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Kapitel 1

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Auf halber Höhe der Böschung lag ein kleiner Haufen pissgelben Schnees. Obwohl es draußen sieben Grad warm war, weigerte er sich beharrlich zu schmelzen, vielleicht blockierte der Säuregrad des Urins den Prozess. Die langweiligen Osterferien waren vorbei, und der erste Schultag ohne Oskar stand mir drohend bevor. Mein bester Freund lief mit gesenktem Kopf auf der anderen Seite der Erde herum, und ich stapfte allein zur Schule. Oskar hatte mich immer früh abgeholt, damit wir noch genug Zeit hatten, vor der ersten Stunde miteinander zu reden. Ab jetzt musste ich selbst auf die Uhr gucken, und obwohl ich spät dran war, wollten meine Beine einfach nicht schneller gehen. Oskar hatte seine erste Schulstunde schon gehabt, viele Zeitzonen von mir entfernt. Eine Menge neue Gesichter – und keiner sprach dänisch. Aber er würde schon klarkommen, das hatte er immer getan, und bald würde er bestimmt total beliebt sein und einen Haufen neuer Freunde haben. Es hatte schon zur ersten Stunde geklingelt, als ich ins Klassenzimmer schlich.

Ich murmelte eine Entschuldigung und wollte mich schnell auf meinen Platz neben dem leeren Stuhl setzen, auf dem Oskar gesessen hatte, aber der Stuhl war nicht leer! Ich sah nach vorne zu unserem Klassenlehrer am Pult, und unsere Blicke trafen sich.

»Ja, wie ich gerade eben schon gesagt habe«, sagte Bjarne und nickte mir zu. »Ich habe allen nach den Ferien neue Plätze zugewiesen. Und das ist kein Vorschlag, der zur Diskussion steht!«

Langsam ging ich zu meinem Platz, hinten im Klassenzimmer. Nach Oskars Auswanderung waren wir jetzt dreiundzwanzigeinhalb in der Klasse, und mit zwölf Zweiertischen musste ja einer neben dem Halben sitzen. Und das Genie Bjarne hatte herausgefunden, dass ich derjenige sein würde. Der Halbe war Vitus. Vitus war krank und roch nach Krankenhaus und Friedhof. Vitus sah mich mit glühenden Augen an. Chemofrisur unter der Schirmmütze und käsebleich im Gesicht.

»Hey, Oliver«, sagte er mit heiserer Stimme. Seine Augenlider flackerten.

»Hey.« Ich sah weg und wäre fast über seine Tasche gefallen.

»’tschuldige.« Er zog die Tasche zu sich ran und grinste blöde.

Ich machte eine Grimasse und setzte mich hin. Vitus hatte Leukämie. Das war Krebs im Blut. Krebs. Daran konnte man sterben. Das letzte Jahr war er praktisch gar nicht in der Schule gewesen, und ab jetzt würde er ein paar Tage die Woche zum Unterricht kommen. Das tat mir echt leid für ihn, wirklich, aber warum durfte ich nicht einfach einen ganz normalen Tischnachbarn haben? Man konnte doch gar nicht befreundet sein mit einem, der weder Fußball spielen konnte noch die Kletterwand hochkam oder irgendwas anderes Cooles machte. Und der auch höchstens zweimal die Woche in die Schule kam. Ich sah mich um, suchte verständnisvolle Blicke, aber alle waren mit ihren Sitznachbarn beschäftigt.

»Wir haben den Test vor den Ferien ja nicht mehr geschafft ...«, begann Bjarne. Vor Ostern hatten wir eine Projektwoche Philosophie gehabt. Jetzt wollte Bjarne sehen, an was wir uns noch erinnerten. Er las zehn verschiedene Zitate vor, und wir sollten aufschreiben, wer jeweils dahinter stand, also wer sie ausgesprochen hatte.

»Zitat Nummer 1: ›Das Leben muss rückwärts gerichtet verstanden, aber vorwärts gelebt werden.‹ Habt ihr das? Gut. Zitat Nummer 2: ›Ich denke, also bin ich.‹ Nicht schummeln, Sebastian!«

»›Nicht schummeln‹, gehört das zu Zitat Nummer 2?«, fragte Joakim und brachte alle zum Lachen. Ich konnte mich an kein einziges Zitat erinnern. Platon aus dem alten Griechenland war dabei gewesen, Hegel war Deutscher und Kierkegaard, der war Däne, aber ich brachte die alle durcheinander. Ich schielte rüber zu Vitus, der die Antworten eifrig auf das Papier schrieb. Als er fertig war, schob er sein Heft zu mir rüber, nur ein kleines bisschen, und lehnte sich zurück. Ich zögerte, Oskar und ich hatten uns auch immer gegenseitig geholfen.

Ich schob das Heft zurück. Vitus sah enttäuscht aus. Ich schrieb schließlich nicht von jedem ab, und außerdem war er wohl kaum klüger als ich. Er ging ja noch nicht mal jeden Tag in die Schule. Und auf den Klassenausflug würde er auch nicht mitkommen, vielleicht sollte ich auch krank werden und mich abmelden. Ohne Oskar würde das hundertprozentig eine komplett langweilige Reise werden.

Es klingelte, die Stunde war zu Ende. Bjarne sammelte unsere Tests ein. Wir würden nächste Stunde die Noten erfahren. Ich wusste in der kleinen Pause nichts mit mir anzufangen. Ein paar von den Jungs wollten Fußball spielen, mit Sitzbänken als Tore. Die meisten von ihnen waren im selben Fußballverein. Sebastian, der in der ersten Mannschaft vom Verein spielte, teilte gerade die Mannschaften ein. Ich schlenderte zu ihnen rüber. Fühlte mich irgendwie nackt, so ohne Oskar. Natürlich sagte keiner: Hey, Oliver, willst du mitspielen?

»Darf ... darf ich mitmachen?«, fragte ich und versuchte, es beiläufig klingen zu lassen.

»Wir sind genau vier in jeder Mannschaft«, sagte Sebastian und fuhr sich mit der Hand durch seine blonden Haare. »Wenn du noch einen findest?«

Ich sah mich auf dem Schulhof um. Zwei andere Jungen aus der Klasse saßen zusammen und tauschten Sammelkarten. Der Einzige, der allein herumhing, war Vitus. Er saß auf einer Bank und schützte sich mit einer Hand vor der Sonne. Oder winkte er mir zu? Ich tat so, als hätte ich nichts gesehen, er konnte ja sowieso nicht mitmachen.

»Können wir nicht fünf gegen vier spielen?«, fragte ich.

»Nee. Das ist nicht so ’ne gute Idee. Du kannst ja Reserve sein, vielleicht wird einer müde.«

»Ja, oder hat einen Herzinfarkt und kippt um!«

»So ist das nun mal.« Ich hatte genau verstanden, was er meinte. Jetzt, wo Oskar weg war, musste ich von vorn anfangen, mich von unten wieder hocharbeiten. Ich drehte mich um und ging. Reserve! Auch wenn Oskar und ich nicht im Verein gespielt hatten, waren wir mindestens so gut wie die anderen. Hinter mir hörte ich, dass das Spiel begann.

Die Toiletten rochen irgendwie verkehrt. Sie stanken überhaupt nicht so wie sonst. Während der Ferien waren sie geputzt worden, und der Geruch von dem alten Scheuerpulver war schlimmer als der vertraute Gestank. Ich setzte mich auf die Kloschüssel und seufzte. So würde das jetzt für immer sein. Ich würde ein beschissener Einzelgänger ohne Freunde sein. Das Schlimmste daran war, dass ich sie gut verstehen konnte. Als Oskar noch da war, war es mir auch egal gewesen, ob alle einen Freund hatten. Ich hatte ja Oskar, und wir waren die ganze Zeit zusammen. Papa und Mama hatten echt hart daran gearbeitet, mir in den Ferien einen neuen Freund zu besorgen. Sie hatten sich über meine Proteste hinweggesetzt und die »nettesten Jungs« aus der Klasse angerufen. Nee, tut mir leid. Sie hatten alle andere Pläne. Natürlich hatten sie das, und das machte es nur noch peinlicher für mich: Der große Junge kann noch nicht mal selbst anrufen. Jetzt sahen mich die anderen in der Klasse mit verächtlichen und mitleidigen Blicken an. Ich könnte ohne Schwierigkeit einer von Sebastians Untertanen werden, wenn ich ihn alles bestimmen ließ. Aber dazu hatte ich keine Lust. Es klingelte zur nächsten Stunde, aber ich blieb noch ein bisschen sitzen. Die Innenseiten der Toilettentüren waren übersät mit Sprüchen. Die ließen sich einfach nicht abwaschen. Ich hatte sie schon tausendmal gelesen.

1 Million Fliegen können sich nicht irren – fresst Scheiße. Haltet Dänemark sauber, zeigt jedem Schweden den Weg zur Fähre. Alle Mädchen lieben Sebastian, William liebt Andrea – Andrea liebt sich selbst.

Aber daneben stand ein neuer. Was ist Oliver ohne Oskar? Ein Huhn ohne Kopf. Wer verdammt noch mal hatte das geschrieben? Sahen diese langen Buchstaben nicht aus wie die Handschrift von Sebastian?

Bjarne war dabei, unseren Test zu korrigieren, als ich ins Klassenzimmer kam und mich an meinen Platz setzte. Er hörte kurz auf und sah mich an, dann machte er weiter.

»Es ist wirklich nicht einfach, das Niveau in dieser Klasse zu bestimmen«, sagte er und seufzte übertrieben. »Hier gibt es alles: von null bis zehn Richtige.«

Alle wollten wissen, wer null und wer zehn Richtige hatte. Könnte ich das sein? Mir war so, als hätte Bjarne mich angesehen.

»Derjenige von euch mit null Richtigen weiß selbst, dass er sich zusammenreißen muss und in der Stunde die Ohren spitzen sollte.«

»Und wer hat zehn Richtige?« Das war Ida, die das unbedingt wissen wollte, die Klassenbeste. Wenn sie es nicht war, hatte garantiert eines der anderen Mädchen zehn Richtige. Die Mädchen schrieben im Unterricht mit und machten immer ihre Hausaufgaben.

»Die hat Vitus, tatsächlich! Gut gemacht, Vitus. Und das, obwohl du gar nicht die ganze Zeit da warst. Hast du zu Hause viel gelesen?«

»Ja, habe ich.«

»Es hört sich an, als ob du sehr viel wüsstest.«

»Ich weiß, dass ich nichts weiß«, sagte Vitus und wurde knallrot in seinem sonst so blassen Gesicht.

»So spricht ein wahrer Philosoph. Davon könnt ihr anderen was lernen. Ein Philosoph ist neugierig, stellt Fragen und denkt nach, ohne sich einzubilden, etwas zu wissen. Ja bitte, Sebastian?«

Sebastian räusperte sich. Alle sahen ihn an, und es war offensichtlich, dass er die Situation genoss.

»Vitus hat viel gefehlt und kommt auch nur ein paarmal die Woche. Das, was wir daraus lernen können, ist dann wohl ..., dass wir anderen viel zu oft hier sind?«

Die Klasse lachte. Sebastian sah zufrieden aus. Er hatte seine Position als der Chef der Klasse wieder einmal bestätigt. Er war der Größte von den Jungen, und vor den Weihnachtsferien war er die Nummer zwei nach Oskar, der zu Mister 7a gewählt worden war – von den Mädchen natürlich. Sebastians Eltern wohnten in einem riesigen Haus mit eigenem Strand. Dort hatte er vor Kurzem seinen 14. Geburtstag gefeiert. Mein Papa hatte im Sommer einmal gesagt, dass Sebastians Eltern stinkreich seien. Sebastian benahm sich auch schon wie ein Geschäftsführer, und jetzt, seitdem Oskar nicht mehr da war, um ihn am Boden zu halten, würde er sofort unerträglich werden. Bjarne schüttelte den Kopf und verteilte die Tests. Ich hatte drei Richtige.

»Du hättest doch auf mein Blatt gucken sollen«, flüsterte Vitus und klang kein bisschen schadenfroh. Ich antwortete nicht, sondern rückte ein Stück von seinem Medizinatem weg.

Nach der Stunde bat mich Bjarne, noch einen Augenblick zu bleiben. Wir warteten, bis der Klassenraum leer war. Bjarne räusperte sich.

»Drei Richtige. Das kannst du besser, Oliver.«

»Offensichtlich nicht.«

»Hast du was von Oskar gehört?«

»Es geht ihm gut.«

»Vermisst du ihn?«

»Was glauben Sie denn?«

»Gute Antwort. Ich habe deinen Vater letztes Wochenende spielen gehört. Ich war mit meiner Frau im Königlichen Theater. Fantastisch, wie die das können.«

»Ja, das klingt ganz okay.«

»Übrigens, wir haben dich für das Komitee fürs Kattegat aufgestellt.«

»Für was?«

»Den Klassenausflug. Die Gegend, in die wir fahren, heißt Kattegat.«

»Für dieses Komitee hat sich doch Sebastian gemeldet.«

»Wir haben das geändert, zwei Schüler pro Klasse plus die Lehrer.«

»Warum denn ausgerechnet ich?«

»Weil ... du immer so gute Ideen hast.«

»Das können Sie mal schön vergessen.« Ich hatte keine Lust, im selben Komitee wie Sebastian zu sein.

»Das neue Mädchen aus der Parallelklasse wird auch dabei sein.« Bjarne sah mich an. »Hast du sie schon kennengelernt?«

»Nein. Und es ist mir auch egal.« Tatsache war, dass ich sie schon gesehen hatte. Verwaschene Hüftjeans, einen weichen nackten Bauch, darüber eine schwarze Bluse, in derselben Farbe wie ihr kurzes, strubbeliges Haar. Ich fand, sie sah aus wie ein eingebildetes ›Sieh-mich-an‹-Girlie.

»Wir rechnen mit dir, am Donnerstag nach der letzten Stunde.«

Endlich war die letzte Stunde vorbei, und es klingelte. Die anderen packten lärmend ihre Sachen zusammen und stürmten aus dem Klassenzimmer. Ich blieb sitzen, während Vitus seine Tasche packte. Die Sonne schien durch die dreckigen Fenster und zeichnete Streifen in den Staub auf meinem Tisch.

»Na dann ... tschüss.« Vitus hob eine Hand zum Gruß.

»Tschüss.«

Vitus schlurfte raus. Ob er wohl Angst vor dem Tod hatte? War er darum so gut in Philosophie? Weil er den Sinn des Ganzen verstehen wollte, bevor er ins Gras biss? Ich trottete allein aus dem Klassenzimmer. Oskar und ich hatten um diese Zeit immer überlegt, ob wir noch in den Club gehen sollten oder nicht. Nach Hause zu ihm oder zu mir? Mein Leben war jetzt praktisch zu Ende. Game over. Ich konnte genauso gut die Konsequenzen daraus ziehen und mir den spitzesten Bleistift in das eine Ohr stecken und einmal quer durch den Kopf schieben. Oder die Schule schmeißen, auf einem Schiff anheuern und auf die andere Seite der Erde zu Oskar fahren. Sebastian stand bei den Fahrradständern und redete mit ein paar Jungen aus der Klasse. Lachten die gerade über mich?

Ich machte einen großen Bogen um sie und passte nicht auf, wo ich langging. Ein Fahrrad krachte in mich rein. Ich fiel hin und schlug mir das linke Knie auf.

»Verdammt noch mal!« Die Stimme gehörte einem Mädchen. Sie saß auf dem Radweg, das Fahrrad im Schoß.

»Entschuldige.« Ich rappelte mich auf und half ihr, das Fahrrad hinzustellen. Jetzt konnte ich auch sehen, dass es die Neue aus der Parallelklasse war. Sie stand auf, überprüfte die Klamotten auf irgendwelche Schäden, checkte das Handy und steckte die Haarspange fest.

»Das hier ist ein Fahrradweg.« Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.

»Ich weiß, ich habe ... geschlafen.«

»Du bist geschlafwandelt?« Es klang spöttisch.

»Ja, nein, nicht so richtig im Schlaf.«

Sie sah an mir runter. Ich hatte mir ein Loch in die Hose gerissen, und das Knie blutete.

»Du blutest ja. Tut es weh?«

»Nein, nein. Das ist nichts.«

»Lass mich mal sehen.« Sie klappte den Fahrradständer aus und ging vor mir in die Hocke. Sie riss das Loch im Stoff ein bisschen auf und betrachtete mein kaputtes Knie. Ein leichter Duft von Seife stieg in meine Nase. Ihre Stimme war etwas nasal, weich, rund, aber voller Energie und mit einem kaum hörbaren Zischen, wenn die Luft durch die Lücke zwischen den Schneidezähnen wich. Ich weiß nicht, ob es der Geruch von Seife oder ihre Stimme war, aber ich hatte so ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch.

»Du wirst es überleben, aber es ist schade um die Hose.« Sie hatte eine kleine spitze Nase in einem großen Gesicht mit hohen Wangenknochen und energischem Kinn.

»Das macht nichts«, murmelte ich.

»Was für ein Glück, du Schlafwandler, dass Löcher in den Jeans immer noch in Mode sind.« Sie sah mir direkt in die Augen, und für einen kurzen, albernen Moment hatte ich das Gefühl, dass wir uns kannten. Dass wir irgendetwas gemeinsam hatten. Sie lächelte. Die Lücke zwischen den Schneidezähnen teilte den Mund in zwei Hälften, es war so, als ob die zwei Seiten ihres Mundes nicht sorgfältig zusammengesetzt worden waren.

»Ich hoffe, dass dein Fahrrad nicht ...«, fing ich an.

»Das wird schon«, unterbrach sie mich. »Das bringt mein Vater wieder in Ordnung. Er liebt es, an Fahrrädern rumzuschrauben.« Sie schwang sich auf den Sattel und fuhr mit einem rhythmisch knirschenden Schutzblech davon. Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war, dann humpelte ich mit einem Loch in der Hose und einem eigenartigen Gefühl im Körper nach Hause.

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