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Der Todesnarr

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Es war einmal ein alter Mann, seines öden, einsamen Rentnerdaseins überdrüssig. Selbst den geringsten Luxus, ein allabendlich genossenes Bier, hatte ihm der Arzt nun verboten.

Eines trübgrauen Wintertages saß der Alte deprimiert, wie meist, in seinem Ohrensessel am kalten Kamin. Er starrte in das schwarze Loch, als befände sich dort sein Privatzugang in die Hölle, und sinnierte über den Tod. Doch diesmal kroch zu seinem Erstaunen aus morbiden Tiefen dunkelster Seele plötzlich die verwegenste Idee seines Lebens hervor. Sie quoll aus seinem schmallippigen Mund: „Wenn der Tod mich nicht will, dann will ich den Tod spielen. Da mag er was von lernen.“

Sein langes Leben hatte der Alte damit zugebracht, den Leuten zu verkaufen, was politische Versager an Dummheiten und Grausamkeiten unter das Volk zu bringen gedachten. Um sich ein wenig Abwechslung zu verschaffen, spann der Alte damals nebenher genüsslich Pläne, trat Konkurrenten weg und zelebrierte Intrigen. Er fühlte sich zu Höherem berufen, was ihm, dem genialen Kopf, jedoch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verwehrt wurde. Immer wieder ging er bei Postenschachereien am Ende leer aus und versauerte bis zum Rentenalter fernab der begehrten Hauptstadt. „Und was haben sie mir damals zum Abschied geschenkt? Ruhm? Ehre? Anerkennung?“, brummte er. „Eine lächerliche Krawatte!“

Der Tod lehnte im Türrahmen und gähnte. Zynisch ließ er den Alten in Ruhe, sollte der Langweiler doch bei lebendigem Leib verrotten.

Trotzig wie ein alter Narr beschloss der Mann, seine Künste ein letztes Mal zu erproben. Zu lange schon brodelte Zorn in seinem Hinterkopf über den Sittenverfall und das hohle Geschwätz über Moral. Und dann die ketzerische Idee seiner Regierung, anstatt die Bevölkerung zu ausreichendem Nachwuchs zu verdonnern, Wilde in Heerscharen in sein Land, seine Heimat zu lassen. Er fühlte, er wusste, dass er bereit war, das gemeine Volk gegen solchen Wahnsinn aufzuwecken. „Ja, dieses schläfrige, denkfaule, stumm geblubberte Volk, so nölig und gierig wie ein Kind“, sinnierte der Alte laut. „Aber Kinder lassen sich gerne locken und verführen.“ Oh ja, er würde sie locken und verführen, sie wecken und wütend machen.

Von da an absolvierte er jeden Tag sein einpeitschendes Hirntraining für die rechte Gesinnung zu seinem Vorhaben. „… gedemütigte Verlierer, verlorene Versager, versagende Zweifler, zweifelnde Heuchler, heuchelnde Faulpelze, faulpelzige Nesthocker, nesthockende Absahner, absahnende Neider, neidische Asoziale, asoziale Dumpfbacken …“ Genau die würde er umgarnen. Stück für Stück und mit größter Disziplin entwarf der Alte seinen perfiden Plan.

Mit beelzebübischem Grinsen lauschte der neugierig gewordene Tod den ketzerischen Gedanken des Alten. „So, so.“

Der Alte öffnete seinen Kleiderschrank, griff nach biederem Sakko mit Weste und der lächerlichen Krawatte. Fertig angekleidet betrachtete er sich im Spiegel. „Opa Harmlos legt los“, versprach er seinem Spiegelbild mit wölfischem Grinsen.

Der Tod, bequem auf seine Sense gestützt, musste sich eingestehen, den Alten möglicherweise unterschätzt zu haben. „Das könnte ein lohnendes Abenteuer werden.“

So zog der Alte los in Kneipen, Festzelte und auf Marktplätze. Dort traf er sie in Scharen, die Überdrüssigen und die Planlosen mit ihrem Neid, ihrer Angst, ihrer Gier und ihrem brodelnden Hass auf alles und jeden. Mehr Leidenschaft trugen sie nicht in sich. Diese Leute langweilten sich fast zu Tode zwischen Job, Fernseher und Bierbauchpflege. Selten hoben sie ihren Blick, nur um nach Aufregbarem zu schielen. Das trieb die innere Fäule. Stieg eine Oma umständlich mit ihrem Rollator in den Bus, sprangen sie keinesfalls zu Hilfe. Stattdessen geiferten sie, warum sich die fremde Oma solch einen Rollator leisten konnte, die eigene Oma jedoch nicht. Erblickten sie im Schwimmbad ein tolles Tattoo, greinten sie vor Empörung, selbst kein solches Tattoo zu tragen. Fuhr der Arbeitskollege mit einem neuen Wagen vor, unterstellten sie ihm krumme Geschäfte. Zumindest lästerten sie derb über das Hüftgold ihrer Nachbarin, die von ihren köstlich duftenden Kuchen nie ein Stück anbot. Doch das schönste Spiel war, den Hund beim lästigen Gassigehen nicht anzuleinen, in grimmig-freudiger Erwartung provozierten Ärgers. Tat der Hund seinen Job und schnappte nach Schuhen oder Hosenbeinen ahnungsloser Fußgänger, war deren Empörung natürlich groß. Dann spien sie den Gepeinigten lustvoll ins Gesicht: „Spielen Sie sich hier nicht auf. Sie sind ja auch nicht angeleint. Gehen Sie doch in Behandlung!“ Für einen lustvollen Augenblick fühlten sie sich herrisch, großartig und stark.

Genau für solche Armseligen besaß der Alte ein feines Gespür. Bald füllten sich Säle und Plätze, wenn er angekündigt wurde, um große Reden zu schwingen. In väterlicher Umarmung betonte er unermüdlich, was für wichtige Bürger sie doch seien in einer Zeit, da ihre Heimat vor die Hunde ging.

Genussvoll suhlte sich der Alte im Narrenpfuhl der Gedemütigten aus eigener Überzeugung, der Antriebslosen oder Selbstversessenen, der Gesternträumer und Fleckkleber, Radikalempfänger oder Geschmacksabstinenzler, Fairnesssaboteure oder Seelenkrepierer, die nun an seinen Lippen hingen und nach eigener Bedeutung lechzten. Oh ja, der Alte hatte ihre Eigenarten studiert wie die Maden an einem ranzigen Huhn. Welch ein Potenzial, welch ein Sumpf morbider Gelüste.

Er verkündete mit großen Gesten seine erlangte Weisheit über den wahren Grund all ihres Übels: „Fremde strömen in unser Land. Sie werden hierher kommen und euch alles nehmen, Hopfen, Malz und Korn, all eure Bräuche!“ Da stellten sich die Leute mit Grausen vor, wie Schwarze und Verschleierte ihr geliebtes Schützenfest, ihre Stammkneipe, ihren China-Imbiss stürmen und die Zapfhähne zerstören würden. Sie erschauderten bei ihrem schalen Bier und redeten sich um den letzten Funken an Herz und Verstand. Einer erhob sich schwankend und brüllte: „Das Bier gehört uns!“

Heimlich wurden Bier und Schnaps gehortet in Kellern oder Garagen. Die eingeflüsterte Saat des Alten ging auf.

Der Tod aber staunte über solch genialen Irrsinn, so simpel gestrickt. „Sieh an, du weißt Lunten zu legen, alter Mann. Aber kannst du auch zündeln?“

Als ob der Alte die teuflische Herausforderung vernommen hätte, gründete er eine Partei. Dort scharte er jene um sich, die wortgewandt Zorn wie Hohn im Übermaß versprühten, Fremdenhasser aus Prinzip. Jeder wollte der Lauteste sein, jeder noch eins draufsetzen.

Nun wiederholte der Alte vor den herbei strömenden Massen gebetsmühlenartig seine Prophezeiung: „Die Fremden werden unser Nationalgetränk vernichten! Sie werden unsere stolzen Brauer in Arbeitslosigkeit und Ruin treiben!“ Und stets schloss er mit dem Satz: „Unser Bier gehört uns!“ Die Menge skandierte wie im Rausch: „Unser Bier! Unser Bier! Unser Bier!“

Zuvor durch Neid und Missgunst entzweit, machten die Leute nun gemeinsame Sache. Sie marschierten und skandierten mit lautem Gebrüll durch die Straßen, dass das Land erbebte. Und sie fühlten sich mächtig. Der Alte rieb sich die Hände, sein Heer formierte sich.

Die Fremden kamen wahrhaftig, wie der Alte es prophezeit hatte. Eine Handvoll hier, eine Handvoll dort. Doch den Leuten wurde weder angst noch bange. Nein, geschult durch den weisen Alten umstachelte Hass ihre mickrigen Herzen. Mit Geheul und Gebrüll entlud sich ihre Wut in abgemagerte Gesichter von gestrandeten Verstörten, Gequälten und Erschöpften. Die Fremden gewahrten in den Augen der wilden Meute die gleiche Mordlust, die sie aus ihrer geliebten Heimat hatte flüchten lassen. Und ihr Hoffnungsschimmer auf Frieden erlosch.

Kein Mitleid wollte keimen im Angesicht von ein paar Elenden. Hatten sie, die Einheimischen, nicht selbst Elend genug? Lauwarmes Bier in der Sommerglut und leere Schnäppchenregale im Supermarkt? Mussten sie nicht in Schwerarbeit den Dreck vor der eigenen Tür zu der ihres Nachbarn schieben? War das nicht der Plage genug? Also marschierten sie unermüdlich hin, die Fremden zu begaffen und zu beschimpfen. Schnell erschallten Rufe aus der hasserfüllten Menge: „Die sollen verschwinden!“ Andere schrien: „Das Bier bleibt hier! Das ist unser Land!“ Ihre Kakophonie vereinigte sich schließlich. „Unsere Heimat! Unser Bier!“ Im Rausch des Hasses schritten sie fanatisch mit Benzin und Fackeln zur Tat.

Aber der Alte erhob seine Hände in einer abwehrenden Geste der Unschuld. Sein köstliches Triumphgefühl verbergend bekundete er: „Von Gewalt habe ich niemals gesprochen.“

Solch feige Worte missfielen dem Tod gewaltig. „Narr! Du willst mich um meine reiche Ernte betrügen?“

Nachts kam er den Alten holen.

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