Читать книгу Komm, setz Dich zu mir ... - Daniela Noitz - Страница 11

Io & Eos

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„Ich will Dir eine Geschichte erzählen“, sagte ich

„Erzähl, ich möchte sie hören“, entgegnetest Du, bloß.

„Es waren einmal zwei Mädchen, gerade in dem Alter, in dem sie begannen die Welt zu erobern, abgenabelt und frei, und die Freiheit schmeckte wie wilder Honig, begehrenswert und doch auch ein wenig bitter. Zu viel für eine alleine, so taten sie sich zusammen, die beiden, obwohl sie so verschieden waren wie zwei Menschen es nur sein konnten, waren wie Tag und Nacht, wie Sonne und Mond, wie Sommer und Winter, wie Licht und Schatten, völlig konträr, und doch sich ergänzend wie zweit Teile eines Ganzen. Ich nenne sie Eos, nach der Göttin der Morgenröte und Io, nach der Göttin des Mondes. Eos war voller Leben. In all ihren Bewegungen, selbst in den banalsten, schien sie zu tanzen, anmutig und grazil. Ihr Körper vibrierte regelrecht, selbst wenn sie saß oder lag. Immer in Bewegung, voller Neugierde und Heiterkeit, aber auch in gespannter Unruhe und Rastlosigkeit. Sie konnte nicht stillhalten, nicht bleiben. Io hingegen war ruhig und besonnen. Alles, was sie tat war wohldurchdacht und bestimmg, und wenn sie etwas anfing, dann wohl erst nach reiflicher Überlegung, aber dann gründlich und unbeirrt, bis zuletzt. Sie strahlte Ruhe und Besonnenheit aus, die manchmal zur Trägheit wurde.

Io saß am Bett, an jenem Sommernachmittag und sah Eos zu wie sie vor ihr drehte in ihrem luftigen Sommerkleid.

‚Was ist es nur, was Dich bei mir hält?’, fragte Io, wohl nicht zum ersten Mal, ‚Da gibt es so viele, die unbeschwerter sind als ich, die mit Dir lachen würden, ungezwungen und schwerelos. Die würden Dir gut tun.’

Trotzdem Eos solche Reden gewohnt war, flog sie gleichsam zu Io, nahm ihre Hände: ‚Ja, vielleicht ist es so, aber Dich zum Lachen zu bringen, das ist die eigentlichste Herausforderung und für mich das schönste Kompliment, wenn Du Dich von meiner Unbeschwertheit anstecken läßt, nur für einen Moment.’

‚Ja, das schaffst Du, zweifellos, und es sind wunderschöne Momente.’, gab Io zu, ‚Aber was habe ich Dir zu bieten?’

‚Ich schaffe es ruhig zu halten, zumindest für kurze Zeit, wenn ich bei Dir bin. Du bringst mich dazu meine Ruhelosigkeit abzulegen und zu bleiben. Das hat noch niemand vor Dir geschafft, so wie der Mond die Welt zur Ruhe bringt, so Du mich.’, sagte Eos.

‚Und Du, Du tauchst mir die Welt in Licht und Farbe, so wie die Sonne die Welt wärmt, so wärmst Du mich und läßt mich mich spüren. Manches, was mir zuvor unendlich schwer schien, ja gänzlich undurchführbar, wird leicht und machbar. Du zeigst mir, dass es immer einen Weg gibt, wenn man nur nicht aufgibt’, sagte Io.

‚Und Du, Du leitest mich an genauer hinzusehen, bedächtiger zu sein, nicht zu schnell zu urteilen, nicht zu schnell zu verstehen.’, sagte nun Eos.

Ja, so waren sie, Eos und Io, Sonne und Mond, Tag und Nacht, Licht und Schatten, einander entgegengesetzt, einander ergänzend. Man könnte sagen, der Strom des Lebens hatte sie zufällig zusammengetrieben, und sie hatten die Chance ergriffen und ihre Boote vertäut, so dass sie nun miteinander über die Wellen schaukelten.

„Io hatte zu tun. Vertieft in ihre Arbeit, nahm sie nichts wahr, während Eos die Wohnung mit Leben und Bewegung erfüllt. Sie hatte eine ganz eigene Weise ihre Sachen zu erledigen. Ständig gab sie einem das Gefühl, dass sie bloß herumschwirrte, gleich einem anmutigen Schmetterling, bei dessen Anblick wohl kaum jemand auf die Idee käme ihn zu fragen, ob er seine Aufgaben bereits erledigt hätte, sondern man verliert sich in seinem Flug an sich. Ebenso erging es einem mit Eos, und dennoch, sie erledigte ihre Aufgaben, niemand wusste wie. Doch plötzlich hielt sie still, und diese Stille wirkte irritierend. Io sah von ihrer Arbeit auf.

‚Sieh nur, die Sonne!’, sagte Eos, die neben ihr stand und gebannt aus dem Fenster blickte.

‚Ich weiß, und weiter?’, entgegnete Io.

‚Siehst Du denn nicht, dass sie anders ist als sonst, ganz anders als sonst?’, fragte Eos.

‚Nein, für mich scheint sie wie immer.’, meinte Io lapidar, die beim besten Willen nicht verstand was los sein sollte.

‚Ach Du bist so blind!’, ereiferte sich nun Eos, ‚Es ist eine Einladung an uns, komm, wir fahren zur Sonne.’

Schon hatte sie Io an der Hand genommen, zog sie hinter sich her, hinaus aus der Wohnung und auf die Straße.

‚Komm, wir nehmen die Straßenbahn!’, rief Eos lachend, denn sie musste den Straßenlärm übertönen. Io wurde weitergezogen. Hätte es einen Sinn gemacht Eos zu erklären, dass man die Sonne nicht einholen konnte, selbst wenn man mit derselben Geschwindigkeit reiste? Sie hätte wohl bloß mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass sie die Sonne doch sähe, und was man sehen kann, kann man auch erreichen. Man kam nicht an, gegen ihre Begeisterung, die so mitreißend war, und Io wollte es auch gar nicht. Sie ließ sich stattdessen einfach anstecken und mitziehen. Bis zur Endhaltestelle fuhren sie, um dort auszusteigen und zu Fuß weiterzugehen.

‚Siehst Du, wir kommen immer näher!’, jauchzte Eos immer wieder, und es war wohl auch wirklich so, denn die Sonne schickte sich bereits an unterzugehen. Längst hatten sie die Stadtgrenze erreicht, aber sie gingen immer noch weiter, bis nur mehr ein schmaler Streifen von der Sonne am Horizont zu sehen war.

‚Wir haben es nicht geschafft.’, gab sogar Eos endlich zu, und ließ sich da, wo sie stand, ins Gras fallen. Io setzte sich neben ihre Freundin.

‚Sei nicht traurig.’, versuchte Io Eos aufzumuntern, doch auch wenn man nun annehmen könnte, dass Eos enttäuscht gewesen wäre, so lernt man zum wiederholten Male, man kann nichts annehmen, denn sie war ganz und gar nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil, immer noch voller Eifer und Tatendrang.

‚Sie hat mir ihre Einladung einfach zu spät zukommen lassen, die Sonne. Das nächste Mal werden wir sie erreichen, und dann, dann steigen wir am Regenbogen hinauf, und rutschen auf der anderen Seite wieder hinunter, und dort, dort bleiben wir dann, Du und ich, für immer, am anderen Ende des Regenbogens.’, sagte Eos leichthin.

‚Eine wunderschöne Vorstellung.’, sagte Io leise, nur, dass sie nicht einlösbar war, weder das Ende des Regenbogens zu erreichen, noch das Für Immer, aber auch das behielt sie für sich.“

„Warum sollte es kein Für Immer geben? Du schaffst es immer wieder solch beglückende Szenen zu malen, um sie auch sofort wieder kaputt zu machen.“, bemängeltest Du.

„Vielleicht gibt es ein Für Immer, aber es spielt keine Rolle, wenn Du lebst, denn Leben geschieht im Augenblick.“, entgegnete ich, mit aller Selbstverständlichkeit.

„Vielleicht hast Du recht, vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall kannst Du es nicht wissen, und deshalb ist es absolut nicht notwendig solch einen Einwand zu machen. Aufbauen und sofort wieder umschmeißen, wie die kleinen Kinder mit ihren Türmen.“, ereifertest Du Dich.

„Absolut ... Nichts ist absolut, und zu Deinem Turmvergleich – wie sollte ich einen neuen Turm bauen, wenn ich nicht ab und an einen alten einreißen würde?“, fragte ich, viel zu sachlich wohl.

„Wie auch immer! Wie ging es nun weiter mit den beiden?“, fragtest Du.

„Nicht anders als sonst auch immer. Der Tag verging und die Nacht brach herein. Eos und Io saßen auf der Wiese, hatten den Sonnenuntergang gesehen, verfolgt wie der Mond aufging und die Nacht hereinbrach. Eos und Io saßen auf der Wiese, hatten den Sonnenuntergang gesehen und verfolgt wie der Mond aufging, die Nacht hereinbrach. ‚Bring mich nach Hause! Es ist unheimlich hier’, bat Eos, sichtlich verängstigt. ‚Warum ist es unheimlich?’, fragte Io sanft. ‚Es ist so dunkel und so kalt. Ich fühl mich so schrecklich verloren, hier in der Nacht, ohne die Sonne, ohne ihr Licht und ihre Wärme, ohne klar und deutlich zu sehen’, klagte Eos zitternd. ‚Du hast mich zur Sonne geführt, und jetzt, jetzt möchte ich Dir die Nacht eröffnen. Lass Dich ein, und Du wirst erkennen, dass sie alles andere als erschreckend ist, vielmehr warm und einladend, beschützend und behütend’, bat Io nachhaltig, und dann nahm sie Eos an der Hand und zeigte ihr die Nacht, und wahrhaft, Eos ließ sich ein und fallen, in die Wärme und die Geborgenheit, lernte die Unbestimmtheit schätzen und die Magie des Verborgenen. Bis zum Morgengrauen waren sie unterwegs. Doch jetzt verstanden sie einander, in aller Tiefe. Nein, so etwas würden sie nie wieder erleben. Ganz egal wohin sie kamen oder was das Leben noch für sie bereit hielt, es hatte sie verändert, unauslöschlich.“

„Warum hörst Du auf zu erzählen? Was ist weiter geschehen?“, fragtest Du mich.

„Das, was unausweichlich geschieht. Sie teilten noch einige Zeit ihr Leben miteinander, und dann verloren sie sich. Unmerklich löste sich die Vertäuung zwischen ihren Booten und dort, wo der Fluss ihres Lebens sich teilte, dort trieben sie auseinander, ganz einfach. Viele, viele Jahre sind seither vergangen und noch heute blicken sie gerne auf diese Zeit zurück, ohne sie zurückholen zu wollen.

‚Wie viel habe ich profitiert von Deiner Spontanität und Lebendigkeit!’, denkt Io.

‚Wie viel habe ich profitzier von Deiner Ruhe und Beständigkeit!’, denkt Eos.

So haben sie beide in einer Art abgeschlossen, die sie profitieren läßt. Wenn es so sein soll, werden sie sich wieder finden oder auch jemand anderen, der sie bereichert. Wer weiß.“, schloss ich meine Erzählung.

Komm, setz Dich zu mir ...

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