Читать книгу Am Ende des Regenbogens - Daniela Haas - Страница 4

Walburga

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Neumarkt/Schanze, im Jahr 1940

Mit Tränen in den Augen blicke ich auf unseren Hof zurück. Ich will hier eigentlich gar nicht weg, ich liebe mein Zuhause mit unseren Kühen, Schweinen und Schafen. Aber mein Vater will es so. Seit Kriegsbeginn kursierten schon Gerüchte, dass auch uns die Option bald treffen wird. Meine Mutter hatte eigentlich nicht viel Mitspracherecht, Vater hat im Alleingang entschieden. Im faschistischen Italien will er auf keinen Fall bleiben, er hasst die Schwarzhemden, hält ihre Schikanen nicht länger aus, findet das “Deutschverbot“ erniedrigend. Außerdem hat er von Anfang an auf die Nationalsozialisten gesetzt, ihren Versprechungen geglaubt und mit ihnen sympathisiert. Wir alle hoffen nun auf ein neues, besseres Leben unter der nationalsozialistischen Herrschaft, da wir, wie die meisten Familien, ziemlich arm sind. Zwar besitzen wir wie schon erwähnt einen beachtlichen Grund und Vieh, aber trotzdem schaffen wir es kaum, uns über Wasser zu halten. Nun ist es also so weit. Wir machen uns schweren Herzens auf den Weg. Wohin uns dieser führen wird, wissen wir noch nicht- das wird Vater dann entscheiden.

Tagelang reisen wir durch Felder, Schluchten und Dörfer. Bei jeder Siedlung hoffe ich, dass wir endlich stehen bleiben und uns dort ein Heim aufbauen. Ich will nicht mehr weiterfahren, ich will endlich wieder irgendwo sesshaft werden. Es ist schon schlimm genug, dass ich alle meine Freunde und meinen Verlobten Franz zurücklassen musste, da ihrer aller Familien sich fürs Dableiben entschieden haben. Franz ist meine große Liebe, das weiß ich mit Sicherheit. Wir haben uns in der Schule kennengelernt und waren eigentlich schon immer unzertrennlich. Irgendwann ist aus Freundschaft dann Liebe geworden, wir konnten uns nicht dagegen wehren und nun sind wir seit 4 Monaten verlobt.

Ich erinnere mich noch gut an unsere erste Verabredung. Wir haben einen Spaziergang durch den angrenzenden Wald gemacht, wir beide lieben es, durch unberührte Natur zu spazieren. Im Vorbeigehen haben wir so viele schöne und duftende Blumen gesehen, Franz hat mir daraus einen wunderschönen Blumenstrauß gemacht, den ich inzwischen getrocknet und in meinem Zimmer aufgehängt habe. Während wir so durch den Wald spazierten und über Gott und die Welt plauderten, fing es plötzlich an wie aus Kübeln zu gießen. Von einer Minute auf die andere waren wir bis auf die Knochen durchnässt. Da es gerade Hochsommer war, kam uns der Regen nach diesem viel zu heißen Tag genau zu recht. Ausgelassen haben wir im Regen getanzt, er hat mich in seine starken Arme gezogen und wir sind über Wurzeln und Steine geschwebt. Als der Regen schließlich aufgehört hatte, war die Luft herrlich frisch und rein. Völlig außer Puste haben wir uns auf einen Stein gesetzt, als mich Franz stupste und auf einen wunderschön klaren Regenbogen hinwies. Seufzend lehnte ich mich an seine Schulter und fragte ihn: „Glaubst du, dass sich am Ende des Regenbogens wirklich ein wertvoller Schatz versteckt?“ Er sah mir in die Augen und antwortete: „Das weiß ich nicht, aber ich habe gerade etwas sehr Wertvolles an meiner Seite.“ Von diesem Augenblick an war ich Franz ganz verfallen, ich schmolz förmlich dahin. Wir waren ein Herz und eine Seele, ein Traumpaar. Und das sind wir auch heute noch.

Wir hatten gerade mit den Hochzeitsvorbereitungen begonnen, als mir Vater verkündete, dass wir in wenigen Tagen unseren Hof verlassen werden. Franz und ich versprachen uns, uns so oft wie möglich zu schreiben und ich soll mich bei ihm melden, sobald wir in unserem neuen Zuhause wären. Ich hoffe, er wird nicht eingezogen. Bis jetzt habe ich nur schlimme Dinge über den Krieg gehört, angeblich sterben die Soldaten in den Schützengräben zu hunderten, ja tausenden. Dieses Szenario möchte ich mir bei Franz gar nicht mal vorstellen, sollte es wirklich so weit kommen, dass der Krieg auch ihn erreicht. Ich habe so schreckliche Angst davor, denn im Dorf haben schon viele Frauen ihre Männer und Söhne verloren und mitgeteilt wird ihnen der schreckliche Verlust durch einen blöden, unpersönlichen Brief von der Armee. So etwas wünscht man echt nicht mal seinem schlimmsten Feind. „So, hier bleiben wir!“, ruft Vater und reißt mich somit aus meinen Gedanken. So lange habe ich auf diese Worte gewartet, und nun, nach einer gefühlt ewig dauernden Reise, wurden sie endlich ausgesprochen. Ich sehe mich um. Das Dorf, in dem wir uns befinden, ist ungefähr so groß wie Neumarkt, nur sieht es ein wenig… Wie soll ich sagen… älter aus? Die Häuser sehen aus, als ob sie zu Napoleons Zeit errichtet wurden, also stabil sieht bei mir anders aus. Egal, im Moment bin ich einfach froh, irgendwo Fuß fassen zu können. „Wo sind wir?“, frage ich Vater. „In Schanze. Das Dorf hier liegt kurz vor der tschechischen Grenze, wie du siehst, sind wir also fast durch ganz Österreich gefahren“, antwortet Vater stolz. „Und wo werden wir wohnen?“, erkundigt sich nun auch Mama. „In dem Haus dort drüben, es wurde uns als Optanten zugewiesen“, antwortet Vater, während er auch schon unsere Sachen zum Haus trägt. Ich atme erleichtert auf. Ein ganzes Haus für uns allein, das war mein größter Wunsch. Den vielen Platz bin ich von zu Hause schon gewohnt und wüsste nicht, wie ich ohne leben könnte. Meine Freude löst sich jedoch schon bald in Luft aus, als ich bemerke, dass in dem Haus schon Leute wohnen. „Haben wir denn nicht das ganze Haus für uns?“, frage ich misstrauisch. „Nein, nein, Walburga, wir wohnen nur in einem Apartment in diesem Haus, die restlichen Wohnungen wurden anderen Optanten zugewiesen“, erwidert Vater. Oh Gott, welche Enttäuschung! Gott sei Dank sind wir nicht in einer Stadt gelandet, wo die Straßen und Plätze auf mich immer so einengend wirken. Hier kann ich mich wenigstens auch in der Natur aufhalten und mir Baumhäuser und Unterschlüpfe bauen. Ich versuche einfach, das Beste aus der Situation zu machen, und verstaue erst mal meine paar Habseligkeiten in den wackeligen Schränken. Dann fällt mir ein, dass ich Franz ja versprochen habe, ihm umgehend einen Brief mit meiner neuen Adresse zu schreiben. Ich hoffe, die Post ist hier in Niederösterreich nicht so langsam wie zu Hause, aber das wird sich sicher bald herausstellen.

Als ich wenig später den Brief zum Postamt bringe, nutze ich die Gelegenheit, das Dorf ein wenig zu erkunden. Ich sollte mir so bald wie möglich eine Arbeit suchen, denn ewig will ich meinen Eltern nicht auf der Tasche liegen, erst recht nicht in einer fremden Gegend, wo wer weiß was passieren kann. Ich schlendere also durch die wenigen engen Straßen und erblicke prompt ein Aushängeschild an einem etwas heruntergekommenen Gasthof: „Aushilfe gesucht“. Na gut, ich habe zwar noch nie gekellnert, aber so schwer kann das nun auch nicht sein. Nachdem ich die Bar betreten habe, sehe ich mich kurz im Raum um und stelle mich schließlich vor. Da fällt mir auf, dass ich von ungefähr zwölf männlichen Augenpaaren angestarrt werde, als hätten sie alle schon lange keine junge Dame mehr gesehen. Da bin ich ja an eine tolle Männerkneipe geraten. Vielleicht stimmt so wenigstens das Trinkgeld. Ich wende mich an den Wirt hinter der Theke und erkläre ihm mein Anliegen. Offenherzig, wie die Leute hier in Schanze offenbar sind, lädt er mich gleich für morgen zu einem Probetag ein. Erschöpft, aber erleichtert kehre ich in unsere neue Bleibe zurück und erzähle meiner Familie die guten Neuigkeiten. Keine Sekunde kann ich dabei die Gedanken von Franz abwenden und hoffe, dass mein Brief bald ankommt.

Die Monate vergehen, die Tage werden kürzer und dunkler. Franz geht es soweit gut, wie er mir in seinen Briefen versichert. Noch wurde er auch nicht eingezogen, doch ich habe da so eine schlimme Vorahnung, dass dies nicht mehr lange auf sich warten lässt. Ich schiebe die bösen Gedanken beiseite und versuche, mich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Heute ist in der Kneipe nicht viel los, es ist Montag und alle schlafen noch ihren sonntäglichen Rausch aus. Plötzlich höre ich laute Männerstimmen von draußen, die immer näher kommen. Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf, ich traue diesen Stimmen nicht. Die Tür öffnet sich mit Schwung und an die zwanzig deutsche Soldaten in ihren grauen Uniformen stürmen in die Kneipe, alle offensichtlich abgemagert und durstig. Was sie wollen? Natürlich Bier, was denn sonst. Was mich weiterhin beunruhigt, ist, dass sie sich nicht an einen der Tische setzen, sondern einfach vor dem Tresen stehen bleiben. Ich hasse es, wenn das jemand macht, vor allem, wenn es einer der älteren Männer des Dorfes mit diesem lüsternen Blick ist. Aber dieser Blick ist noch gar nichts gegen diejenigen, denen ich jetzt durch diese Soldaten ausgeliefert bin. Sie verfolgen jeden meiner Handgriffe, als könnte ich jeden Moment etwas falsch machen. Während ich die Gläser abtrockne, kleben ihre Blicke förmlich an meinen Händen und wenn ich sie auf das hohe Regal stelle, spüre ich, wie die Blicke meinen Rücken hinabgleiten. Mit jeder Sekunde fühle ich mich unwohler. Dass mein Arbeitgeber gerade nicht hier ist, verschlimmert die Situation noch zusätzlich. „Woher kommst du?“, die forsche Frage eines der Soldaten reißt mich aus meinen angsterfüllten Gedanken. „Südtirol…“ antworte ich zaghaft. „Hört man, du sprichst kein schönes Deutsch. Wenn du sprichst klingt es wie eine Mischung zwischen Russisch, Italienisch und Deutsch. Kein richtiges Deutsch! Ich dachte, ihr werdet in Südtirol auch in Deutsch unterrichtet!“, spöttelt er und erntet schallendes Gelächter von seinen Kollegen. „Ja, das werden wir auch. Deutsch ist meine Muttersprache, wir sprechen halt unseren südtirolerischen Dialekt“, versuche ich mich zu rechtfertigen. „Es klingt aber Scheiße!“, schreit plötzlich ein anderer. „Entschuldigt mich kurz…“, stammele ich und gehe nach hinten zu den Toiletten, um mir eine kurze Pause vor diesen beunruhigenden und unfreundlichen Männern zu gönnen. Als ich ein paar Minuten darauf zurückkomme, haben alle ihr Bier ausgetrunken, was mich ungemein freut. Vielleicht verziehen sie sich jetzt endlich. Einer von ihnen verlangt nach der Rechnung, die ich ihm auch prompt ausstelle. Nachdem er für alle bezahlt und unerwarteter Weise sogar ein Trinkgeld daraufgelegt hat, sieht er mir einen Moment zu lange in die Augen und sagt: „Weißt du eigentlich, was du für ein Glück hast, dass du diese Arbeit hier hast? So schön, wie du bist, hast du am Ende des Tages sicher viel mehr Trinkgeld als Lohn in der Tasche, oder?“ „Naja, so viel bekomme ich auch nicht…“, stammele ich. Irgendetwas an der Situation gefällt mir gar nicht. Alle sehen mich gespannt an, als ob sie etwas von mir erwarten würden. „Weißt du, ich habe dir ja auch ein dickes Trinkgeld gegeben“, beginnt der Soldat von vorhin wieder „und glaubst du nicht, dass ich mir dafür eine kleine Gegenleistung erwarten darf?“ Das ist es also, was sie wollen. „Nein, ganz sicher nicht!“, sage ich mit fester Stimme. „Das könnt ihr euch abschminken!“ Plötzlich verfinstert sich der Blick des Soldaten. „Sag mal, wie redest du eigentlich mit mir? Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wen du da vor dir hast? Ich bin Unteroffizier Steiner und habe mit dieser Truppe unzählige gefährliche Situationen gemeistert!“, brüllt er mich an. „Na, herzlichen Glückwunsch dazu. Ich muss jetzt weiterarbeiten“, entgegne ich bestimmt, aber doch ein wenig eingeschüchtert. Meine etwas patzige Antwort bringt den Unteroffizier derart in Rage, dass er sogleich Anstalten macht, über die Theke zu klettern. Da ich das aber vorausgeahnt habe, verziehe ich mich so schnell ich kann in den Lagerraum, da es dort einen Hinterausgang gibt, durch den der Lieferant wöchentlich die Getränke bringt. Ich laufe, so schnell mich meine kurzen Beine tragen und bemerke erst nach einer Weile, dass mir gar niemand folgt. War das für die Soldaten nur eine Spielerei, die sie ein paar Mal täglich abziehen? Ein bisschen provozieren und blöde Anspielungen machen und damit junge Mädchen einschüchtern? Ich habe echt immer weniger Lust auf diese Arbeit. Tagein, tagaus dieselben Gesichter, die immer zu derselben Uhrzeit dieselben Getränke trinken und sich jeden Tag über genau dieselben Themen unterhalten. Ich könnte die Konversationen sicher schon auswendig mitreden. Ich habe die Schnauze voll, ich will diese Arbeit nicht mehr. Langsam schlendere ich zur Kneipe zurück, nicht ohne mich vorher mit einem Blick durch die Fenster zu vergewissern, dass die Soldaten verschwunden sind. Der Rest des Tages vergeht nur kriechend langsam. Am Abend kommt dann endlich mein Arbeitgeber und ich verkünde ihm kurz angebunden, dass ich ab morgen nicht mehr für ihn arbeiten werde. Auf seine Frage hin, wieso, antworte ich nur, dass ich meine Gründe habe. Darauf zuckt er mit den Schultern und murmelt: „Na, wenn du meinst!“ Ohne ein weiteres Wort verlasse ich die Kneipe und mache mich auf den Heimweg. Meine Gedanken wandern zu meinen Eltern, denen ich jetzt wieder auf der Tasche liege. Dass ich gekündigt habe, muss ich ihnen auf jeden Fall beichten, daran komme ich nicht herum.

„Kind, ich weiß, wie Männer sein können, und ich verstehe dich. Ich kann gut nachvollziehen, dass du diese Arbeit satthast, weil das alles ziemlich anstrengend und manchmal auch langweilig ist“, sagt Mama am Abend, nachdem ich ihr von der Auseinandersetzung mit den Soldaten und den tagtäglichen Problemen erzählt habe. Vater weiß von dem Ganzen noch nichts, aber mit Mama konnte ich schon immer über alles reden. Gott sei Dank hat sie Verständnis für meine Situation, das erleichtert das Ganze. Vielleicht kann sie so auch bei Vater ein gutes Wort für mich einlegen. „Danke Mama, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Und ab jetzt kann ich dir auch mehr im Haushalt zur Hand gehen“, antworte ich und umarme sie fest.

Der gefürchtete Brief ist angekommen. Franz muss in den Krieg ziehen. Ein Jahr und zwei Monate, nachdem ich Neumarkt verlassen habe, hat er die Einberufung erhalten. Genau das habe ich immer befürchtet, war ja eigentlich klar, dass es früher oder später auch für ihn soweit sein würde. Immerhin ist er groß und stark und sicher nicht so einfach unterzukriegen. Er fehlt mir so. Und jetzt ist es auch nicht mal mehr sicher, dass ich ihn noch jemals wiedersehen werde! Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen, ich kann sie einfach nicht mehr zurückhalten. Mama kommt zu mir in die Küche. „Walburga, was ist los?“, fragt sie besorgt. Statt zu antworten, halte ich ihr nur den Brief hin. Mit besorgter Miene liest sie ihn sich durch und umarmt mich dann. „Das tut mir so leid, Schätzchen. Aber er ist so ein starker Mann, der Krieg kann ihm bestimmt nichts anhaben. Nicht jede Kugel trifft! Du darfst nur nicht die Hoffnung verlieren“, versucht sie mich zu trösten. „Ja, Mama, du sagst das so einfach. Genau davor habe ich mich seit Kriegsbeginn immer gefürchtet!“ „Ich weiß, meine Kleine. Aber gemeinsam schaffen wir auch diese schwere Zeit, du wirst sehen“, sagt sie und streichelt mir übers Haar, genau wie früher, wenn ich schlecht geträumt hatte.

In dieser Nacht schlafe ich sehr schlecht. Alpträume plagen mich, sobald ich auch nur die Augen schließe und sehr viel schlafe ich sowieso nicht. Das Bild, wie Franz in einem Schützengraben kauert, geht mir einfach nicht aus dem Kopf und taucht immer wieder vor meinem inneren Auge auf. Am schlimmsten ist es, wenn ich träume, wie er von einer Granate oder einem Gewehrschuss getroffen wird und wie ein Sack Kartoffeln zu Boden fällt. Dann wache ich jedes Mal schweißgebadet auf und muss mich erst einmal wieder beruhigen, bevor ich mich traue, die Augen wieder zu schließen. Als es draußen schon langsam beginnt, hell zu werden, fühle ich mich, als hätte ich keine Minute geschlafen. Naja, so weit ist das auch nicht hergeholt, immerhin habe ich nicht ein einziges Mal eine Stunde durchgeschlafen, sondern bin dazwischen immer wieder aus dem Schlaf geschreckt. Auf dem Weg in die Küche bleibe ich kurz stehen und lausche, ob schon jemand auf den Beinen ist. Da höre ich Mama und Vater über mich sprechen. „Sie ist völlig fertig, du weißt doch, wie sie an Franz hängt“, sagt Mama. „Ja, ist ja auch nicht sicher, dass er heil zurückkommt, das weißt du genauso gut wie ich. Der Krieg ist wie ein verdammter Moloch, der alles verschlingt. Ich will jetzt nicht den Teufel an die Wand malen, aber du weißt, wie die Chancen stehen. Und ich glaube, Walburga weiß das auch, schließlich ist sie kein kleines Mädchen mehr“, antwortet mein Vater. „Ach, denkst du das? Ist ja schön, dass ihr da so viel besser Bescheid wisst als ich“, sage ich, die Küche betretend. „Ähm, Walburga… So war das jetzt nicht gemeint“, versucht meine Mama sich zu entschuldigen „aber weißt du… Franz ist in einer ziemlich gefährlichen Situation“ „Ja, Mama, das weiß ich. Was glaubst du eigentlich, wieso ich mir solche Sorgen mache? Weil er gerade private Probleme hat? Nein, Mama, ich mache mir Sorgen, weil mein Verlobter irgendwo in Russland an der Front ist und ich nicht mal weiß, ob er genau jetzt noch lebt oder bereits in einem namenlosen Grab, tausende Kilometer von hier entfernt, verscharrt wurde!“ Während ich mich verteidige, wird meine Stimme immer lauter, bis ich meine Eltern schließlich anbrülle. Ich will das eigentlich gar nicht, aber diese Ungewissheit, ob es Franz gut geht, macht mich fertig. „Wir fühlen auch mit dir, Schatz“, beginnt Vater, „und verstehen deine Sorgen. Du darfst aber trotzdem nicht die Hoffnung aufgeben, immerhin haben viele den letzten Krieg auch überlebt. Nicht jede Kugel trifft!“. Ich kann ihnen nicht mehr zuhören. Ich brauche frische Luft. Unter Tränen renne ich ins Freie, atme die reine, pure Luft tief ein, fülle meine Lungen bis zum Bersten damit und beginne dann, einfach drauflos zu gehen. Ich weiß nicht, wohin, aber ich gehe einfach weiter und weiter. Irgendwann komme ich an einen kleinen Bach und setze mich auf einen großen Stein am Ufer. Dort starre ich einfach vor mich hin und nehme nichts um mich herum wahr.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so dasitze, aber irgendwann knurrt mein Magen fürchterlich und ich stehe vom Felsen auf. Ich sehe mich um. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wo ich bin und gerate in Panik. Wäre ich doch nur nicht so weit gegangen! Aufgrund der Lage des Baches und des Felsens kann ich aber bestimmen, aus welcher Richtung ich gekommen bin und mache mich auf den Rückweg. Einzelne Scheunen und besonders krumme Bäume kommen mir bekannt vor, also muss ich in die richtige Richtung gehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit sehe ich endlich die ersten Häuser des Dorfes und atme erleichtert auf. Dank meines Spazierganges habe ich jetzt wenigstens einen freien Kopf und kann nochmal mit meinen Eltern reden. „Kind, wo warst du? Hast du eine Ahnung, welche Sorgen wir uns gemacht haben? Du bist einfach rausgestürmt und niemand wusste, wohin du dich geflüchtet hast!“, tadelt mich Mama. „Es tut mir leid, Mama, aber ich brauchte einfach eine Auszeit und ein wenig frische Luft zum Nachdenken. Es tut mir auch leid, dass ich euch so angebrüllt habe, aber die Ungewissheit um Franz raubt mir noch den letzten Nerv. Aber jetzt hab` ich erstmal einen Bärenhunger.“

Wir schreiben uns über drei Jahre lang noch einige Briefe hin und her, Franz scheint es so weit ganz gut zu gehen. Er ist nach seiner Einberufung an die Ostfront gebracht worden und wurde nach einer kurzen Ausbildung direkt an die Hauptkampflinie verlegt. Ich glaube, er darf das ganze Grauen, das er täglich erlebt, in seinen Briefen gar nicht erwähnen, weil er dann bei einer eventuellen Kontrolle ernsthafte Probleme bekommen könnte. Ich kenne meinen Franz aber ziemlich gut und was ich zwischen den Zeilen lese, gefällt mir gar nicht. Er muss wirklich Schlimmes erleben dort in der unendlichen Weite Russlands. Wenn er doch nur hier bei mir wäre.


Am Ende des Regenbogens

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