Читать книгу Das Kasematukel und der Pfropftropffleck - Daniela Zörner - Страница 4

Kapitel 2

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Die kleine Vika stand, mit Lodi auf ihrem Handschuh, noch immer vor dem Rosenapfelbaum. Da sie nun Gesellschaft bei ihrer Suche nach dem Heimweg hatte, war all ihre Angst wie ein böser Spuk verflogen.

Doch Lodi rieb nun seine eiskalten Hände aneinander. „Brrrh. Ungemütlich ist es hier draußen.“ Allmählich sehnte er sich nach seinem behaglich warmen Wohnzimmer.

„Das stimmt. Meine Füße sind schon Eisklumpen.“ Schneemädchen betrachtete das zitternde Kasematukel. „Du hast gar keine warmen Sachen an. Weißt du was? Ich stecke dich in meinen rechten Handschuh. Wenigstens der ist schön warm.“

Noch bevor Lodi protestieren konnte, landete er in dem roten Fäustling. Den wiederum schob Vika vorsichtig in ihre zweite, noch leere Manteltasche. Allein Kopf und Hände des Kasematukels ragten heraus.

„Und wohin wollen wir jetzt gehen?“, fragte Schneemädchen.

„Nach rechts.“

„Was hast du gesagt?“

„Nach rechts!“, brüllte Lodi zu ihrem Ohr hinauf. Immerhin war dies der vertraute Weg zu Erdwich Richtigwichtig, seinem guten Freund.

Der Wiesenwinkelwicht wohnte, genau wie der Name verrät, im äußersten Wiesenwinkel, eine halbe Tagesreise entfernt. Vielleicht würde Erdwich guten Rat wissen. Ja, der Gedanke gefiel Lodi. Mehr noch, stellte er sich begeistert vor, wie er mit seinem lieben Freund ein ausgiebiges Schwätzchen halten würde. Und Erdwichs unterirdische Wohnhöhle würde ihm ein sicheres Quartier für die bald heraufziehende Nacht bieten. Am nächsten Morgen dann … Tja, was? Wie sollte er allein durch solch eine Schneewüste heimkehren? „Ach herrjeminee!“

Lodi wurde ganz flau im Bauch. Der Grund dafür war allerdings ein anderer, als seine beachtliche Sorge um den eigenen Heimweg. Vika stapfte nämlich beherzt durch den tiefen Schnee voran. Wie das in ihrer Manteltasche schaukelte! Wie das schlingerte! Mit jedem Schritt schwankte das Kasematukel wie auf einem sturmgepeitschten Schiff hin und her. Wobei es, wie man sich denken kann, weder Schiffe noch Meere kannte.

Die Schneeflocken rieselten immer dichter aus dem dunkelgrauen Himmel herab. Lodi konnte sich bei Vikas rasenden Tempo ohnehin kaum zurechtfinden. Angestrengt spähte er nach vorne, links und rechts. Im Winterkleid sah die Landschaft völlig fremd aus.

Und von oben aus der Manteltasche, dazu mit Schaukelblick, geriet seine Orientierung vollends durcheinander.

Der alte Haselstrauch, an dem sie gerade vorbeigesaust waren. Stand der nicht mindestens eine Wegstunde von seinem Apfelbaum entfernt? Dort drüben, die einsame Birke. Sie schien auf ihn zu zu rasen. War das Zauberei? „Wo ist dann Erdwichs Wiesenwinkel?“, flüsterte Lodi kopfschüttelnd. „Halt an, Schneemädchen!“, schrie er, ganz wirr im Kopf.

Im gleichen Augenblick fiel rotgoldenes Licht über die stille Winterlandschaft. Überrascht drehte sich Vika so schnell danach um, dass Lodi wie in einem Karussell herumwirbelte.

Unter den dicken Wolken lugte der feuerrote Sonnenball hervor. Er sandte seine letzten Strahlen, bevor er endgültig hinter dem Horizont verschwinden würde.

„Gleich wird es dunkel“, wisperte Vika.

„Ich muss nachdenken!“, donnerte Lodi ohrwärts. Ungeduldig versuchte er, die vertrauten Wegmarken aus seinem Gedächtnis hervor zu kramen. „Zuerst kommt immer der Haselstrauch, ihm folgt die Birke, danach der große Stein. Oder kam erst der Geradebach? Nein, nein, der Geradebach, gefolgt vom Brombeergebüsch. Und zuletzt kommt der Rehpfad nach links auf die Wiese.“ So musste es sein, beim Apfelstiel.

Dem Schneemädchen rief Lodi daher zu: „Siehst du einen großen Stein oder ein Brombeergebüsch?“

Vika schaute angestrengt den Weg hinunter. „Nein, ich sehe nur überall Schnee und da hinten Bäume.“

Langsam ging sie auf dem Postweg weiter.

Kein Mensch kam des Weges, so einsam wohnte Vika.

Wie aus dem Nichts tauchte ein ausgewachsener Fuchs, kaum vier Schritte entfernt, vor den zwei Wanderern auf. Er trug sein prächtiges Winterfell.

„Lauf! Versteck dich!“, brüllte Lodi.

„Ein echter Fuchs“, hauchte Vika.

„Lauf! Er wird uns fressen!“

Doch Vika, hin und her gerissen zwischen Schreck und Staunen, blieb wie angewurzelt stehen.

Dies tat auch der Fuchs.


Sie starrte ihn mit offenem Mund an.

Er starrte zurück. Seine lange, spitze Schnauze zuckte. Das bedeutete, der Fuchs nahm ihre Witterung auf. „Es riecht nach Mensch“, knurrte er leise. Sein dickes Nackenfell sträubte sich.

Das Kasematukel brüllte weiter: „Lauf, Schneemädchen, lauf!“

Da bekam Vika doch Angst vor dem großen, wilden Tier. „Weg da!“, platzte es aus ihr heraus. Scheuchend schwang sie beide Arme vor.

Der überraschte Fuchs machte einen Satz seitwärts. Er witterte nochmals kurz und trollte sich endlich mit mühsamen Sprüngen durch den Schnee davon.

„Ich habe einen Fuchs gesehen!“, jubelte Vika mit klopfendem Herzen.

„Das war über alle Maßen töricht“, schimpfte Lodi. „Füchse sind gefräßige, hinterhältige Gesellen, wie jedes Kasematukel weiß. Nur diebische Waschbären sind noch schlimmer. Die können obendrein auf Bäume klettern.“

Aber Schneemädchen hörte kaum zu. Es summte glückselig das alte Lied „Fuchs du hast die Gans gestohlen“ vor sich hin.

Die winterlich frühe Abenddämmerung brach unaufhaltsam herein. Alles Weiß verwandelte sich in fades Grau, das mit langen Fingern auf die Wanderer zukroch.

Auch Lodi dämmerte etwas. Und zwar, was er in seiner Tollkühnheit angerichtet hatte. Es traf ihn wie ein schlimmer Hieb auf den Hinterkopf. „Ich bin ohne Verpflegung, ohne Kiepe, ohne Kochgeschirr, ohne Tropfenhut, ohne Nachthemd und vor allem ohne Weidenflöten buchstäblich aus meiner Baumhöhle gestürzt. Ich bin ein verflixter Narr“, jammerte er. „Was würde Onkel Helidor schimpfen über solch eine Dummheit!“

Während das Kasematukel weiter hart mit sich zu Gericht ging, drang allmählich die Stimme des Riesenmädchens zu ihm durch.

Um ihre Angst vor der nahenden Dunkelheit zu vertreiben, hatte Vika damit begonnen, Allerlei zu erzählen.

„… und Bücher sind ganz toll. Hast du wirklich noch keins gelesen oder dir ein Bilderbuch angeguckt? Ich kann schon richtig lesen und schreiben“, behauptete sie stolz. Dann jedoch legte sie den rechten nackten Zeigefinger auf ihren Mund. Das tat Vika stets, wenn sie streng mit sich war. „Beim Schreiben mache ich aber viele Fehler. Meine Lehrerin guckt mich immer tadelnd an, wenn ich ihr mein Schreibheft zeige.“

Mit gerunzelter Stirn fragte Lodi: „Bücher lesen? Wozu soll das gut sein?“

„Das habe ich dir doch gerade erzählt“, versetzte Vika. „Hast du nicht zugehört?“

„Doch, doch. Aber nein, das ist mir ein Rätsel.“

Also erzählte Vika von ihren eigenen fünf Büchern, auf die sie mächtig stolz war.

Weiter, immer weiter trug sie Lodi dabei von seinem Apfelbaum fort.

„Ein Licht! Siehst du? Da hinten!“, rief Vika aus. „Eine Laterne!“

Obwohl Lodi sich bei ihrem Geschrei schleunigst die Ohren zuhielt, vernahm er deutlich ein scheußliches Geräusch. Es klang, als würde ein großes Tier dem rufenden Schneemädchen antworten.

„Wau, wau-wau, wau-wau-wau-wau!“

„Oma Schlotterapfel steh uns bei, ein Zottelmonster!“, schrie Lodi.

„Das ist bloß ein Hund. Da, wo ich wohne, gibt es ziemlich viele Hunde.“ Etwas verzagt fügte Vika hinzu: „Manchmal fürchte ich mich, wenn sie ohne Leine herumlaufen.“ Dann kicherte sie schon wieder. „Hast du Zottelmonster zu dem Hund gesagt? Du kennst komische Wörter.“

Inzwischen konnte selbst Lodi die leuchtende Straßenlaterne erkennen. Sollte er sich darüber freuen oder eher bange sein? Eines zumindest wusste Lodi glasklar wie Apfelgelee: An der Wohnhöhle seines Freundes im Wiesenwinkel mussten sie längst vorbeigeeilt sein. „Ich habe keinen Schimmer, wo ich hier bin.“

Vika überhörte seine gemurmelten Worte. Sie eilte, so schnell der Schnee es zuließ, den Weg entlang und dem beruhigenden Licht entgegen.

„Der Zaun! Das ist unser Zaun!“, jubelte sie bald.

„Was ist ein Zaun?“

„Da! Das da vorne!“ Mit ausgestrecktem Arm zeigte Schneemädchen auf ihr sehnlichst herbei gewünschtes Ziel. „Gleich sind wir zu Hause.“

„Halt!“, donnerte Lodi energisch. „Halt!“

Erst nach mehreren Schritten blieb Vika unwillig stehen. „Was ist?“

„Es freut mich außerordentlich, dass deine Reise nun ein gutes Ende nimmt“, sagte Lodi feierlich. „Aber“, hierbei blickte er sehr ernst zu ihren glückselig strahlenden Augen empor, „aber wie komme ich jetzt zurück zu meinem Rosenapfelbaum?“

„Oh?!“, machte Schneemädchen.

Das Kasematukel und der Pfropftropffleck

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