Читать книгу Das Kasematukel und der Pfropftropffleck - Daniela Zörner - Страница 3

Kapitel 1

Оглавление

Bum, bum, bum. „Hiiiilfe!”

Das Kasematukel schreckte auf dem Sofa aus seinem sehr ausgedehnten Mittagsschläfchen hoch. Ganz genau betrachtet, hatte bereits der Nachmittag begonnen.

Bum, bum, bum. „Ist hier jemand? Hiiiilfe!“

Lodi Zuckerapfel warf seine Decke beiseite, rappelte sich auf, kletterte geschickt auf die Sofalehne und lugte vorsichtig aus dem Astlochfenster. Ein Riesenkind stand vor seinem Rosenapfelbaum. „Unerhört!“

Es donnerte mit seiner Faust gegen die moosgrüne Haustür, dass der ganze Baum erzitterte. Bum, bum, bum.

Fassungslos krächzte Lodi: „Aber, das ist unmöglich.“ Eigentlich hätte das Riesenkind seine Tür gar nicht entdecken dürfen. Schließlich war sie verkasematukelt! Doch dazu später mehr.

Hin und her gerissen zwischen der beträchtlichen Sorge, welcher Schaden aus dem Gedonnere entstehen mochte, und einer für Kasematukel geradezu unverschämten Neugier, schaute sich Lodi das Riesenkind genauer an. Hinter dem Fenster fühlte er sich sicher.

Und so erblickte das Kasematukel einen mächtigen Kopf, bedeckt mit roter Wollmütze, aus der rechts und links hellbraune Zöpfe herausragten. Darunter einen blauen Wollmantel mit zwei erstaunlichen, aufgenähten Taschen. Lodi stutzte. Wo waren die Hände? Er sah am Ende der monströsen Arme, von denen in eben diesem Augenblick der eine erneut auf seine schöne Holztür zuschoss, nur unförmige Kugeln aus rotem Stoff.

Bum, bum, bum.

Jetzt bewegte sich der Kopf. Aus dem hübschen Gesicht eines Mädchens schauten zwei große grüne Augen direkt zu ihm hinauf.

„Hiiiilfe!“

Vor Schreck plumpste das Kasematukel mit seinem Hintern auf das Sofa hinunter. „So eine Frechheit, nun langt es mir aber.“ Energisch kam es wieder auf die Beine. Dann riss es das Fenster so heftig auf, dass ihm Schnee ins Gesicht stob. „Brrrh, hör sofort auf! Du machst noch meine Tür kaputt!“, brüllte das Kasematukel hinaus. „Das ist mein Apfelbaum!“ Vor lauter Ärger lief sein zart lindgrünes Gesicht abscheulich giftgrün an.

Das Riesenkind kniff die Augen zusammen und starrte zu dem winzigen Fenster hinauf. „Wer ist da? Kannst du mir helfen?“

„Helfen?“, fragte Lodi. „Wieso helfen? Und warum schreist du so entsetzlich laut?“

„Ich, ich“, schluchzte das Riesenmädchen auf, „ich habe mich verlaufen“.

„Beim Apfelgriebs, schrei mich nicht so an, ich bin keineswegs schwerhörig“, schimpfte Lodi. Doch im nächsten Augenblick bereute er, unhöflich zu sein. Denn er beobachtete etwas so wunderschön Trauriges, wie er es in seinem ganzen Leben niemals gesehen hatte. Aus den großen grünen Augen des Mädchens rannen zwei mächtig dicke Tränen über gerötete Wangen, verharrten einen winzigen Moment an seinem Kinn und tropften dann als glitzernde Glasbälle in den tiefen Schnee. „Oooh!“

Es herrschte gerade tiefer Winter, die faulste Jahreszeit im Leben jedes Kasematukels. Die Winterzeit verhieß langes Schlafen, ausgiebiges Faulenzen und gutes Essen. Nur jeden Montag stand das pflichtbewusste Flechten von Weidenkörben an. Mit ihnen tauschte Lodi während der wärmeren Jahreszeiten ein, was er unbedingt benötigte, jedoch nicht selbst herstellen konnte.

Obendrein schnitzte Lodi an seinen geliebten Weidenflöten. Aber wirklich nur, wenn ihm der Sinn danach stand. Das kam vielleicht zwei, drei, vier Mal in einem ganzen Monat vor. „Besser bescheiden als übertreiben“, pflegte sein alter Onkel Helidor stets zu sagen.

Immer neue Tränen, begleitet von herzerweichendem Schluchzen, tropften in den Schnee. „Ich will nach Hause.“

Da Lodi ein wagschlaumutiges Kasematukel war, eine höchst selten vorkommende Ausnahme in seiner Familie, verkündete er jetzt: „Warte einen Moment, ich gehe herunter zur Tür.“

Normalerweise kannten Kasematukel von der Welt außerhalb ihres Apfelbaumes genau so viel, wie sie von ihren Astlochfenstern oder ihren Baumkronen aus erspähen konnten. Sofern sie dies überhaupt wollten, versteht sich. Wozu gab es schließlich die Heupferdboten für Post und Pakete? Auf die Wanderschaft gehen zu müssen, galt unter Kasematukeln als großes Unglück. Doch wie meist im Leben, wenn alle dasselbe taten, tanzte einer voller Übermut aus der Reihe.

Das Riesenmädchen wischte sich hoffnungsvoll mit seinen wollenen Fäustlingen die nassen Wangen ab. Danach kramte es ein gebrauchtes Taschentuch aus seiner Manteltasche hervor und blies in selbiges so energisch hinein, dass es riss.

Genau in dem Moment öffnete sich die Tür. Lodi traf eine gewaltige Böe, die ihn auf seinen Hosenboden plumpsen ließ. „Aua!“

„Hast du dir weh getan?“, nuschelte das Riesenkind hinter den Papierfetzen hervor.

Anstatt zu antworten, fragte Lodi voller Staunen: „Wie hast du das gemacht?“

„Oh“, kicherte es, „ich habe mir nur die Nase geputzt.“

„Das ist überaus gefährlich“, stellte Lodi fest. Vorsichtshalber klammerte er sich an den Türrahmen.

„Tut mir leid. Kannst du mir nun helfen?“ Flüsternd fügte das Riesenkind hinzu: „Es wird sicher bald dunkel.“

Insgeheim gab Lodi ihm den Namen Schneemädchen, weil es über und über mit Schneeflocken bestäubt war. Zudem steckten seine merkwürdigen Schuhe, die ihm fast bis an die Knie reichten, tief in einer Schneewehe

In den vergangenen Tagen hatte der eisige Wind immer neuen Schnee gebracht, ihn höher und höher rund um den Baumstamm aufgetürmt.

Obwohl in Lodis Augen riesengroß, glaubte er doch, Schneemädchen müsse noch ein Kind sein. Die wahrhaft riesigen Riesen reichten mit ihren astdicken Armen und tellergroßen Händen bis zu den Zweigen seines Apfelbaumes hinauf. Und was taten sie manches Mal zur Erntezeit? Seine Rosenäpfel stehlen! Schon deswegen mochte Lodi die Riesen nicht leiden.

Langsam merkte Lodi, dass seine Gedanken davon liefen. Also rief er sich zur Ordnung und fragte sogleich: „Wo befindet sich deine Wohnhöhle? Hier am alten Postweg?“

„Wie? Was?“ Das Riesenmädchen verstand seine Fragen nicht.

„Wo wohnst du?“, wiederholte Lodi.

„In Buch. Da sind wir erst vor einem Monat hingezogen.“

Lodi traute seinen Ohren kaum. „Du wohnst in einem Buch?“ Zwar besaß er selbst kein solches Ding, jedoch hatte er schon mal davon gehört. „Wer war es noch gleich?“, murmelte er vor sich hin. „Mein Freund Erdwich? Oder hatte Onkel Helidor in seinem unerschöpflichen Vorrat an alten Familiengeschichten mal ein Buch erwähnt?“ Laut begehrte das Kasematukel zu wissen: „Man kann in einem Buch wohnen?“

Schneemädchen sah ihn ein wenig mitleidig an. „Du bist aber dumm. Ich wohne in einem Haus und das steht in einem Ort, der Buch heißt.“

„So“, brummte Lodi verwirrt.

„Kennst du denn Buch nicht? Es muss doch hier ganz in der Nähe sein.“ Natürlich kam Schneemädchen zunächst nicht auf die Idee, was für es selbst eine geringe Wegstrecke bedeutete, könnte für den kleinen Lodi ein echtes Abenteuer sein.

Eigentlich wunderte sich Schneemädchen über gar nichts. Weder über die Wohnung in einem Baum, noch über das seltsame Wesen, das darin lebte.

Immerhin ging es längst zur Schule und wusste, dass manche Vögel in Baumhöhlen lebten. Außerdem kannte es etliche spannende, zauberhafte, abenteuerliche oder unheimliche Geschichten, in denen Zwerge, Feen, Kobolde, Elfen und noch eine Reihe anderer freundlicher oder gruseliger Geschöpfe vorkamen. Mithin bestand gar kein Grund, sich über Lodi im Apfelbaum den Kopf zu zerbrechen.

Doch das Kasematukel antwortete nun seiner Winzigkeit entsprechend: „Hier in meiner Nachbarschaft wohnt niemand. Sogar mein Freund Erdwich lebt einen halben Tagesmarsch entfernt.“

Blitzschnell schossen neue Tränen aus den grünen Augen. „Aber, aber, so weit kann ich doch gar nicht gelaufen sein! Ich wollte mich nur ein wenig umschauen, wo ich doch neu hier bin.“ Das Riesenmädchen schluchzte, bis sein ganzer Körper bebte.

„Doch, doch“, sagte Lodi gewichtig, „so etwas kann passieren. Da wüsste ich manch eine verrückte Geschichte zu erzählen.“

„Nach Hause“, jammerte Schneemädchen. Von Abenteuergeschichten wollte es hier und jetzt keinesfalls etwas hören.

„Na, uns wird schon etwas einfallen“, versuchte Lodi zu trösten. Allerdings mochte er selbst kaum daran glauben. Denn eines stand für ihn felsenfest: Keine Abenteuer bei Eis und Schnee! Selbst Lodi würde gegen das oberste Gebot aller Kasematukel nie, nie jemals verstoßen.

Man stelle sich einmal vor, das Kasematukel würde in diesem Augenblick einfach die Strickleiter an seinem Baumstamm hinunter rattern lassen, sich aus der Tür schwingen, flink hinabklettern – und unten angekommen bis zum Hals im Schnee versinken. Welch eine Katastrophe! Das Ganze ohne Tropfenhut und Flechtgrasschuhe. Was hätten die da auch genützt?

Eine dicke Schneeflocke landete auf der geröteten Nasenspitze des Schneemädchens, schmolz dahin, und hing dort nun als Wassertropfen. Während Lodi dies in aller Seelenruhe beobachtete, riss ihn Schneemädchen zu seiner Notlage zurück.

„Mir ist kalt“, bibberte es.

„Ich würde dich durchaus auf ein Tässchen heißen Apfelblütentee einladen. Nur, du bist viel zu riesig für meine Wohnhöhle. Da gibt es kein Vertun, wie mein lieber Onkel zu sagen pflegt.“

„Aber ich muss doch heim!“

„Ja, ja, das habe ich wohl verstanden.“ Plötzlich kam Lodi ein Geistesblitz. „Also, ich an deiner Stelle würde einfach immer dem Postweg folgen.“

Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in Schneemädchens Gesicht auf. Erwartungsvoll drehte es sich um und stapfte drei, vier, fünf Schritte bis zu dem verschneiten Weg. Dort schaute es nach rechts, schaute nach links, dann nochmals nach rechts. „Aber in welche Richtung?“, rief es ängstlich.

Vorsichtig kehrte das Riesenkind zu dem Apfelbaum zurück. „Ach bitte! Kannst du mitkommen?“

Lodi zuckte zusammen. „Es ist Winter!“

„Das macht doch nichts.“

„Du bist ja auch riesengroß.“

„Nein, ich bin noch recht klein. Ich bin gerade erst acht Jahre alt geworden.“

„Acht?“, rief das Kasematukel voller Entsetzen. „Was tust du da draußen ganz allein?“

Prompt brach Schneemädchen wieder in Tränen aus. Dabei war es eigentlich gar keine Heulsuse, eher im Gegenteil. Immer neugierig und unternehmungslustig erkundete es alles und jedes, ob groß oder klein. Andernfalls hätte sich Schneemädchen wohl kaum verirrt!

„Ist ja gut“, versuchte Lodi zu trösten, „du findest bestimmt nach Hause“. Ungewollt fiel ihm ein, wie er sich letzten Sommer ausweglos im Wald verirrt hatte. Uh, war das gruselig gewesen – und gefährlich! Aber mit einigen hilfsbereiten Waldbewohnern war sein Abenteuer am Ende gut ausgegangen. Lodi seufzte. „Was nun, was tun?“

Das kleine Mädchen lächelte ihn schüchtern an. „Ich könnte dich tragen.“

„Wie bitte?“ Das war in Lodis spitzen Ohren eine unerhörte Vorstellung.

Doch für Schneemädchen klang die Idee richtig klug. „Ich setze dich auf meine Schulter oder meine Mütze.“

„Ich bin doch kein Vogel!“, empörte sich Lodi. „Und was überhaupt, wenn ich herunterfalle? Oder schlimmer noch, wenn die Eule jagt?“ Er schüttelte sich vor Unbehagen. „Und im Winter noch obendrein! Das wäre unverzeihlich unkasematukelisch.“

„Bitte!“

„Ja, nein, also.“

„Bitte!“ Erwartungsvoll hob Schneemädchen seinen ausgestreckten Fäustling zur Türöffnung empor.

Noch bevor sich Lodis gescheiter Kopf weitere klug klingende Ausreden überlegen konnte, schwangen sich seine Beine wie von selbst über die Türschwelle. Mit furchtlosem Sprung und ausgestreckt rudernden Armen landete er auf dem kuschelig weichen Fäustling.

Schneemädchen riss die Augen auf. „Du bist wirklich winzig.“

„Winzig? Ich bin ein ausgewachsenes Kasematukel“, entgegnete Lodi reichlich verschnupft. Warum beleidigte das Riesenkind ihn, wo er soeben eine wahre Heldentat vollbracht hatte? Er rappelte sich auf die Füße und stemmte gewichtig seine geballten Fäuste in die Hüften. Dummerweise kippte Lodi auf dem weichen Fäustling vornüber, noch bevor er dem Schneemädchen einen sehr grimmigen Blick hinauf schleudern konnte.

„Oh, sei vorsichtig, sonst fällst du hinunter.“ Sehr hilfsbereit hielt es Lodi den Daumen hin, an dem er sich nun aufrichtete.

Glücklich strahlte das kleine Mädchen ihn an. „Wie heißt du?“

„Lodi Zuckerapfel, mein Name.“

„Hi, hi, hi“, kringelte es sich. „Zuckerapfel? Ist der Name aber komisch. Ich heiße Vika.“ Dann stutzte es vor Verblüffung, guckte noch einmal ganz genau hin und prustete hervor: „Deine Augen sind ja lila!“

Das Kasematukel schüttelte vor Missbilligung ob solcher Albernheit seine braungrünen Zöpfe.

Davon keineswegs eingeschüchtert, weil höchst neugierig, fragte Vika: „Ach bitte. Was ist ein Kasematukel?“

„Na“, hob Lodi an, bevor er merkte, welch eine knifflige Frage das war. „Na, ich bin ein Kasematukel. Wir leben in alten Apfelbäumen.“

Damit konnte Vika wenig anfangen. Also rätselte sie weiter. „Bist du aus einem Märchen entwischt?“

Solch eine eigenartige Frage hatte wahrhaftig noch nie jemand dem Kasematukel gestellt. Lachend versicherte es: „Nein, nein. Ich bin einfach nur kleiner als du. Und wir leben hier seit Urzeiten. Soviel ist mal sicher.“

Einmal in Fahrt gekommen, purzelten Vika immer neue Fragen aus dem Mund. Für eine Weile vergaß sie ihr Zuhause vollkommen. Und ebenso die rasch nahende, winterliche Dunkelheit.

Das Kasematukel und der Pfropftropffleck

Подняться наверх