hinkniete und seinen Karabiner anlegte, zu spät entdeckte.

Wieder ein plötzlicher Knall. Yeichel spürte, wie ihn etwas getroffen haben musste. Sofort ließ er sein Gewehr fallen und tastete nach der Wunde am Hals. Blut lief zwischen seinen Fingern hindurch, er konnte es nicht aufhalten. Nur ein Röcheln entkam seinem Mund. Yeichel sah an sich herunter. Dunkles, dickflüssiges Blut quoll aus seinem Hals und bildete eine Lache auf dem Boden.

»Oh mein Gott!«, hörte er Ruzka schreien.

Ihr angsterfüllter Blick war das Letzte, das Yeichel Scheinbaum zu sehen bekam, bevor er in sich zusammenfiel.

*

»Nein, warte! Das ist viel zu –«

»Hoch«, wollte er sagen. Doch seine Warnung war vergeblich. Kopfüber sprang Ruzka durch das offene Fenster im Treppenhaus hinaus in den Innenhof.

Leipke hörte einen dumpfen Aufprall. Um nachzusehen, blieb ihm keine Zeit. Auch er musste so schnell wie möglich raus aus diesem Haus. Hierzubleiben wäre sein sicheres Todesurteil. Deswegen schob er seine Sorgen um Ruzka beiseite und sprintete weiter die Treppen hinunter.

Im Erdgeschoss angekommen, wagte Leipke einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Zu seiner Rechten lagen deutsche Soldaten zwischen den Trümmern in Stellung und feuerten unablässig auf das Fenster der Wohnung, aus der die Rebellen sie beschossen hatten. Doch deren Gegenwehr wurde immer schwächer.

Er musste weitergehen, ermahnte Leipke sich in Gedanken. Schaute nach links und blickte in das kantige Gesicht eines deutschen Gefreiten.

»Stehen bleiben!«, befahl ihm der Soldat. Offensichtlich überrascht, dass ihm einer der Rebellen direkt in die Arme gelaufen war, ließ er vor Schreck beinahe sein Gewehr fallen.

Leipke zögerte nicht. Wie eine Raubkatze sprang er dem Deutschen an den Hals. Schlug ihm schnell hintereinander mehrmals ins Gesicht, bis seine Nase brach und ihn der Schmerz kurzzeitig lähmte. Leipke nutzte diese Gelegenheit, zerrte mit aller Kraft an dem Bajonett, das an der Koppel des Gefreiten befestigt war, zog es aus der Scheide und rammte die Klinge so fest er konnte in die Brust des Mannes, der nun unter ihm lag und wild um sich schlug. Die Stichverletzung ließ ihn seine letzten Kräfte mobilisieren. Er schlug weiter um sich, versuchte, Leipke zu treffen und so von ihm herunterzustoßen. Doch Leipke wehrte ihn ab, presste eine Hand auf seinen Mund und stieß das Bajonett noch einmal in seinen Oberkörper hinein. Blut quoll zwischen Leipkes Fingern hervor, und damit war die Gegenwehr gebrochen. Der Kopf des Soldaten kippte zur Seite. Ein letztes Zucken, dann war es vorbei. Leipke sah ihn sich genauer an. Er war jung, keine zwanzig Jahre alt. Glatte Wangen, keine Falten.

Eine Detonation riss Leipke aus seinen Betrachtungen. Ihm blieb nicht viel Zeit. Sofort öffnete er den Verschluss des Stahlhelms und riss ihn dem Toten vom Kopf. Falls die Deutschen auf ihn schossen, würde er ihn sicherlich gebrauchen können. Genauso wie das Bajonett. Mit einem beherzten Ruck zog er es wieder aus der Brust des Toten heraus, wischte die Klinge an dessen Uniform ab und befestigte es notdürftig an seinem Hosenbund. Anschließend durchwühlte er sämtliche Taschen. Stopfte zwei Packungen Nil-Zigaretten, mit denen man auf dem Schwarzmarkt hervorragend handeln konnte, unter sein Hemd und nahm den Mauser-Karabiner mitsamt dem letzten Munitionsstreifen an sich.

Gerade als Leipke sich wieder aufrichten wollte, traf ihn ein Gewehrkolben an der Schläfe. Zum Ausweichen war es zu spät.

*

Die Deutschen erwarteten ihn am Tor. Grob packten die Gestapo-Männer ihn an den Armen, öffneten eine der hinteren Türen ihres Dienstwagens, drückten seinen Kopf herunter und stießen ihn anschließend auf die Rückbank.

Durch das Fenster des Mercedes warf Jakob Gens einen Blick die Szpitalna-Straße hinunter. Das Getto, das für ihn jahrelang gleichbedeutend mit dem jüdischen Volk gewesen war, lag hinter ihm – sowohl räumlich als auch zeitlich. Nun war es zu einem Teil seiner Vergangenheit geworden. Ein seltsames Gefühl hatte ihn beschlichen, als die Gestapo-Männer ihn durch die Straßen geführt hatten. Denn zum ersten Mal hatte Gens sich tatsächlich wie ein Fremder gefühlt in der Stadt, die schnell zu seiner Heimat geworden war – und das, obwohl es den früheren Hauptmann der Reserve, der in der Gegend um Kaunas aufgewachsen war, erst 1940 zusammen mit seiner Familie hierhergezogen hatte.

An diesem Morgen hatte Gens’ deutscher Kontaktmann ihm die Pläne der Gestapo verraten. In deren Augen hatte Gens versagt, denn als Leiter des Gettos, zu dem er Mitte des vergangenen Jahres nach der Auflösung des Judenrats ernannt worden war, wäre es seine Aufgabe gewesen, den Partisanen den Garaus zu machen. Daran war er spätestens seit dem begonnenen Aufstand nachweislich gescheitert.

»Fliehen Sie auf der Stelle in den Wald«, hatte der Kontaktmann ihm deshalb eindringlich empfohlen.

Doch Gens hatte eine andere Entscheidung getroffen. Er war sich sicher, dass sein Verschwinden den Juden schaden würde – und damit hätte er dem einzigen Ziel, dem er sich von Anfang an verschrieben hatte, zuwidergehandelt: nämlich, das Getto um jeden Preis zu erhalten. So hatte er in dem Glauben, die Bewohner zu schützen, Alte und Kranke an die Deutschen ausgeliefert und sich sogar an der Zerstörung ganzer Dörfer beteiligt. Tausende Menschen hatten durch sein Handeln ihr Leben lassen müssen, und trotzdem war Gens nach wie vor davon überzeugt, dass es ohne ihn noch unzählige mehr gewesen wären. Ob er in einer anderen Zeit ein Held gewesen wäre? Ob die nachfolgenden Generationen sich wohl an ihn erinnern würden? Wenn ja, wie würden sie seiner gedenken?

Nach kurzer Fahrt erreichten sie das Gestapo-Gefängnis in der Rosa-Straße. Ein junger, schneidiger Unteroffizier namens Müller nahm Gens in Empfang.

»Mitkommen«, befahl er. Er führte den Chef der jüdischen Polizei an den Zellen vorbei auf einen Hinterhof, wo eine Reihe uniformierter Soldaten mit hochgekrempelten Ärmeln auf sie wartete. Mit Schaufeln, die in einem hüfthohen Erdhügel steckten, hatten sie ein Loch ausgehoben, dessen Größe und Form nur einen einzigen Schluss zuließ.

»Umdrehen«, befahl Müller forsch.

Nachdem Gens ihm den Rücken zugewandt hatte, fesselte der Unteroffizier seine Hände. Dann spürte er etwas Kaltes am Hinterkopf. Es musste die Mündung der Walther-Pistole sein, die der Deutsche ihm in den Nacken bohrte.

Gens schloss die Augen. Ein letztes Mal erschien ihm seine Frau. Er sah sie vor sich, wie sie sein Gesicht in beiden Händen hielt und ihm zart und flüchtig auf die Stirn küsste. »Hab keine Angst«, sagte sie, »schon bald werden wir uns wiedersehen.«

Der Knall, der über den Innenhof schallte, riss Jakob Gens aus der Welt.

*

»Ich werde fliehen.« Während Abba diese Worte sagte, streichelte er mit einer Hand über das ausgemergelte Gesicht seiner Mutter. »Wir gehen nach Rudnicki.«

In den Wald, etwa zwanzig Kilometer vor Wilna gelegen, hatte der Partisanenführer in den letzten Monaten immer wieder Rebellen zu Erkundungszwecken geschickt. Mit dem Nachteil, dass sie nie erfuhren, wie viele von ihnen es auch tatsächlich dorthin geschafft hatten. Denn diesbezüglich erhielten sie keine Nachrichten.

Abba erschreckte, als er das schwache Röcheln seiner Mutter hörte. Schon seit Wochen musste er mit ansehen, wie sie im Bett ihrer kargen Wohnung vor sich hin vegetierte. Ihre Wangen waren blass, ihre Arme und Beine spindeldürr geworden. Jetzt, als sie ihn aus ihren kraftlosen Augen ansah, verstand er es: Heute saß er seiner Mutter zum letzten Mal gegenüber.

Wie Abba sich wohl an sie erinnern würde? Würde sie ihm als junge glückliche Mutter in den friedlichen Tagen vor dem Krieg im Gedächtnis bleiben? So, wie er sie aus ihren Fotoalben kannte? Oder aber als abgemagerte, traurige Frau, zur der die Ereignisse der letzten Jahre sie gemacht hatten? Die Deportation seines Vaters, der Krieg, das Leben im Getto.

Als sie mühsam versuchte sich aufzurichten, drückte Abba sie sanft wieder zurück. Es war nicht gut, wenn sie sich anstrengte, das hatte er ihr nun schon mehrere Male gesagt. Sie musste sich ausruhen.

»Was wird aus mir?«, krächzte sie.

Abba holte tief Luft. Wie um alles in der Welt sollte er ihr nur die Wahrheit sagen? Verpackt in wohlklingende Worte? Oder unverblümt und geradeheraus? Egal für welchen Weg er sich entschied, das Ergebnis würde immer dasselbe sein. Denn das, was er seiner Mutter nun erklären musste, war nichts Geringeres als ihr Todesurteil.

»Es wird sehr anstrengend werden«, sagte Abba. »Shmuel hat für uns eine Karte von der Kanalisation angefertigt. So gelangen wir hoffentlich nach draußen.« Wieder streichelte er seiner Mutter übers Gesicht. »Dort unten werden nur Menschen überleben, die …«, sie sah ihn erwartungsvoll an, »in guter körperlicher Verfassung sind.«

Seine Mutter nickte stumm.

In der Tat hatte Shmuel, der umgehend nach dem gescheiterten Aufstand in der Straschun-Straße aufgetaucht war, sich wegen ihrer Flucht skeptisch geäußert. »Ist verdammt schmal da unten«, hatte er von seinen Eindrücken berichtet. Rußverschmiert, als sei er aus der Unterwelt gestiegen, war er aus den Kanälen wieder aufgetaucht. »Schon für uns allein wird’s knapp werden.« Er hatte alles andere als zuversichtlich geklungen. »Aber solange das Wasser nicht steigt, können wir’s schaffen.«

»Und wenn doch?«, hatte Abba gefragt.

»Dann werden wir alle ertrinken.«

Die traurigen Augen seiner Mutter, mit denen sie ihren Sohn ansah, holten Abba zurück.

»Wann werdet ihr gehen?«, fragte sie. Ihr Blick verriet, dass sie erahnte, wie gefährlich das Unterfangen in Wirklichkeit war. Um sie zu beruhigen, streichelte Abba über ihre Hand.

»Bei Anbruch der Dunkelheit«, antwortete er.

So, wie sie es immer getan hatten, wenn eine Trennung auf unbestimmte Zeit bevorstand, versuchten sie nun einander aufzuheitern – mit dem Unterschied, dass es diesmal eine für die Ewigkeit war.

Mit dem breitesten Lächeln auf den Lippen, welches ihr Zustand zuließ, erzählte seine Mutter lustige Anekdoten aus Abbas Kindheit. Davon, wie er ihnen, vor allem jedoch seinem Vater, schon früh als Geschichtenerzähler aufgefallen und ihnen damit manchmal auch auf die Nerven gegangen war. Dass er seinen unverwechselbaren Blick, dieses durchdringende Starren, ebenfalls bereits als Kind entwickelt hatte und wie seine jüngere Schwester unfreiwillig zur ersten Zuhörerin seiner Redekunst geworden war.

»Du bist schon immer ein Anführer gewesen«, flüsterte seine Mutter.

Zum Abschied lagen sie sich minutenlang in den Armen. Weil sie es für einen Fall wie diesen so vereinbart hatten, gingen sie daraufhin wortlos auseinander. Behutsam schloss Abba hinter sich die Tür, während er ein letztes, gequältes Schluchzen seiner Mutter hörte.

Draußen empfing ihn ein wolkenverhangener Himmel. Als er mit tränenfeuchten Augen nach oben sah, kreisten schwarze Vögel über ihm. Mit hängendem Kopf trottete er los, in Gedanken noch immer bei den Erlebnissen der letzten Stunden. In winzigen Schritten näherte er sich dem Hauptquartier des Widerstands.

Dann, kurz bevor Abba in die Straschun-Straße einbog, entdeckte er sie. An allen Wänden, an denen er vorbeiging, klebten Flugblätter der Gestapo.

Im Namen des Reichskommissars: Das Getto ist schnellstmöglich zu räumen! Die Bewohner werden nach Estland und Lettland umgesiedelt. Die Bevölkerung ist verpflichtet, bis morgen zwölf Uhr mittags ihr Hab und Gut zusammenzupacken und das Getto zu verlassen.

Jetzt ging es los, dachte Abba. Ihre letzte Stunde hatte geschlagen. Murer machte seine Drohung wahr.

Zorn der Lämmer

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