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Harmonia

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Vater Biber, du hast da etwas auf deinem Kopf“, begrüßt ihn Frau Biber mit kritischem Blick, als er triefend aus ihrem kleinen Stausee in die Biberburg klettert. Der rosafarbene Plastikfetzen klebt wie eine lächerliche Haube auf des Bibers dunkelhaarigem Haupt. Mit seinen scharfen schwarzen Krallen langt er zu. „Dreck nochmal! Kein Bad, keine Arbeit vergeht mehr ohne diese widerwärtige Menschennahrung dazwischen. Sollen sie an ihren Speisen verrecken.“ Herr Biber redet sich in Rage, wie es nun beinahe täglich geschieht. „Ich wandere aus, mir langt es.“ Manches Mal träumt er davon, gelegentlich schwadroniert Herr Biber auch im Familienkreis darüber, ein fernes, wildes Land zu erobern. Frei von Menschen und deren gefährlichen, allgegenwärtigen Nahrungsresten. „Nicht schon wieder“, murmelt seine Frau in ihren dichten Pelz. Des Gatten erfundene Geschichten über sein glückseliges Land Harmonia verursachen ihr mittlerweile Albträume. Sie leckt weiter an dem tiefen Schnitt unter ihrer Pfote. Energisch verlangt Mutter Biber: „Vergrabe schleunigst die menschlichen Hinterlassenschaften am Ufersaum, bevor sich unsere Jungen ernsthaft verletzen. Ich habe mir auf dem Weg zum Frühstücksbaum bereits eine aufgeschlitzte Pfote geholt.“ „Ja, ja. Eins buddle ich weg, zwei liegen neu. Und das tagein, tagaus.“

Missmutig schwimmt Vater Biber dem Ufer an der Waldwiese entgegen, wo Glasscherben, Kronkorken, Aluschalen, Kaugummis, Taschentücher, Plastikreste und Zigarettenkippen liegen. Im Wasser dümpeln Flaschen, Getränkedosen und noch mehr Plastik. Den halben Morgen hat Herr Biber damit verbracht, genau solch verstopfendes Zeug aus seinem Damm zu zerren, damit wieder mehr Wasser des Baches hindurch strömen kann.

„Oh nein, solch ein Elend“, stöhnt Vater Biber, als er den toten Herrn Bisam zwischen all dem Schlamassel am Ufer entdeckt. „Oh, mein armer Freund.“ Herrn Bisam hängt die Zunge heraus, seine toten Augen voller Panik, um seinen malträtierten Hals rostiger Stacheldraht gewickelt. Überall Blut. „Oh – oh, unser Untergang naht.“ Da packt Vater Biber eine Wut, dass er sich wild herum wirft und wie besessen zu seiner Burg schwimmt.

„Frau! Söhne!“, befiehlt Herr Biber seine Familie herbei. „Wir brechen auf. Jetzt!“ Verzweifelt, da sie glaubt, er habe tatsächlich den Verstand verloren, keucht Frau Biber: „Aber, wo willst du denn hin?“ „Den Bachlauf hinauf, nach Harmonia suchen“, verkündet Vater Biber mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldet. „Freund Bisam wurde ermordet.“

Köteralarm! Köteralarm!“ Vater Schwan spreizt erbost seine imposanten weißen Schwingen und zischt den Hund wütend an, der es gewagt hat, mit einem Satz in den Schwanensee zu springen. Mutter Schwan paddelt eilig mit ihrer Kükenschar davon. „Tag für Tag der gleiche Stress“, schimpft sie, „wir sollten auch auswandern.“ Während Herr Schwan erfolglos versucht, den Hund zu verscheuchen, nörgelt Frau Schwan lauthals weiter. „Nirgends sind wir mehr sicher. Keinen Schritt kann man mehr in Ruhe auf unserer saftigen Waldwiese machen. Sollen unsere Küken verhungern?“

Zwei weitere Hunde platschen in den See. Herr Schwan gibt es dran und flüchtet zu seiner Familie bis in die Mitte des Sees.

„So beruhige dich, Frau. Dein Gezische ist unerträglich“, nörgelt Vater Schwan. „Warum sollte ich? Alle Vernünftigen sind bereits fortgewandert aus dieser Hölle. Nach Harmonia!“, plustert sie sich auf. „Du übertreibst.“ „Ach ja? Wo sind denn Entens, Haubentauchers, Eichhörnchens, Hasens und wer noch alles abgeblieben?“ Schwerfällig watschelt Frau Schwan auf ihre winzige Insel im See, gefolgt von ihren sechs Küken. „Mama, mir ist schlecht.“ Mit sehnsüchtigem Blick schaut Frau Schwan zu ihrer geliebten Wiese hinüber, die gerade von Menschen zertrampelt, mit noch mehr Müll und Hundekot übersät wird. „Mama, mir ist so schlecht.“ Das Küken beginnt zu würgen, würgt und würgt, bis ein weißes Plastikknäuel vor den gelben Füßen von Mutter Schwan landet. „Küken! Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihre keine Menschennahrung essen dürft?“ Das Küken würgt weiter. „Da hast du es. Unsere Kinder werden krank und ich kann nicht mal mehr die kräuterkundige Frau Hase um Rat fragen. Falls überhaupt noch Kräuter auf der geschundenen Wiese gedeihen.“ Das Küken röchelt, torkelt und fällt tot um. Da erschallen trompetenlaute Klagerufe über den See. „Tod! Tod und Verderben!“ Frau Schwan erhebt sich mit schweren Flügelschlägen. „Mein Küken ist tot!“ In größter Verzweiflung fliegt sie immer höher hinauf, beginnt den See zu umkreisen. „Menschenmörder! Menschenmörder!“ Begeistert zeigen die Menschen zu dem großen, trompetenden Vogel hinauf, dessen weißes Gefieder so prächtig im Sonnenlicht leuchtet.

Guten Morgen, Frau Nachbarin“, grüßt Herr Schwan die Maulwürfin, als sie eben ihren Kopf aus dem frisch aufgeworfenen Hügel auf der taufeuchten Wiese steckt. Mit heftig zuckender, schnuppernder Nase kommt: „Sind Sie es, Herr Schwan?“ „Ja, ja. Darf ich Sie um Rat bitten?“ „Es ist mir eine Ehre. Worum geht es?“ „Harmonia.“ „Nicht schon wieder“, stöhnt Frau Maulwurf. „Meine Frau hat es sich in den Kopf gesetzt auszuwandern.“ Mutter Maulwurf bläht ihre Backen und versetzt: „Ihre Küken können nicht fliegen, meine Jungen nicht buddeln, so einfach ist das. Wir bleiben, habe ich Vater Maulwurf gesagt.“ „Überaus weise. Sagen Sie, ist Ihnen mehr zu Ohren gekommen als dieses ,Harmonia ist der Baumwipfel aller Harmonien‘?“ „Alles Grunz, wenn Sie mich fragen.“ „Guten Morgen!“, piepst ein herbei trippelnder Igel. „Vernahm ich gerade Harmonia?“ Entrüstet gibt Mutter Maulwurf zurück: „Opa Igel, du willst doch wohl nicht? In deinem Alter.“ Der Igel kichert. „Nein, nein, solche Torheiten überlasse ich den Jungflüggen.“ „Aber wissen Sie mehr darüber?“, begehrt Herr Schwan zu erfahren. „Nun“, sagt der Igel gedehnt, „im Gebüsch wispern so manche Gerüchte.“ Bedächtig legt er eine Pause ein. „Was, was, was, waaaas?“, ruft Frau Maulwurf atemlos. Und Vater Schwan wirft ein: „Nie kehrte jemand von dort zurück.“ Dennoch neigt er seinen Kopf neugierig tiefer. „Wer der Morgensonne folgend den Bach entlang wandert“, hebt Opa Igel an, „der soll auf einen herrlichen, unendlich großen See stoßen, umgeben von üppigen Wiesen und uraltem Wald, wo kein Mensch mit und ohne Köter je gesehen wurde.“ Prompt zischt Herr Schwan: „Das ist doch ein Märchen.“ Davon unbeeindruckt fährt der Igel fort: „Dort soll ein mächtiger Biberkönig herrschen.“ „Unsinn!“, schnaubt Frau Maulwurf. Plötzlich saust Mutter Schwan im Tiefflug über die Drei auf der Wiese hinweg. „Das Wasser steigt! Das Wasser steigt! Wir versinken!“ „Also haben mich meine alten Augen keineswegs betrogen.“ Opa Igel deutet auf eine Königskerze, deren untere Blätter im Wasser stehen. „Ach was, das passiert manches Mal, wenn der Bach etwas anschwillt“, winkt Mutter Maulwurf ab. Doch Herr Schwan wirft ein: „Ohne Regen? Bevor Herr Biber im Frühjahr verschwand, hatte er oft betont, wieviel Arbeit es sei, den Damm zu reinigen. Der Bach müsse unbedingt fließen.“ „Ach, der alte Wichtigtuer“, grummelt sie nur. Nun verabschiedet sich Herr Schwan hastig, um seine Frau zu beruhigen.

Am folgenden Tag paddelt Vater Schwan, tief in sorgenvolle Gedanken versunken, dem alten Biberdamm entgegen. Wieder ist ein Küken qualvoll erstickt. Den toten Frosch, dessen ganzer Körper in merkwürdige Fäden verstrickt am hinteren Waldufer lag, hat er seiner gepeinigten Frau Schwan verschwiegen.

Erst kurz vor dem Damm entdeckt Herr Schwan die seltsame Versammlung am rechten Ufer. Frösche, Mäuse, Nattern, Eidechsen und sogar mehrere Fische, die ihre Köpfe aus dem Wasser stecken, scheinen voller Aufregung. „Ich sage euch, der See wird überlaufen.“ „Und ich sage, der Damm wird brechen.“ Herr Schwan paddelt nahe heran und fragt: „Darf ich den erlauchten Kreis um Auskunft bitten, worum genau es hier geht?“ „Sie dürfen“, quakt der dickste Frosch. „Herr Biber hielt seinen Damm stets sauber von Menschennahrung. Doch die Biberburg steht seit Langem leer. Sie sehen es ja selbst, Herr Schwan, inzwischen ist der gesamte Damm verstopft.“ Von der Seeseite aus könnte man glauben, der Damm sei aus Müll erbaut worden, so bunt verfangen reichen die menschlichen Hinterlassenschaften bis zur Dammkrone hinauf. Ein dicker schwimmender Müllteppich staut sich davor an. „Nur Rinnsale dringen noch hindurch, der Bach dahinter fällt trocken“, klagt eine Eidechse. Und Frau Mäuserich piept ängstlich: „Wenn der See weiter steigt, sind unsere Nester in Gefahr!“ „Wenn der Damm bricht, stirbt unsere Brut“, jammern die Fische. „Und kein neuer Dammbauer weit und breit.“ Ein zweiter Frosch überlegt laut: „Meine Cousine ist nach Harmonia unterwegs. Vielleicht war sie doch klüger.“ Die Nattern nicken. „Auch unsere Brüder schlängelten sich des Weges.“ Nun reden alle durcheinander, ob angesichts der drohenden Katastrophe ein baldiger Aufbruch angeraten sei. Panische Rufe werden laut. „Aber was wird aus unseren Jungen?“ „Was wird aus unserer Brut?“ Herr Schwan paddelt davon. Sein Entschluss steht fest. Am nächsten Morgen wird er einen Erkundungsflug starten.

In der Nacht zieht ein gewaltiges Unwetter auf. Schwere Sturmböen knicken Äste ab und wirbeln Plastiktüten durch die Luft. Sintflutartige Regengüsse prasseln herab. Der Bach schwillt schnell an, seine reißenden Fluten nehmen alles mit, was lose an den Böschungen hängt. Tosend drückt das Wasser mitsamt Ästen, Schlamm und Müll gegen den alten Biberdamm. Höher und höher steigt der Schwanensee. Die Fluten dringen auf der Wiese in Maulwurfgänge und Wespenbau ein. Auch die Schwaneninsel wird überschwemmt. Am Waldsaum erreicht das Wasser ein erstes Igelnest, nacheinander versinken Krötenheim und Ameisenhügel in den Fluten.

Knackend und krachend zerbirst der Damm. Wer noch lebt, wird hilflos von den tosenden Wassermassen aus dem See heraus- und mitgerissen. Die verlassene Biberburg, letztes Zeugnis meisterlicher Baukunst, hinfort gespült.

Als der Morgen dämmert, existiert kein Schwanensee mehr. Aus dem schlammigen Grund ragen ein rostiges Mofa, Fahrradteile und ein paar Autoreifen zwischen Bauschutt, Eimern und anderem Unrat hervor. In die unheimliche Windstille hinein erschallen vereinzelte Klagerufe nach Kindern, Vater, Mutter, Verwandten oder Nachbarn, ohne Hoffnung auf Lebenszeichen. Von Grauen und Verzweiflung gezeichnet, schleppen sich wenige Überlebende, als würden sie einem Ruf folgen, zu der mit Matsch überzogenen Wiese. Ohne ein einziges Küken kommen Mutter und Vater Schwan, ohne Brut schleichen zwei Nattern und drei Frösche heran, ohne Familien treffen ein blutjunger Igel, Vater Maulwurf, Mutter Wiesel und noch einige andere Überlebende ein.

Als sich die Sonne erhebt, setzt sich die kleine Schicksalsgemeinschaft in stummer Übereinkunft in Bewegung.

Nach vier Tagen der Wanderung voller Gefahren und Entbehrungen trifft die Notgemeinschaft auf einen grob gezimmerten Lattenzaun, der Land und Bach überspannt. Die kleineren Tiere schlüpfen unterdurch, Schwans fliegen darüber hinweg. Als sie einige Zeit ihren Weg am Bach entlang fortgesetzt haben, fragt Herr Maulwurf staunend: „Fällt euch gar nichts auf?“ Seine Begleiter blicken sich müde um. Doch dann erscheint ein Leuchten in ihren verblüfften Gesichtern. Und Herr Schwan trompetet: „Keine Menschennahrung weit und breit!“ „Unglaublich!“, rufen alle durcheinander. „Einfach unglaublich!“ Voller Zuversicht strebt die Gemeinschaft nun voran.

Einige Stunden später erreichen die Flüchtlinge tatsächlich einen kolossalen Biberdamm. Doch zwei Biberwachen stellen sich den Ankömmlingen bedrohlich in den Weg. Der eine entblößt seine furchteinflößenden Schneidezähne. Der zweite Biber feindet sie an: „Kehrt um! Wir nehmen euch nicht auf. Hier herrscht Hunger! Zu viele kamen vor euch und erbaten Schutz in Harmonia.“

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