Читать книгу Gestillt - Daniel Zindel - Страница 11

Оглавление

Lieber David,

das mit dem »Vorlesungs- und Studierstubengott« meiner Nichte hat mich getroffen. Als ich mein Theologiestudium begann, war ich echt begierig darauf, mehr über Gott zu erfahren. Und ich interessiere mich immer noch für theologische Literatur. Es ist für mich so etwas wie ein Ausgleich, nur bin ich in letzter Zeit nicht mehr dazu gekommen. Auch Sport treibe ich kaum mehr. Ich weiß, dass wir bei Kritik an unseren Nächsten überempfindlich reagieren. Aber es hat mich einfach verletzt, wie Du das ehrliche intellektuelle Ringen meiner Nichte in der Frage nach Gott lächerlich machst. Wie kannst Du Dir anmaßen, den Glauben meiner Nichte zu beurteilen? Ich erwarte von Dir eine Entschuldigung, Dave! Offenbar hat der himmlische Verfasser bei der zweiten, verbesserten Auflage Deines Wesens einen Fehler übersehen, dass Du immer noch so unbarmherzig richten kannst. Entschuldige den Ton, ich bin echt schlecht drauf!

Dabei hatte der Tag doch so gut begonnen: Ich stand wie geplant sehr früh auf und war bei der Präsentation des überarbeiteten Marketingkonzeptes toppräsent. Es ist durchgekommen, mit viel Lob sogar. Durfte mit dem Verwaltungsrat zum Mittagessen und der Präsident hat mir das Du angeboten. Alle Mitglieder der Geschäftsleitung gratulierten mir und Müller fragte mich beim Dessert, ob ich nicht Mitglied der Volkspartei werden wolle. »Es gibt nichts Besseres, um sich seine Netzwerke aufzubauen, als die Politik«, sagte er. Es gibt niemanden, den Müller nicht kennt. Nun ist mir die Volkspartei etwas zu »völkisch«, aber mit dem Stichwort der Politik hat er mir einen Floh ins Ohr gesetzt; die Wirtschaftspartei wäre auf mich zugeschnitten. Der Verwaltungsratspräsident fuhr mich nach dem Essen in seinem Wagen zum Firmensitz zurück, mit Genugtuung teilte ich ihm mit, dass ich dieselbe Automarke wie er fahre. Er sprach wie ein Kenner über Autos, obschon er keine Ahnung davon hat.

Ich kam dann spät nach Hause, duschte und legte mich neben meine Frau ins Bett. Ich wusste, dass sie nur so tat, als schliefe sie, ich erkenne das an ihren Atemzügen, sie sind dann gekünstelt tief und die Pausen zwischen dem Ein- und dem Ausatmen sind ein bisschen zu lang. Ich strich ihr sanft über den Nacken. Sie sagte, dass ich das gefälligst sein lassen solle. Ich sagte, es laufe zwischen uns ja gar nichts mehr und warf ihr noch weitere Dinge an den Kopf. Sie gab wie immer mit präzisen Dolchstichen zurück, ich sei ein abgebrühter Egoist, der nicht lieben könne, und hinter meiner Geltungssucht stecke nur ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl; ich spiele im Geschäft den eitlen Gockel und zu Hause lasse ich mich fallen oder aber hänge den Chef heraus. Ich griff dann zum Zweihänder. »Wenn hier nichts mehr läuft, meine Hühner im Geschäft erwarten den Gockel freudig, mit offenen Flügeln.« Sie sagte dann, ich solle augenblicklich das Schlafzimmer verlassen. »Du kannst dich von jetzt an im Gästezimmer einrichten, du lächerliches Ekel«, rief sie mir hinterher.

Nun sitze ich im Gästezimmer. Habe in der Bibel gelesen. Irgendwo im Alten Testament. Nichts hat mich angesprochen, außer dass ich entdeckt habe, dass unser miserabler Schlafplatz im Gästezimmer schon in der Bibel vorkommt.20 (Was haben wir unseren Gästen bislang zugemutet!) Habe dann den Geist aktiviert und versucht, die Seele zu beruhigen. Es funktionierte nicht. Die Seele raste, war verletzt, rachsüchtig, verzagt, trotzig. »Wenn die mich rauswirft, dann werde ich es ihr schon zeigen. Morgen Abend gehe ich mit Sandra aus (so heißt die neue Grafikerin).«

Ich ließ meinen Fantasien freien Lauf, malte mir das Abendessen mit ihr aus, doch ich merkte, wie sich etwas in mir dagegen sträubte. Es ist noch schwierig, dies zu beschreiben. Aber tief in mir war mir ganz klar, dass ich das eigentlich nicht wollte; ich wusste in meinem Herzen, wo ich hingehöre. An die Seite meiner Frau. Ins Gästezimmer meines eigenen Hauses ausquartiert, wurde mir bewusst, dass ich einerseits meine Ehe und Familie unbedingt will, aber dass wir es andererseits so nicht schaffen können. Das hat mich völlig gestresst. Mir kommt es so vor, als befänden wir uns in einer tödlichen Abwärtsspirale und ich kann nichts dagegen tun.

Ich habe dann zu Deinen Liedern gegriffen und blieb bei einem Satz hängen: »Schüttet Euer Herz aus, liebe Leute.«21 Ich tat das. »Gott, es geht mir so mies. Wir machen uns gegenseitig kaputt. Wir sind so ineinander verkrallt. Ich halte es kaum noch aus, ich ärgere mich über meine Frau; ich bin traurig und schäme mich; es kommt jetzt auch eine Wut hoch, dass ich wie gefangen bin in meiner Arbeit, in meinem Wesen, in meinen finanziellen Verpflichtungen. Ich will meine Ehe und mache sie zugleich kaputt. Ich bin so verzweifelt.« Ich weiß nicht, wie lange ich so gebetet habe, aber mir schien – verzeih den Ausdruck – als hätte ich mich bei Gott »ausgekotzt«. Ich war wie ausgeleert, erschöpft wie nach einem Marathonlauf. Zugleich war ich unendlich erleichtert und schlief sogleich ein.

Ich grüße Dich herzlich

Dein Reinhold

Lieber Reinhold,

vielen Dank für Deinen letzten Brief. Das ist etwas ganz Kostbares, zu wissen, wo man hingehört. Trau diesem inneren Gewissen! Vielleicht hast Du den Punkt erreicht, an dem Gott bei Dir Neues schaffen kann. Vielleicht ist es auch so, dass Ihr noch tiefer fallen werdet. Aber die Hand Gottes ist unter Euch ausgestreckt und sie wird Euch auffangen.

Bei mir ist es spät geworden. Nicht weil ich auf die Uhr geschaut hätte – wir leben ohne Maschine, welche den Fluss der Zeit künstlich in größere oder kleinere Portionen zerschneidet. Ihr richtet Euch nach dem Zeiger Eurer Uhren, wir nach einem inneren Rhythmus. Hier hast du das Gefühl, du bist immer zur rechten Zeit am rechten Ort, es begibt sich alles so leicht. Auch wenn es für mein inneres Empfinden spät geworden ist, das Licht hier ist immer gut. Es leuchtet, ohne zu blenden. Es wärmt, ohne dass man ins Schwitzen kommt. Es hat die Klarheit des Spätherbstes in den Bergen und ist doch mild und weich und wirft keine harten Schatten: es ist einfach göttlich!

Offensichtlich habe ich Dich mit diesem Ausspruch »Vorlesungs- und Studierstubengott« aufgerüttelt. Ich habe in der Tat lange gezögert, bis ich diese Worte gewählt habe. »Du wirst ihm damit Schmerzen zufügen«, habe ich gedacht. »Aber nicht zu seinem Schaden«, hat es in mir nachgeklungen. In dieser Sache möchte ich einfach hart bleiben. Es bekümmert mich zutiefst, wenn ich sehe, wie bei Euch durch menschliche, intellektuelle Anstrengungen Gott gesucht wird und verstanden werden will.

»Was im Hirn ist, ist im Hirn, und die Existenz ist die erste aller Eigenschaften«,22 sagte kürzlich Asmus an unserem Stammtisch. Es geht in erster Linie um Leben und erst dann um Lehre. Asmus ist ein absolutes Original. Letzte Woche erzählte er uns, wie er seinen 37. Geburtstag gefeiert hat. Hat dauernd mit einer Pistole herumgeknallt, damit sich ganz Wandsbek, so heißt das Nest, wo er wohnte, mit ihm freuen konnte. Asmus ist gelegentlich leicht frustriert, weil er in der goldenen Stadt mit ihrem wunderbaren Licht sein Lied »Der Mond ist aufgegangen« nicht mehr anstimmen kann. So war er froh, als er mitten in unserer, übrigens durch Deinen Brief ausgelösten (!) Diskussion über Glaube und Denken mit tragender Stimme doch noch passend zwei seiner Liedstrophen vortragen konnte.

»Seht ihr den Mond dort stehen?

Er ist nur halb zu sehen

Und ist doch rund und schön.

So sind wohl manche Sachen,

Die wir getrost belachen,

Weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolzen Menschenkinder

Sind eitel, arme Sünder

Und wissen gar nicht viel.

Wir spinnen Luftgespinste

Und suchen viele Künste

Und kommen weiter von dem Ziel.« 23

Glaube ist Beziehung, nicht Denkanstrengung. Er vollzieht sich nicht im Kopf, wo wir »Luftgespinste spinnen«, sondern im Herz.

Vielleicht muss ich Dir mal das schwärzeste Kapitel meines Lebens erzählen. Alles brach damals zusammen. Ich war mit meinem Glauben am Boden, ich musste moralisch den Bankrott erklären, und als König hatte ich alle innere Autorität verloren und stützte mich lediglich auf die äußeren Machtbefugnisse. Ich war völlig unglaubwürdig. An diesem Punkt suchte mich Gott heim. Er zog mich sehr kräftig an den Ohren! Das war schmerzlich, aber er holte er mich wirklich heim, gab mir ein neues Zuhause bei sich und mit ihm. Ich bekam eine neue Lebensperspektive. Ich machte die Erfahrung, dass ich von dem lebe, was Gott austeilt. Und seitdem sind mir alle menschlichen Anstrengungen, und seien es die frömmsten und klügsten, zutiefst suspekt.

Ich hoffe, dass Du hinter meinen herausfordernden Worten ein Ringen um Dich heraushörst.

Sei herzlich gegrüßt und gib nicht auf! David

Lieber David,

ich muss mich richtig zwingen, nicht sogleich von mir zu erzählen. Aber Du sagst etwas Wichtiges. Unser Glaube ist kein Hirntrip, keine Theorie im Kopf, sondern ein Lebensstil. Ich bin noch sehr weit davon entfernt, dass bei mir Glaube und Leben eine Einheit werden. Ich beginne erst, überhaupt wahrzunehmen, dass bei mir Glaube und Leben wenig miteinander zu tun haben. Sie sind wie zwei Schubladen, die eine ziehe ich am Sonntagmorgen und vielleicht noch kurz zu Tagesbeginn und schließe sie dann gleich wieder; die restliche Zeit steht die andere offen.

Ich erlebe in mir noch einen anderen Zwiespalt. Ich weiß einerseits, was ich eigentlich möchte, und tue andrerseits gerade das Gegenteil davon. Ich will um unsere Ehe kämpfen und schwäche sie zugleich. Was tat ich gestern im Abendverlauf? Ich schlug wieder einen weiteren Nagel in den Sarg unserer Beziehung.

Als ich nach Hause kam, war meine Frau noch beim Unterrichten. »Kinder«, rief ich, »kommt alle mal runter«! Sie kamen sofort, meine Frau müsste drei Mal rufen und es würde immer noch nicht klappen. »Wer von euch kommt mit, ein Zelt kaufen? Wir können es noch heute Abend im Garten aufstellen.« Sie waren natürlich Feuer und Flamme. Wir kauften ein großes Igluzelt. Anschließend verschlangen wir im McDonald’s große Hamburger und tranken Cola. »Das ist etwas Rechtes, nicht wie dieses ›Körnerzeugs‹, das es zu Hause gibt«, sagte ich und meine Kinder lachten, anfangs verlegen, dann immer lauter. Auf der Nachhausefahrt erzählte ich meinen Kindern, dass wir mit dem Iglu eine Woche lang in Italien zelten würden, und erwähnte: »Mama will nicht mitkommen, sie reist lieber mit ihren Lesezirkelfreundinnen nach Prag.« Ich betonte, dass ich es schade fände, dass sie die wenige Zeit, die wir zusammen hätten, lieber mit ihren Freundinnen verbringe als mit uns. Als wir nach Hause kamen, stand ein Müsli auf dem Tisch. Die Kinder hatten keinen Hunger mehr und der Älteste sagte, solches »Körnerzeugs« schmecke nach Kaninchenfutter und »beim Campieren wollen wir dann jeden Abend grillen, gell Papi!« Als meine Frau fragte, was denn da abgehe, sagte der Jüngste, dass wir nach Italien zelten gehen müssten, weil sie mit ihren Freundinnen im schönen Hotel in Prag lieber viel Geld ausgebe, als Ferien mit der Familie zu machen. Der Abend war futsch, in gedämpfter Stimmung stellten wir das Zelt auf unserem Rasen auf.

Zum ersten Mal merkte ich, dass unsere Lage vielleicht doch ernster sei, als ich gedacht hatte. Vor dem Schlafengehen sagte mir meine Frau, sie komme jetzt nicht mehr weiter. Sie suche sich Hilfe. Sie wird wieder einmal zu einer »Seelsorgetante« rennen oder sich bei jenem »Psychoonkel« Rat holen, bei dem sie schon mal mein gutes Geld hat liegen lassen. Ich muss zwar zugeben, dass es gut investiert war; seitdem lebt sie in Frieden mit ihrer Mutter, mit der ich mich natürlich von Anbeginn an blendend verstanden habe.

Noch etwas zum »Vorlesungs- und Studierstubengott«. Ich verstehe Dich jetzt besser und merke, dass Du es im Grunde gut meinst. Du bist auf meinen Vorwurf mit dem Fehler in der zweiten, verbesserten Auflage überhaupt nicht eingegangen. Kann man im Himmel nicht mehr »einschnappen«? Dir geht es darum, dass aus dem Glauben nicht auch noch ein Stress – auch kein intellektueller – gemacht wird. Die Sache ist für mich erledigt.

Deine persönliche Krise ist übrigens bei uns bekannt. Du schliefst mit der Frau Deines Nachbarn. Als sie schwanger wurde, versuchtest Du das Ganze zu vertuschen, indem Du das werdende Kind als Kuckuckskind dem Nachbarn unterschieben wolltest. Als das nicht funktionierte, hast Du den Nachbarn in einer von Dir provozierten gefährlichen Kriegsaktion umkommen lassen. Dann hast Du die Frau zu Dir an den Königshof geholt. Wir beobachten solche Abstürze – vielleicht nicht gerade mit den tödlichen Konsequenzen – fast täglich bei Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft. Selbst Verantwortliche christlicher Gemeinden »trifft es«. Das hat mit dem Stress und mit ihrem exponierten Lebensstil zu tun.

Sei herzlich gegrüßt

Reinhold

Lieber Reinhold,

Du hast in trockenen, knappen Worten meine Lebenstragödie zusammengefasst. Einiges fehlt jedoch. Ich musste die Konsequenzen meines Ehebruchs tragen. Kannst Du Dir das vorstellen? Es kostete das Leben meines Kindes. Ich habe noch jahrelang den toten Säugling vor mir gesehen, der in meiner Königskammer aufgebahrt lag. Mein Kind. Wie schön es aussah. Tot. Wegen mir. Und immer, wenn ich nach meiner Siesta auf unserer Dachterrasse umherging, schaute ich in den Hof unseres Nachbarhauses hinunter. Hier hätte mein Nachbar Feigen pflücken oder seinen Kindern beim Spiel zuschauen können. Wegen mir musste er sein Leben lassen. Das ist etwas vom Härtesten, wenn man etwas nie wieder gutmachen kann. Dabei war ich mir am Anfang gar nicht bewusst, was ich angerichtet hatte. Ich nahm es zuerst ziemlich leicht.

Ich muss mich heute kurz fassen, Asmus hat mir gesagt, heute käme eine Frau zu unserem Stammtisch ins Café Paradiso. Das kommt selten vor. Ich möchte mich nicht verspäten.

Nur noch etwas: Ich bin froh, dass Du im Satz über die Abstürze selbst von Verantwortlichen in christlichen Gemeinden »trifft es« in Anführungszeichen gesetzt hast. Natürlicherweise »trifft« einen ein Blitz oder ein Hirnschlag. Abstürze wie die von Dir genannten haben eine Vorgeschichte, sie bauen sich auf wie ein Gewitter. Wir müssen uns mal über Eigenverantwortlichkeit unterhalten! Wir sollten auch über Deine Zustände des Ausgelaugt-irgendwie-leer-und untröstlich-Seins sprechen. Genau in diesen Seelenlagen beginnen unsere verhängnisvollen Abwärtsspiralen.

A Dieu David

Lieber David,

es herrscht zwischen mir und meiner Frau so etwas wie Funkstille. Wir reden wenig und das Wenige ist sachbezogen. Wir geben uns sichtlich Mühe, anständig zu sein. Wir wollen die Ehe, die wir doch beide bewusst vor Gott geschlossen haben, gut führen. Wir sind beide vorsichtig geworden, in unseren spärlichen Gesprächen nicht auf eine Mine zu treten. Aber diese scheinen sich täglich zu vermehren. Gesprächsthemen wie meine Arbeit, die nächsten Sommerferien oder mein Geld (meine Frau würde natürlich von unserem Geld sprechen) sind heikel geworden. Die Erziehung unserer Kinder ist zum Schlachtfeld geworden, was diese geschickt auszunützen wissen, ohne dabei glücklich zu sein. Im Gegenteil, sie wirken ziemlich verunsichert. Nur weil meine Frau so uneinsichtig ist, kämpfen wir jetzt auf dem Buckel unserer Kinder, das haben sie nicht verdient. Nur unser Sexualleben ist kein Kampfplatz mehr, sondern ein stiller Friedhof. An das Bett im Gästezimmer habe ich mich zwar gewöhnt, aber das Ganze kann so auf die Dauer nicht weitergehen.

Wenn ich nur ein bisschen mehr zu Hause wäre, ein bisschen entspannter und weniger umgetrieben, dann würde sich alles lösen. Dabei wäre die Sache doch so einfach, meine Frau müsste mich nur ein bisschen mehr unterstützen und die Dinge so sehen, wie ich sie sehe.

Aber nun zurück zu Deiner Geschichte: Anfangs sei Dir die Tragweite Deines Vergehens nicht bewusst gewesen. Ich weiß, dass Dir ein wacher Seelsorger die Maske vom Gesicht reißen musste, damit Du erkanntest, wie schuldig Du warst. Nathan hieß er, wenn ich mich nicht irre. Es ist gut, wenn wir in unserem Leben schonungslos mit unseren Schwachstellen konfrontiert werden, dann können wir uns verbessern. Ich fasse mich auch kurz. Hab morgen mit dem Verwaltungsrat einen Strategietag zum Thema, wie wir als Unternehmen wachsen und unsere Marktposition ausbauen können. Zum Glück ist die Stimmung im Gremium gut. Ich danke Gott, dass ich nicht so viele Auseinandersetzungen durchstehen und Kriege führen muss wie Du damals. Von kleineren Intrigen abgesehen, läuft es im Geschäft rund.

Sei herzlich gegrüßt

Dein Reinhold

Lieber Reinhold,

und wie geht es Deinem Herzen? Wie willst Du nach außen Siege erringen, wenn Du zu Hause Niederlagen erlebst? Könnte es sein, dass der Schlüssel zu einer Veränderung in Dir liegt?

Dein David

Lieber David,

ich habe mich in den letzten Wochen wirklich angestrengt und mir außerordentlich Mühe gegeben, korrekt zu sein. Ich selber bin in letzter Zeit völlig erschöpft, von einer kaum fassbaren Traurigkeit erfüllt. Ich decke mich dann mit Arbeit ein, das hat eine betäubende Wirkung und so kann ich vergessen. Ich vergesse die Misere zu Hause und mich selbst spüre ich auch nicht mehr. Dann ist mein mieses Gefühl wie weggeblasen, ich komme auf Touren und fühle mich stark, und als angenehmes Nebenprodukt bekommst du Anerkennung für die Leistung, in meinem Fall sogar happige Lohnzulagen. Ich hatte gerade gestern mein Qualifikationsgespräch. Mein Vorgesetzter fand meine Leistung im letzten Jahr exzellent, für die Leistungskomponente meines Lohnes könnte meine Frau neben Prag auch noch Paris und Peking besuchen. Du hast Recht, ich erringe nach außen Siege, zu Hause scheitere ich. Ich führe im Geschäft engagiert und inspiriert mein Team, zu Hause bin ich ein Versager.

Reinhold

Lieber Reinhold,

zu versagen, ist für uns Männer eine Urangst. Dies wurde mir bei meinem Absturz ganz klar. Ich habe Dir ja gesagt, dass mir meine Schuld anfangs nicht bewusst war. In schlaflosen Nächten meldete sie sich kurz, es gelang mir jedoch immer, sie wieder zum Schweigen zu bringen: »Mein Nachbar hat seiner Frau doch so wenig Zuwendung zukommen lassen, selbst seine Feigenbäume hat er liebevoller behandelt als sie«, rechtfertigte ich mich. Unglaublich, wie erfinderisch ich in meiner Selbstüberlistung war. »Er starb doch eines ehrenhaften Soldatentodes, er wollte es so haben, ich hatte ihm ja Urlaub angeboten.«

Dann kam Nathan. Er hat mich aber nicht demaskiert, wie Du denkst! Er hat mich keineswegs in die seelsorgerliche Mangel genommen, da wir bei Druck bekanntlich nur mit Gegendruck reagieren. Er sprach zu meinem Herzen. Wie er das tat? Wie man eben zum Herzen spricht. Er erzählte mir eine einfache Geschichte. Ich empörte mich über den reichen, hinterlistigen Mann in seiner Erzählung, der gewaltige Schafherden besaß und einem Armen dessen einziges Schaf wegnahm. Als Nathan die Geschichte zu Ende erzählt hatte, schaute er mich ernst und zugleich liebevoll mit seinen traurigen Augen an. Noch heute klingt mir seine Stimme in meinem Ohr: »Ata, ha isch«24Du bist der Mann. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich bin schuldig. Schuldig vor der Frau. Schuldig vor dem werdenden Kind. Schuldig vor meinem Nachbarn. Schuldig – die Erschütterung ging noch tiefer. Entschuldige, wenn ich jetzt abbreche. Ich muss zu meiner Harfe greifen, und das große »Bara«25 singen. Es ist einfach unglaublich. Bei den Menschen ist das unmöglich, so etwas kann nur Gott, gepriesen sei er.

Bis bald D.

20Jesaja 28,20

21Psalm 62,2

22Matthias Claudius, Werke, Dritter Band, Hamburg 1819, Seite 81

23Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz 1998, Nr. 729

242. Samuel 12,7

25Psalm 51,12

Gestillt

Подняться наверх