Читать книгу Elementa - Daniela Kappel - Страница 5
ОглавлениеKapitel 3
Ein lauter Knall ließ Daria im Bett hochfahren. Sie hörte Schritte am Gang.
Vincent sprang aus dem Bett und schlüpfte eilig in seine Sachen. „Du bleibst hier“, flüsterte er eindringlich und öffnete die Tür nur einen Spalt breit, um nach draußen zu sehen.
„Ich bin eure Mutter und ihr werdet tun, was ich euch sage!“, erklang eine aufgekratzte Frauenstimme.
„Das kannst du nicht entscheiden!“, brüllte eine andere zurück. Das war Lea.
Eilig schlug Daria die dunkelgrüne Felddecke zur Seite und folgte Vincent auf den Flur.
Dort standen die Zwillinge und ihre Mutter. Leo war blass um die Nase, wohingegen Leas Wangen feuerrot glühten. Ihre Mutter streckte eine Hand nach ihr aus, doch Lea schlug sie energisch weg.
„Ich werde nicht zulassen, dass ihr wie euer Vater für diesen Wahnsinn drauf geht. Wir können das nicht gewinnen! Wollt ihr wirklich für eure Freundin sterben?“, kreischte sie und fuhr sich aufgebracht durch die Haare.
„Du drehst gerade voll durch, Mama. Beruhige dich doch“, versuchte Leo, seine Mutter zu beschwichtigen. Doch seine Worte brachten sie noch mehr in Rage.
„Ich soll mich beruhigen? Ich werde sicher nicht tatenlos dabei zusehen, wie meine Kinder ihr Leben für eine aussichtslose Sache opfern!“
Mittlerweile hatten sich auch andere Türen geöffnet. Köpfe wurden auf den Gang hinausgestreckt und Sophia eilte auf die Streitenden zu.
„Sandra, jetzt sei doch vernünftig und …“, setzte sie an, wurde aber gleich wieder unterbrochen.
„Ich bin vernünftig! Aber ihr, ihr seid alle des Wahnsinns, wenn ihr denkt, dass wir heil aus der Sache rauskommen.“
Sophia starrte die Mutter der Zwillinge entgeistert an, wusste offenbar nicht, wie sie auf deren Hysterie reagieren sollte.
Iris trat auf das Grüppchen zu und legte Sandra, die nun haltlos zu schluchzen begonnen hatte, einen Arm um die Schultern. Leise redete sie auf diese ein und führte sie schließlich in ihr Zimmer.
Zurück blieben die ziemlich aufgewühlt aussehenden Zwillinge und Sophia, die so laut mit den Zähnen knirschte, dass man es sicher noch ein Stockwerk tiefer hören konnte.
„Na, das war ja mal ein Weckruf“, stellte Ben betreten fest und schlurfte mit einer Knitterfalte im verschlafenen Gesicht zurück in sein Zimmer.
Als Daria mit ihrem Kosmetiktäschchen und einem Handtuch bewaffnet das Gemeinschaftsbad der Damen betrat, waren schon einige dabei, sich für das Frühstück frisch zu machen. Eine der Duschen lief. Izzy putzte sich gerade die Zähne und warf Daria mit der Zahnbürste im Mund ein Lächeln zu. Neben ihr stand Lea, die Arme am Waschtisch abgestützt, und starrte verbissen ihr Spiegelbild an.
„Hey“, setzte Daria an, woraufhin sich Lea zu ihr umdrehte. Sie war sichtlich mitgenommen. Ihre Wangen waren immer noch gerötet, wohingegen der Rest ihres Gesichts blasser als üblich wirkte. Unsicher rang sie die Hände und machte einen Schritt auf Daria zu.
„Es tut mir so leid, was meine Mutter da gesagt hat. Leo und ich, wir …“ Lea brach ab und biss sich auf die Lippe. Tränen traten ihr in die Augen.
Daria legte ihre Sachen auf dem Waschbecken neben sich ab und nahm ihre Freundin fest in die Arme. Lea begann leise zu weinen, während sie zitternd nach Luft schnappte. Daria war drauf und dran mit zu heulen, weil ihr Lea dermaßen leidtat.
„Dafür musst du dich wirklich nicht bei mir entschuldigen,“ sagte sie sanft und strich Lea über den Rücken. Langsam wurde ihre steife Haltung lockerer und sie erwiderte die Umarmung zaghaft.
„Wir stehen zu dir, Daria. Wir wissen, was auf dem Spiel steht, und wir werden an eurer Seite kämpfen, egal was sie sagt oder tut. Es ist nur …“ Leas Stimme brach.
„Es ist eure Mutter. Ich verstehe das, besser als du vielleicht denken magst. Ich würde auch verstehen, wenn …“
Lea schüttelte energisch den Kopf an Darias Schulter. Dann löste sie sich von ihr und wischte mit dem Ärmel ihres Shirts über ihr tränennasses Gesicht.
„Es ist falsch, was sie sagt“, stieß Lea hervor, bemüht ihre Fassung wieder zu erlangen.
„Sie hat Angst“, erwiderte Daria.
„Du solltest sie nicht in Schutz nehmen. Nein, das solltest du nicht“, gab Lea mit rauer Stimme zurück, schnappte sich Handtuch und Seife und schlüpfte in eine der Duschkabinen.
Izzy griff nach Darias Hand und drückte sie leicht. „Gib ihr etwas Zeit. Es ist momentan für jeden hier etwas viel.“
Daria nickte langsam. Es war schrecklich für sie, ihre Freunde und deren Familien, ja all diese Menschen, die hier mit ihr in dem Bunker untergebracht waren, in eine solch ausweglos erscheinende Situation gebracht zu haben. Offenbar standen ihr diese Gedanken ins Gesicht geschrieben, denn Izzy drückte erneut ihre Hand.
„Es ist nicht deine Schuld. Die Auserwählten sind hier die Übeltäter“, bekräftigte Izzy und sah Daria ernst an.
„Aber wenn es mich und Vincent und unser Baby“, noch immer fühlte es sich unwirklich an, es laut auszusprechen, „nicht gäbe, dann wärt ihr alle in Sicherheit.“
„Nein, wären wir nicht“, sagte Izzy bestimmt. „Ihre Ideologie würden sie trotzdem leben. Sie würden trotzdem morden und jeden bedrohen, der ihre Ansichten nicht teilt.“
„Aber ihr könntet …“, setzte Daria an.
„Was?“, unterbrach Izzy sie schroff. „All den Schrecken, den sie mit ihren Machenschaften verbreiten, hinnehmen? Uns ihnen anschließen, damit wir nicht mehr Ziel ihrer Angriffe wären?“ Wütend schüttelte sie den Kopf. „Ich schiebe deine verqueren und unsinnigen Äußerungen auf den Hormonwirrwarr, dem du gerade ausgesetzt bist, und“, Izzy packte sie an den Schultern und sah sie eindringlich an, „ich will nie wieder so einen Schwachsinn von dir hören! Haben wir uns verstanden?“
Daria nickte wieder, leicht betreten, aber auch unglaublich erleichtert, dass Izzy ihr wirklich nicht die Schuld an alledem gab.
„Gut. Und jetzt mach dich fertig, bevor dir noch mehr Albernheiten einfallen.“ Jetzt grinste Izzy breit, packte ihre Sachen und verschwand aus dem Waschraum.
Daria atmete ein paar Mal tief durch und durchwühlte ihren Kulturbeutel auf der Suche nach dem Zahnputzzeug.
Hinter ihr wurde eine der Duschen abgestellt und gleich darauf der Vorhang beiseitegeschoben. Ein hochgewachsenes Mädchen mit herzförmigem Gesicht und dunklem Haar trat neben sie an den Waschtisch. Ihre burschikose Gestalt war in ein Handtuch gewickelt, doch Daria konnte ihre trainierten Arme und Beine erkennen. Ohne sie anzusehen, wischte das Mädchen sich ein paar letzte Wassertropfen von der Stirn, schlüpfte in einen Morgenmantel und verließ das Bad.
*
Vincents Haare tropften noch leicht, als er sich das dunkelgraue Shirt über den Kopf zog. Seine eigene Kleidung wäre ihm zwar tausendmal lieber gewesen, aber er wusste, dass er sich bis auf Weiteres mit den Dingen aus dem Bunker begnügen musste.
Sie hatten nicht allzu viele persönliche Sachen mit hierher nehmen können. Gerade einmal das, was in einen Rucksack oder eine Umhängetasche gepasst hatte. Den Rest ihrer Sachen hatte man, nachdem sie ihre Häuser verlassen hatten, abgeholt und verschwinden lassen. Ihre Bankkonten waren gekündigt, alle amtlichen Meldungen gelöscht worden. Ganz so, als hätte es nie einen von ihnen gegeben.
Vincent wusste das. Jedem Mitglied der Garde war das Ausmaß dessen klar. Allen anderen war es nur im Groben erklärt worden.
Aber immerhin war der Bunker gut ausgestattet mit allem, was sie brauchen würden. Es gab funktionale Kleidung, wie sie die Heeresrekruten während ihrer Ausbildung trugen, Zahnbürsten und Zahnpasta in Form von Kautabletten, Stückseife, Handtücher und Bettwäsche. Eine Wäscherei, die dank Dr. Renson vorbildlich ausgerüstete Krankenstation, eine Art Mensa mit diversen, gut lagerbaren Lebensmitteln und natürlich die Trainingsräume.
Zweckmäßig, jedoch umfassend. Soweit Vincent wusste, und er erwartete einen genauen Statusbericht von einem der Unteroffiziere bei der Morgenbesprechung, konnten sie bei der derzeitigen Besatzung Monate, wenn nicht sogar Jahre hier ausharren. Eine gleichermaßen beruhigende und beklemmende Vorstellung.
Das alles hatten sie der Unterstützung der Regierung zu verdanken. Sie arbeiteten schon seit Jahrzehnten mit einer geheimen Unterorganisation des Staates zusammen. Diesen Kontakt hatte seine Großmutter geknüpft. Ihre beste Freundin war mit einem der damaligen Abgeordneten der Regierung liiert gewesen, und über diese Bande hatte sich die Zusammenarbeit, wie Vincent sie heute kannte, entwickelt.
So wertvoll diese Verbindung auch war, immerhin hätten sie ohne die Hilfe von General Forbes und seiner Einheit keine Chance gegen die Auserwählten gehabt, das Leben hier im Bunker würde trist und entbehrungsreich sein. Dafür waren sie in Sicherheit.
Erst einmal.
Doch Vincent musste zukünftig Unruhen, wie die durch Lea und Leos Mutter heute Morgen verursachte, vermeiden. Ein großer Teil ihrer Mitstreiter war eine solche Unterbringung zwar gewohnt und auch die Situation, in ständiger Gefahr zu leben. Die nicht militärischen Mitglieder der Garde und alle anderen mussten sich jedoch erst noch mit den Gegebenheiten arrangieren, und das war sicherlich kein Leichtes. Er verstand die Angst, die hinter dem Ausbruch von Sandra steckte, denn er fühlte sie selbst. Für so viele Leben verantwortlich zu sein, war schier unvorstellbar.
Die Tür öffnete sich und Daria kam herein. Ihr Erscheinen unterbrach Vincents Grübeleien und das zaghafte Lächeln, das sie ihm schenkte, vertrieb auch noch die letzten trüben Gedanken.
„Geht’s dir gut?“, fragte er und fuhr sich mit den Fingern durch das feuchte Haar.
„Ja, so weit“, erwiderte Daria und musterte Vincent, der irgendwie skeptisch wirkte.
„Keine Übelkeit?“
„Äh, nein. Warum sollte mir übel sein?“
„Na ja, wegen der Schwangerschaft und so.“
Daria lachte. An so etwas hatte sie noch gar nicht gedacht und sie hoffte inständig, dass sie nichts dergleichen bekommen würde. An einer ihrer zahlreichen Schulen hatte es einmal ein Mädchen gegeben, das mit fünfzehn Jahren schwanger geworden war. Sie hatte jeden Tag die ersten beiden Unterrichtsstunden kotzend über dem Klo verbracht. Keine schöne Sache.
„Woher weißt du bitte etwas von Morgenübelkeit?“
Nun wirkte Vincent leicht verlegen, reckte aber das Kinn in die Höhe und schmunzelte.
„Ich habe meine Mutter gefragt, auf was ich achten muss“, gestand er.
Das verblüffte sie. Er machte sich solche Gedanken über ihre Schwangerschaft?
„Ich weiß alles über Morgenübelkeit, eigenartige Gelüste, geschwollene Beine und so weiter“, neckte er sie.
„Also momentan verspüre ich nur eins, nämlich Hunger“, gab Daria zurück und besah sich die Sachen, die auf ihrer Pritsche für sie bereitlagen. Ein dunkelgraues Shirt und die farblich dazu passende Hose. Dieselbe Kleidung wie Vincents. Daria verzog das Gesicht. „Partnerlook?“, fragte sie spöttisch.
„Alle tragen dieses Arrangement. Ich habe mir sagen lassen, dass es der letzte Schrei ist“, erwiderte Vincent und grinste schief.
„Keine passende Unterwäsche? Ich bin enttäuscht“, meinte Daria mit gespielter Entrüstung.
„Oh, die gibt es. Ich kann dir welche besorgen“, antwortete er ganz ernst.
„Bitte nicht“, kreischte Daria und holte eigene Unterwäsche aus ihrer Tasche.
Vincent trat zu ihr und schlang seine Arme um Darias Taille. Er zog sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Deine Unterwäsche gefällt mir sowieso viel besser.“
In diesem Moment ging die Tür auf und Ben steckte den Kopf herein. Sofort drehte Vincent sich um und schob Daria, die nur mit einem leicht verrutschten Handtuch bedeckt war, hinter sich.
„Oh, ups. Ich wollte euch nicht stören“, murmelte Ben und zog die Tür wieder so weit zu, dass nur mehr ein Spalt offen blieb, durch den er sprechen konnte.
„Schon mal was von anklopfen gehört?“, wollte Vincent in strengem Tonfall wissen, musste aber auch lachen, weil Ben sichtlich peinlich berührt war.
„Entschuldigt, Leute, aber ich soll euch zum Frühstück holen“, murmelte er durch den Türspalt.
„Wir kommen, wenn wir fertig sind“, erwiderte Vincent bedeutungsvoll.
Ben stutzte einen Augenblick und zog dann schnell die Tür ganz zu.
Daria schlug Vincent auf den Rücken, der in schallendes Gelächter ausgebrochen war. „Du bist schrecklich, weißt du das? Der arme Ben“, schimpfte Daria.
„Der hält das schon aus und jetzt zieh dich an, heute haben wir ein straffes Programm.“
Beim Gedanken an die bevorstehende Beisetzung seines Vaters verpuffte Vincents Ausgelassenheit.
*
Im Speisesaal herrschte schon reges Treiben. Die nach Essen duftende Luft war von Stimmengewirr und dem Klappern von Besteck erfüllt. An der hinteren Wand war die Essensausgabe, die Daria schwer an eine Schulmensa erinnerte. Auch wenn alles hier unten ohne Fenster und wegen der blanken Betonwände und der militärisch angehauchten Einrichtung eigentlich mit nichts richtig vergleichbar war.
Drei lange Tische dominierten den Saal. An einem saßen die Männer von General Forbes, an einem anderen die verschiedenen Mitglieder der Garde inklusive dem General, Dr. Renson und Vincents Familie. Mit einigen leeren Stühlen Abstand saßen sich Darias Eltern gegenüber. Bei ihrem Anblick, wie sie da zwar gemeinsam, aber schweigend und in deutlich distanzierter Stimmung ihr Frühstück aßen, wurde Daria etwas mulmig zumute. Sie wollte schon auf die beiden zugehen, um sich zu ihnen zu setzen, doch Vincent fasste sie am Ellenbogen und murmelte ihr: „Ich bin noch nicht bereit für ein Essen mit deinen Eltern“, ins Ohr. Daria ließ sich also von ihm zu dem dritten Tisch führen, wo ihre Freunde und deren Familien Platz genommen hatten. Als sie bei ihren Eltern vorbeiliefen, hoben diese die Köpfe und sahen Daria an. Ihre Mutter lächelte verhalten. Doch ihr Vater sah ihr und Vincent mit starrer Miene nach. Er wirkte nicht sonderlich glücklich.
„Warte kurz“, meinte sie und steuerte mit Vincent am Arm nun doch ihre Eltern an.
„Morgen“, grüßte sie und küsste ihren Vater auf die Wange.
„Guten Morgen“, grummelte er zurück.
„Ihr müsst euch nicht zu uns setzen. Wir sind eigentlich schon fertig“, sagte ihre Mutter.
Erik bedachte seine Frau mit einem undefinierbaren Blick.
„Ja, also setz dich mit deinem Freund ruhig zu deinen Freunden“, meinte er gedehnt und betonte das Wort Freund dabei besonders.
Sein unverhohlener Beschützerinstinkt ließ Iris unwillkürlich schmunzeln.
Einen Augenblick lang sah Erik zwischen Daria und ihr hin und her. Schließlich zogen auch seine Mundwinkel sich leicht nach oben und etwas von dem alten Glanz trat in seine Augen, als er Iris’ Lächeln erwiderte.
„Also dann bis später“, meinte Daria und fühlte sich nun wesentlich entspannter. Sie wusste nur zu gut, wie verletzt ihr Vater war. Aber sie war sich sicher, dass ihre Eltern sich noch immer liebten, und hoffte einfach, dass sie mit der Zeit wieder zusammenfinden würden.
Als Daria und Vincent sich am unteren Ende des Tisches niederließen, wo ihre Freunde etwas entfernt von den Eltern und jüngeren Geschwistern saßen, entdeckte Daria Jakob und Jonas.
„Hey. Ich hab gehört, dass ihr auch hier seid, aber bei der Versammlung gestern wart ihr nicht“, setzte Daria an.
„Ja, meine Eltern waren ganz schön aus dem Häuschen, als die Garde bei uns aufgetaucht ist. Erst wollten sie das alles nicht mitmachen, doch diese Typen haben ihnen ganz schön Angst eingejagt. Wegen der Auserwählten und so. Also sind wir doch mitgegangen. Aber sie wollen so weit es geht nichts mit der ganzen Sache zu tun haben. Ich glaube, das ist bei deinen Eltern ähnlich, oder Jakob?“, erklärte Jonas mit verhaltener Stimme. Jakob nickte betreten. „Wir hätten wohl niemals damit gerechnet, so aus unserem Leben gerissen zu werden“, sagte er. Vincent spannte sich neben Daria an. Ihr war klar, wie sehr ihn das belastete, ihr ging es schließlich genauso.
„Aber wir wissen auch, dass es keine andere Möglichkeit gibt, und auch wenn meine Eltern nicht kämpfen werden, ich tue es“, fügte Jonas rasch hinzu.
„Meine Mutter ist Schneiderin und mein Vater Mechaniker. Sie können nicht kämpfen, auch weil sie meine kleine Schwester nicht allein lassen wollen, aber sie tun, was sie können“, meinte Jakob.
„Ich danke euch und euren Familien. Bitte sagt ihnen das“, antwortete Vincent mit Nachdruck.
„Es tut mir so leid, dass ihr da mit hineingezogen wurdet“, platzte es aus Daria heraus.
„Entschuldigst du dich schon wieder für etwas, das nicht deine Schuld ist?“, fragte Izzy in strengem Ton.
„Ihr solltet euch lieber dafür entschuldigen, dass ihr den armen Ben hier vorhin so in Verlegenheit gebracht habt“, meinte nun Leo und klopfte Ben, der neben ihm saß, auf die Schulter. Dieser bekam augenblicklich rote Ohren und boxte Leo auf den Oberarm.
„Aua!“, schrie Leo und erntete noch einen Klaps auf den Hinterkopf von seiner Schwester.
„Du machst es nicht besser, wenn du darauf herumreitest, du Idiot“, zischte sie.
Alle lachten, während Leo versuchte, sich Arm und Kopf gleichzeitig zu reiben, und Lea böse anfunkelte.
„Die Welt kann untergehen, aber diese Zankereien werden wohl nie aufhören“, sagte Izzy und schüttelte amüsiert den Kopf.
*
„Heute Nacht ist ein weiteres Mitglied der Garde eingetroffen“, verlautete Vincent der Versammlung und nickte dem Mann, der ihm gegenüber am Tisch saß, zu.
„Travis hat eine Schlüsselrolle bei all unseren Unternehmungen. Mit Hilfe seiner Kräfte wird es uns möglich sein, ungesehen aus dem Bunker raus- und beinahe überall hinzukommen.“
Alle tauschten verwunderte Blicke oder starrten den Neuankömmling an.
„Das musst du uns schon genauer erklären“, meinte Peter Sinklaire und rückte seine Brille zurecht.
„Nun, Travis ist in der Lage, sich übers Wasser fortzubewegen. Er taucht in ein beliebiges Gewässer ein und kommt am anderen Ende der Welt, in einem anderen wieder heraus, wenn der betreffende Zielort nicht vom Grundwasser abgeschnitten ist, wie etwa ein Pool“, erläuterte Vincent.
Ein beeindrucktes Raunen ging durch die Anwesenden und auch Sinklaire war offenkundig erstaunt. Er fasste sich jedoch schnell wieder und nahm seine übliche, alles und jeden infrage stellende Haltung ein. Vincent kannte Peter nicht wirklich, doch er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie oft sein Vater über dessen zum Himmel schreiende Arroganz geschimpft hatte.
„Das ist ja wirklich sehr faszinierend, das immerhin muss ich als Wissenschaftler zugeben, aber inwiefern hilft uns das?“, wollte Sinklaire wissen.
Nun meldete sich Travis selbst zu Wort: „Ich kann andere mitnehmen. Elementträger jedenfalls.“
Nun herrschte Stille im Raum. Sogar Peter war sprachlos. Erst Dr. Renson unterbrach das Schweigen mit einem: „Absolut unglaublich.“
Vincent nutzte die einheitliche Verblüffung und wandte sich an Darias Vater.
„Erik, wir brauchen dein Wissen und deine Fähigkeit, um einen geeigneten Weg über die Schleusen auszumachen. Ich bitte dich, gemeinsam mit Travis daran zu arbeiten.“
Erik nickte. „Ich werde mir die Pläne der Schleusenanlage ansehen. Es gibt Wartungsschächte, über die wir hineingelangen können, doch es wird notwendig sein, die Durchlassventile entsprechend zu schalten und die Kanäle zu leeren, bevor wir diese als Einstieg benutzen können.“
„Gut“, erwiderte Vincent. „Raffael, General Forbes wird mit dir heute die Liste der Elementträger durchgehen, die du mit Travis Hilfe aufsuchen wirst. Die Mission startet in fünf Tagen“, sagte er dann an Raffael gerichtet.
„Okay“, gab dieser zurück.
„Äh, bitte bleib nach der Versammlung noch einen Augenblick. Ich möchte dich um etwas bitten.“ Vincent biss die Zähne zusammen und bemühte sich, seine Aufmerksamkeit auf die nächsten Besprechungspunkte zu richten.
„Peter, keiner hier hat ein solch umfangreiches Wissen über Elementarkräfte wie du. Deshalb ersuche ich dich, uns gemeinsam mit meinem Großvater zu unterrichten. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass wir so gut wie möglich auf den uns bevorstehenden Kampf vorbereitet sind. Sowohl körperlich als auch geistig. Darum möchte ich, dass alle, die mit keinen anderen Aufgaben betraut werden, an den Unterrichtsstunden und Trainingseinheiten teilnehmen“, erklärte Vincent.
Leo, der ihm schräg gegenübersaß, stöhnte gequält. Lea stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen.
„Was denn? Vincent, versteh mich nicht falsch, ich bin gern beim Training dabei, aber Unterricht? Dein Ernst? Ich dachte, wenigstens das hätte sich mit unserem Abgang von der normalen Welt erledigt“, eiferte Leo und blickte in die Runde, um sich nach Unterstützung umzusehen.
„Mein voller Ernst“, war Vincents einziger Kommentar dazu, bevor er General Forbes ansah.
„Olivia wird für die praktischen Einheiten zur Verfügung stehen und Sophia bei den Nahkampf- und Waffenübungen unterstützen. Wir haben auch den großen Trainingsraum entsprechend präpariert, damit er euren diversen Elementarkräften standhält“, berichtete der General.
„Iris, wir möchten dich bitten, uns mit deinem Wissen und deiner Erfahrung in Bezug auf die Auserwählten beim Training beizustehen“, meinte er dann an Darias Mutter gerichtet.
Sophia schnaubte laut und unüberhörbar verächtlich.
„Lass das, Sophia“, mahnte Erik und sah zwischen ihr und seiner Frau hin und her, die sich gegenseitig taxierten.
„Nein, Erik, ist schon gut. Sie soll sagen, was sie für ein Problem damit hat“, sagte Iris ruhig. Zu ruhig. Auch wenn sie jahrelang getrennt gewesen waren, Erik kannte diesen Tonfall und wusste, dass er nichts Gutes verhieß.
Herausgefordert blähten sich Sophias Nasenflügel auf, als sie tief Luft holte.
„Sie ist nicht vertrauenswürdig! Sie sollte sich von jeglichen Unterredungen fernhalten und selbstverständlich auch vom Training“, stieß sie hervor. Die Abneigung und das Misstrauen standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Aber das haben wir doch schon durch, Sophia“, warf General Forbes ungehalten ein. Der General mochte einiges an diplomatischem Geschick besitzen, doch offenbar erachtete er dies gerade als verschwendet.
Nun funkelte Sophia ihn böse an, bevor sie ihren Blick auf Vincent richtete. „Sie hätte dich umgebracht! Sie würde alles tun, um Darias Leben zu schützen. Daran zumindest hege ich keinen Zweifel. Das ist aber auch schon das Einzige, das ich ihr abnehme. Vincent, wenn sie zu der Erkenntnis kommt, dass es für ihre Tochter sicherer ist, erneut einen Deal mit den Auserwählten einzugehen, würde sie, ohne mit der Wimper zu zucken, alles verraten, wofür wir seit jeher kämpfen.“ Sophia hatte sich dermaßen in Rage geredet, dass sie leicht außer Atem war und auf ihre Wangen waren rote Flecken getreten.
„Sophia.“
Sophias Augen blitzten gefährlich auf, als Iris sie direkt ansprach.
„Ich halte Sie für eine intelligente Frau. Auf was für einen Deal meinen Sie, würden sich die Auserwählten denn einlassen, jetzt da sich die Prophezeiung erfüllt? Die einzige Chance für meine Tochter und alle anderen hier ist es, die Auserwählten auszulöschen. Wie schon gesagt, kann ich Ihr Misstrauen bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Aber darum geht es hier doch überhaupt nicht, habe ich recht? Sie sind eifersüchtig! Was auch immer zwischen Ihnen und meinem Mann gewesen sein mag, es ist vorbei“, schloss Iris und ihre Stimme, ja ihre ganze Haltung wirkte nicht versöhnlich, sondern unnachgiebig und drohend.
Mit einem Mal war Sophia kreidebleich. Unruhig zuckten ihre Augen zu Erik, der sich sichtlich unbehaglich fühlte, seiner Frau jedoch in keinem Wort widersprach.
„Schön“, murmelte Sophia, stand auf und verließ den Besprechungssaal.
„Du wolltest noch etwas von mir?“, fragte Raffael. Die Versammlung war beendet und nur mehr Daria, Vincent und Dr. Renson, der in irgendwelche Papiere vertieft zu sein schien, waren geblieben.
„Es geht um die Beisetzung meines Vaters“, begann Vincent. Er sprach nüchtern und sachlich, doch man konnte ihm trotzdem ansehen, wie traurig er über den Tod seines Vaters war. „Heute Nachmittag wird es eine Totenfeier geben. Leider haben wir kaum Möglichkeiten, seinen Leichnam entsprechend zu verwahren.“ Beim letzten Wort war Vincents Stimme rau geworden.
Raffael verstand seine Gefühle nur zu gut. Nach dem Tod seines eigenen Vaters war er am Boden zerstört gewesen.
„Ich möchte dich bitten, seinen Körper zu versteinern“, brachte Vincent hervor.
Raffael riss die Augen auf, doch nach kurzem Überlegen wurde ihm klar, dass dies wohl die beste und vermutlich auch einzige Option sein musste.
„Natürlich“, antwortete er und verabschiedete sich von Daria und Vincent.
Kaum hatte Raffael den Raum verlassen, erhob sich Dr. Renson und klatschte in die Hände.
„Wollen wir?“, wollte er wissen.
Daria sah Vincent fragend an.
„Ist es wirklich notwendig, die Untersuchungen jeden Tag vorzunehmen?“, erkundigte sich Vincent.
„Aber ja“, bestätigte der Arzt.
*
Dr. Renson schlang ein Gummiband um Darias Oberarm und zurrte es fest.
„Bitte den Arm ausstrecken und eine Faust machen“, sagte er, nahm einen in Alkohol getränkten Tupfer und wischte damit über Darias Ellenbeuge.
„Keine Sorge. In ein paar Tagen können wir den HCG-Spiegel in deinem Urin testen, dann muss ich dir nicht mehr so häufig Blut abnehmen“, erklärte der Arzt, während er die Kanüle in ihre Vene stach und ein Röhrchen nach dem anderen füllte.
„Ich möchte außerdem noch einmal einen Ultraschall machen. Ich habe diesen außergewöhnlichen Jungen hergebeten. Er müsste jeden Augenblick eintreffen“, sagte Dr. Renson und deutete Daria, sich auf die Liege vor dem Ultraschallgerät zu legen.
Tatsächlich klopfte es in diesem Moment sachte an der Tür. Vincent ging hin, um sie zu öffnen.
„Hallo“, grüßte Liam verhalten wie immer. „Sie wollten mich sprechen, Doktor?“
„Mein lieber Junge, in der Tat. Ich benötige deine Hilfe“, erwiderte der Arzt und winkte Liam zu sich heran.
Daria hatte in der Zwischenzeit ihre Hose etwas nach unten gezogen und das graue Shirt hochgeschlagen, um ihren Bauch freizumachen.
Unverhohlen starrte Liam mit seinen ungleichen Augen darauf. Seine Mundwinkel zuckten leicht.
Dr. Renson drückte etwas von dem kalten Gel auf Darias Haut und verteilte es vorsichtig mit dem Ultraschallkopf. Er studierte die Aufnahme auf dem Bildschirm und auch Vincent hatte sich hinter den Arzt gestellt, um besser sehen zu können.
„Der Schall durchdringt die Gebärmutter nicht. Es ist mir so leider nicht möglich, irgendetwas zu untersuchen. Ich nehme an, dass dies eine Art Schutzmechanismus sein könnte. Was siehst du, mein Junge?“ Erwartungsvoll blickte er Liam an, der seinerseits fasziniert die Knöpfe und Schalter am Ultraschallgerät studiert hatte.
„Ich, äh.“ Nun richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Daria und beschrieb, was er mit Hilfe seiner Fähigkeiten wahrnahm.
„Es sieht ein bisschen so aus wie bei meinem Onkel. Bens Vater“, ergänzte er. „Wenn er seine Kräfte einsetzt, wird seine Haut hart wie Stein. Dann umgibt ihn ein blassgrauer Schimmer.“ Liam machte einen Schritt auf Daria zu und beäugte konzentriert ihren Unterleib. „Bei ihr ist es aber etwas anders. Sie, oder besser gesagt ihr Baby“, bei diesem Wort stahl sich ein Lächeln auf Liams Gesicht, „strahlt regelrecht. Es ist viel intensiver als bei allen anderen Elementträgern. Silbern und golden und …“ Er brach ab und zuckte etwas verlegen mit den Schultern.
„Danke, mein Junge“, meinte Dr. Renson.
„Wenn es dir nichts ausmacht, wäre es wunderbar, wenn du ab heute jeden Tag bei der Untersuchung dabei sein könntest, um mich zu unterstützen“, ergänzte er noch.
Liam machte große Augen und nickte.
Der Arzt lächelte zufrieden. „Außerdem könnte ich jemanden gebrauchen, der mir bei den Analysen hilft. Wäre das etwas für dich?“
Liams Augen wurden noch ein Stück größer und nun nickte er voller Eifer.
„Schön. Bitte sei doch so gut und bring mir die Tupfer und die grüne Flasche von dort drüben“, bat er Liam.
Dieser machte sogleich kehrt und holte die benötigten Utensilien, während der Arzt noch Darias Bauchumfang maß und sie auf die Waage stellte.
Dann erklärte er Liam, wie man die steril verpackten Tupfer sachgemäß öffnete und das Desinfektionsmittel darüber goss. Das Interesse und die Bewunderung für die Arbeit des Arztes waren Liam deutlich anzusehen. Daria freute sich, dass Liam offenbar etwas gefunden hatte, das ihn mit solcher Begeisterung erfüllte.
„Deine Wunden sind beinahe zur Gänze verheilt, Vincent. Deine Fähigkeiten werden, wie es aussieht, von Tag zu Tag größer“, erklärte Dr. Renson, was Vincent unbeeindruckt hinnahm.
Daria wusste, dass Vincent dem Arzt mit einer gewissen Skepsis gegenüberstand, aber es erfüllte sie mit Erleichterung, dass er über dermaßen starke Selbstheilungskräfte zu verfügen schien.
*
„Wann wirst du es endlich einsehen, Erik? Ich hatte keine Wahl! Es war die einzige Möglichkeit. Ich hätte nicht einfach abhauen und zu euch kommen können. Wenn ich es denn überhaupt geschafft hätte, da lebend rauszukommen. Ich hätte sie doch direkt zu euch geführt und wir würden alle nicht mehr leben. Es ging nicht anders! Wann also wirst du mir endlich vergeben, dass ich nicht da sein konnte?“ Iris erhobene Stimme war immer leiser geworden, bis sie schließlich nur mehr ein krächzendes Flüstern war. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Am liebsten hätte sie geschrien, Erik gepackt und ihn so lange geschüttelt, bis er endlich zur Vernunft kam.
Aber er starrte sie nur an. Auch wenn sie in seinem Gesicht ein schieres Wechselbad der Gefühle erkennen konnte, erwiderte er lange nichts. Schließlich machte er einen schwerfälligen Schritt nach dem anderen auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand. Seine kalten Finger legten sich um ihr Kinn und hoben es sanft an. Aus seinen hellbraunen Augen, um die sich in den letzten Jahren haarfeine Fältchen gebildet hatten, sah er ihr direkt ins Gesicht.
„Jetzt“, sagte er mit tiefer Stimme.