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[13]1 Kultur und Kulturgut 1.1 Bedeutung von Kultur und Kulturgut

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Der Begriff »Kultur« wird in verschiedenen Kontexten und von den wissenschaftlichen Disziplinen ganz unterschiedlich verwendet und auch im alltäglichen Sprachgebrauch bleibt der Begriff meist vage. Wird versucht Kultur zu definieren, ist es oft schwer, Kriterien festzulegen. Gottfried Herder prägte 1791 den allgemeinen Oberbegriff für Kultur durch die Benennung von drei wesentlichen Merkmalen: ethnische Fundierung, soziale Homogenisierung und Abgrenzung.

Info: Leitet man Kultur vom Lateinischen colere = pflegen, urbar machen ab, dann könnte man sie als »das zu Pflegende« bezeichnen. Abgeleitet vom Lateinischen cultura und cultus = Landbau, Bebauung und Feldbau, weist der Wortstamm direkt auf den zentralen Aspekt im abendländischen Verständnis hin: dem Gleichsetzen von Kultur mit Zivilisation.

Ein zentraler Aspekt aller Kulturbegriffe ist jedoch die Bezeichnung für das »vom Menschen Erschaffene bzw. Gestaltete« (Herskovits, 1948) im Gegensatz zu dem von Natur aus vorhandenen (Nünning, 2009).

Kultur umfasst daher die Gesamtheit der geistigen, materiellen und sozialen Errungenschaften, die vom Menschen durch die (kultur-)technische Bearbeitung der Natur geschaffen wurden. Dieser umfassende Kulturbegriff schließt Formen sozialen Handelns, wie typische Arbeits- und Lebensformen, Denk- und Handlungsweisen, Traditionen, Überzeugungen und Wertsysteme einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe, ein. Hierzu zählen sowohl Friedens- als auch Kriegsrituale (umfassende Definition in: Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt, UNESCO 2002).

Da vor allem ethnisch homogene Gesellschaften ihr Überleben und ihre Entwicklung in einer übermächtigen Natur mithilfe von Kultur sichern, hat die Kultur einen hohen Stellenwert für die Identität und das Selbstverständnis einer Gemeinschaft (Wir und die anderen). Sie stellt die Grundlage für die Zugehörigkeit des Einzelnen ebenso wie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar und wird an die folgenden Generationen tradiert. Unterschiedliche Kulturen haben zu jeder Zeit parallel zueinander auf unterschiedlichen Ebenen existiert und sich in unterschiedlichem Maße gegenseitig beeinflusst. Im Zeitverlauf gesehen wandelt sich Kultur nicht nur durch äußere, sondern ebenfalls durch innere Einflüsse. Kultur vermittelt Bedeutungen und [14]gibt Orientierung in einer unübersichtlichen, wilden Welt – mit all ihren Chancen und Grenzen der Gestaltung (vgl. Boesch, 1980, S. 26).

Mit der Globalisierung verwischen die territorialen und sozio-ökonomischen Grenzen und damit genau jenes enge Verständnis von »Kulturen«. Das Ergebnis ist die Verschiebung von einer struktur- hin zu einer prozessorientierten Definition des Kulturbegriffs. Nicht mehr die Homogenität einer Gruppe, sondern die Vielfalt der Angehörigen von Kulturen und ihre Beziehung zueinander stehen mittlerweile im Vordergrund. Eine größere Kultur setzt sich nunmehr aus einer Vielzahl von Kollektiven zusammen, den Subkulturen. In Deutschland sind das Friesische oder Bayrische Subkulturen der deutschen Kultur. Auch Familien, Vereine oder Unternehmen haben oder bilden Subkulturen. Kultur ist demnach auch eine Frage des Blickwinkels. Je nach Perspektive werden Makrokulturen (z. B. Ethnie, Stadt) oder Mikrokulturen (z. B. Familie, Verein) sichtbar. Da jeder Mensch immer verschiedenen Makro- und Mikrokulturen angehört (Multikollektivität) und sich in ihnen selbstverständlich bewegt, entstehen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Kulturen und ihren Mitgliedern. Die Kulturen sind auch hier nicht klar voneinander abgrenzbar, sondern miteinander verwoben und die Grenzen unscharf.

Merke: »Kultur« wird auf die folgenden wesentlichen Merkmale zusammengefasst: Kultur wird von Gruppen geteilt. Kultur wird weitergegeben. Kultur existiert auf unterschiedlichen Ebenen.

Kulturgüter sind manifestierter Ausdruck menschlichen Handelns – oder Ausdruck der Zivilisation gegenüber der wilden Natur. Im Gegensatz zu den Konsumgütern haben Kulturgüter für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft neben dem materiellen Wert auch einen ideellen Wert. Nicht nur materielle Güter, sondern ebenfalls immaterielle Güter wie regionale Sprachen, Tänze und Musik, traditionelle Heilkunde, Rituale, aber auch Werkzeuge und deren Gebrauch sowie regionale Bauweisen gehören zum Kulturgut. Des Weiteren werden unter Kulturgütern im Allgemeinen bewegliche wie unbewegliche Güter gefasst, z. B. Bau-, Kunst- oder geschichtliche Denkmäler und archäologische Stätten, Kunstwerke, Manuskripte oder Bücher. Die Anpassung des Menschen an die von ihm vorgefundene, ihn umgebende lokale und regionale Umwelt, an Klima, Vegetation und Topographie prägten die Besonderheit seiner Kultur und Kulturgüter, großräumig entstanden Kulturkreise. Jene Ausprägungen verstärkten die Identifizierung mit der eigenen Gruppe, zur Unterscheidung des »Wir« von den anderen. Die Entstehung, Entwick[15]lung und Verbreitung von Kulturtechniken und -gütern ist ein wichtiger Aspekt menschlichen Verhaltens. Der Respekt vor dem kulturellen Erbe der ganzen Menschheit – unabhängig von Eigentumsfragen – impliziert daher die Achtung vor der menschlichen Entwicklung und dem Leben (vgl. Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut, 1954, Präambel).

Materielle und immaterielle Kulturgüter stehen für den Zusammenhalt einer Gruppe und sind Identitätsträger. Insbesondere Kleidung, Schmuck oder Kultgegenstände symbolisieren häufig die Macht des Trägers. Durch die gewalttägige Vernichtung von Kultgegenständen und Kulturgütern beispielsweise in kriegerischen Auseinandersetzungen werden Einheit und Zusammenhalt eines Volkes geschwächt, sodass dessen Manipulation oder eine Machtübernahme durch den Gegner möglich wird. Neue Machthaber ersetzen die alten Symbole der Macht durch ihre Kultur, ihre Kultgüter – und letztendlich durch ihre Werte. Aufgrund eben dieser Bedeutung von Kulturgütern als Identitätsträger hat auch der moderne Staat Interesse am Schutz der nationalen Kulturgüter, geht es im Kern doch insbesondere um die Aufrechterhaltung der staatlichen Legitimität, der nationalen Identität und Geschichtsschreibung. Der Schutz von Kulturgütern »mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen« ist daher für die staatliche Sicherheit bedeutend.

Kulturgüter sind heute häufig einmalige Zeugnisse der Vergangenheit. Vielleicht sind sie zufällig über die Jahrhunderte oder -tausende gerettet worden, vielleicht wurden sie aufgrund ihrer einst großen, überregionalen Bedeutung (z. B. Reichsinsignien, Kirchenbücher) besonders geschützt oder vielleicht waren sie einfaches Alltagsgut und eigentlich vergessen. Doch auch die Bedeutung all dieser (unikalen) Überbleibsel vergangener Epochen verändert sich ständig in Zeit und Raum.

Zu hinterfragen bleibt: Wer bewertet welche Kulturgüter nach welchen Kriterien, mit welchem Blickwinkel und aus welchem Grund? Warum ist die Vergänglichkeit von einst bedeutenden Kulturen und Kulturgütern eigentlich ein unersetzlicher Verlust für die ganze Menschheit? Dahinter stecken unter anderem die unterschiedliche Auffassung der Kulturkreise, der Epochen – von Leben und Tod, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Oftmals zeigt sich der bleibende Wert von einzigartigen Kulturgütern erst Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte später. Die Erkenntnis, dass nicht alles tradiert wird, erhalten bleibt und geschützt werden kann, ermöglicht Konzentration auf das, was nachfolgende Generationen erben soll(t)en, um sich in einer chaotischen, wilden und sich stetig verändernden Welt heimisch und sicher zu fühlen und zurechtzufinden. Kurz: Mit Veränderung der Umwelt ändern sich Lebensweisen, Kulturformen. Nützliches wird tradiert, weniger Nützliches nicht mehr.

[16]Beispiel: Kultur als Teilsektor Kritischer Infrastrukturen

Güter und Dienstleistungen, deren Verfügbarkeit für die Bevölkerung und Wirtschaft von essentieller Bedeutung ist, werden als Kritische Infrastrukturen zusammengefasst. In der nationalen KRITIS-Strategie von 2009 zählen zu den Dienstleistungsinfrastrukturen auch Medien und Kultur; demnach werden in Deutschland Kulturgut und symbolträchtige Bauwerke zu den Kritischen Infrastrukturen gezählt. Im Vordergrund steht hier zunächst das Interesse an der Funktionsfähigkeit der Medien: Eine Einschränkung der Medien in ihrer Arbeit – der Weitergabe und Verbreitung von Informationen und Meinungen – verhindert im Krisenfall die zeitnahe und umfassende Information der Bevölkerung. Außerdem verletzt diese Behinderung der Medienarbeit gravierend das Grundrecht der Pressefreiheit und damit einen Grundpfeiler der Demokratie. Der Terroranschlag auf das Satireblatt Charlie Hebdo Anfang Januar 2015 und der Cyber-Angriff auf den Fernsehsender TV 5 Monde Anfang April desselben Jahres in Frankreich zeigen beispielhaft, wie vulnerabel die Medien heutzutage sind (FAZ, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg). Auch Kulturgüter sind für die Gemeinschaft unersetzbar und wichtig.

Info: Definition Kritische Infrastrukturen: »Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten.« (Quelle: BBK; BMI Nationale KRITIS-Strategie)

Tabelle 1: Sektoren Kritischer Infrastrukturen (Quelle BMI/BBK)

Sektoren Kritischer Infrastrukturen
Energie Transport und Verkehr
Informationstechnik und Kommunikation Finanz- und Versicherungswesen
Gesundheit Staat und Verwaltung
Wasser Medien und Kultur
Ernährung

Bei näherer Betrachtung der Definition wird deutlich, dass Kulturgüter zweifelsohne zum Bereich der Kritischen Infrastrukturen gehören. Grundsätzlich müssten sämtliche Kulturguteinrichtungen als Bestandteil der Kritischen Infrastrukturen gelten, [17]wobei nicht allen gleich große Bedeutung beigemessen werden kann. Bei Verlust, Zerstörung oder schwerer Beschädigung von Kultgegenständen und Kulturgütern sind Menschen normalerweise nicht unmittelbar betroffen. Im Ereignisfall wird die Zerstörung von Kulturgut sowohl bei der betroffenen Bevölkerung als auch in den Medien thematisiert, sobald die humanitäre Not weitgehend unter Kontrolle ist. Bei »Ausfall oder Beeinträchtigung« von Kulturgut ist hingegen ein starker Zusammenhalt der Bevölkerung zu beobachten. Denn, anders als bei KRITIS-Unternehmen und Dienstleistern, haben insbesondere herausragende Kulturgüter für die Nation bzw. den Staat eine identitätsstiftende Bedeutung, und der Verlust dieser nationalen, regionalen oder lokalen Geschichtsträger löst emotionale Betroffenheit aus. Kulturgüter besitzen daher eine hohe symbolische Kritikalität, haben jedoch allgemein in Bezug auf die Kritikalität eine wenig große Bedeutung.

»Die Kritikalität [einer Infrastruktur] bezeichnet ihre relative Bedeutung in Bezug auf die Auswirkungen, die eine Störung, ein Ausfall oder eine Zerstörung für die Bevölkerung, Wirtschaft sowie auf andere kritische Infrastrukturen (Dependenzen) hätte.« (BMI 2009, S. 5)

Die direkten Auswirkungen bei einem kompletten Ausfall des Teilsektors Kulturgut über einen längeren Zeitraum beträfen vor allem den Zivilschutz und zu einem geringeren Teil Parlament, Regierung, Justiz und Verwaltung – in einem stabilen politischen Umfeld. Ist eine systematische Zerstörung eines Staates geplant, dann können insbesondere die Folgen der Zerstörung von Kulturgut und symbolträchtigen Bauwerken zur Auslöschung einer ganzen Kultur, eines ganzen Volkes, eines staatlichen Gemeinwesens führen. Aufgrund eben dieser ideellen Bedeutung hat der Staat Interesse am Schutz der nationalen Kulturgüter, denn es geht im Kern um die Aufrechterhaltung der staatlichen Legitimität, der nationalen Geschichtsschreibung und der Identität – wobei der Erhalt des nationalen Kulturgutes in gewisser Weise hilft, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Auch hier gilt letztlich das Versorgungsparadoxon: In dem Maße, in dem ein Land in seinen Versorgungsleistungen weniger störanfällig ist, wirkt sich jede Störung umso stärker aus. Hier im Extrem bis zur Vernichtung der Identität.

Wiederum sind die Beeinträchtigungen der Bevölkerung und Wirtschaft bei einem längeren Ausfall oder einer Störung von Teilen des nationalen Kulturgutes jeweils niedrig. Je nach Wichtigkeit und Bekanntheitsgrad kann ein Vorfall allerdings weitreichendere Konsequenzen auf die Wirtschaft in der Region haben, da kulturelle Aktivitäten oder der Tourismus beeinträchtigt werden (sogenannte Domino- bzw. Kaskadeneffekte). Der Teilsektor Kulturgut ist jedoch auf die Funktionsfähigkeit [18]anderer Teilsektoren zwingend angewiesen, wie z. B. die Stromversorgung, das Abwassersystem oder die Informationstechnologien. Die Interdependenzen sind hier jedoch eher weniger stark ausgeprägt als zwischen den anderen (kritischen) Infrastruktursystemen. Verursacht werden enorme Schäden an Kulturgütern, ebenso wie an anderen Kritischen Infrastrukturen, nicht nur durch Kriege, sondern zunehmend durch extreme Naturereignisse, aber auch durch technisches und menschliches Versagen sowie durch vorsätzliche Handlungen mit terroristischem oder kriminellem Hintergrund (BMI, 2009).

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