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Nadja

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Am Ende des Regenbogens

Neumarkt, im Jahr 2016

Wieder mal kehre ich gestresst von der Schule zurück. Warum zum Teufel ist jeder Lehrer der Meinung, nur sein eigenes Fach sei für die weitere Karriere relevant? Die verstehen alle nicht, dass wir für die anderen Fächer auch mehr als genug zu tun haben. Es ist einfach immer dasselbe. Wenigstens kann ich mich jetzt auf ein leckeres Mittagessen von Mama freuen, ihre Kochkünste sind einfach unübertrefflich und retten jeden noch so beschissenen Tag. Als ich die Küche betrete, duftet es schon herrlich nach ihrer berühmten „pasta all‘ amatriciana“- meinem Lieblingsessen. Mama weiß einfach immer im Voraus, was ich wirklich brauche- weibliche Intuition eben. „Hallo Schatz, wie war die Schule?“, fragt sie fröhlich. „Frag nicht, ich bin einfach froh, dass du mir heute meine Lieblingsnudeln gekocht hast, denn die kann ich jetzt wirklich gebrauchen!“ „Na gut, dann lass es dir schmecken, ich muss auch schon wieder los zur Arbeit. Wir sehen uns später“, sagt sie und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Mit knurrendem Magen schöpfe ich mir einen Riesenteller voll Nudeln aus dem Kochtopf und will gerade anfangen, mich darüber her zu machen, als Mama nochmal den Kopf durch die Tür streckt. „Ach, und Nadja, könntest du heute Nachmittag bitte ein wenig den Dachboden aufräumen? Dort oben herrscht das pure Chaos und wenn nächste Woche die neuen Fenster geliefert werden, sollte es wenigstens ein bisschen akzeptabel aussehen. Danke!“, ruft sie, ohne auch nur eine Antwort abzuwarten. „Ja klar, ich hab‘ ja sonst nichts zu tun“, seufze ich, bevor ich mir endlich eine Gabel meiner heiß geliebten Pasta in den Mund schiebe.

„Boa, ist das eklig hier!“, rufe ich entsetzt aus. So schlimm habe ich mir den Dachboden nun doch nicht vorgestellt. Nachdem ich den größten Teil der Hausaufgaben erledigt habe, kann ich nicht anders, als Mama ihren Wunsch zu erfüllen und mir den Dachboden mal anzusehen. Aber staubig und chaotisch sind noch gar keine Ausdrücke für das Bild, das sich mir hier oben bietet. Ein Messie hätte das hier wahrscheinlich zu seinem heiligen Tempel erklärt, ich weiß gar nicht, wo ich mit dem Aufräumen anfangen soll. Okay, Schritt für Schritt. Zuerst mal die großen, sperrigen Sachen aus dem Weg schaffen und abstauben. Dass ich nicht wirklich ein Freund von Spinnen bin, ist mir in dieser Situation nicht sehr hilfreich, sondern hindert mich vielmehr daran, die Möbel sauber genug abzustauben, um meine Mama zufriedenstellen zu können. Aber bekanntlich zählt ja der gute Wille, also mach ich einfach mal so weiter. Nachdem ich zwei Sofas und drei Tische abgestaubt habe und mich dabei fragte, warum wir eigentlich so viele Möbel besitzen, finde ich, dass ich mir eine Pause verdient habe. Staubig wie eine Mumie steige ich die schmale Dachbodentreppe hinab und mache mir in der Küche einen extra starken Kaffee, in den ich genüsslich ein paar Kekse eintauche. Dürfte ich mir mit meinen runden Kurven zwar nicht leisten, aber im Moment brauche ich einfach was Süßes. Außerdem, wie unglücklich wäre man, wenn man plötzlich auf alles verzichten müsste, was einem so gut schmeckt und einen glücklich macht? Schokolade macht eben glücklich, davon bin ich überzeugt. Gestärkt mache ich mich wieder an die Arbeit und stoße dabei auf eine große, schwer aussehende Kiste. Da ich sie nur schwer verschieben kann, nehme ich den Deckel ab um nachzusehen, ob ich vielleicht etwas vom Inhalt rausnehmen kann, um sie leichter zu machen. In der Kiste befindet sich allerlei uralter Krimskrams, wahrscheinlich Erinnerungsstücke meiner Oma. Seit sie vor drei Jahren gestürzt ist kann sie sich nicht mehr um sich selbst kümmern und da das nötige Kleingeld für eine Pflegekraft fehlt, ist sie im Altersheim in unserem Dorf Neumarkt im Süden Südtirols untergebracht und fühlt sich dort auch richtig wohl. Einen Teil ihrer Sachen hat sie beim Umzug bei uns eingelagert, da ihre alte Wohnung weitervermietet wurde. Mal schauen, was Oma uns so überlassen hat. Neben alten Fotos und Figürchen, die sie wahrscheinlich auf ihren Reisen gesammelt hat, finde ich einen vergilbten und abgenutzten Brief. Adressiert ist er an einen Franz Lochmann, doch unter der Adresse befindet sich ein Stempel mit der Aufschrift „Nicht zustellbar“. Komisch, was das wohl zu bedeuten hat? Ich schaue aufs Datum und kann nach ein paar Minuten angestrengten Entzifferns das Datum 30.06.1944 lesen. Meine Oma hat mir nie Geschichten vom Zweiten Weltkrieg erzählt. Papa meint, das sei so, weil sie das alles wahrscheinlich bis heute nicht verarbeitet habe. Ist ja auch nichts, was man einfach so mal so vergisst, nach dem Motto „vergeben und vergessen“. Ich kann mir gut vorstellen, dass einen so etwas ein Leben lang prägt. Meine Oma war für mich immer eine herzensgute, alte Frau, die für jeden stets ein offenes Ohr hat und mit ihren Oma-Weisheiten gerne weitergeholfen hat. Eigentlich könnte ich sie mal wieder besuchen, das letzte Mal habe ich sie vor drei Wochen gesehen. Ich nehme mir vor, gleich morgen bei ihr vorbeizuschauen und mache mich weiter daran, die sperrigen Sachen auf dem Dachboden von ihrer dicken Staubschicht zu befreien.

„Wow, das sieht ja super aus“, meint Mama, als sie von der Arbeit nach Hause und zu mir auf den Dachboden kommt. „Komm erst mal runter, du hast lange genug da oben geputzt. Wir gönnen uns jetzt was Leckeres, ich habe Croissants vom Bäcker mitgebracht!“ Das lasse ich mir doch nicht zweimal sagen und komme zu Mama in die Küche, wo sie schon zwei Tassen Kaffee und zwei Schokocroissants bereitgestellt hat. Das Kaffeetrinken ist bei uns so etwas wie eine Tradition, das machen wir meistens immer gleich nach dem Mittagessen und am Abend zusammen, je nachdem, wie lange Mama eben arbeiten muss. Aber mindestens eine Tasse am Tag ist für uns schon obligatorisch. „Und, wie erfolgreich war das Aufräumen? Ich meine, die Staubschicht auf dir spricht eigentlich ja für sich selbst, aber wie bist du vorangekommen?“, fragt sie nach einem großen Schluck Kaffee und dem ersten Bissen ins Croissant. „Naja, da ich Spinnen nicht zu meinen Lieblingstieren zähle, muss ich dir leider sagen, dass Dachboden aufräumen nicht zu meinem neuen Hobby wird“, erzähle ich lachend „aber ich habe relativ viel geschafft. Bilanz: zwei Sofas, drei Tische, fünf Stühle und ein paar alte Kisten sind entstaubt und auf die Seite geräumt. Wenn wir morgen zu zweit weitermachen, haben wir es bald geschafft. Ach ja, ich habe Omas alte Kiste voller Erinnerungsstücke unter dem ganzen Gerümpel gefunden. Darin sind ein paar echt antike Dinge und ein uralter Brief aus dem Zweiten Weltkrieg, adressiert an einen Franz Lochmann, jedoch abgestempelt mit „Nicht zustellbar“. Hast du vielleicht eine Ahnung, was es damit auf sich hat? Ich meine, hat Papa vielleicht mal etwas erwähnt?“ Oma Walburga ist nämlich Papas Mama und somit Mamas Schwiegermutter. „Nein, darüber haben wir nie geredet. Du weißt doch, Oma spricht nicht gerne über den Krieg und über die Option1. Aber geh sie doch mal besuchen und sprich sie darauf an, vielleicht erzählt sie dir die Geschichte dazu“, antwortet Mama lächelnd. Wir wissen beide, dass Oma nicht darüber reden wird, aber Mama verliert einfach nie die Hoffnung. „Na gut, aber jetzt springe ich erst mal unter die Dusche. Ich sehe sicher furchtbar schmutzig aus“, sage ich und verlasse die Küche. Eine heiße Dusche ist genau das, was ich jetzt brauche.

Am nächsten Tag mache ich mich nach dem Mittagessen direkt auf den Weg zu Oma. Nur nicht mit leerem Magen zu ihr gehen, denn dann verklagt sie Mama noch, dass sie mich verhungern lässt- wie Omas halt so sind. Am liebsten würde sie sowieso jeden mästen, bis man zu ihr ins Altersheim rollen könnte; „life goal“, wie man heutzutage sagt. Oma sieht richtig gut aus, ihre Gesichtsfarbe ist so rosig wie immer und sie begrüßt mich mit wachem, freundlichem Blick. „Nadja, Liebling! Schön, dich auch mal wieder zu sehen. Komm, gib mir ein Küsschen!“ Das obligatorische Oma-Küsschen darf auch diesmal nicht vergessen werden. „Wie geht es dir, meine Kleine?“, fragt sie glücklich. „Gut, Oma, danke. Hab gerade in der Schule ein wenig Stress, aber ansonsten könnte ich mich nicht beklagen“, antworte ich. Da ist Oma schon bei einem ihrer Lieblingsthemen angelangt: “Ja, ja, früher war das alles anders, da wurde in der Schule noch nicht so viel von einem verlangt und auch nicht so viel Druck ausgeübt. Irgendwann wirst du daran noch kaputtgehen!“ „Ach was, Oma, das Schuljahr dauert ja nicht mehr so lange und dann kann ich den ganzen Sommer lang entspannen. Ich muss mit den Noten ja nicht Sonja nacheifern, aber ein schöner Durchschnitt würde sich doch gut anfühlen, oder?“, entgegne ich. Sonja ist meine ältere Schwester, sie war schon immer eine Musterschülerin- sowohl in der Schule, als auch jetzt im Studium. Sie schreibt immer nur Einser und ganz selten eine Zwei. Aber sie ist eben so ehrgeizig, dass sie nicht mit dem Lernen aufhört, bis sie jeden Beistrich draufhat. Ich hingegen bin zwar nicht faul, lerne aber nur so lange, bis ich mir bei allem einen groben Überblick verschafft habe und genieße den Rest des Tages. Mein System funktioniert bis jetzt einwandfrei, ich schreibe zwar nicht so viele Einser wie Sonja, halte aber meinen Durchschnitt zwischen 2 und 2,5. Oma findet dieses „neue Schulsystem“ absolut verwerflich und ist davon überzeugt, dass es uns alle irgendwann verderben wird. So weit wird es zwar hoffentlich nicht kommen, aber ich muss schon zugeben, dass ich mir oft wünsche, in einer Klasse der früheren Generationen zu sitzen, wo man nur die essentiellen Dinge des Lebens lernen musste: lesen, schreiben, rechnen etc. Was soll ich sagen? Die Zeiten haben sich eben geändert. „Wie sieht es eigentlich in deinem Liebesleben aus? Gibt es da endlich jemanden?“, reißt mich Oma aus meinen Gedanken. „Ach Oma, nein! Dafür habe ich momentan einfach keinen Kopf und auch überhaupt keine Zeit. Neben der Schule verbringe ich doch so viel Zeit in den Vereinen des Dorfes, da kann ich mich nicht auch noch um eine Beziehung kümmern!“, entgegne ich. „Sehr gut“, antwortet Oma zufrieden, „genau so wünsche ich es mir. Schau zuerst mal auf dich und mach etwas aus dir, und das mit der Liebe klappt danach ganz von alleine.“ „Ja, Oma, ich weiß“, seufze ich. Nicht, dass ich mich einsam fühlen würde, aber gerade jetzt im Frühling sind alle meine Freundinnen frisch verliebt und turteln ständig mit ihren Freunden herum, während ich ein ewiger Single bin. Ich weiß, ich sollte meine Freiheit zu schätzen wissen, da ich ja nicht weiß, ob ich nach der Matura mal studieren möchte und vielleicht wer weiß wohin ziehe, aber trotzdem wünsche ich mir oft ein bisschen Nähe. Jemanden, mit dem ich Kuscheln und vor dem Fernseher einschlafen kann. Naja, wie Oma immer sagt: „Gut Ding braucht gut Weile“. „Du, Oma, ich bin eigentlich gekommen, um dir ein paar Fragen zu stellen. Ich weiß schon, dass du nicht so begeistert sein wirst, aber mich würde es brennend interessieren, was es mit dem Brief auf sich hat, der in der Kiste ist, die du bei deinem Umzug bei uns untergebracht hast. Ich habe gestern den Dachboden aufgeräumt und bin dabei auf den Brief gestoßen. Oma, wer ist oder war Franz Lochmann und warum war der Brief an ihn nicht zustellbar?“, wage ich schließlich zu fragen. Meine Oma starrt mich entgeistert an und seufzt. „Ich werde wohl nicht daran vorbeikommen, diese Geschichte endlich mal zu erzählen. Ich habe sie noch nicht mal deinem Vater erzählt, musst du wissen. Franz Lochmann war… Man könnte sagen, dein Großvater. Du wirst jetzt natürlich denken, dass dein Vater und deine Tante Monika erst lange nach Kriegsende geboren wurden und da hast du Recht. Franz war meine erste große Liebe, musste aber an die Kriegsfront und ist nie mehr zurückgekommen. Nachdem ich die Nachricht einigermaßen verarbeitet hatte, wusste ich, dass das Leben weitergehen musste und habe deinen Opa Herbert geheiratet. Mit ihm habe ich deinen Vater und deine Tante bekommen, aber Franz war und ist meine große Liebe und ich habe ihn nach seiner Einberufung nie wieder gesehen“ Oma muss ihre Tränen zurückhalten. Ich finde es schrecklich, dass sich zwei Menschen verlieren, nur weil zwei oder mehrere Nationen sich bekriegen. Und ich finde es beeindruckend, dass es meiner Oma nach all den Jahren immer noch so nahegeht. „Das ist die Kurzfassung der Geschichte, mehr musst du für heute nicht wissen“, bringt Oma noch hervor, bevor sie mich zur Tür drängt. Sie wollte noch nie Gefühle zeigen und daran wird sich wahrscheinlich auch nie etwas ändern. „Alles klar, Oma, danke für deine Zeit und fürs Erzählen. Ich weiß das zu schätzen“, sage ich und drücke ihr einen dicken Kuss auf die Wange. „Tschüss, Oma, wir sehen uns bald wieder!“ Nachdenklich mache ich mich auf den Weg nach Hause. Warum nur hat Oma nie davon etwas erzählt, dass sie mal mit einem Soldaten zusammen war? Ich meine, natürlich fällt es ihr schwer, darüber zu reden, aber sie hätte uns sicher sehr schöne Geschichten von ihm und ihrer Beziehung erzählen können.

Am nächsten Tag empfängt mich Mama mit einer überraschenden Nachricht, als ich von der Schule nach Hause komme. „Oma hat gerade angerufen, sie möchte, dass du sie heute nochmal besuchen kommst… Sie hat etwas für dich“, erklärt mir Mama. „Okay, mache ich. Weißt du, worum es geht?“ „Nein, davon hat sie nichts gesagt, nur, dass ich es dir ausrichten soll“, antwortet Mama. „Na gut, dann esse ich jetzt was, erledige meine Hausaufgaben und mache mich dann auf den Weg zu ihr. Wie sieht es auf dem Dachboden aus?“, erkundige ich mich. „Einigermaßen ordentlich. Es muss ja nicht perfekt aussehen, wenn die Handwerker kommen, aber ein bisschen Ordnung wäre halt sehenswert. Aber ich glaube, so können wir es jetzt lassen.“

Oma wirkt ein bisschen nervös, als ich in ihr Zimmer trete. „Hallo, Oma! Was gibt es denn so Wichtiges?“, begrüße ich sie. „Hallo, Nadja. Setz dich. Ich habe etwas für dich aus meiner Erinnerungskiste herausgesucht, das ich dir gerne geben würde.“ Sie holt ein Bündel vergilbter Briefumschläge aus einer Schublade ihres Nachtkästchens und reicht sie mir. „Das sind die Briefe, die Franz und ich uns geschrieben haben, beziehungsweise die Briefe, die ich von ihm erhalten habe, als er mir noch antworten konnte. Ich habe sie noch niemandem gezeigt, auch nicht deinem Vater oder deiner Tante. Ich denke, du bist jetzt alt genug und zeigst auch das Interesse, etwas von deiner Familiengeschichte zu erfahren. Außerdem weiß die Jugend von heute viel zu wenig über die Option und die harten Jahre, die darauf folgten. Lies dir die Briefe in Ruhe durch und wenn du damit fertig bist, kommst du einfach wieder her und ich erzähle dir den Rest der Geschichte. Einverstanden?“ Ich ertappe mich dabei, wie ich Oma verdutzt ansehe. „Ja, klar, danke Oma. Ich nehme sie gleich mit nach Hause und beginne mit dem Lesen. Hab dich lieb und danke für dein Vertrauen!“

Zu Hause sehe ich mir den Stapel genauer an. Das müssen an die 25 Briefe sein, die Oma erhalten hat. Na, da weiß ich ja, wie ich den heutigen Abend und vielleicht sogar die halbe Nacht verbringen werde.


Am Ende des Regenbogens

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