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Kapitel 3
ОглавлениеFreitagmorgen sollten wir Holger unter der Erde suchen. Es sei nicht so weit nach Kronborg, als dass wir da nicht hinlaufen könnten, meinten Bjarne und Susanne. Unglaublich, dass alle Lehrer immer so Fitnessfreaks sind. Danach würden wir dann unsere Brote auf dem Burgwall oder am Strand essen. Diesen Ausflug zu Dänemarks größtem Nationalheld haben wir jedes Jahr gemacht, seit wir in den Kindergarten gehen. Hoffentlich kam Linnea heute überhaupt in die Schule. Papa hatte mir natürlich noch mal gezeigt, wie man die Tabellen in Excel erstellt. Mama und Papa hatten sich beim Abendessen angesehen und mich dann gefragt, wie es denn in der Schule so laufe ohne Oskar.
»Das läuft gar nicht!«
»So ist das immer am Anfang.« Sie hatten dann angefangen, über Oskar zu reden. Dass es Zeit braucht, einen neuen besten Freund zu finden. Ich ließ sie reden. Sie würden sich darüber freuen, dass ich bei dem Komitee mitmache, sagten sie und sahen sich wieder mit gerunzelter Stirn an. Ich überlegte kurz, ob ich ihnen von Sebastian erzählen sollte und von seinen Diktatormanieren, aber ich hatte keine Lust. Sie würden nur sofort zu einem Lehrergespräch gehen, und das würde so peinlich werden. Das Telefon hatte geklingelt und das Verhör des Freundlosen unterbrochen. Eine von Mamas Kolleginnen war krank geworden, und Mama sollte für ein Geschenk für sie sammeln.
Wir würden die Parallelklasse draußen vor Kronborg treffen. Bjarne führte unsere Gruppe am Glentevej vorbei, wo wir Vitus und seine Mutter aufgabelten. Vitus, trotz der Wärme mit einer Mütze bekleidet, saß in einem glänzenden neuen Rollstuhl, den seine Mutter schob. Er fing sofort an, von seinem neuen Rollstuhl zu erzählen, als hätte er gerade ein Moped oder einen Sportwagen bekommen. Seine Mutter war eine große, dünne Frau, fast ganz grauhaarig, dabei war sie nicht älter als meine Mutter. Vitus’ Vater war eines Tages einfach verschwunden, und darum waren sie nach Helsingør gezogen, Vitus und seine Mutter. Und Vitus war auf unsere Schule gekommen. Aber dann war er krank geworden. Ich konnte mich überhaupt nicht erinnern, ob er früher auch rumgerannt war und Fußball gespielt hatte. Ich hatte damals ja Oskar. Ich vermied es, ihn anzusehen, versteckte mich in der Gruppe, so weit weg von ihm wie möglich.
Als wir über die lange Brücke gingen, tat Sebastian so, als würde er gleich kopfüber in den Burggraben springen. Nur, um Linnea zu beeindrucken. Ich überlegte kurz, ihm einen leichten Schubs zu geben, Sebastian wäre bestimmt eine gute Seeschlange. Wir gingen über den Hof in einen großen, hohen Raum, wo wir auf die Fremdenführerin warten sollten, die uns die Verliese zeigen würde.
»Das hier ist ursprünglich eine Küche gewesen«, sagte Susanne. Ihre Stimme hallte in dem großen Raum. Einige Jungen drängten sich um eine Tür im Boden. Eine Art Falltür. Sie war nicht verschlossen. Wenn man die Luke hochhebt, kann man hinunter in das Loch sehen, behaupteten sie.
»Wir könnten Oliver hineinstopfen«, sagte Sebastian. »Und ihn da vergessen.« Es waren einige, die das lustig fanden. Sebastian streckte den Arm nach mir aus. Ich sprang schnell von der Falltür zurück und stieß gegen Vitus. Trat ihm ordentlich auf die Zehen.
»Entschuldigung«, sagte ich.
»Schon in Ordnung«, sagte Vitus. »Ich benutze die Oberseite der Schuhe nicht so oft.«
»Nee. Das glaube ich.« Er spielte ja kein Fußball.
»Sebastian ist ein ganz schöner Nullchecker, oder?«
Ich sah Vitus überrascht an. Meinte er das wirklich, oder wollte er nur mein Freund werden?
»Kein Null-, sondern ein Minuschecker«, antwortete ich.
»Stimmt, das ist viel genauer.« Vitus lachte. »Der hat seinen Kopf nur, damit es nicht direkt in den Hals regnet.« Vitus hatte schöne Zähne, er sah überhaupt nicht krank aus, wenn er lachte. »Genau genommen bin ich ziemlich gut im Fußball«, sagte er dann. Ich sah ihn erstaunt an. »Also, auf der Playstation.«
»Ach so, hast du FIFA 2003?«, fragte ich. Er nickte. »Das habe ich auch.«
»Wir können ja mal gegeneinander spielen.«
Ich wollte gerade antworten, dass wir das gerne mal machen können, als mein Blick auf Linnea fiel. Ich hörte ihr Lachen und spürte, wie mir ein Schauer den Rücken runterlief. Sie stand mit den Mädchen von der Parallelklasse zusammen. Und redete wild drauflos. Ganz neu in der Klasse und trotzdem schon im Mittelpunkt. So wie es bestimmt auch Oskar ging, auf der anderen Seite der Erde. Ich ließ Vitus einfach stehen und schob mich vorsichtig näher an die Gruppe der Mädchen ran. Jetzt stand ich ganz nah bei ihnen.
»Kommt, Jungs, Mädchen. Lasst uns den Holger finden!«
Bjarne klatschte in seine Lehrerhände. Ich räusperte mich, um was besonders Kluges zu Linnea zu sagen. So was wie, dass wir den Holger doch schon im Kindergarten gefunden haben, aber Linnea ging ganz dicht an mir vorbei, ohne mich zu sehen.
Es war dunkel, kalt und feucht unter der Erde. Die Öllampen spendeten nicht viel Licht, stell dir vor, an so einem Ort wohnen zu müssen. Die Skulptur von Holger Danske wirkte kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Linnea wollte sich auf seinen Schoß setzen, und Sebastian stand sofort parat, um ihr zu helfen, aber das war natürlich strengstens verboten. Sebastian klebte so an Linnea, dass sich sogar ihr Schatten bedrängt fühlte, aber das Gute daran war, dass er mich so lange vergaß. Wir gingen an den Vorratskammern und dem heimlichen Fluchtweg des Königs vorbei, ehe wir wieder nach oben ins Sonnenlicht kamen. Vitus und seine Mutter waren die Letzten. Vitus war aus dem Rollstuhl aufgestanden und ging nun selbst, dicht gefolgt von seiner Mutter.
»Wir schaffen gerade noch einen Rundgang durchs Schloss vor der Frühstückspause«, sagte Susanne und trabte hinter der Fremdenführerin die Steintreppe hinauf in die vielen Zimmer des Königs. Vitus’ Mutter runzelte bei dem Anblick der Treppen die Stirn, aber Vitus folgte den anderen.
»Nordeuropas größter Tanzsaal«, sagte die Führerin und breitete ihre Arme aus. Ihre Stimme hatte ein Echo in dem gigantischen leeren Raum. »Und obendrein auch noch mit Meerblick.«
»Was für eine irre Klassenfete man hier feiern könnte«, sagte Linnea.
»Super Idee«, sagte Sebastian. Er lächelte Linnea an. »Ich sag meinem Vater, dass er die ganze Hütte hier mieten soll.«
»Super Spielfeld. Wir hätten unsere Hockeyschläger mitnehmen sollen«, sagte Frederik, einer von Sebastians treuen Untertanen.
»Wir könnten Olivers Kopf als Puck nehmen«, sagte Sebastian. Es lachten viele darüber, viel zu viele. Vitus schüttelte nur den Kopf.
»Geile Akustik«, sagte Sebastian und fing an zu rappen. William und Frederik klatschten mit den Händen den Takt dazu. »Nach Kronborg wird gefahrn, Jahr für Jahr, wir sehen tote Steine, bekommen müde Beine. Nach Kronborg wird gefahrn ...« Sebastian wackelte mit den Hüften wie so ein Popsänger, ich musste allerdings zugeben, dass er das ziemlich gut konnte, und alle Mädchen klatschten, als er fertig war. Linnea klatschte auch und lachte dabei.
»Fette Stimme, Sebastian. Wer hätte das gedacht.«
Sebastian verbeugte sich übertrieben vor ihr und wollte eine Zugabe rappen, aber zum Glück scheuchte uns die Führerin weiter durchs Schloss.
»Hier in den neuen Trakten haben wir Dänemarks erste Toilette«, sagte sie.
»Und was haben die früher gemacht?«, fragte Camilla. Wir hatten gerade von den tagelangen Essgelagen am königlichen Hof gehört, mit achtzig Gängen und zwanzig Litern Bier pro Person.
»Hinter einem Vorhang lag ein Haufen Heu«, sagte die Führerin. »Dahin ging man, wenn man musste.«
»Pfui Teufel!«, sagte Vitus laut. »Und die haben sich hinterher bestimmt nicht die Hände gewaschen.«
Es lachten ein paar. Aus Pflichtgefühl. Seine Mutter war ja auch dabei.
»Das hier ist das Gemach der Königin. Sie war erst vierzehn Jahre alt, als sie Königin wurde, und hatte deshalb ihre Mutter bei sich wohnen.« Die Vorstellung, mit vierzehn zu heiraten. Das würde Linnea bestimmt auch bald. Also vierzehn werden, nicht heiraten. »Die Königinmutter wohnte im Zimmer darunter. Eine große Hilfe, wenn man gerade von zu Hause ausgezogen ist, oder?«
»Man zieht doch von zu Hause aus, gerade um seiner Mutter zu entkommen«, sagte Sebastian laut.
Großes Gelächter. Lachte Linnea auch? Ich konnte es nicht sehen.
»Die junge Königin hatte auch noch ihre ganz eigene Kammer«, sagte unsere Führerin. »Eine geheime Treppe, die in die vier Meter dicken Wände gehauen wurde, führte dort hinunter.« Sie holte einen riesigen Schlüssel hervor und schloss eine Tür auf. »Hat von euch jemand Lust, sich diese Kammer anzusehen?«
Die Erwachsenen und Vitus warteten oben, während wir anderen uns durch die Tür und die steinerne Wendeltreppe hinunter in den kleinen, kahlen Raum schoben. Es gab keine Möbel, aber einen Ofen. Hier unten hatte die Königin ein bisschen Privatleben gehabt und sich Pfannkuchen gemacht. Ich stand auf einmal am Fenster und war zwischen Sebastian und Frederik eingeklemmt. Wir standen so nahe beieinander, dass ich ihren schlechten Atem riechen konnte. Sie flüsterten sich etwas zu. Ich merkte, wie mir der Schweiß runterlief. Sie sahen verdächtig aus. Was hatten sie vor? Einige der Mädchen schrien plötzlich laut auf. Bestimmt gab es Jungen, die in dem ganzen Durcheinander die Kontrolle über ihre Grabschfinger verloren hatten. Die Mädchen gingen wieder hoch. Ich wollte auch zurück.
Sebastian hauchte mich kräftig an, als wäre er ein Drache, der gerade einen Ritter flambieren wollte. Er versperrte mir den Weg zur Treppe. Natürlich hätte ich meinen Mund halten sollen, Oskar war nicht mehr da, um mir zu helfen.
»Du stinkst aus dem Mund ... nach verfaultem Wassergraben«, sagte ich. Ihm direkt ins Gesicht.
Sebastian wurde rot. Mit der Linken griff er meinen Pulli und hob seine rechte Faust, ich schloss die Augen und wartete auf den Schlag.
»Alles fertig«, sagte William.
Sebastian ließ mich los und ging nach oben. Seine Bande folgte ihm und rannte die Treppe hoch. Ich wartete, bis ich sie nicht mehr sehen konnte, holte tief Luft und genoss noch mal den Gedanken an seine rote Birne. Wie ein verfaulter Wassergraben. Das saß. Dann wollte ich als Letzter gehen. Ich machte einen großen Schritt und fiel hin. Der Steinfußboden kam auf mich zugerast. Dann ein Schmerz im Kopf, und es wurde schwarz vor meinen Augen.
Als ich wieder aufwachte, lag ich allein auf dem Steinfußboden in der kleinen Kammer. Ich hatte Kopfschmerzen, hob die Hand, fühlte eine Beule und Blut an meinen Fingern. Ich wollte aufstehen ..., meine Beine waren gefesselt ... Sie hatten mir die Schnürsenkel zusammengebunden. Darum war ich auch hingefallen. Es tat weh, vielleicht hatte ich eine Gehirnerschütterung. Ich zog die Schuhe aus und knotete sie auseinander. Dann zog ich sie wieder an und lief schnell die Treppe hoch.
Die Tür war zu ... und verschlossen!
»Lasst mich hier raus!«, schrie ich und klopfte gegen die massive Holztür. Immer und immer wieder. Aber es kam keiner. Ich merkte die Panik, die mich wie ein kalter Wind erfasste und meine Haare zu Berge stehen ließ. Wie lange würde es wohl bis zur nächsten Führung dauern? Fanden heute überhaupt noch welche statt?