Читать книгу Elbenfluch - Daniela Zörner - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеSelten dämlich, so würde ich wahrheitsgemäß das engstirnige Stück aus heutiger Sicht bezeichnen, das ich mir in den ersten drei Monaten nach dem vergeigten Duell mit dem schauderhaften Dämonfürsten leistete. Als wäre rein gar nichts geschehen, frönte ich in meinem Berliner Gartenhaus dem Müßiggang. Mein Gehirn zog sich selbst den Stecker heraus. Sogar Joerdis gebieterische Seele stellte ihr überspanntes Jagdgelechze ein. Die wachenden Sternelben wagten keinerlei Einmischung. Inzwischen kannten sie meine sehr spezielle Art, in Nullkommanichts sämtliche Schicksalsfäden zu verheddern, gut genug. Oder aber ihr Chor sang sich in der Zwischenzeit heimlich einen frischen Plan für mich zusammen.
Drei lange Monate gab ich dem Dämonfürsten in seinem alt-neuen Londoner Domizil den komfortablen Vorsprung, sich flambiert einzurichten, seine Wunden zu ätzen und seelenlose Pläne auszukochen. Und genau das tat er. Der Fürst wollte Rache, Folter und Tod im Allgemeinen, ich dagegen bescheiden bloß seinen Tod – na ja, wie gesagt, eher später mal.
Viel lieber schnupperte ich an Blumen, streichelte den Konzertflügel oder quatschte mit Freunden genüsslich über die Unwichtigkeiten des prallen Lebens. Kurzum, ich menschelte im Übermaß. Bis eines schwülträgen Sommerabends auf der Terrasse meiner Nachbarn folgender Geistesblitz eine grauzellige Kettenreaktion auslöste: „Schwafeln ist die Antimaterie des gepflegten Wortes.“ Ruhig zweimal lesen. Ich verrate es höchst ungern, aber Jay war in diesem Moment damit beschäftigt, so ausschweifend wie einschläfernd diverse Outlets für Designerklamotten zu vergleichen.
„Ich könnte sterben für einen Seidenmantel von Bugatti“, schwärmte er, wobei seine langen Wimpern verzückt himmelwärts klimperten.
Schorsch verdrehte seine Augen in Schielposition und versetzte staubtrocken: „Mottenfutter.“
„Wie gemein du bist. Und überhaupt, was verstehst du schon davon?“ Jay zog eine Schnute, dann giftete er zurück: „Wenn du bloß mal ein paar simple Einkäufe erledigen sollst, kommt hinterher garantiert: hatten sie nicht oder hab ich nicht gefunden.“
„Jetzt macht der auf kleinlich“, brummte Schorsch.
„Kleinlich, so? Erst vorgestern ist mir der schöne Pfeffer-Potthast angebrannt, nur weil du keine Kapern mitgebracht hattest.“
In dem Stil zankten meine Freunde weiter wie ein altes Ehepaar. Am flüchtigen Rande sahen sie mich über die Wiese fortgehen.
Ziellos begann ich, in der Abenddämmerung eine mückenumschwirrte Runde nach der anderen um mein Gartenhaus zu schlendern.
Mein Gehirn meldete sich also zurück und ich dachte erstens schuldbewusst: „Was tue ich hier eigentlich?“ Zweitens korrigierte mein Alter Ego in Lichtgeschwindigkeit: „‚Nicht‘ wäre das angesagte Satzende.“ „Wie jetzt?“ „Kabelbruch im Empfangsmodus?“
Die Sternelben, höchst besorgt, ich könnte es mir anders überlegen, grätschten in unsere Nonsensfaselei. Sie beförderten eine kurze, knackige Arbeitsliste in meinen Dickschädel. Logisch, ein Leben im Energiesparmodus führt hintendrein zu einer Flut mahnender Updates, sobald die Onlineverbindung aktiviert wird.
Ernsthaft betrachtet, tauchte die geschilderte Kettenreaktion ja keineswegs aus der Unendlichkeit des Weltalls auf. Vielmehr versuchten parallel ablaufende Begebenheiten mühsam, endlich aus meinem kribbelnden Hinterkopf zu mir vorzudringen. Beispielsweise verschwand meine Mitbewohnerin, die Elbe Elin, seit mindestens zehn Tagen wieder regelmäßig Nacht für Nacht. Das konnte nur bedeuten, sie ging in der Stadt erneut Dämonen jagen. Und das, obwohl die Berliner Monsterhorde auf Befehl ihres Fürsten angeblich tatenlos in der Spandauer Zitadelle schmorte. Das war zumindest mein angestaubter Wissensstand. Zudem kam mein Freund Alexis, der sich unter der Woche um seine schottischen Ländereien kümmerte, von Samstag zu Samstag mürrischer und bedrückter in Berlin an. Eigentlich hätte ich mit wachsender Sorge registrieren müssen, wie sein Zuhause, das mittelalterliche Lightninghouse Castle, den düsteren Einfluss auf ihn verstärkte. „Jetzt komm mal auf die Zielgerade!“, pampte mein Alter Ego. „Okay, London.“ Von den Sternelben wusste ich, welch magische Anziehungskraft der vorherrschende Geist einer Stadt auf den Dämonfürsten ausübte. London war nach der letzten verheerenden Schlacht zwischen Elben und Dämonen seine erste Wahl gewesen. Schon merkwürdig, als Touristin mochte ich die britische Hauptstadt mit ihren freundlich-verschrobenen Einwohnern besonders gern.
Doch die Geschichte weiß anderes zu berichten. Wie ein schwarzer Faden reihen sich die gruseligen Erlebnisse und Berichte großer Schriftsteller über die britische Metropole seit Jahrhunderten aneinander. So hielt der berühmte Lord Byron in seinen Aufzeichnungen fest: „London ist des Teufels Gesellschaftszimmer.“ Noch 200 Jahre nach ihm schrieb Peter Ackroyd: „Die Stadt ist vom Dunkel besessen.“ Echt prickelnd, nicht wahr? Bliebe zu erwähnen, quasi als meine persönliche Arbeitsermunterung, dass London häufig als „Tempel der Feueranbeter“ bezeichnet wurde.
In der Tat mögen die menschlichen Unterweltfans ein gewichtiger Grund für die Rückkehr des schwarzmagischen Gruftherrschers gewesen sein. Seine Anhänger, seit unzähligen Jahrhunderten in Zirkeln und Logen organisiert, riefen ihn, lockten ihn mit Blutopfern, Folter und reiner Bösartigkeit. Tja, da konnte das heutzutage kreuzbrave Berlin wirklich einpacken.
Das Grauen war verblasst, die Albträume versiegt und selbst der Dämonfürst schwieg gegenüber Joerdis. Doch nach all der tiefschürfenden Grübelei wälzte ich mich in dieser Nacht schlaflos im Bett herum. Leider erinnerte ich mich ungewollt an das Aussehen meines diabolischen Gegners, als wir einander auf der Spandauer Zitadelle begegnet waren. Im Gegensatz zu den lichtweißen Elben erschien seine Gestalt so tiefschwarz, dass sie seine nächtliche Umgebung verschattete. Übrigens zierten ihn weder Hörner, Schwanz noch Bocksfüße, wie es insbesondere Kirchen und Künstler beharrlich zur plastischen Abschreckung darstellten oder beschrieben. Das hatte der oberste Gruftboss schlicht nicht nötig. Nur eine, wenngleich unübersehbare Kleinigkeit brandmarkte ihn als Monstrum: seine Augen in der Farbe frischen Blutes. Trotz seiner erwiesenen Feigheit machten ihn List, Tücke und Boshaftigkeit, doch vor allem seine Seelengier zu einer entsetzlichen Gefahr für Menschen wie Elben. „Und für mich“, dachte ich beiläufig. An diesem Knackpunkt angelangt, war meine ausufernde Grübelei endgültig zum Schlafkiller mutiert. Gähnend stieg ich aus meinem Bett, trat ans Fenster und suchte den Horizont nach einem ersten blassen Morgenschimmer ab. Aber der Dämonfürst nistete sich hartnäckig in meinen Gedanken ein.
„Sagt mal“, wandte ich mich daher an die dauerwachenden Lichtwesen, „hat der Dämonfürst einen Namen?“
„Viele, Lilia. Du selbst kennst ihn als Teufel oder Satan. Im Hebräischen heißt er Azazel, auf Arabisch Schaitan und die Briten gaben ihm den Spitznamen Old Nick.“
„Stopp! So habe ich das nicht gemeint“, rief ich unwirsch, weil sie einmal mehr mit voller Absicht das Thema verfehlten. Offensichtlich war ich sogar beim Fragenpräzisionsspiel aus der Übung geraten. Also von vorne: „Die Elbenfürstin heißt Joerdis. Wie heißt er dann?“
„Du weißt, wir rufen die Fürstin niemals bei ihrem Namen – gleiches gilt verschärft für seinen Namen“, tadelten sie mich.
„Wieso?“, schmetterte ich in die Sphäre.
Daraufhin geriet mein Schicksalsfaden in ziemlich ungünstige Schwingungen.
Da die erhoffte Antwort eher länger auf sich warten lassen würde, trollte ich mich hinunter in den Garten.
Während des ersten Trainings seit Langem wollte ich nebenbei die heimkehrende Elin in der Morgendämmerung abpassen. Erschlaffte Muskeln und eingerostetes Reaktionsvermögen straften meine Faulheit ab. So musste ich das Training ernsthaft mit banalen Grundübungen wie beispielsweise Lichtbälle jonglieren beginnen. Bald strömte der Schweiß und meine tödlichen Lichtwaffen parierten geringfügig besser als für die peinliche Note „mangelhaft“.
„Was hast du heute vor?“, wollte Elin, überrascht von meinem freiwillig wieder aufgenommenen Aktivprogramm, mit unverhohlenem Stirnrunzeln wissen, kaum dass sie sich auf der Wiese eingestellt hatte.
„Ein langes Gespräch mit den Sternelben über London führen.“
Sie horchte auf. „London? Die Jagd beginnt? Du willst in den Höllenpfuhl?“ Wahrscheinlich bekam ihr Denkorgan in Lichtgeschwindigkeit drei fette Würgeknoten verpasst, um die Bemerkung „Untrainiert?!“ zu verhindern.
„Warst du je in London, Elin?“
Sie schüttelte den Kopf. „Scharen von uns kamen in den frühen Jahrhunderten dort um. Das Böse ist allgegenwärtig, durch Dämonen genauso wie durch Menschen.“ Der Elbe entströmte unbestimmte Furcht, bevor sie sich rasch verhüllte.
Ich feuerte einen letzten Lichtpfeil durch das brennende Loch, wo ehedem ein schwarzes Teufelchen mit knallroten Hörnern die Mitte meiner Zielscheibe markierte. „Da wir gerade beim Thema sind: Du kannst gleich mal verraten, was du neuerdings nachts treibst.“
„Das Übliche“, wich sie geschickt aus, um mich anzustacheln.
„Wo denn, bitteschön, wenn sämtliche Dämonen unter Kellerarrest stehen?“, hakte ich prompt nach.
„Gerade komme ich vom Südhafen, davor habe ich den Rummelsburger Güterbahnhof kontrolliert. Außerdem war ich auf dem Lkw-Parkplatz am alten Grenzübergang Dreilinden. Letztlich existieren viel zu viele Wege in die Stadt.“
„Noch mehr Bestien strömen in die Stadt?“, rief ich angewidert. „Aber was soll denn dieser Schwachsinn?“
Wenn seit Monaten ungefähr 400 Dämonen eingepfercht in der Spandauer Zitadelle vergammelten, ergab es keinen erkennbaren Sinn, noch mehr von ihnen anzuheuern. Angefeuert durch ein echt mieses Bauchgefühl, begannen meine inneren Warnglocken, sich für den berüchtigten roten Bereich warm zu schrillen.
„Möglicherweise ganz normaler Nachschub“, meinte Elin zweifelnd.
Die fehlende Logik in ihrer Äußerung überspringend, fragte ich: „Benötigst du Hilfe?“
„Nein, nein, bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass der dunkle Fürst seine Sklavenarmee in Berlin zusammenzieht.“
Ich stutzte. „Die Sternelben rechnen damit?“
Die Elbe schwieg betreten, als hätte sie sich verplappert.
Natürlich fiel ich darauf herein. „Früher oder später wäre ich ohnehin darauf gestoßen, also schimpft Elin nicht aus“, verlangte ich von den mithörenden Allgegenwärtigen. „Da ihr mir höchst offensichtlich zu wenig mitteilt, wäre jetzt die passende Gelegenheit für ein Infopaket.“
Die Lichtflotte seufzte und hüllte sich ebenfalls in Schweigen.
„Soll ich erst mit Fakten beglückt werden, wenn es in Berlin wieder brennt?“, reizte ich sie versuchsweise. Seit ich wusste, dass Prophezeiungen ungefähr die Trefferquote eines Jackpots erzielten, war mein Interesse daran rapide abgekühlt.
„Deine Prophezeiungen, Lilia, und daran trägst du ein gerütteltes Maß an Verantwortung“, mokierten sie sich.
„Macht mich ruhig zu eurer Sündenzicke. Dann könnt ihr euch allerdings auf der Stelle von all den besonders heiklen Wünschen an mich verabschieden“, versetzte ich schnippisch und schmiss sie aus meinem Kopf.
„Erweise ihnen bitte etwas mehr Respekt“, hob Elin an.
Doch ich winkte zornig ab. Respekt musste verdient werden, zuvorderst mit eigenem Vorbild. „Du bist ihnen gegenüber zu nachgiebig, Elin. Oder hast du etwa Lust, bei ihrer offenkundig wieder aufflammenden Geheimniskrämerei mitzuspielen?“
Die Elbe schaute zur Morgensonne hinauf und seufzte nun ihrerseits: „Ich hatte gehofft, ihr würdet euch versöhnen.“
Zähneknirschend erwiderte ich: „Vergiss es! Frühestens dann, wenn sie den Unterschied zwischen Partnerin und Dienerin begreifen.“
Aus dem Buch „Inghean“
Endlich! Das Menschenkind wagt einen neuen Schritt auf seinem Schicksalspfad. Unbekannte Gefahren brauen sich zusammen.
Sobald mein üppiges Frühstück verzehrt war, sprang ich entschlossen per elbischem Seelenlift in die kleine Kirche Santa Christiana.
Hier befand sich der einzige Ort in unserer Millionenstadt, an dem der uralte Glaube an das Gute für eine machtvolle Verbindung zu den Sternelben genügte. Gewohnheitsmäßig wollte ich meinen Körper mit Lichtenergie auffüllen und nebenbei ein festnagelndes Gespräch mit den Chorschwestern führen. „Ob in London ebenfalls solch ein Ort reinen Lichts existiert? Sicher werde ich auch das gleich erfahren.“
Kaum saß ich auf meinem Stammplatz, dem dicken Kissen neben dem Altar, erschien ihr weißer Lichtkegel. Umstandslos fielen die Sternelben über mich her, indem sie an unser frühmorgendliches Thema anknüpften.
Sie erteilten mir eine unmissverständliche Warnung. „Suche niemals nach dem einen Namen des Dämonfürsten! Frage ihn niemals danach!“ Ihr dramatisch anschwellender Gesang drückte weit mehr aus als nur Gefahr. Die würde ich im Zweifelsfall ignorieren, wie sie leidgeprüft wussten. Daher garnierten die Lichtelben ihre Warnung mit einem flüchtigen, dennoch Herzschlag aussetzenden Seelenblick auf das Urböse: unendlich sich ausdehnende Materie, ruhelos und teerig, irgendwo in den geheimen Tiefen des Weltalls pulsierend.
Die unvorstellbare Strahlkraft purer Bösartigkeit ließ mich unbewusst nach Luft schnappen. Joerdis Seele schrie auf. Gegen diese Licht verschlingende Allmacht schien mir der irdische Dämonfürst wenig mehr als ein Beelzebub zu sein.
Ein kurzer sphärischer Verbindungsleerlauf entstand, der mein Denkorgan effektiv zu der berechtigten Frage inspirierte: „Das da wird also ungemütlich, wenn ich den wahren Namen des schwarzen Fürsten erfahre. Woher wollt ihr wissen, dass es – was immer es genau sein mag – nicht extrem sauer wird, wenn ich den Namensträger in eurem Auftrag vernichte?“
Und mit dieser Gretchenfrage konnte ich unsere Unterhaltung über London erst einmal abhaken.
Ihr kakophonisches Brausen hielt tatsächlich fünf Tage an. Durchaus vorstellbar, dass daraus ohne meinen Wink mit der Realität fünf Jahre geworden wären. So tickten die Lichtwesen eben. Ach ja, eine Antwort blieben sie schuldig, das sollte ich an dieser Stelle schon mal erwähnen. „Wer will schon ein ödes Leben ohne mörderische Risiken?“, ergänzte mein Alter Ego bissig.
Den Tagesrest nutzte ich spontan für einen Abstecher in die schottischen Highlands.
Mein Lieblingsstrand unterhalb der Klippen wurde bei der Landung gut zur Hälfte von der herein rollenden Flut vereinnahmt. Zudem trieben Windböen einen waagerechten Regenvorhang an Land, der für meine minutenschnelle Ganzkörperdurchnässung sorgte.
Verdrossen trollte ich mich nach Lightninghouse Castle, um eben dort mit den schottischen Sternschwestern zu sprechen.
Ohne große Erwartungen nahm ich in der Hauskapelle meinen Platz auf dem Stuhl vor einem der schmalen hohen Fenster ein.
Überraschenderweise erhielt ich hier eine nette Begrüßung. „Lilia, wie schön dich zu sehen.“
Das wollte ich gerne glauben, außer Alexis gab es weit und breit keine irdischen Kontakte für sie. „Oder? Ich würde gerne ein paar Fragen an euch loswerden.“
„Bitte, nur zu.“
„Habt ihr außer Alexis und mir weitere Kontakte zu Mischwesen oder Elben?“
„So ist es.“
„Ach?! Sieh an.“
„In London lebt ein Nachfahr der Lords of Lightninghouse mit dem Namen Fingal MacEideard.“
„Die verschollene Linie?“, warf ich dazwischen.
„Gut gemerkt, Lilia.“
„Ihm zur Seite steht sein alter Freund Lyall Alastair. Er entstammt ebenfalls einer Mischlinie. Die beiden erwarten dich.“
Verblüfft fragte ich: „Heißt das, ihr seid nicht nur für Schottland, sondern ebenso für England zuständig?“
Der Mädelchor tirilierte. Es klang zarter, als wenn sanfter Wind die filigranen Plättchen eines Glasspiels berührte.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass keinerlei Kontakt zwischen den Londonern und Alexis besteht?“
„Bislang wurde beiden Seiten jegliches Wissen vorenthalten, dass noch weitere Angehörige am Leben sind. Doch den Grund dafür werden wir dir verschweigen.“
„Reichlich brutal! Und ich bekomme nun eure Erlaubnis, die fiese Heimlichtuerei zu beenden?“
„Ja, Lilia.“
„Gut, aber London muss noch ein Weilchen warten.“ Denn vorrangig wollte ich die Lichtwesen zu Lightninghouse Castle befragen. „Irgendetwas ist faul an diesem Gemäuer.“
„Was meinst du damit?“
Also erzählte ich von meinen Beobachtungen an Alexis. Wie sein Wesen sich stetig wandelte, je nachdem, ob er sich hier oder in Berlin aufhielt. „Mir geht es übrigens ähnlich“, fuhr ich fort, „spätestens nach einem Tag bedrückt mich das Castle. Zurück im Gartenhaus, fühle ich mich sofort wie von einer schweren Last befreit. Elin meinte vor einiger Zeit, möglicherweise hänge das Ganze mit Alexis abtrünnigem Vorfahr zusammen.“
Die Gesangsriege versprach, darüber nachzudenken. Wie ging noch gleich die alte Telefonansage: bitte warten, bitte warten, bitte warten…
Auf dem Fußweg hinauf in Alexis Büro erinnerte sich mein Gedächtnis: „Die Lichtwesen können nicht unter die Erde schauen. Och nee, etwa wieder im Keller zwischen Kerkern und anderen kuscheligen Ecken herumwühlen?“ „Oh doch, genau das wird dein persönlicher Fahndungsbeitrag“, verkündete mein Alter Ego schadenfroh. „Brrrh!“
„Hey Süßer! Findest du etwa, dein quatschnasses Land braucht noch mehr Regen?“ Weitere muntere Sprüche blieben mir angesichts der in seinem Büro wabernden fetten Wolke, bestehend aus schwermütigen Ausdünstungen seiner Emotionen, im Hals stecken. Ich schüttelte mich und begann reflexhaft zu leuchten.
„Habe zu arbeiten“, brummte Alexis misslaunig und tippte weiter stupide Zahlenkolonnen. Wuchernde Bartstoppeln und zerknitterte Kleidung verpassten ihm ein angewildertes Aussehen. Seit wann hockte er dort schon?
„Aber sicher, Mylord, auch ich freue mich wahnsinnig, dich zu sehen!“
Es dauerte geschlagene 15 Sekunden, bis dieser Satz seinen Gedankensirup durchdrang. „Entschuldige, ich brauche noch fünf Minuten.“
Sechs Minuten, sieben Minuten und mir langte es. Mit energischer Magie fabrizierte ich eine fehlerfreie Datenkolonne in seinen PC. „Komm mit.“
Er blickte auf, sah mich apathisch an und gleichzeitig durch mich hindurch.
Die ganze Situation hier vor Ort entpuppte sich als absolut haarsträubend. Warum hatte ich das mysteriöse Rätsel um den Zustand von Alexis dermaßen schleifen lassen? „Genau mein Reden!“, trompetete mein Alter Ego. „Und was ist mit der sternelbischen Verantwortung?“, fauchte ich zurück. „Warum haben die Alexis im Stich gelassen?“
„Wir müssen schnellstens hier raus“, drängte ich jetzt Alexis. Entschlossen ergriff ich seine Hand, zog ihn von seinem Stuhl hoch und schleifte Mylord über den Korridor, das Treppenhaus hinab, durch die Eingangshalle bis vor die Tür. „Wie eine Marionette“, dachte ich entsetzt. „Woher, zum Henker, stammt das bloß?“
„Wir finden keine Antwort“, vermeldeten die Lichtwesen nach ihrer ersten Fahndungsrunde in historischen Erinnerungen.
„Sucht weiter! Seht ihn euch an! Wie konntet ihr Alexis so hängen lassen?“
Kein noch so winziger Versuch einer Rechtfertigung folgte.
Derweil schleppte ich Mylord durch den strömenden Regen zum Stallhaus. Durchgeweicht schlüpften wir hinein. Wenigstens zeigte sich dank meines Eingreifens am Horizont das ausgefranste Ende der Regenfront.
Feuchtwarmer Geruch nach Pferdeleibern und Stroh schlug uns entgegen.
Der feurige Hengst Esper ließ sein donnerndes Wiehern vernehmen. „Elbenkind, endlich hat die Langeweile ein Ende!“
„Werdet ihr nicht gut versorgt, mein Freund?“
„Ohne dich werden die Menschen trübsinnig, das wirkt ansteckend. Außerdem dürfen wir wegen des Dauerregens kaum hinaus.“
„Na dann, die komplette Mannschaft auf zum Ausflug!“, rief ich fröhlich in die Stallrunde.
Wiehern, Schnaufen und Hufescharren untermalten ihre Ungeduld, an die frische Luft zu gelangen. Währenddessen stand Alexis teilnahmslos neben dem Tor und stierte vor sich hin. Meine ursprüngliche Idee eines Ausritts wich der Überzeugung, allein ein strammer Fußmarsch würde ihn zur Besinnung bringen.
Die Pferde preschten über den Wiesenweg vor. Wir stapften hintendrein durch den Matsch, der bis in unsere Kniekehlen hochspritzte.
Alexis kalte Hand lag schlaff in meiner Linken. Erst jetzt nahm ich dies bewusst wahr. „Unsere halbelbischen Körper sind niemals kalt!“ Joerdis Seele regte sich. Automatisch brachte ich meine Gedanken zum Schweigen. Ein sanfter Energiefluss setzte sich in Bewegung und erreichte seine Hand. Gleichzeitig begann mein Körper erneut zu leuchten, bis das Licht uns beide umhüllte. In dieser einsamen Gegend würde höchstens ein Falke unsere seltsame Erscheinung erspähen.
Gerade als die Sonne mit ihren sommerlich warmen Strahlen durch die Wolken brach, drehte Alexis mir sein lächelndes Gesicht zu. „Ohne dich ist kein Leben in mir, Lil.“
Ein sehr langer Kuss hinderte meine grauen Zellen daran, den romantischen Moment mit rationalem Quark zu zerstören. In der Ferne fiel abklingender Nieselregen silbern auf einen Birkenhain mit schimmernden Blättern wie aus lindgrünem Glas.
Drei Stunden später standen die zufrieden schnaufenden Pferde auf der Weide. Ein einigermaßen klarköpfiger Alexis kehrte mit mir zum Dinner in das Castle zurück.
Kaum stand der von Butler Andrew servierte Hauptgang, asiatisches Pilzrisotto mit Wildsalat, auf dem Tisch, weihte ich Alexis in meine ausgetüftelten Pläne ein.
„Also, wir übernachten bis auf weiteres in Berlin. Zum Frühstück landen wir unbemerkt von deinem Personal wieder im Castle.“
Eine hochspringende Augenbraue signalisierte Erklärungsbedarf.
„Solange wir das dunkle Geheimnis von Lightninghouse nicht gelüftet haben, sollten wir uns so wenig wie möglich innerhalb seiner Mauern aufhalten.“
„Du bist also davon überzeugt?“
„Absolut. Leider wissen die Sternelben bislang keinen Rat. Deshalb müssen wir morgen von deinem Keller bis zum Dachboden sämtliche Winkel auf schwarzmagische Umtriebe hin inspizieren.“
„Hmmh.“
„Wie recht du hast“, stöhnte ich. Unerklärlich schien mir, warum Alexis überhaupt keine Eigeninitiative entwickelte, um ernsthafte Ursachenforschung zu betreiben.
„Du tust mir Unrecht! Ich habe die gesamte Bibliothek auf den Kopf gestellt und sämtliche Aufzeichnungen meiner Vorfahren studiert.“
„Und?“
„Nichts! Nothing! Niente!“, rief er mit theatralisch hochgeworfenen Armen aus. Leise fügte er hinzu: „Vielleicht bleibt tatsächlich nur die viel zitierte Leiche im Keller übrig, über die niemand etwas Schriftliches hinterlassen wollte.“
Ein fieser Schauder lief mir über den Rücken.
Am folgenden Morgen, nach unserer erholsamen Nacht in Berlin, befand sich Alexis in deutlich besserem Zustand. Entschlossen, den makabren Vorgängen endgültig auf den Grund zu gehen, verließen wir den Frühstückstisch im Wohnsaal von Lightninghouse.
Mit eingezogenen Köpfen stieg ich hinter Mylord die ausgetretenen Stufen zum Kellergewölbe hinab. Jeder mit einer großen Taschenlampe in der Hand, um auch noch den letzten Winkeln ihre vermeintlich dreckigen Geheimnisse zu entlocken.
„Sollen wir uns aufteilen?“, fragte Alexis noch im ersten Hauptgang, umhüllt mit einer Dunstglocke aus Unbehagen.
Während ich vehement den Kopf schüttelte, kam mir plötzlich eine Idee. Als Resultat entstand zwischen meinen Händen eine Lichtkugel, kaum größer als ein Tennisball. Die schwebte nun vor uns her.
Auf Alexis verwirrten Blick hin erklärte ich: „Lichtkugeln reagieren auf schwarze Magie.“
Diese wichtige Lektion hatte ich bei meinem Besuch in den verpesteten Höhlen unter Burg Amhuinn gelernt. Ein Gedankenfetzen zischte vorüber. Zu schnell.
Quietschend öffnete sich das verrostete Tor zum ersten rechts gelegenen Seitengang. Die schummrige Beleuchtung staubverkrusteter Deckenlampen zeigte auf der linken Seite des schmalen Ganges verrottete Holzverschläge.
„In diesem Teil des Kellers bin ich seit Jahrzehnten nicht mehr gewesen. Hinter den Türen befanden sich ehedem Vorratskammern.“
Als Alexis den ersten Holzriegel bewegte, zerfiel die spillerige Tür. Hustend befahlen wir die aufgewirbelte Staubwolke zu Boden. Zunächst brachte nur das Licht meiner Kugel in der Kammer ein paar schemenhafte Umrisse von Regalreihen zum Vorschein.
„Ich hielt es damals nicht für nötig, die seit Langem unbenutzten Kammern zu elektrifizieren“, bedauerte Alexis, während wir unsere Taschenlampen einschalteten.
Jetzt huschten zwei Lichtkegel über schimmlige Holzbretter, beladen mit Steingut in diversen Braunschattierungen, schlank wie Flaschen oder dickbauchig wie Kartoffeltöpfe gearbeitet. Das reinste Museum. Gleiches Bild in der nächsten Kammer. Dahinter folgte eine Kammer mit Körben, danach eine weitere Kammer mit kleinen Fässern.
„Die Nischen auf der gegenüber liegenden Seite dienten ursprünglich der Lagerung von Wild, Fisch, Obst und Getreide“, erzählte Mylord.
Wir gingen auf dem Hauptgang ein paar Meter weiter und bogen wiederum rechts in den nächsten Abzweig ein. Statt Verschlägen erwarteten uns offene Kammern, angefüllt mit tragbaren Fässern, jedes mit einem Zapfhahn versehen.
„Ohne einen ausreichenden Vorrat an Bier, Whisky und Wein lief in vergangenen Jahrhunderten gar nichts“, verkündete Alexis mit breitem Grinsen.
Meine Lichtkugel drehte nutzlose Runden. Das einzig Beruhigende in dieser gruftigen Atmosphäre war das Hausverbot für Ratten und Mäuse im gesamten Castle.
„Lass mich einen Versuch starten, vielleicht können wir die Tortur abkürzen“, schlug ich vor und lotste die Lichtkugel langsam den gesamten Hauptgang hinunter.
Keine drastische Reaktion oder präzise erzählt: frustrierende Nullreaktion.
Schließlich stand unser Duo in dem riesigen Waffensaal, gelegen am Ende des Hauptgangs. Ich ignorierte das alte Mordwerkzeug, aber schritt möglichst dicht an der Wand entlang. Vor einem Eisentor, das wie neu aussah und schwache Magie abstrahlte, hielt ich abrupt an. Das Tor musste mir bei dem letzten Besuch hier drin entgangen sein.
„Was verbirgt sich dahinter?“
„Der Kerker.“
„Iiih! So etwas existiert tatsächlich? Den kannst du allein überprüfen.“
„Lil, stell dich nicht so an, dort liegen weder Skelette noch sonst Schauerliches herum, nur alte Folterinstrumente und Ketten.“
„Nur?! Wie reizend!“ Die bloß angedeutete Vorstellung mittelalterlicher Folterpraktiken schüttelte mich. Automatisch setzten sich meine Beine in Bewegung, um dem barbarischen Waffensaal den Rücken zu kehren. „Barbie macht heute auf Weichei“, kicherte mein Alter Ego gehässig.
Doch kaum taten wir wenige Schritte weiter in den abknickenden zweiten Hauptgang, erlosch plötzlich meine vordem in Zeitlupe aufgezehrte Lichtkugel.
„Wir brauchen eine größere Lichtkugel aus der Kapelle.“ Ein scharfer Blick auf Alexis zeigte mir deutlich, dass er wieder diesen verschwommenen Gesichtsausdruck bekam. Unsanft zerrte ich ihn zurück zu der Kellertreppe. Dabei glaubte ich, einen kriechenden, bedrängenden Schatten durch meinen Lichtschild zu spüren.
Wir hasteten ins Erdgeschoss hinauf und weiter hinaus ans Tageslicht. Erst im Blumengarten sanken wir stöhnend auf die verwitterte Steinbank zwischen den zwei Jasminbüschen.
Die Sternelben meldeten sich. „Lilia, in dem Kerker wirst du vergeblich suchen.“
„Woher wollt ausgerechnet ihr das denn wissen?“
„Er verfügt über Lichtschächte.“
„Aha, danke.“ Und an Alexis gerichtet: „Fühlst du dich besser?“
„Geht schon.“
„Dann lass uns in der Kapelle auftanken und sofort die nächste Tour starten. Fehlt noch viel?“
„Größtenteils besteht der restliche Keller aus Lagerhallen. Sie dürften schnell erledigt sein.“
Unter mürrischem Protest aktivierte auch Alexis diesmal seinen Schutzschild, bevor wir abermals die Kellertreppe hinabstiegen. Hatte sich seine fortwährende Distanz zu den Sternelben verschlimmert?
Die mitgebrachte Lichtkugel vom Umfang einer Wassermelone schwebte vorneweg. Der Keller nahm ungeahnte Ausmaße an, nachdem wir dem zweiten Hauptgang bis zu den Lagerhallen folgten. Allein der Weinkeller musste jeden Winzer mit Neid oder bestenfalls Ekstase erfüllen. In mächtigen Fässern reiften edle Tropfen heran. Übrigens im Gegensatz zum Rest des Kellers picobello sauber! Ebenso der Whiskykeller. Ja, in Schottland benötigte allein das Nationalgetränk einen kompletten Saal. Und so alkoholgeschwängert, wie die Luft roch, dürften etliche Fässer randvoll gewesen sein.
Die letzte Halle verbarg sich hinter einer Geheimtür. Sie führte durch ein anderthalb Meter hohes getürktes Eichenfass. Echter Schottenwitz!
Mit aufgebrochenen oder aufgeschlitzten, achtlos hingeschmissenen Kisten, Säcken, Ballen und Truhen darin bot dieser Kellerraum ein absurdes Bild völliger Verwüstung.
„Hier versteckten wir früher Schmuggelware, Kriegsbeute und ähnliches.“ Mein ungläubiger Seitenblick veranlasste Mylord zu dem empörten Ausruf: „Das ist kein Ammenmärchen!“
Abermals fundlos, kletterte Alexis vor mir zurück durch das Fass und hielt für mich die ovale Deckeltür auf.
Wenn Mylord so vor sich hin leuchtete, sah er einfach umwerfend verführerisch aus. Der Kontrast zwischen schwarzem Haar und seiner üblichen schwarzen Kluft, umhüllt von weißem Licht, wirkte betörend.
Was auch immer in jenem Moment in meinen Augen zu lesen stand, seine neckische Schlussfolgerung lautete: „Aber doch nicht hier unten, oder?“
„Äh … Inspektion abgeschlossen?“ Mein Magen knurrte vernehmlich seine Verpflegung herbei.
„Jawohl, auf zum Lunch, Mylady.“
Schwang da eine gewisse Enttäuschung mit? „Lunch im Bett, Mylord?“
„Euer Wunsch ist mir Befehl“, lachte er mit aufblitzenden Augen.
Munter mit uns selbst beschäftigt, registrierte ich so beiläufig wie folgenlos die überdeutlich geschrumpfte Lichtmelone. Zu meiner Schande muss ich beichten: Der Quell allen Übels lag direkt unter unseren nackten Füßen.
Aus dem Buch „Inghean“
Das dominante Herz des Menschenkindes bindet seine sehenden Kräfte. Meine Lichtschwestern aber vernachlässigten die Seele unseres Elbenkriegers Belian sträflich. Dies rächt sich nun.
Eng an mich geschmiegt war Alexis eingeschlafen. Unsere Keuschheitsgürtel mussten wir früh genug wieder anlegen. „London. Was auch immer mich dort erwartet.“ Mein vager Plan sah vor, das Castle dann als Stützpunkt zu nutzen. Aber dafür musste es endlich entdämonisiert werden. Kaum zu fassen! Da hatten wir Lightninghouse mit enormer Kraftanstrengung in den magischen Schutzkokon gehüllt, nur um hinterher festzustellen, dass sich die teuflische Fäulnis längst darin befand. „Tja. Und weiter?“
Wie gerufen vermeldeten die Sternelben einen Treffer. „Geht auf den Dachboden, dort findet ihr eine Truhe mit den Hinterlassenschaften des abtrünnigen Lords.“ Höchst erregt mahnten sie: „Schützt euch, berührt nichts!“
„Was enthält die Truhe?“
„Werkzeuge schwarzer Magie, so glauben wir.“
Unbewusst schaute ich zur Zimmerdecke hinauf. Der aus dem Keller mitgebrachte Kugelrest war verschwunden. „Komisch, dass Elin bei ihren Besuchen keine dämonischen Schwingungen wahrnimmt“, wunderte ich mich. „Vielleicht wegen ihres Dauerleuchtens?“ „Oder weil sie massenweise Geheimnisse vor dir hat?“, schlug mein Alter Ego rabiat vor. „Möglich“, gestand ich ein.
Zärtlich streichelte ich über Alexis stoppelige Wange. „Aufwachen, echte Arbeit ruft.“
Für die dritte Fahndungsrunde stürmte Mylord, getrieben von heißer Neugier, klarem Ziel und Belians allmählich aus seinem Dämmerzustand erwachender Zwillingsseele, mit eiligen Schritten die Stufen zu den Dachkammern empor.
Auf dem obersten Treppenabsatz stehend, rief er mir entgegen: „Rechte oder linke Tür?“
„Ups. Lotst mich bitte.“
„Zuerst aktiviert eure Schutzmagie, Lilia.“
Durch die linke Tür betraten wir einen Teil des gigantischen Dachstuhls. Der längliche Raum umfasste sicher weit über 150 Quadratmeter. Niedrige, blinde Fensterscheiben warfen staubige Lichtstreifen auf grobe, verdreckte Holzplanken. Seitlich der Tür lehnten rissige Ölgemälde an der Wand. Meine Augen schweiften umher. Ausrangierte Stühle mit mottenzerfressenen Stoffbezügen, bemalte Kommoden, ein filigraner Sekretär sowie mit wunderschönen Schnitzereien versehene Truhen aus verschiedensten Epochen lagerten auf dem Dachboden.
Der aufgewirbelte Staub kitzelte in unseren Nasen. Graue Spinnweben, die vom dunkelbraunen Balkengerüst herabhingen, bildeten eklige Vorhänge. „Weg mit dem Siff!“
Das gesuchte Corpus Delicti kam erst zum Vorschein, nachdem wir eine am äußersten Ende gelegene und wohl mit Absicht meterhoch vollgerümpelte Ecke geleert hatten.
Von der lichtmagischen Versiegelung an den vier Schlössern der unscheinbaren, hölzernen Geldtruhe existierte nur mehr ein kümmerlicher Rest. Ohne Zögern befahl ich den Truhendeckel empor. Ein schwärzlicher Schleier verbarg den Inhalt vor unseren angespannten Blicken. Herausströmende schwarze Magie griff auf Bodenhöhe nach unseren Schutzschilden.
„Warum vernichtete der damalige Lord das unheilbringende Zeug nicht?“
„Er kam zu früh ums Leben. Sein einziger Sohn jedoch war machtlos gegen die starke Magie.“ Also schaffte er die Truhe laut Sphärenbericht hier hinauf. Er hoffte, das dunkle Erbe würde in Vergessenheit geraten und zerfallen.
„Wie gelangen wir an den Inhalt?“
„Geh in die Kapelle, ruf das Lichtschwert.“
„Komm mit, wir holen Hormin“, beschied ich Alexis und sprang sogleich fußfaul hinunter.
Mylord hinterher.
„Denkt an das menschliche Personal“, tadelten die Sternguckerinnen bei unserer Ankunft.
Sie warfen einen gleißend hellen Lichtkegel über mich, kaum dass ich in der Kapelle saß.
„Köchin und Butler halten gerade in den von mir spendierten Schaukelstühlen am Küchenkamin ihr obligatorisches Nickerchen.“
„Und das Dienstmädchen?“
Erwischt! „Oh, äh, linst wahrscheinlich mal wieder vergeblich durch das Schlüsselloch von Elins zugesperrtem Gästezimmer. Ja, schon gut, ich passe auf.“
Die Kleine entpuppte sich in der Tat als krass neugierig, tauchte vorzugsweise katzenleise in den ungünstigsten Situationen auf. Alexis hatte das Dienstmädchen namens Diarmad einen Monat zuvor spontan eingestellt, als sie am Tor erschien und um Arbeit bat.
Meine Hände lagen auf den Oberschenkeln, bereit, das legendäre Lichtschwert zu empfangen. Seit ich mich im Frühling mit dem Dämonfürsten duellieren wollte, benötigte ich das Schwert zum ersten Mal wieder. „Heute wird es hoffentlich von Nutzen sein. Damals hätte ich einfach ohne Federlesen zustechen sollen! Dieser feige, widerwärtige…“
„Lilia. Lila!“ Sie rüttelten mich aus den müßigen Überlegungen.
„Was?“
„Hormin. Berühre gleich mit seiner Schwertspitze die Truhe.“
„Okay.“
Trotz ihrer Ermahnung versetzte ich mich direkt auf den Dachboden – und stand allein dort.
„Wo bleibt denn Alexis?“
„Er nimmt die Treppe.“ Wobei sie „er“ überdeutlich betonten.
„Wie sinnig, da das Dienstmädchen ihn gar nicht hinunter kommen sah.“ Die Bemerkung flutschte mir frech hindurch, gefolgt von der amüsanten Überlegung: „Würde die Kleine jetzt den Dachboden betreten, sähe sie eine Lichtgestalt mitsamt Schwert in der Hand. Dann fände sie die ersehnte Bestätigung für ihren festen Glauben, dass es im Castle spukt.“
Ohne länger auf Alexis zu warten, näherte ich mich vorsichtig der Truhe. Hormin blitzte auf. Sein silberner Lichtstrahl traf auf das Holz und sprengte die Truhenwände auseinander.
„Gut oder schlecht?“
Die sphärische Gesangsriege zögerte.
Der schwärzliche Schleier begann zu zerfließen. Jede Menschenseele wäre in diesem kurzen Augenblick zu einer Dörrpflaume geschrumpelt. Schnell wickelte ich mit der freien Hand eine erste Lichtschnur darum. Alexis keuchte hinter mir – von seinem Treppenspurt.
Mit vereinten Kräften zogen wir jetzt dicke Lichtwände hoch. Der wabernde Schleier bildete in sich Blasen. Kurzerhand stach ich Hormin hinein und beendete die eklige Vorstellung.
„Findest du es auch extrem merkwürdig, wie stark die schwarze Magie nach so langer Zeit noch wirkt?“
Anstelle von Alexis antworteten die Lichtwesen: „Sie wurde genährt.“
Der Schreck über ihre Hiobsbotschaft fuhr uns bis ins Mark. Ebenso wegen des nun sichtbaren Dings auf der Bodenplatte der zerstörten Truhe. Das pechschwarze Metallstück in Form eines vierzackigen Sterns trug in seiner Mitte einen blutroten Edelstein.
Ihr Chor korrigierte meine gedankliche Beschreibung postwendend: „Kein Edelstein, sondern in Glas gefasstes Blut.“
Aus heutiger Sicht, und nur aus heutiger Sicht, sah es in der Tat aus wie frisch gezapft.
Leises Stöhnen ließ mich zu Alexis schauen. Sein Lichtschild flackerte wie im Sturm. Das verfluchte Ahnenblut witterte sein Blut, erkannte es als gleich.
„In die Kapelle, sofort!“
Das mussten sie uns kein zweites Mal befehlen. Die Geschichte wurde zunehmend widerlicher, eben typisch dämonische Ausgeburt.
Nachdem die Sternelben unsere Sinne gereinigt hatten, sprang ich eilends nochmals unter das Dach, um die Eingangstür lichtmagisch zu versiegeln. Diarmad fasste gerade die Dachtreppe in ihr Neugierauge.
„Wozu überhaupt ein Dienstmädchen, wenn Magie zur Verfügung steht? Sauber zaubern ist wohl unter Mylords adelsgeschwängerter Würde?“
In der Zwischenzeit erfuhr Alexis von den Sphärensängerinnen das Geringe, was sie über die Umtriebe seines Urahns wussten. Doch alles unterirdisch Dämonische, sprich die entscheidenden Fakten, fehlte der kosmischen Ordnung gemäß.
Frustriert begleitete er mich anschließend durch den Obstgarten. Dort konnten wir unbelauscht reden.
„Dein Dienstmädchen wird zu einem Problem. Gerade erklimmt Diarmad die Treppe zum Dachboden.“
Er nickte abwesend, in Gedanken völlig von dem obskuren Stern gefangen. „Welchem Zweck er wohl dient?“
„Jedenfalls starten wir keine Versuchsreihe“, entgegnete ich energisch. „Für heute langt es mir total.“
Schweigend setzten wir unseren Spaziergang bis zu den Felsblöcken am Bach fort.
Dort angekommen, zauberte Alexis aus heiterem Himmel los: Plaid, Tee, Picknickkorb.
„Magst du Kirschtörtchen mit Schokoladensauce zum Tee?“
„Mmmh, ein verlockendes Angebot.“
Für den Rest des Tages wischten wir in stillem Einvernehmen sämtliche schwarzgefärbten Fragen beiseite.
Spät abends, weit nach dem Dinner, folgte mir Alexis höchst bereitwillig ins sichere Berliner Gartenhaus.
In der Nacht aber erreichte mich zum ersten Mal seit Langem eine Traumbotschaft:
Noch einmal kämpfe ich mich durch den langen Gang, der unter Burg Amhuinn in die Dämonenhöhlen führt. In der ersten Höhle blicke ich suchend umher. Drei Durchgänge führen weiter. Aber nur einen davon probiere ich aus.
Dadurch erwacht, formulierte ich laut die entscheidende Frage: „Wohin führen die übrigen Durchgänge?“
„Lil, du redest im Schlaf“, murmelte Alexis.
„Nein, ich bin hellwach. Vielleicht finden wir unseres Rätsels diabolische Lösung unter Burg Amhuinn.“
„Wie?“
„Schlaf weiter.“
Leise schlich ich in die Küche hinunter, um nachzudenken.
Traumbotschaften enthielten jedes Mal einen Schlüssel, darauf durfte ich mich hundertprozentig verlassen. „Stern und Höhle. Wo opferte der abtrünnige Lord sein Blut für diesen Satanspakt? In einer rituellen Stätte, quasi als Gegenstück zu den spirituellen Kirchen der Elben?“
So lange Zeit vor mich hin grübelnd, stand plötzlich Elin neben mir.
„Darf ich dich mit einer fiesen Frage überfallen?“
Sie betrachtete mich aus ihren unergründlichen Augen.
„Ich möchte dir einen dämonischen Gegenstand zeigen.“ Und ergänzte rasch als Entschuldigung: „Weil ich Hilfe benötige.“
Reflexartig wich die Elbe zurück, sammelte sich jedoch schnell und begutachtete entschlossen meine Erinnerungen.
Dünnstimmig erklärte sie daraufhin: „Es handelt sich um ein Doraodh, ein Feuersiegel ewiger Knechtschaft. Es öffnet das Tor in die Finsternis. Früher nagelten die menschlichen Anhänger des Dämonfürsten solche Feuersiegel in ihre Hausbrunnen, weil schwarze Magie unter der Erde ähnlich wie euer elektrischer Strom fließt. Das Doraodh ist mächtig, solange es von dem Ort mit Magie genährt wird, an dem es entstand.“
Resigniert kommentierte ich: „Also müssen wir tatsächlich nochmal in die Höhlen von Amhuinn kriechen. Bliebe die klitzekleine Frage offen, wie man das Ding zerstört.“
Ein gewitztes Lächeln erschien auf dem schönen Elbengesicht.
Aus dem Buch „Inghean“
Die Zeit ist für Lilia gekommen, das rein Böse zu bezwingen. Dies wird ihre zweite, schwere Prüfung. Möge das Schicksal uns Elben wahre Gnade erweisen.