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1.2 Merkmale schützenswerten Kulturguts

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International gibt es bisher weder eine einheitliche Definition von Kulturgut (cultural property, biens culturel) noch von kulturellem Erbe (cultural heritage, patrimoine culturel). In Abhängigkeit von den Anwendungsbereichen der Abkommen werden die Definitionen jeweils immer wieder neu abgefasst.

Erstmals tauchen beide Begriffe in der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten vom 14. Mai 1954 auf. Artikel 1 gibt eine allgemeine Definition von zu schützendem »Kulturgut ohne Rücksicht auf Herkunft oder Eigentumsverhältnisse« und die einleitende Präambel erklärt, dass die »Erhaltung des kulturellen Erbes für alle Völker der Welt von großer Bedeutung ist«. Demnach macht Kulturgut einen Teil des kulturellen Erbes der Menschheit aus, und eine Bewertung von Kultur(en) und ihren Ausdrucksformen sollte ausgeschlossen werden. 1977 wird in den Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen allgemein Bezug auf das Verbot der Schädigung von Denkmälern, Kunstwerken und Kultstätten genommen, die zum kulturellen oder geistigen Erbe der Völker gehören.

Bereits 1972 hat die UNESCO mit dem Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt, die sogenannte Welterbekonvention, verabschiedet. Sie ist mittlerweile wohl das international bedeutendste Abkommen zum Schutz des kulturellen und natürlichen Erbes. Kerngedanke der Konvention ist die »Erwägung, dass Teile des Kultur- oder Naturerbes von außergewöhnlicher Bedeutung sind und daher als Bestandteil des Welterbes der ganzen Menschheit erhalten werden müssen.« Maßgebend für die Definition des Welterbes ist die herausragende universelle Bedeutung des Kulturguts aus historischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Gründen. Die Konvention listet insgesamt zehn Auswahlkriterien auf, von denen die ersten sechs für kulturelle Stätten und Kulturlandschaften gelten, die verbleibenden für Naturstätten.

[19]Zur Aufnahme in die Welterbeliste werden die übergreifenden Kriterien

1 der Einzigartigkeit,

2 der Authentizität (historische Echtheit) und

3 der Integrität (Unversehrtheit)

angewendet, in Verbindung mit einem oder mehreren der zehn UNESCO-Kriterien.

Zur Antragstellung sind die Vertragsstaaten aufgefordert, Vorschlagslisten (tentative lists) mit möglichen Stätten einzureichen. Experten vom International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) und International Union for Conservation of Nature (IUCN) (siehe Anhang) evaluieren die Anträge im Auftrag des Welterbezentrums. Auf Grundlage dieser Auswertungen entscheidet schließlich das Welterbekomitee über die Aufnahme in die Welterbeliste.


[20]Bild 2: Auswahlverfahren für UNESCO-Weltkulturerbe in Deutschland

Die Ernennung einer Natur- oder Kulturstätte zum Welterbe ist als Auszeichnung zu verstehen, mit der keine finanzielle Unterstützung für die Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen verbunden ist. Stellen die Natur- und Kulturstätten doch keinen eigentlichen wirtschaftlichen Wert dar, so wird über die Auszeichnung und Vermarktung ihr Erhalt gesichert. Jedoch nimmt beispielsweise mittlerweile der Tourismus in den ausgezeichneten Naturparks so sehr zu, dass die Touristenströme die Natur zerstören. Gleiches gilt für die kulturellen Stätten.

Während das Übereinkommen von 1972 die unbeweglichen Natur- und Kulturstätten definiert, liegt beim UNESCO-Abkommen vom 14. November 1970 über »Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut« (sog. Kulturgutübereinkommen) der Schwerpunkt auf den beweglichen Kulturgütern. Die mit dem Vertrag zu schützenden Kulturgüter werden in Artikel 1 des Abkommens dezidiert aufgeführt. Die Vertragsstaaten erkennen mit diesem Abkommen die internationale Zusammenarbeit als eines der wirksamsten Mittel gegen den illegalen Handel mit Kulturgut an, der »eine der Hauptursachen für das Dahinschwinden des kulturellen Erbes der Ursprungsländer darstell[t]« (Art. 1 und 2.1). Im Sinne des Abkommens gehören archäologische Funde oder in jüngerer Zeit erschaffenes Kulturgut, zum kulturellen Erbe jedes Staates, wenn es in eine der fünf Kategorien fällt, die Artikel 4 aufführt. Die Kategorien beziehen sich entweder auf das Staatsgebiet oder auf die freiwillige Übereignung – als frei vereinbarter Tausch, als Geschenk oder »mit Zustimmung der zuständigen Behörden des Ursprungslands« durch Missionen rechtmäßig erworbenes Kulturgut. Diese Einordnung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass 1970 zum Zeitpunkt der Entstehung des Abkommens die Kolonialreiche aufgelöst wurden. Viele neue Staaten entstanden, zugleich wurden jedoch viele ethnologische, archäologische und wissenschaftliche Sammlungen in Europa aus Expeditionen oder Missionen in den ehemaligen Kolonien zusammengetragen.

[21]Die Definition des kulturellen Erbes der Menschheit wurde seit 1972 permanent überarbeitet und erweitert. So entstanden im Rahmen der UNESCO-Arbeit: 2001, ergänzend zur Welterbekonvention von 1972, das Abkommen über den Schutz des Kulturerbes unter Wasser. Das Abkommen von 1970 wird ergänzt durch die am 17. Oktober 2003 beschlossene Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturgutes und das am 20. Oktober 2005 geschlossene Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Letzteres beruht auf der Einsicht, dass der Erhalt der kulturellen Vielfalt in einer globalisierten Welt eine gemeinsame internationale Aufgabe darstellt. Das Weltkulturerbe unter Wasser im Sinne des Übereinkommens von 2001 umfasst »alle Spuren menschlicher Existenz von kulturellem, historischem oder archäologischem Charakter, die seit mindestens 100 Jahren, zeitweise oder durchgängig, zum Teil oder vollständig unter Wasser liegen«. Ausgenommen sind unter Wasser verlegte Rohre und Leitungen aller Art. Ziel des Übereinkommens ist es, den Schutz des Unterwasser-Kulturerbes zu gewährleisten und zu verstärken.

Immaterielles Kulturerbe in der UNESCO-Konvention von 2003 umfasst: »Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume […], die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen.« Sie werden an die Folgegenerationen tradiert, sind fortwährend im Wandel und vermitteln Identität und Kontinuität. Zur weiteren Identifizierung werden im folgenden Abschnitt fünf Bereiche a) bis e) benannt:

1 mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache als Träger des immateriellen Kulturerbes;

2 darstellende Künste;

3 gesellschaftliche Bräuche, Rituale und Feste;

4 Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das Universum;

5 traditionelle Handwerkstechniken.

Das zwei Jahre später abgeschlossene Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen formuliert im Kapitel III, Artikel 4 acht Begriffsbestimmungen für das Abkommen: kulturelle Vielfalt, kultureller Inhalt, kulturelle Ausdrucksformen, kulturelle Aktivitäten, Güter und Dienstleistungen. Es definiert die Begriffe der Kulturwirtschaft, der Kulturpolitik und kulturpolitische Maßnahmen, dem Schutz und der Interkulturalität. Kulturelle Ausdrucksformen sind demnach »die Ausdrucksformen, die durch die Kreativität von Einzelpersonen, Gruppen und Gesellschaften entstehen und einen kulturellen Inhalt haben«. Im vierten Absatz werden kulturelle Aktivitäten, Güter und Dienstleistungen als [22]»Aktivitäten, Güter und Dienstleistungen, die zu dem Zeitpunkt, zu dem sie hinsichtlich eines besonderen Merkmals, einer besonderen Verwendung oder eines besonderen Zwecks betrachtet werden, kulturelle Ausdrucksformen verkörpern oder übermitteln, und zwar unabhängig vom kommerziellen Wert, den sie möglicherweise haben. Kulturelle Aktivitäten können ein Zweck an sich sein oder zur Herstellung von kulturellen Gütern und Dienstleistungen beitragen« definiert. »Schutz« bedeutet das Beschließen von Maßnahmen, die auf die Erhaltung, Sicherung und Erhöhung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen abzielen. »Schützen« bedeutet, derartige Maßnahmen zu beschließen.

Zum Erhalt des dokumentarischen Erbes der Menschheit gründete die UNESCO 1992 das Programm Memory of the World. Wertvolle Dokumente Buchbestände, Handschriften, Partituren, Unikate, Bild-, Ton- und Filmdokumente, »die das kollektive Gedächtnis der Menschen in den verschiedenen Ländern unserer Erde repräsentieren«, werden entsprechend in ein Verzeichnis des Weltdokumentenerbes aufgenommen. Berücksichtigt werden in der UNESCO-Arbeit mittlerweile auch orale Traditionen, die auf keiner Schrift- und Monumentalkultur – wie im europäisch-abendländischen Kulturkreis – fußen.

Wodurch aber zeichnet sich nationales und lokales Kulturgut aus? Nationale und lokale Kulturen sind an die Grenzen politischer Ordnungen, wie Staaten oder Stadtviertel, gebunden. Diese Grenzen und Kulturen beruhen auf internalisierten Überzeugungen, Gefühlen und Urteilen, Normen und Werten sowie kollektiven Wir-Konstruktionen. Obwohl Kulturen und Identitäten allgemein nicht an räumliche Grenzen gebunden sind (universell), ist zur Entwicklung einer nationalen Identität und Kultur die Abgrenzung von Fremden, Nachbarn und anderen Nationen mindestens ebenso wichtig wie der Austausch mit diesen. Es bleibt demnach, gerade in einer globalisierten Welt, die Frage nach »der Nation«, dem Staatsgebiet und der Staatsgewalt. Bereits 1882 stellt Ernest Renan die Frage Qu’est-ce qu’une Nation? und definiert: »Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus tiefgreifenden Verbindungen der Geschichte resultiert, eine spirituelle Verbindung.« Die Nation basiere auf der Vergangenheit, als der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, dem Wunsch des Zusammenlebens und dem Willen der Aufrechterhaltung dieses gemeinsamen Erbes (Renan, 1995). Zur Aufrechterhaltung der Traditionen dient grundsätzlich die Schaffung einer kollektiven Identität, das Erfinden eines gemeinsamen Mythos, der abstrakt und zugleich greifbar sein muss, um immer wieder angepasst werden zu können. Diese nationale, gemeinsame Geschichte ist umso widerstandsfähiger, je besser es gelingt, auch weniger angenehme Kapitel der Geschichte als prägend für die Entwicklung anzuerkennen, zu deuten und zu [23]integrieren. Kulturgüter transportieren Werte und Normen einer Gemeinschaft, indem sie dieses Ungreifbare der Kultur manifestieren. Die Identität wird unmittelbar in Mahn- und Denkmalen, Bauten, Schriften oder Kunstgegenständen erfahr- und greifbar, damit zugleich angreifbar.

Bedeutendes Kulturgut ist prinzipiell nur schwer zu identifizieren. Wie eingangs bereits erläutert, kann die Frage nach der Bedeutung von Kulturgütern nicht allgemein beantwortet werden. Jedes Land bzw. jede Nation hat unterschiedliche Vorstellungen, was große Bedeutung hat und wertvoll ist in Bezug auf das kulturelle Erbe. Allgemein bezieht sich die Auswahl jedoch auf Kulturgut des jeweiligen heutigen Staatsgebiets. Dabei handelt es sich zumeist um:

 architektonisch,

 geschichtlich,

 stilistisch oder

 typologisch oder künstlerisch herausragende Objekte mit Seltenheitswert (Quantität) (vgl. u. a. Brüderlin, 1978).

Der Seltenheitswert ist eng verbunden mit dem Erhaltungszustand (Qualität) der Objekte. Hinzu kommt, dass diese Kulturgüter besonderer Herkunft große internationale Bedeutung und Bekanntheit erhalten können, da eine Einstufung auch nach künstlerischer Qualität – von der lokalen, über die regionale und nationale bis hin zur internationalen Bedeutung und Bekanntheit – erfolgt. Diese Klassifizierung auf unterschiedlichen Ebenen impliziert lediglich eine räumliche Bedeutung und Strahlkraft aber keinerlei Wertung der Bedeutung der als Kulturgüter verzeichneten Objekte.

Beispiel: Der europäisch-abendländische Kulturkreis und die europäische Wertegemeinschaft

Die kulturelle Identität vieler Völker entstand in ständiger Auseinandersetzung und Beziehung zu ihrer natürlichen Umwelt. Gleichzeitig ist die Natur fast aller Regionen durch den Menschen beeinflusst und zur Kulturlandschaft geworden insbesondere in Europa. Die Fragen Was ist Europa? Was macht Europa, den europäischen Kulturkreis, aus? sind eng mit der Frage nach dem europäischen Kulturgut und kulturellen Erbe verbunden. Die geographische Definition Europas bleibt immer willkürlich. Geographisch gesehen ist Europa ein Subkontinent, der zusammen mit Asien den Kontinent Eurasien bildet, geomorphologisch ist Europa eng mit Afrika verbunden. Im Osten hat Europa gegenüber Asien keine eindeutige geographische oder geologische Grenze. Europa wird, obwohl kein eigenständiger Kontinent, dennoch als solcher betrachtet. Die Grenzen Europas sind, insbesondere aufgrund historischer [24]und kultureller Aspekte, gesellschaftliche Konvention. Die heute allgemein anerkannte, östliche Grenze folgt der Definition von Philip Johan von Strahlenberg, wonach Uralgebirge und -fluss die inner-eurasische Grenze bilden. Das politische Europa, die Europäische Union, ringt jedoch mit jeder Erweiterung erneut um eine klare Definition seiner Außengrenzen.

Seinen Namen verdankt der Kontinent der griechischen Mythologie. Göttervater Zeus entführte die phönizische Fürstentochter Europa nach Kreta. Ihr Name soll aus dem phönizischen erob – die Dunkle, Abend, Abendland – abgeleitet sein. Mit der Sage verbanden sich schon im Altertum geographische Vorstellungen. Um 400 nach Christus erscheint der Europabegriff bei Herodot als Bezeichnung der Länder nördlich des Mittelmeers und des Schwarzen Meers – im Unterschied zu Asien und Afrika.


[25]Bild 3: Vergleich der geographischen und politischen Definition Europas. Die Abbildung oben das politische, kontinentale Europa der Mitglieder der Europäischen Union (EU) 2020. Die geographische Abgrenzung der Kontinente Europa und Asien an der inner-eurasischen Linie folgt in der unteren Abbildung der gängigen Grenze definiert von Philipp Johann von Strahlenberg. (© OpenStreetMap contributors: Karten erstellt, anschließend bearbeitet)

Günstige geographische Voraussetzungen boten sich in Europa für die kulturelle Entwicklung und den Austausch der Völker. Die Lage in der Klimazone der gemäßigten Breiten, das Fehlen extremer Klimaunterschiede und weite, nicht kultivierbare oder kolonisierbare Gebiete sind selten. Die kleinräumigen, klimatischen Gegebenheiten führten zu einer Vielzahl regionaler Erzeugnisse, zu Handel und zu Kooperation. Diese Kleinräumigkeit und Vielfalt sind charakteristisch für Europa: Beispielsweise haben neben großen Reichen immer auch kleine Fürstentümer, die Stadtstaaten Italiens, Wirtschaftsverbünde wie die Hanse oder die griechische Polis, eine Rolle gespielt. Europäische Kultur ist heterogen.

Ein Merkmal europäischer Kultur(räume) ist die Vielfalt, die sich durch Gemeinsamkeiten auszeichnet. Denn der europäische Kulturkreis gründet nicht nur auf der gemeinsamen Geschichte, sondern er basiert auch auf gemeinsamen Werten und Ideen: Die modernen Rechtsordnungen entstammen römischer Tradition, Philosophie und Demokratie dem antiken Griechenland. Auf Christentum, Humanismus und Aufklärung beruht das Zusammengehörigkeitsgefühl der europäischen Völker. Klöster und Kathedralen formten die europäischen Kulturlandschaften, der christliche Glaube vereint in gemeinsamen Festen, in der Liturgie und in der Erziehung. Durch die ersten modernen Universitäten in Europa entwickelte sich eine vielfältig vernetzte, europäische Bildungs- und Wissenschaftslandschaft, die zur Basis kultureller Identität Europas wurde. Die europäische Staatengemeinschaft des Spätmittelalters lassen bereits die modernen National- und Mehrvölkerstaaten erkennen.

Politik wurde zu einer säkularen Aufgabe und zu einem diplomatischen Instrument. Allerdings erst ca. 1650 bis 1800 mit Aufklärung und Humanismus, ihrer Berufung auf die Vernunft, die Naturwissenschaften, das Naturrecht und die religiöse Toleranz, erwachsen gesellschaftspolitische Ziele, wie die des Gemeinwohls, der persönlichen Handlungsfreiheit, der Bildung, der Bürger- und allgemeinen Menschenrechte. Dieses Gedankengut beeinflusst die europäische Gesellschaft bis heute. [26]Während Europa die individuellen Freiheiten betont, steht beispielsweise in Asien die Gemeinschaft im Vordergrund. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden die Aufklärung und ihre Folgen in Europa auch kritisch gedeutet. Ähnliche Emanzipationsprozesse, wie sie in vielen der sogenannten weniger entwickelten Ländern in den 1970er Jahren stattfanden, aber auch ihr Fehlen und ihre Notwendigkeit werden ebenfalls in anderen Kulturkreisen diskutiert.

Die lange Geschichte Europas ist jedoch nicht ausschließlich ein gemeinschaftliches Miteinander, immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen, Rivalitäten und Spaltungen. Die Spaltung des Christentums in römisch-katholische und orthodoxe Kirche, die Trennung in Katholizismus und Protestantismus, und die damit verbundenen Lebenseinstellungen. Geistige Werte und Haltungen brachten kulturbedingte Unterschiede und lieferten Gründe für Kriege. Ebenso wie die Vorherrschaft auf dem Kontinent, die nicht nur durch Heirat, sondern eben auch durch Kriege errungen wurde. In der frühen Neuzeit entstanden durch die europäische Expansion, in der Moderne durch die Bildung der modernen Nationalstaaten Rivalitäten, Spannungen und Kriege.

Nach außen hat sich Europa über viele Jahrhunderte als Zentrum der Weltpolitik gesehen. Die europäischen Kolonialmächte haben weltweit Völker und Territorien erobert und um die Vorherrschaft ebenso wie um Territorien gestritten. Ab 1918 übernahmen allmählich die USA und Russland die Führung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa geschwächt und gespalten. Asien und Afrika befreiten sich endgültig von der europäischen Vorherrschaft, die Kolonialreiche der Engländer, Franzosen, Niederländer, Belgier und Portugiesen begannen sich aufzulösen. Europas groß- und kleinräumige Grenzen waren damals fließend und wurden immer wieder neu bestimmt. Die Suche nach der europäischen Identität war immer auch geprägt von der inneren Spaltung und äußeren Abgrenzung. Zu unterscheiden sind heute zwei Aspekte europäischer Kultur:

1 Historisch: Auf dem europäischen Kontinent hat sich im Laufe von Jahrhunderten eine Kultur herausgebildet, die von dort in die ganze Welt getragen wurde, weshalb sie in der heute globalisierten Welt nicht mehr als spezifisch europäisch angesehen wird. Beispielsweise: viele moderne Techniken, die Wissenschafts- und Gedächtniskultur, die Ausbreitung der europäischen Lebensweise, die christliche Zeitrechnung (einschließlich des Kalenders), die Diplomatie, das internationale Recht, das moderne Weltstaatensystem.

2 Aktuell: Seit Ende des zweiten Weltkriegs beginnt sich in Europa und gegenüber der globalisierten Welt eine neue europäische Kultur zu formen.[27]Europa gewinnt in seinen Grenzen Kontur. Wert wird auf sprachliche Vielfalt gelegt, der Austausch gefördert, um den Respekt vor kulturellen Differenzen sowie das Gemeinsame der kulturellen Identität zu stärken.

Über die einigende Wirkung und die Bedeutung gemeinsamer Werte und einer gemeinsamen europäischen Kultur waren sich schon die Europapolitiker der ersten Stunde einig. Bereits im Vertrag über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit und über kollektive Selbstverteidigung vom 17. März 1948 (Brüsseler Vertrag, Westeuropäische Union) hieß es in Artikel III: »Die Hohen Vertragschließenden Teile werden gemeinsam jede Anstrengung unternehmen, um ihre Völker zu einem besseren Verständnis der Grundsätze, welche Grundlage ihrer gemeinsamen Zivilisation bilden, zu führen und durch gegenseitige Übereinkommen oder sonstige Mittel den kulturellen Austausch zu fördern.«

Info: Vertrag über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit und über kollektive Selbstverteidigung vom 17. März 1948 Der Vertrag ist heute vielfach in Vergessenheit geraten, auch wenn immer wieder versucht wird, ihn wiederzubeleben. Von Bedeutung war der Vertrag zwischen 1948 und 1958, als auf seiner Grundlage und aus seinen Mitgliedern heraus der Europarat sowie die Europäischen Gemeinschaften 1951 bzw. 1957 gegründet wurden; bis 1972 war er wichtigstes Forum zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften und Großbritannien, mit dessen Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften am 1. Januar 1973 der Vertrag faktisch bedeutungslos geworden ist. 1992 wurde der Vertrag erstmals in einem Vertragsdokument der Europäischen Union (im Vertrag über die Europäische Union) erwähnt, 1997 wurde die Zusammenarbeit verstärkt und 2001 wurde das Ziel ausgesprochen, die Organisation in die Europäische Union zu integrieren; geschehen ist dies aber bis heute nicht. Die WEU kann als aufgelöst betrachtet werden. Der Rat der Westeuropäischen Union ist formal seit 13. November 2000 nicht mehr zusammengetreten.

Mit der Fusion der anfänglich drei europäischen Gemeinschaften EGKS (Montanunion), EWG und EURATOM zur Europäischen Gemeinschaft (EG) 1967, über die Vollendung des Binnenmarktes Ende 1992 und dem Wandel der EG zur Europäischen Union (EU) bis hin zur Überwindung der Teilung Europas mit der Osterweiterung wird deutlich: Europa und der europäische Einigungsprozess leben bis heute von der Vielfalt, von den Gegensätzen und von der Konkurrenz regionaler und nationaler Identitäten; das Europamotto »In Vielfalt geeint« weist darauf hin (Verfassung der Europäischen Union, 2005).

[28]Das Ziel der Kulturpolitik der EU ist laut Artikel 167 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ex-Art. 151 (1) EGV) »einen Beitrag zu Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes« zu leisten. In Absatz 2 wird die Rolle der Europäischen Union im Kulturbereich definiert, indem die EU die Tätigkeit der Mitgliedstaaten fördert, koordiniert und ergänzt. Insbesondere werden die »Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker sowie Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung« als Bereiche der europäischen Kulturförderung genannt (Amtsblatt der Europäischen Union 2010/C 83/121). Die EU unterstützt nicht nur Maßnahmen zur Erhaltung des kulturellen Erbes, sondern fördert auch die Zusammenarbeit und den länderübergreifenden Austausch zwischen den kulturellen Einrichtungen der Mitgliedstaaten und Drittländern. Beispielsweise vergibt die EU regelmäßig Preise für Werke in den Bereichen kulturelles Erbe, Architektur, Literatur, Musik und Film wie den Mies-van-der-Rohe-Preis für zeitgenössische Architektur, den Europa-Nostra-Preis zum Kulturerbe, den Prix Media im Bereich Film und den European Borderbreakers Awards im Bereich Musik sowie das Kulturerbe-Siegel. Außerdem setzt sich die EU gemeinsam mit anderen Organisationen für die Bekämpfung von Problemen wie dem illegalen Handel mit Kulturgütern ein (Verordnung (EG) Nr. 116/2009).

Merke: Mit der 2005 unterzeichneten UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen hat sich die EU verpflichtet, die kulturelle Vielfalt als ein wesentliches Element ihrer Außenpolitik zu berücksichtigen und in internationalen Beziehungen eine neue und aktivere kulturelle Rolle für Europa aufzubauen.

Durch die europäische Kulturpolitik soll die europäische Kunst- und Kulturszene für die Bürger sicht- und erfahrbar werden, wobei mittels Förderung wie dem Programm »Kreatives Europa« langfristig die kulturelle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsländern unterstützt und ein europäischer Kulturraum geschaffen werden soll. Seit der Annahme der Agenda für Kultur 2007 wird die politische, soziale und wirtschaftliche Bedeutung von Kultur zunehmend auch in strategischer Hinsicht wahrgenommen, um außenpolitische Ziele erreichen zu können. Eine der bekanntesten Auszeichnungen ist die Verleihung des Titels »Kulturhauptstadt Europas«. Bereits seit 1985 wird jedes Jahr eine Stadt, seit 2004 werden zwei Städte aus[29]gewählt. Langfristig bringt die Auszeichnung den Städten und ihren Regionen in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht nachweislichen Nutzen. Die EU-Regionalpolitik unterstützt daher – über spezielle Fonds – strategische Investitionen im kulturellen Bereich, um Städte und Regionen attraktiver zu machen.


Bild 4: Blick auf Avignon, Kulturhauptstadt im Jahr 2000.

Das »Europäische Kulturerbe-Siegel« wird seit 2013 an Stätten »mit grenzüberschreitendem oder gesamteuropäischem Charakter« verliehen. Die Stätten werden von Land zu Land nach unterschiedlichen Maßstäben ausgewählt, wobei festgelegte Kriterien die Auswahl bestimmen. Demnach sind Stätten auszuzeichnen, die »Symbole und Beispiele der europäischen Einigung, der Ideale und der Geschichte der EU sind«. Der symbolische wie der pädagogische Wert der Stätten für Europa wiegen für die Auswahl mehr als kunsthistorische oder Denkmalschutz-Kriterien, denn das Kulturerbe-Siegel soll bestehende Kulturerbe-Initiativen ergänzen, z. B. die UNESCO-Welterbe-Liste, die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit und die Initiative »Kulturwege Europas« des Europarats. Doppelauszeichnungen sollen in jedem Fall vermieden werden. Des Weiteren werden seit 1985 die »Tage des europäischen Kulturerbes« ausgerichtet. Lokale Kulturstätte werden an jenen Tagen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die normalerweise verschlossen sind.

Weder im Einigungsvertrag noch in einem der vorgestellten Programmen werden konkrete Kriterien zur Bestimmung des europäischen Kulturerbes benannt. Neben der Betonung der europäischen Vielfalt ist zugleich die Herausstellung europäischer Werte und Gemeinsamkeiten in der Identitätsfindung Europas zu beobachten, [30]deutlich hervorgehoben durch das europäische Motto »In Vielfalt geeint«. Interessant ist die Zusammenarbeit alter Kulturregionen über die nationalen Grenzen hinweg, die oftmals durch Kriege und neue Grenzziehungen immer wieder geteilt wurden. Bestes Beispiel bietet hier Trentino-Südtirol-Tirol.

Schutz von Kulturgut

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