Читать книгу Elementa - Daniela Kappel - Страница 4
ОглавлениеKapitel 2
Sophia führte sie durch den Bunker, als wäre sie hier zu Hause. Auch Vincent wirkte nicht, als fühle er sich im Inneren dieses Betonklotzes verloren.
Ganz im Gegenteil zu Daria. Sie hatte schon vor ungefähr fünf Abbiegungen ihre Orientierung eingebüßt, was die Nervosität und das Unbehagen in ihr steigerte. Von dem berauschenden, ja beinahe magischen Gefühl von eben war nicht mehr viel übrig. Lediglich die sanfte Wärme in ihrem Bauch war geblieben. Hinter Sophia und dicht gefolgt von Vincent, der seine Hand auf Darias Rücken gelegt hatte, betrat sie einen hellen, weitläufigen Raum.
Hier gab es, wie im Rest der Staumauer auch, keine Fenster. Nicht einmal eines dieser winzigen Gucklöcher, wie eines in Darias Schlafraum zu finden war.
Die Ausstattung des Raums war ebenfalls nicht mit der in Darias Zimmer vergleichbar. Anstatt der kahlen Betonwände und des rauen Bodens war hier alles mit weißen Fliesen überzogen. In die Decke waren Reihen an Halogenlampen eingelassen, welche die Apparaturen und Möbel in fast blendend helles Licht tauchten. Hinter einer Glaswand zu ihrer Linken konnte Daria einige Krankenbetten und eine Vielzahl von medizinischen Geräten entdecken. Auf der anderen Seite des Raumes standen Patientenliegen, wie man sie aus Arztpraxen kannte, zwischen engen Nischen, die mit weißen Vorhängen versehen waren. Ein paar Meter vor ihr war ein silbern glänzender Metalltisch positioniert, neben dem ein fahrbarer Monitor mit allerlei Tasten stand. An diesem Teil war gerade ein grauhaariger Mann zugange, dessen schlaksige, leicht gekrümmte Gestalt in einen weißen Kittel gehüllt war. Das musste wohl der Arzt sein, nahm Daria an. Sie wurde nicht enttäuscht.
„Dr. Renson“, sagte Sophia und der Mann im Kittel drehte sich zu ihnen um. Sein Gesicht war eigentümlich alterslos. Daria konnte nicht sagen, ob er nun fünfzig, sechzig oder mehr Jahre alt sein mochte. Seine grauen Augen musterten sie mit unverhohlener Neugierde. Es war kein unangenehmer Blick, eher freudvoll und bewundernd.
Er trat einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hand zwischen seine. „Ich bin gesegnet, dass ich das noch erleben darf“, brummte er und schüttelte auch Vincent die Hand.
„Dr. Renson ist einer der renommiertesten Genforscher dieser Zeit und in unseren Breiten der Einzige, der sich mit der DNA von Elementträgern beschäftigt.“
„Und er ist auch der Einzige, dem die Garde gestattet hat, Forschungen zu betreiben“, fügte Vincent trocken hinzu, was Sophia dazu veranlasste, ihm einen mahnenden Blick zuzuwerfen.
Offenbar hatte Vincent seine eigene Meinung zu diesem Umstand.
„So ist es“, bestätigte Dr. Renson. Vincents unfreundlichen Tonfall überging er einfach. „Meine Mutter war eine Elementträgerin und Ärztin in Diensten der Garde. Ich bin praktisch unter und mit ihnen groß geworden.“
Dr. Renson nickte bedächtig und zeigte dann auf Vincent. „Wollen wir, mein Lieber?“
Vincent ließ sich auf einer Untersuchungsliege nieder.
Der Arzt legte seine Finger vorsichtig, doch sichtlich routiniert auf Vincents Gesicht. Befühlte seine Augenbraue und tupfte die Wunde darüber mit einem nach Desinfektionsmittel riechenden Tupfer ab. „Wann hast du dir diese Verletzung zugezogen?“, wollte er wissen.
Daria schnaubte leise und schauderte, als sie an die Geschehnisse der letzten Nacht dachte.
„Vor ein paar Stunden“, antwortete Vincent und verzog das Gesicht, als Dr. Renson nun auch seine aufgeplatzten Fingerknöchel reinigte.
„Und diese hier?“ Er hob die Hand, die er eben behandelt hatte, höher und betrachtete sie genauer unter dem grellen Licht der Untersuchungslampe.
„Vor etwa einer Stunde“, gab Vincent zurück und richtete sich auf.
Dr. Renson erwiderte nichts. Er wirkte hochkonzentriert, nachdenklich und gleichermaßen begeistert. „Darf ich?“, fragte er Vincent und hielt ihm ein Wattestäbchen vors Gesicht.
Daria fragte sich gerade, was er damit wohl anstellen wollte, als Vincent wie selbstverständlich den Mund öffnete.
Der Arzt drehte den Watteträger kurz an der Innenseite seiner Wange und strich Vincents Speichel dann auf ein kleines Glasplättchen. Dieses bedeckte er mit einem zweiten und ging dann schnellen Schrittes ans andere Ende des Untersuchungsraumes, wo einige Geräte an einem langen Tisch aufgebaut waren.
Er platzierte die eben gewonnene Probe unter einem Mikroskop und sah dann durch das Okular.
Es war unangenehm still im Raum, während sie warteten, bis der Arzt untersucht hatte, was auch immer es da zu sehen gab.
Als er sich schließlich von dem Mikroskop abwandte, lag sein durchdringender Blick auf Vincent. „Deine Wunden heilen unglaublich schnell.“
Vincent seufzte und blickte finster. „Das ist nichts Neues, und entschuldigen Sie, wenn ich darauf aufmerksam mache, auch nichts Ungewöhnliches für meinesgleichen, wie sie sehr gut wissen.“ Vincent hörte sich genervt, aber auch auffallend müde an.
Daria hatte den Eindruck, dass sich die beiden mehr als nur beiläufig kannten und dass sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten. Eigentlich sollte es sie nicht wundern, wenn der Arzt Vincent schon früher untersucht hatte, immerhin war er ebenso ein Mitglied der Garde wie Vincent und seine Familie. Trotzdem war sie von dem, was Dr. Renson nun sagte, überrascht.
„Genauso ist es. Das ist auch der Grund, warum ich dir das immer und immer wieder sage. Jedes Mal, wenn ich eine neue Probe von dir analysiere, werden deine Zellteilungsraten rasanter. Sie liegen auffällig weit über dem Durchschnitt. Deinesgleichen“, betonte er das letzte Wort und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch.
Vincent spannte sich an, erwiderte aber nichts.
„Der Heilungsgrad deiner Wunden ist jedenfalls nicht mit der verstrichenen Zeit vereinbar und auch nicht mit der grundlegenden Tendenz einer beschleunigten Regenerationsfähigkeit der Elementträger erklärbar. Ich …“
„Und ich werde Ihnen immer und immer wieder sagen, dass Sie es vergessen können! Ich werde keinen Ihrer Versuche mitmachen!“, unterbrach Vincent ihn unterkühlt und verschränkte die Arme vor der Brust.
Daria schwirrte der Kopf. Was sollte das nun bedeuten? Wovon sprachen die beiden da?
Eine Erinnerung keimte in ihr auf. Vincent und sie, völlig durchnässt von dem Schauer, den sie heraufbeschworen hatte, in seinem Auto am See. Er hatte ihr eingebläut, bloß niemand von ihren speziellen Fähigkeiten zu erzählen, damit sie nicht in einem Labor als Versuchsobjekt endete.
Sophia unterbrach die angespannte Stimmung, indem sie Daria in eine der Kabinen schob und ihr ein Untersuchungshemd in die Hand drückte. „Ich glaube, es gibt derzeit Wichtigeres“, warf sie streng ein.
„Natürlich.“ Dr. Renson sprang auf und bereitete einige Utensilien vor, während Daria sich umzog.
Nur mit dem knielangen weißen Hemd bekleidet, ließ sie sich neben dem Arzt auf die Untersuchungsliege sinken.
Vincent beobachtete alles mit stoischer Miene.
Ohne Umschweife machte Dr. Renson sich daran, Daria zu untersuchen. Er maß ihren Blutdruck und die Temperatur, tastete ihre Lymphknoten ab, sah ihr in Augen, Ohren und Mund und machte schließlich auch noch einen Speichelabstrich und eine Blutabnahme.
Eines der Blutröhrchen steckte er sogleich in den dafür vorgesehenen Apparat. Während sie auf das Ergebnis warteten, erklärte er: „Du bist kerngesund, meine Liebe. Wir sehen uns jetzt den Wert eines bestimmten Stoffes in deinem Blut an. Auch wenn der Koitus erst kaum einen Tag zurückliegt, könnte es sein, dass dieser Parameter bereits in deinem Blut nachweisbar ist. Es liegt an der Struktur des speziellen Chromosomensatzes, welcher euch von uns anderen Menschen unterscheidet. Ihr seid, nun sagen wir einmal, wesentlich potenter. Eure Eizellen sind beinahe den gesamten Zyklus lang befruchtungsfähig und die Spermien wesentlich robuster und agiler. Das ist auch der Grund, warum eine Schwangerschaft nach dem Verkehr bei Elementträgern bis zu neunzig Prozent häufiger eintritt und die meisten hormonellen Verhütungsmethoden kaum eine Wirkung zeigen.“
Ein penetranter Piepton unterbrach seine Ausführungen.
Dr. Renson erhob sich und riss den dünnen Papierstreifen ab, welcher aus dem Gerät gerattert kam. „Tatsächlich“, verlautete er. „Dein HCG-Spiegel zeigt eindeutig eine Befruchtung an. Faszinierend, dass dieser Junge – Liam, nicht wahr? - es bereits mit Hilfe seiner Fähigkeiten wahrnehmen konnte. Ihn würde ich auch nur allzu gerne untersuchen.“
„Das kann ich mir vorstellen“, grummelte Vincent.
Dr. Renson schenkte ihm einen ernsten Blick, kommentierte seine Meldung aber nicht, sondern zog stattdessen einen rollbaren Paravent aus einer Ecke des Zimmers vor die Patientenliege.
Nun konnten Vincent und Sophia Daria nicht mehr sehen.
„Was machen wir denn jetzt noch?“, fragte Daria unsicher.
Sie wusste ja nicht sonderlich viel über Schwangerschaften oder auch Elementträger und ganz bestimmt noch weniger, wie Schwangerschaften von Elementträgern so abliefen. Doch das Wenige, was ihr aus dem profanen Biologieunterricht noch erinnerlich war, ließ sie schwer daran zweifeln, dass man schon viel von dem Baby sehen würde.
„Wir machen einen Ultraschall“, erwiderte Dr. Renson seelenruhig.
„Aber was erwarten Sie denn zu sehen?“, wollte Vincent von der anderen Seite des Paravents her wissen und sprach damit unverblümt das aus, was Daria dachte.
„Nichts. Es gehört schlichtweg zur Untersuchung. Ich erhebe einen gynäkologischen Status“, antwortete der Arzt geduldig, bevor er sich an dem Ultraschallgerät zu schaffen machte.
Daria war schon einmal beim Gynäkologen gewesen und hatte daher eine gewisse Vorstellung, was in etwa passieren würde, doch Dr. Renson wirkte irgendwie beunruhigt auf sie.
„Was sehen Sie denn?“, fragte sie zaghaft.
Der Arzt kniff die Augen zusammen und fixierte angestrengt den Bildschirm.
„Nichts. Aber nicht das Nichts, das ich erwartet habe. Ich kann hier keine Schleimhautstrukturen oder sonst etwas erkennen. Es sieht im Schall irgendwie aus wie …“ Er überlegte kurz. „Als würde ich einen Stein schallen.“
„Was soll denn das bedeuten?“ Und „Was bedeutet das?“, sagten Sophia und Vincent zeitgleich. Daria schwieg. Sie konnte das angenehme, warme Kribbeln in ihrem Leib nicht mit einem Stein in Einklang bringen.
„Nun“, begann Dr. Renson und kratzte sich bedächtig am Ohr. „Wir haben es hier mit einer nie dagewesenen medizinischen Sensation zu tun.“
Daria schluckte und Vincent, der nun hinter den Paravent an ihre Seite trat, knirschte hörbar mit den Zähnen. Auch ihm schien die Wortwahl des Arztes nicht zu gefallen.
„Ist denn mit dem Baby alles in Ordnung?“, schaltete sich Sophia ein. Sie hatte vor dem Ultraschallgerät Stellung bezogen und studierte eingehend die Aufnahme auf dem Bildschirm.
„Davon gehe ich aus“, erklärte Dr. Renson.
Daria sah unsicher zu Vincent auf. Dieser drückte liebevoll ihre Hand.
Ein Klopfen erklang und sofort schritt Sophia zur Tür. Sie öffnete sie nur einen Spaltbreit und wechselte mit gesenkter Stimme ein paar Worte mit Jemandem.
„Zieh dich an, Daria. Die letzten Mitglieder sind eingetroffen, die Sitzung beginnt gleich“, meinte Sophia und verließ mit einem Nicken, das an Vincent gerichtet war, den Raum.
„Hör zu.“ Vincent hielt ihre Hand und manövrierte sie durch die Gänge.
Dr. Renson folgte ihnen schweigend, einen Aktenordner unter dem Arm.
„Die Garde der Schwestern ist eine uralte Vereinigung von Elementträgern. Die meisten von ihnen bestehen darauf, Nachkommen der Schwestern, also der Töchter des einstigen Elementaren zu sein. Sie bekleiden hohe Ämter innerhalb der Organisation und haben Stimmrecht. Die Sitzungen laufen aber lockerer ab, als du jetzt vielleicht denkst. Klar sind einige aufgeblasene Schnösel unter ihnen, doch die meisten hängen wirklich mit Herz und Seele an der Sache“, erklärte Vincent schnell.
Die Sache.
„Die Prophezeiung“, stellte Daria fest.
„Ja. Einige der Mitglieder kennst du bereits und du weißt auch, dass sich Menschen unter ihnen befinden. Wir haben alle dasselbe Ziel.“ Ein noch nie dagewesenes Glitzern lag in Vincents Augen.
Wir. Daria begann langsam zu realisieren, welche Veränderung Alariks Tod und natürlich ihre Schwangerschaft in Gang gebracht hatte. Vincent, der nie etwas von der Prophezeiung wissen wollte, schien sich nun nicht nur seinem Schicksal zu ergeben, er wirkte entschlossener denn je.
„Eines darfst du nie vergessen.“ Seine Stimme war sanft, als er Daria an sich zog, ihr Gesicht in die Hände nahm und ihr direkt in die Augen sah. „Es sind wir, die zählen. Du, ich und …“, sein Blick wanderte nach unten. Er küsste Daria auf die Stirn und ergriff dann wieder ihre Hand, um sie hinter sich durch eine Tür zu ziehen.
Die leisen Gespräche im Raum verstummten.
Als Dr. Renson die Tür schloss, war das Geräusch unangenehm laut in Darias Ohren. Ihr Herz klopfte in schnellem Takt. Unzählige Augenpaare waren auf sie und Vincent gerichtet. Er führte sie weiter an der Hand hinter sich her zum gegenüberliegenden Ende des langen Tisches.
Die Wände des weitläufigen Raumes waren mit demselben dunklen Holz vertäfelt, aus dem auch das Mobiliar gemacht war. Reihum standen uniformierte Männer.
Daria nahm erschrocken wahr, dass sie alle mit Maschinengewehren bewaffnet waren. Dieser Anblick verdeutlichte ihr erneut die Bedrohung, der sie alle entgegensahen.
Tatsächlich kannte Daria die meisten der Anwesenden, die an der Tafel Platz genommen hatten. Da waren natürlich ihre Freunde und deren Familien. Liam, Ben und seine Eltern saßen neben Izzys Mutter, die ihrem Sohn eine Hand um die Schulter gelegt hatte. Daria kannte Izzys kleinen Bruder nur flüchtig. Steve konnte ein richtiger Quälgeist sein, darum hatte Izzy ihn immer gleich verscheucht, wenn Daria bei ihr zu Besuch gewesen war. Jetzt jedoch wirkte er keineswegs zu Unfug aufgelegt. Er sah sich eingeschüchtert im Raum um und drückte sich an seine Mutter. Neben ihm saßen Izzy und Raffael. Ihr Anblick, wie sie dicht zueinander gerückt waren, linderte zumindest die Sorgen, die sie sich um Raffael gemacht hatte.
Die Frau zwischen Lea und Leo, sie musste wohl ihre Mutter sein, verstärkte hingegen das ungute Gefühl in Daria. Ihr eisiger, missbilligender Blick verfolgte sie und Vincent durch den Raum. Am Kopfende der Tafel hatten sich Sophia, Silvia, Vincents Großvater, Darias Vater und ein grimmig dreinblickender Mann in Uniform mit unzähligen Abzeichen auf der Brust positioniert.
Wo war bloß ihre Mutter?, fragte sich Daria besorgt. Die Garde hatte sie doch nicht etwa eingesperrt? Sie suchte den Blick ihres Vaters. Dieser wusste sofort, was in ihr vorging. Er nickte kaum wahrnehmbar nach rechts, und als Daria seiner Geste folgte, erblickte sie ihre Mutter in einer Ecke, wo sie an die Wand gelehnt von zwei Uniformierten flankiert wurde.
Erleichtert stieß Daria die Luft aus und wurde sanft von Vincent auf einen freien Stuhl gedrückt. Er nahm direkt neben ihr Platz.
Dr. Renson, der ihnen durch den Raum gefolgt war, hielt vor der freien Stelle am Kopfende des Tisches an und legte die Unterlagen, die er mitgebracht hatte, vor sich ab.
Nun richteten sich alle Blicke auf den Arzt.
„Ich kann nur bestätigen, was die fantastischen Fähigkeiten dieses jungen Mannes bereits erahnen ließen“, er deutete auf Liam.
Die plötzliche Aufmerksamkeit schien diesem sichtlich unangenehm zu sein. Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum.
„Vincents Kräfte, denen bislang kaum Beachtung geschenkt wurde, …“ Bei diesen Worten richtete er seinen ernsten Blick auf Silvia und Sophia. „… scheinen ein tiefgehendes Potenzial zu besitzen. Meine Untersuchungen haben ergeben, dass Darias Verletzungen der inneren Organe, allen voran die an ihrer Gebärmutter, welche nach den mir vorliegenden Befunden …“ Er holte einen zusammengehefteten Papierstapel aus seinem Ordner hervor. „… irreparable Schäden aufwies, zur Gänze regeneriert sind. In einfachen Worten: Vincents Kräfte haben Daria geheilt.“
Ein Raunen ging durch den Raum, erstarb aber wieder, als ein Hüsteln erklang. Daria folgte dem Geräusch zu seinem Ursprung und erblickte Leo, der abwechselnd mit beiden Augenbrauen wackelte und breit grinste. So sehr Daria sein Gehabe auch in Verlegenheit brachte, war sie trotzdem froh, ihn wieder so zu erleben, wie sie ihn kannte. Der unreife Spott war ihr allemal lieber als seine Niedergeschlagenheit von vorhin.
Auch Vincent war es offenbar nicht entgangen. Er schüttelte zwar den Kopf, doch seine Lippen waren zu einem Lächeln verzogen.
Dr. Renson ließ gerade Kopien seiner Unterlagen herumgehen, als der Uniformträger seinen Platz am imaginären Rednerpult einnahm.
„Für die wenigen, die mich noch nicht kennen, mein Name ist General Adam Forbes.“ Einige Männer auf der linken Tischseite nickten dem General hochachtungsvoll zu. Daria erkannte ein paar der Lehrer aus der kolonieeigenen Schule, doch die meisten waren ihr unbekannt.
„Ich habe für diese Unternehmung fünfzig meiner besten Soldaten rekrutiert. Offiziell sind wir bei einem Einsatz in den südlichen Kriegsgebieten gefallen. Es sollte also niemand auf die Idee kommen, Fragen zu stellen.“
Sollte. Dieses Wort machte Daria Sorgen. Sie mochte sich nicht ausmalen, was mit ihnen geschehen würde, wenn die Auserwählten tatsächlich ihr Versteck ausfindig machten.
„Alle Spuren der untergebrachten Personen wurden vernichtet. Was den Staat betrifft, hat es sie nie gegeben“, erklärte der General.
Daria sah nacheinander in die Gesichter ihrer Freunde, die wohl ebenso wie sie gerade das Ausmaß dessen begriffen, was das für sie bedeuten würde. Sie hatten allesamt ihr bisheriges Leben, ja sogar ihre Vergangenheit verloren. Was die Zukunft für sie bereithielt, wussten sie nicht.
Jetzt konnte sie auch Vincents Reaktion von vorhin besser nachvollziehen. Er hatte gewusst, was passieren würde.
Doch all das diente einem unsagbar wichtigen Zweck. Für die meisten hier ging es um die Erfüllung der Prophezeiung. Für Daria, alle, die mit ihr zu tun gehabt hatten, und für ihr ungeborenes Kind aber ging es um das nackte Überleben.
„Das Kraftwerk ist seit gestern verstaatlicht und wir haben einige falsche Fährten gelegt. Demnach werden die Anhänger der Auserwählten in allen Himmelsrichtungen suchen. Nur nicht hier.“
„So der Plan“, brachte sich ein kleiner Mann mit Halbglatze und einer dickglasigen Hornbrille ein.
„So der Plan“, bestätigte General Forbes ungerührt.
„Und wie lange sollen wir Ihrem Plan nach hier unten hausen? Schlimm genug, dass ich in diese Sache mit hineingezogen wurde. Wie Sie sehen, bin ich nicht mehr der Jüngste, und ich habe ganz bestimmt nicht vor, den Rest meines Lebens hier zu verrotten. So interessant ich diese Vereinigung auch finden mag“, sagte der Mann und verschränkte demonstrativ seine Arme vor der Brust.
„Das ist Peter Sinklaire, ein begnadeter Physiker und einer der ältesten Freunde meines Vaters. Er hat ihn kurz vor seinem Tod kontaktiert. Es ging um Marias Kräfte“, wisperte Vincent. Bei der Erwähnung seines Vaters huschte ein Schatten über sein Gesicht.
Darias Innerstes krampfte sich zusammen. Alarik hatte ihr also doch geglaubt. Die stete Wärme in ihrem Leib nahm zu und ihre Haare wurden von einem leichten Lüftchen verweht.
Reiß dich zusammen!, mahnte sie sich. Es war ihr schon ewig nicht mehr passiert, dass sie ihre Kräfte nicht richtig unter Kontrolle hatte. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch ungewollt Blitze in die Runde schicken.
Vincent und ihr Vater musterten sie besorgt, doch gleich darauf zog wieder Peter Sinklaire ihre Aufmerksamkeit auf sich. Offenbar hatte der General etwas gesagt, das Sinklaire nicht gefiel.
„Was sagt denn unser geschätzter Vorsitzender dazu?“, wollte er mit herausforderndem Tonfall wissen.
Daria blickte sich um. Wer war denn der Vorsitzende?
Zu ihrer Verblüffung warf Vincent seiner Familie einen langen Blick zu und erhob sich dann stockend von seinem Stuhl. Er nahm General Forbes Platz ein. Einige Zeit lang sah er nur schweigend in die Runde.
„Wir können uns nicht ewig hier verstecken oder warten, bis …“ Einen kaum merklichen Moment zögerte Vincent, bevor er mit umso festerer Stimme weitersprach. „… mein Sohn diesen Kampf für uns führt.“
Erneut erhob sich ein Raunen in den Reihen der Anwesenden.
„Die Bedrohung ist jetzt, da die Prophezeiung sich erfüllt, umso realer. Die Auserwählten werden nicht eher Ruhe geben, bis nicht auch der Letzte von uns gefallen ist. Wir müssen die einzige Chance nutzen, die wir haben, und sie überraschen.“
„Meinst du, wir sollen sie angreifen?“, fragte jemand ungläubig und das Raunen wurde lauter.
„Genau das will ich damit sagen.“ Vincents Stimme erhob sich über das Gemurmel und alle im Raum verstummten.
„Zeig es ihnen“, sagte Sophia leise, aber betont.
Vincent richtete seinen Blick auf sie, nickte und griff dann nach Darias Hand. Er zog sanft daran und ehe sie sich versah, stand sie auch schon neben Vincent und im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit.
Sie hatte noch nicht einmal den Schock verdaut, dass Vincent die oberste Position der Garde bekleidete und auch nicht, wie ehrfurchtseinflößend er sich vor all diesen Menschen gab.
„Wir müssen sie spüren lassen, wofür sie kämpfen sollen“, flüsterte er ihr ins Ohr. Daria nickte. Wenn Vincent die Stärke aufbrachte, sich nicht nur diesen Leuten, sondern allem zu stellen, was sie erwarten würde, dann stand sie zweifelsohne an seiner Seite.
Sie hob ihre Hand und Vincent verflocht seine Finger mit den ihren. Das Gefühl, welches sich aufs Neue in ihr ausbreitete, war unbeschreiblich. Jetzt begriff sie auch, was sie da wahrnahm. Es war die Präsenz aller vier Elemente, vereinigt in ihnen beiden. Kaum einen Atemzug später strömte die Energie durch ihre Adern und bahnte sich ihren Weg nach außen. Die Deckenlampe flackerte und die Luft im Raum wurde feucht. Vincents Haut wurde von einem sanften Glühen erhellt. Das Licht spiegelte sich in den aufgerissenen Augen der Anwesenden.
Vincent ließ seine Hand sinken und drehte sich wieder der Tafel zu. „Es ist der einzige Weg“, verlautete er und nun widersprach niemand mehr.
Er ließ noch ein paar bedeutsame Augenblicke vergehen, ehe er Daria zu ihrem Platz zurückbegleitete und dann erneut das Wort erhob. „Alle, die hier sind, werden ihren Beitrag dazu leisten, dass der Angriff ein Erfolg wird. Wir haben Informationen über die Auserwählten, ihre Anhänger und ihr Versteck aus erster Hand. Es befinden sich unter uns viele helle Köpfe und im Kampf erprobte. Jeder trägt bei, was er kann, damit wir bestmöglich gewappnet sind. Es gibt nur ein Problem, das wir vorher beheben müssen.“
Alle sahen ihn erwartungsvoll an.
„Unseren Informationen zufolge sind wir trotz der militärischen Unterstützung weit in der Unterzahl. Es wird nicht reichen zu trainieren. Wir brauchen unbedingt mehr Mitstreiter.“
Er ließ diese Ankündigung einen Moment lang sacken, denn er wusste, was er als Nächstes zu sagen gedachte, würde einen kleinen Tumult auslösen.
„Ich selbst werde mich auf die Suche nach Elementträgern machen, die sich für unsere Seite gewinnen lassen“, schloss er und die erwartete Reaktion blieb nicht aus.
Sophia und seine Mutter sprangen gleichzeitig auf und Daria war bleich geworden. Es schmerzte ihn, sie so zu sehen. Doch er hatte jedes seiner Worte ernst gemeint. Sie waren viel zu wenige, um es mit der Übermacht der Auserwählten aufnehmen zu können, und ein Überraschungsangriff war ihre einzige reelle Chance.
Nun prasselten aus verschiedenen Richtungen Gegenargumente auf ihn ein. Er entkräftete eines nach dem anderen, bis schließlich nur noch Sophia etwas zu sagen wusste: „Aber warum musst es ausgerechnet du sein?“
„Wer außer mir wäre in der Lage, die Wahrheit entsprechend zu bezeugen. Wir können es uns nicht leisten, auf uns aufmerksam zu machen. Jeder, den wir aufsuchen, muss uns folgen. Diese Aufgabe kann kein anderer erfüllen“, bekräftigte er.
„Doch. Ich“, meldete sich eine Stimme zu Wort.
Vincents Kopf schnellte herum.
Raffael erhob sich steif von seinem Stuhl und Vincent konnte sehen, wie er seine Hand aus Izzys Griff zog.
„Ich kann es bezeugen. Auf eine Art und Weise, wie es nicht einmal du kannst. Ich bin unter den Auserwählten groß geworden, habe ihr verqueres Gedankengut mit der Muttermilch aufgesogen und doch habe ich meine gesamte Familie, meine Herkunft für euch verraten. Ich stehe dazu, so wie ich zu euch und eurem Kind stehe. Lass mich an deiner Stelle gehen. Du bist viel zu wertvoll, um dich in eine solche Gefahr zu begeben“, erklärte Raffael und fixierte ihn mit einem derart intensiven Blick, dass Vincent erst einmal schlucken musste.
„Was soll ich dazu sagen? Du hast recht. Trotzdem erscheint es mir falsch, dir diese Last aufzubürden“, erwiderte Vincent und sah nun in Izzys unglückliches Gesicht.
„Du hast mich gebeten, an deiner Seite zu kämpfen, und genau das habe ich vor. Es stimmt, was du gesagt hast. Ihr seid füreinander da und nun bin ich Teil dieses Wir und werde so wie alle anderen hier dafür einstehen.“ Bei seinen letzten Worten hatte Raffael den Kopf zur Seite geneigt und Izzy ins Gesicht gesehen. Sie nickte zittrig und mit glasigen Augen.
Dem nüchternen General wurde es wohl allmählich zu gefühlsduselig. Er ergriff wieder das Wort und stellte klar, dass sie mit der Rekrutierungsmission wenigstens ein paar Tage warten mussten, um sicherzugehen, dass sie ihr Versteck nicht doch irgendwelchen Spähern preisgaben. Dann betraute er ein paar seiner Männer damit, geeignete Kandidaten für die Rekrutierung ausfindig zu machen.
Es schalteten sich auch andere Mitglieder ein und eine rege Diskussion entstand. So wurden Unterrichts- und Trainingspläne erstellt und Aufgaben verteilt.
Daria verfolgte das Gespräch nur mehr am Rande. Sie hatte sich an Vincents Schulter gekuschelt und warf immer mal wieder verstohlene Blicke zu ihrer Mutter, die diese stets erwiderte. Die Erleichterung nach dem Schock von Vincents Ankündigung, den Schutz der Staumauer zu verlassen, um nach Mitstreitern zu suchen, hatte ihr den Rest gegeben. Nun machten sich die Strapazen, all die Aufregung und auch der Schlafmangel deutlich bemerkbar.
Vincent war nach wie vor in ein Gespräch mit General Forbes und ein paar anderen Mitgliedern der Garde vertieft, also lehnte Daria sich zu ihrem Vater hinüber.
„Ich möchte auf mein Zimmer gehen“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Er nickte und wollte sich schon erheben, da legte Daria ihm ihre Hand auf den Arm.
„Vorher will ich noch mit Mama sprechen.“
Sofort spannte er sich an. Daria fühlte, wie die Muskeln unter ihren Fingern hart wurden, und auch die Miene ihres Vaters wirkte versteinert. Einen Moment lang starrte er sie nur an. Doch das reichte schon, damit Daria flau im Magen wurde.
Schließlich nickte Erik knapp. Er wechselte einige leise Worte mit einem der Uniformträger hinter sich. Dieser wandte sich an ihre Mutter, die kurz darauf aus dem Versammlungssaal geführt wurde.
Daria küsste ihren Vater auf die Wange, der noch immer verbissen wirkte, dann verließ auch sie den Raum.
Zwei der Wachen flankierten ihre Mutter.
„Ich möchte allein mit ihr sprechen“, sagte Daria, bemüht ihre Stimme möglichst autoritär klingen zu lassen. Wenn Vincent nun der Anführer der Garde war, dann musste sie doch auch ein wenig zu sagen haben.
Die beiden Männer wechselten einen Blick und trollten sich dann ein paar Meter den Gang hinunter, bis sie außer Hörweite waren.
Daria sah ihnen nach und versuchte, ihre müden, aufgewühlten Gedanken zu sammeln.
„Ich kann noch gar nicht fassen, dass du wieder da bist“, murmelte sie. Die warme Hand ihrer Mutter legte sich auf ihre Schulter und das Kribbeln in ihrem Bauch wurde intensiver.
„Ich auch nicht, mein Schatz. Eine Zeit lang habe ich nicht mehr daran geglaubt, je wieder bei euch zu sein. Ja, ich habe es sogar gehofft“, erklärte Iris mit leiser, sanfter Stimme.
Erschrocken über ihre Worte sah Daria auf.
„Mit ihm“, Iris ließ ihren Blick über Darias Unterleib schweifen, „ist mein schlimmster Albtraum wahr geworden.“ Ihre Stimme brach und Daria spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog.
„Und gleichzeitig ist mein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen“, setzte ihre Mutter in kratzigem Ton nach. „Alles, was ich jemals wollte, war dich zu beschützen. So ist das, wenn man ein Kind hat.“ Ein trauriges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.
Darias Augen füllten sich mit Tränen. Auch wenn das alles noch nicht greifbar schien, verstand sie, was ihre Mutter meinte. Langsam nickte Daria.
„Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll“, gestand sie.
„Das gehört ebenfalls dazu. Aber lass mich dir eines sagen, mein Schatz: Die Liebe, die du für dein Kind empfinden wirst, wiegt alle Sorgen, alle Ängste und Zweifel auf.“
Als Daria den Schlafraum betrat, erwartete sie dort ein Tablett mit einer Karaffe und zwei Schalen Suppe. Der Geruch der Brühe stieg ihr in die Nase und ließ ihren Magen knurren. Daria runzelte die Stirn. Izzy war doch mit ihrer Mutter und ihrem Bruder untergebracht worden. Wer also würde mit ihr das Zimmer teilen?
Kaum hatte Daria den Gedanken beendet, schwang die Tür hinter ihr auf und Vincent betrat den Raum. Er schenkte ihr ein schiefes Grinsen.
„Du schläfst bei mir?“, entfuhr es ihr.
Vincents warmer, amüsierter Blick brachte auch sie zum Schmunzeln.
„Jetzt schau doch nicht so entgeistert. Ich sehe keinen Grund, warum wir uns nicht ein Zimmer teilen sollten. Bei allem …“ Vielsagend ließ er den Satz in der Luft hängen.
„Du willst sagen, dass du hier der Boss bist und mich ohnehin schon geschwängert hast.“ Bei ihren unüberlegten Worten wurde ihr Gesicht ganz heiß.
Vincents Lächeln verblasste, doch er kam zu ihr und nahm Daria in den Arm. „Genau“, flüsterte er in ihr Ohr.
*
„Warum?“ Izzys Stimme klang eigenartig fremd in ihren eigenen Ohren. Verzweifelt und viel zu schrill. Sie hatte sich nie für eine rührselige, klammernde, unsichere Person gehalten. Doch das schien sich nun geändert zu haben.
Raffael stieß sich von der staubigen Kiste ab, an die er sich gelehnt hatte, und schloss mit drei großen Schritten den Abstand zwischen ihnen. Seine Hand streichelte über ihre Wange.
„Es ist das Richtige. Ich werde meinen Beitrag leisten“, erwiderte er ruhig.
„Das kannst du doch auch, ohne dass du dich in eine solche Gefahr bringst! Ich …“ Izzy entzog sich ihm und musterte sein mittlerweile so vertrautes Gesicht mit hitzigem Blick. „Ich will dich nicht verlieren.“
„Ich habe nicht vor, dass das passiert.“ Nun war Raffaels Stimme eine Nuance tiefer und erneut legte er seine Hand auf ihre Wange.
Izzys Lippen bebten, als sie vergeblich versuchte, etwas darauf zu erwidern, ein Argument zu finden, das ihn umstimmen würde. Sie starrte an Raffael vorbei, unfähig seinem Blick standzuhalten.
„Du hast dich in mich verliebt“, hauchte er und ließ seine Hand über ihren Hals nach hinten wandern. Sanft umfasste er Izzys Nacken und brachte sie dazu ihn anzusehen. Röte stieg ihr ins Gesicht.
„Ja, verdammt!“, sagte sie etwas zu laut. Raffaels intensiver Blick verstärkte die Wärme in ihrem Inneren.
„Ich wollte nie etwas, hatte kein richtiges Ziel. Mein Leben war irgendwie“, er suchte nach dem passenden Wort, „bedeutungslos. Bis du darin aufgetaucht bist. Plötzlich wollte ich nur noch eins. Dich.“ Ehe sie seine Worte auch nur im Ansatz realisieren konnte, trafen seine Lippen auf ihre und machten es ihr unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
*
Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken hinter Iris. Sofort suchten ihre Augen den Raum nach Erik ab. Er saß mit dem Rücken zu ihr an dem kleinen Tisch. Seine Schultern hoben und senkten sich bei jedem seiner Atemzüge.
Iris räusperte sich. Keine Reaktion.
„Du hast meine Sachen herbringen lassen“, sagte sie leise und ihr Blick zuckte zu der Pritsche, auf der ihre Tasche lag.
„Ja. Wir sind verheiratet“, erwiderte Erik tonlos.
Warum nur war er so kalt, so abweisend? Iris hatte ihn jede Sekunde der letzten Jahre schmerzlich vermisst. Der Gedanke nun endlich wieder bei ihm zu sein, erfüllte sie mit einer derartigen Freude, dass sie an sich halten musste, damit sie ihm nicht sofort um den Hals fiel. Doch ihm schien es da anders zu gehen. Was könnte es sonst für einen Grund für sein Verhalten geben?
„Ist das alles, was du mir zu sagen hast?“, krächzte sie und musste schwer schlucken.
Eriks Schultern spannten sich an und einige Augenblicke vergingen, ehe er sich steif erhob und zu ihr umdrehte. Er starrte an ihr vorbei an die Wand, so als wäre es zu viel für ihn, ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Als er sprach, war seine Stimme hart und voller Schmerz. „Du hast mich mit unserem Mädchen alleingelassen. Mit all den Sorgen und Problemen. Ich habe stets mein Bestes getan, um sie zu beschützen, aber ohne dich …“
„So siehst du das?“, unterbrach sie ihn unwirsch. „Du glaubst, ich hätte euch im Stich gelassen? Du denkst, ich hätte auch nur irgendetwas davon gewollt? Meinst du, ich habe nicht gelitten, deine Sorgen geteilt? Wie kannst du nur so etwas sagen? Ich habe alles in meiner Macht Stehende unternommen, um euch in Sicherheit zu wissen. Ich habe täglich mein Leben riskiert, damit sie euch nicht aufspüren. Mich ständig verstellt, gelogen und getan, was auch immer sie mir aufgetragen haben, nur damit sie nicht an meiner Loyalität zweifeln!“ Das Blut rauschte laut in ihren Ohren und ihre Nägel gruben sich tief in ihre Handflächen.
„Du hast dich verändert. Ich kenne dich nicht mehr“, erwiderte Erik scheinbar ungerührt.
„Ja“, bestätigte sie atemlos.
Einen kurzen Moment lang trafen sich ihre Blicke, dann drehte Erik sich weg, trat zu seiner Pritsche und schlüpfte unter die Decke.
Iris stand einfach nur da. Unfähig, sich zu bewegen. Unfähig, ihren Schmerz in den Griff zu bekommen. Schließlich legte auch sie sich ins Bett, richtete ihren Blick auf Eriks dunkle Silhouette auf der Pritsche neben ihrer. Heiße Tränen rannen lautlos über ihr Gesicht.