Читать книгу Die Tote von Saint Loup - Danielle Ochsner - Страница 2

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Das Buch Das beschauliche Saint-Loup ist erschüttert: Tata Charlotte, die Seele des französischen Dorfes, wurde ermordet. Die Idylle zerbröckelt langsam, als Kommissar Duclos die Ermittlungen aufnimmt. Was für Geheimnisse hütet die Gemeinde? Warum hindert man ihn subtil daran, den Mörder zu finden ? Yves Duclos versucht nicht nur einen Mord aufzuklären, sondern muss sich selbst seiner Vergangenheit und einer verpassten Liebe stellen. Der Roman riecht nach frischen Croissants, ist voll mit wunderlichen Charakteren und der französischen Atmosphäre eines Dorfes, in dem für einen Mörder kein Platz ist. Die Autorin Danielle Ochsner wuchs als Tochter französischer Eltern in der Schweiz auf. Ihr sind beide Welten vertraut. Sie lebt und schreibt in der Nähe von Aarau.




Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits toten Personen sind ungewollt und rein zufällig.

Orte, Markennamen oder Songs werden in einem fiktiven Kontext verwendet.

© 2015 Danielle Ochsner

danielleochsner.com

Lektorat: Michael Lohmann, Deutschmeisterei.de

Umschlaggestaltung : Sabine Albrecht, Benisa-werbung.de

Satz: Stefan Stern, wortdienstleister.de

ISBN-13: 978-1508485308

ISBN-10: 1508485305

DES HAUTS, DES BAS

J’avais des hauts

J’avais des bas

J’avais plus ou moins chaud

Et toute la vie devant moi

Je crois que j’en voulais trop

J’ai même eu ce que je ne voulais pas

Stefan Eicher

Für Catherine. Meine Mutter.

Kapitel 1

In Saint-Loup wuchsen die Häuser mit vertikaler Genauigkeit aus der Erde. Sie waren wie Pilze nach oben gesprossen. Aus der Höhe betrachtet, schmiegten sie sich in die Mulde zwischen zwei Hügeln, deren Boden die gleiche Farbe aufwies wie die Mauern der Kleinstadt. Gebrannte Erde, die es ringsherum überall gab. Kanten an den Hausecken indes gab es in dem Dorf nicht; sie waren von den Menschen abgerundet worden, die auf der Flucht vor dem Nordwind gebückt an den Hauswänden entlangstrichen. Wenn sie nachts auftraten, hielten sie sich schutzsuchend an das Mauerwerk gedrückt, da es die Wärme des Tages im Dunkel der Nacht abgab.

Bewohner von Saint-Loup nutzen es, um die besten Tomaten zu produzieren, derweil sie die Töpfe an die Wände schoben. Sie wuchsen dort besser als auf den Hinterhöfen oder in den Gärten. Die Wäsche trocknete in der Sonne. Einsame Taubenschläge, gelbe, rote und Sonnenliegen warteten auf Ruhesuchende. Unten in den Winkeln, den bescheidenen Gassen der Siedlung, spielten Kinder. Da war die Bäckerei, die auf Kundschaft wartete, eine Brasserie, die morgens Pernod oder Vin rouge an die Männer ausschenkte. Oder an jene, die nichts zu tun hatten. Bisweilen waren sie so betrunken, dass sie nachmittags im Schatten der Platanen ihren Rausch ausschliefen.

Man kannte sich in Saint-Loup, ist zusammen zur Schule gegangen. Geheimnisse gab es keine. Zumindest nicht solche, die länger als ein paar Stunden unentdeckt blieben. Man sah alles, man wusste alles. Die Menschen arbeiteten hart, niemand klagte. Oder wenn, dann war die Regierung schuld, die zu viel Geld ausgab, und ein Präsident, der Versprechen machte, die er nie einhielt. Zuweilen war auch das Wetter schuld. Grundsätzlich war man zufrieden. Oder man tat so.

Bis vor ein paar Jahren hämmerte, klebte und schnitt der Schuhmacher Leder zurecht. Er flickte Schuhsohlen und defekte Absätze. Nachdem er starb, blieb das Geschäft zu. Rund zehn Kilometer entfernt vom Dorf wurde ein Einkaufscenter gebaut. Dort kann man die Schuhe für ein paar Euro reparieren lassen.

Ähnlich verhielt es sich mit Madame Bertrand: Sie bot an der Rue des Abeilles Knöpfe, Reißverschlüsse, Wolle und Verschlüsse für Büstenhalter an. Heute kauft man den BH neu, wenn die Schließe kaputt geht. Man wechselte die Jacke, wenn ein Knopf abfällt. Die Strümpfe wirft man weg, wenn sie eine Laufmasche haben. Sie hörte mit dem Laden auf und zog 1991 zu ihrer Tochter nach Lyon.

In der Nähe der Straße, in der sich die Bäckerei befand, gab es den Buchladen von Monsieur Marchadour. Er verkaufte kaum mehr Bücher; der Onlinehandel setzte ihm einerseits arg zu, anderseits lebte er inzwischen davon. Insgesamt führte er das Geschäft beinahe vierzig Jahre. Vor vier Sommern stellte er Julie Monteil ein, die seither dort nach dem Rechten schaute. Für ihn war es ein Glücksfall, dass sie nach einem langen Aufenthalt in Lausanne nach Saint-Loup zurückkam. Sie war bereit, seinen Laden weiterzuführen, und das zu einem Lohn, der lächerlich gering war. Wäre sie nicht unerwartet gekommen, hätte er den Laden schließen müssen.

Julie Monteil zog ordentlich die Bettlaken gerade. Edouard war gegangen. Er hatte sie zum Abschied geküsst, hinter der Haustüre, damit niemand es sah. Es war acht Uhr, hell genug, um die winzigen Äpfel am Baum im Garten leuchten zu sehen.

Edouard hatte seine Laufschuhe angezogen. Er verließ das Haus durch den Hintereingang. Als er den Weg über den Garten nahm, spülte Julie die beiden benutzten Gläser ab, trocknete sie aus und stellte sie zurück in den Küchenschrank.

Vor dem Küchenfenster wuchsen Tomatenpflanzen: Ein halbes Dutzend roter Tomaten sonnten sich dort. Hinter dem alten Holunderbusch erhob sich der Kirchturm. Wenn Julie ihn lange genug anstarrte, sah es aus, als neige er sich nach rechts. Entweder zum Gruß oder, wie sie vermutete, weil er demnächst zusammenbrechen würde. Nachdem sich der Pfarrer zurückgezogen hatte, kümmerten sich Gemeindemitglieder um die Kirche. Messen wurden nicht mehr regelmäßig gehalten.

Tata Charlotte arbeitete als Sekretärin des Bürgermeisters; sie war es auch, die die seltenen Gottesdienste betreute. Bei Taufen, Beerdigungen und den raren Hochzeiten half der Pfarrer einer anderen Gemeinde aus. Charlotte war die Seele des Dorfes: altmodisch, zeitlebens ledig geblieben, bekannt für den besten Apfelkuchen, der je gebacken worden war. Sie liebte es, die Bibel zu zitieren. Bei passenden und meistens eben auch unpassenden Gelegenheiten.

Julie ging ihr aus dem Weg, soweit es ging.

Nicht nur der Kirchturm benötigte dringend eine Sanierung, die Uhr auf dem Turm müsste ebenso längst überprüft und revidiert werden. Dafür war kein Geld da. Also schlug die Uhr die Zeiten gerade so, wie es ihr passte. Wer sich auf ihre Präzision verließ, kam garantiert zu spät. Oder zu früh.

Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, Julie hörte das Brummen eines Rasenmähers, ein paar Schwalben flogen vorbei. Die schwarz-weiße Katze lag eingerollt auf der Holzbank nahe der Hauswand. Träge beobachtete sie die Vögel. Nichts wies an diesem Tag darauf hin, dass die Idylle eine trügerische war. Eine, die nur äußerlich stumpf vor sich hindöste. In ihrem Inneren brodelte etwas Gefährliches und entwarf Pläne, um die Harmonie in der Luft zu zerfetzen. Sie konnte dem ländlichen Wohlklang die gehörige Dissonanz hinzuzufügen, die ebenso unerwartet wie heftig kommen würde.

Im Nachhinein würden die Menschen des Dorfs sagen, dass sie es schon gewusst und die Entwicklung hatten kommen sehen: Die Männer werden sich bei Margot in der Brasserie treffen. Die vergangenen Ereignisse immer wieder durchkauen, bis der zähe Brei im Mund sich nur mit viel Pastis herunterspülen ließ.

Die Journalisten, die aufdringliche Bande, die keinen Respekt und keinen Anstand kannte, würden wieder verschwinden und sich neuen Ereignissen zuwenden. Das war sicher.

Man brauchte Geduld. Alles wuchs hier etwas langsamer, alles benötigte mehr Zeit. Man hielt zusammen, das war schon immer so. Die Frauen würden beim Friseur darüber reden, im Supermarkt und im Wartezimmer des Arztes. Man würde Gruppen bilden: Um die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten, war jede verfügbare Mutter im Turnus dran, die Kinder nach der Schule nach Hause zu begleiten. Sie vor allem Unbill und den indiskreten, gierigen Schreiberlingen zu schützen, die wie eine Horde Hornissen über Saint-Loup herfallen würden. Die erwerbstätigen Frauen, es waren nicht viele, müssten fortan mit dem schlechten Gewissen leben, dass andere für die Sicherheit ihrer Kinder sorgen müssten. Man zwang die Berufstätigen in die gebückte Haltung der Dankbarkeit.

Julie Monteil setzte sich zu der Katze, band die Haare mit einem roten Band schwungvoll im Nacken zusammen. Sie bewegte die verspannten Schultern, indem sie die Arme abwechselnd hob und senkte. Früher fühlte sie sich energiegeladen und erfrischt, wenn Edouard sie verlassen hatte. In letzter Zeit war da nur diese Müdigkeit, die Trägheit, die den Gedanken mit sich zog, dass sie die Affäre mit ihm beenden sollte. Vielleicht hatten sie in den vergangenen Jahren alles ausprobiert? Das Menu von oben nach unten hundert Mal durchgespielt. Sich aneinander satt gegessen. Der Appetit war weg. Dennoch betrübte sie der Gedanke, dass Edouard nicht mehr regelmäßig durch die Hintertüre schleichen würde und »Ich bin es« rufen würde.

So, als wäre er nicht der Einzige, der den Weg durch den Garten nahm und die hintere Türe benutzte. Ihr würden auch die Gespräche fehlen oder die Zigarette danach, die sie mit tiefen Zügen inhalierte. Er hatte sie gefragt, welche Zigarette des Tages ihre liebste war. Diejenige nach dem Mittagessen vielleicht? Seine Frage war Koketterie, er wollte hören, was sie aussprach: »Die mit dir, nach dem Zusammensein. Die ist mir die liebste und wichtigste.«

Die gestrige Zeitung lag ungelesen neben ihr. Sie streckte die Beine, setzte sich bequem hin, schlug sie auf. Das raschelnde Geräusch des Papiers weckte den Kater, der sie vorwurfsvoll ansah, träge aufstand und durch das hohe Gras davon tapste. Julie Monteil nahm es mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Sie überflog die Schlagzeilen, ihr Blick ruhte länger auf der dritten Seite. Dort las sie das Rezept für Quittengelee. Sie nahm sich vor, dieses Jahr aus der Ernte des alten Baumes, der sie noch immer großzügig mit Früchten beschenkte, Quittengelee zuzubereiten. Sie würde das Rezept ausschneiden. Nicht, dass sie nicht wüsste, wie man es zubereitete, es war vielmehr so, dass sie in einem Ordner, sorgfältig ausgeschnitten, alles Mögliche sammelte, was sie nachkochen wollte.

Ein Inserat auf der Immobilien-Seite weckte als Nächstes ihr Interesse: Die antike Villa am Ende der Straße, im Südwesten des Dorfes, wurde einmal mehr als wahres Schmuckstück des Jugendstils zum Verkauf angeboten. Der Verkaufspreis von 1,9 Millionen schloss das Grundstück von dreitausend Quadratmetern mit ein. Der Preis wurde mit jedem Jahr erschwinglicher. Julie fischte sich eine Zigarette aus den Jeans, merkte, dass sie kein Feuerzeug mit sich führte, und legte sie seufzend neben sich auf die Bank.

Der Landsitz hatte sie schon als Kind fasziniert. Die reich verzierte Fassade des Hauses und der Garten weckten in ihr den Wunsch, einmal Schlossherrin zu sein. Die Dekadenz des Adels passte nicht in die ländliche Umgebung, deren Landschaft von Traktoren durchpflügt wurde und dessen Autobahnzubringer eine halbe Stunde Autofahrt weg war. Die Besitzer wechselten häufig, immer wieder stand das Haus leer. Der Efeu wucherte die Fassade hinauf, rankte sich romantisch um die Fenster und riss Schäden in den Verputz. Der Flieder bog sich in der Fülle seiner Blüten zu Boden, das Haus verlor zunehmend an Glanz. Es erinnerte sie an eine Katze, deren stumpfes Fell von Flöhen übersät war, die sich wund kratzte und schorfige Stellen dort schuf, wo das Fell nicht mehr wuchs.

Es war eine Schande, wie man das Haus sich überließ. Irgendwann fand sich wieder ein neuer Besitzer, der den Glanz hinter dem verwahrlosten Äußeren sah. Der viel Geld investierte und einen Architekten aus Grenoble oder Lyon kommen ließ. Nur blieben sie nicht, die Besitzer. Sie blieben nie, wurden kein Teil der Dorfgemeinschaft. Man konnte sie sehen, wenn sie mit den exklusiven Autos den Umweg durch Saint-Loup fuhren, weil keine Straße direkt zum Anwesen führte. Aber man sah sie nie in der Brasserie einen Wein trinken oder beim Bäcker Brot kaufen. Sie blieben für sich, die Inhaber des Anwesens. Als wären sie eine besondere Rasse, die sich nicht mit den einfachen Leuten aus dem Dorf zusammentun wollten. In Saint-Loup sprach man über sie hinter vorgehaltener Hand. Tuschelte ein bisschen. Nur neidisch war man nicht. Nicht auf die Autos, die edlen Möbel, die sie aus Paris kommen ließen. Nicht auf die herausgeputzten Frauen, die nie einen Fuß auf den Dorfplatz setzten. Auf die Kinder schon gar nicht, die taten einem eher leid. Die meisten von ihnen besuchten eine private Schule, sie ignorierten die Dorfschule. Man sah sie nicht, die armen Geschöpfe.

»Ein Kind gehört zu den Eltern. Alles andere ist nicht gottgewollt! Außerdem möge man an die Kosten denken, die solcherlei Kinder verursachen.« Sagte Tata Charlotte, wenn die Rede auf die Kinder der Villa Pommier kam.

Montagabend, der Vorletzte im August, kurz, nachdem Edouard gegangen war. Julie fuhr mit dem bunten Fahrrad durch die träge Hitze des Abends zum Buchantiquariat, vorbei an der Platanenallee. Sie winkte den Boule-Spielern zu, die ihre Kugeln in den Sand warfen. Petit Pierre stand dort. Er trug stets seine Mütze so auf dem Kopf, dass es aussah, als hätte er sich eine Pfanne übergestülpt. Der Lehrer Frédéric Troyat warf seine Kugel, indem er langsam in die Knie ging und den Wurf elegant platzierte. Er schüttelte müde den Kopf. Pepe der Spanier stand abseits. Sein Hund lag unter der Bank und döste. Üblicherweise war Edouard mit den anderen drei jeden Montagabend dort am Sandplatz der Platanenallee. Heute fehlte er. Jacques der Bucklige war noch nicht da.

Sie öffnete die Türe, indem sie sich mit beiden Händen gegen das alte Holz stemmte. Die Tür ächzte und klemmte zuweilen. Anschließend machte sie die Bücher zum Versand bereit, die sie am nächsten Morgen direkt zur Post bringen wollte, wenn sie geöffnet hatte. Klebte Adressen auf Kartons, band Schnüre darum herum, damit sie die Postsendung besser tragen konnte. Stellte alles aufeinander zu einem hohen Stapel.Zwei Stunden später radelte sie wieder heim. Quer durch die kleine Gemeinde, vorbei an den kleinen Vorgärten mit den fleißigen Menschen. Sie jäteten dort um diese Zeit Unkraut, weil es abends kühler war, gossen die Blumen und freuten sich ihres idyllischen Lebens. So idyllisch, dass es kitschig schien. Radelte vorbei an der Bäckerei, dem Gemeindehaus, da war die Kurve, aus der sie als Kind geflogen war. Sie fuhr zu schnell. Dann die Rue Lafayette herunter, dabei die Füße von den Pedalen nehmen, es rollen lassen. Bis vor die Haustüre.

Zu Hause angekommen, goss sich Julie Monteil ein Glas Wein ein. Rotwein aus Spanien, den günstigeren aus dem Carrefour. Die Zeit des teuren Weins war vorbei. Sie brach ein Stück Baguette ab. Versuchte dabei, so wenig Krümel wie möglich zu machen und schnippelte eine Tomate in acht Schnitze. Sie legte alles auf den Teller, zusammen mit dem letzten Stück Käse aus dem Kühlschrank. Morgen würde sie einkaufen gehen müssen. Sie balancierte alles mit dem Wein zum Laptop, der im Esszimmer auf dem Tisch stand. Er war übersät mit unbezahlten Rechnungen. Julie wischte alles zu einem gleichgültigen Haufen: Morgen. Morgen war auch noch ein Tag. Sie fuhr den Computer hoch, kniff die Augen zusammen, als der Bildschirm hell wurde. Dann googelte sie ›Villa Pommier‹. Sie stieß rasch auf das Maklerbüro, das seit Jahren das Haus immer wieder zum Verkauf anbot. Im Netz fand sie scharf und professionell gemachte Fotos vom Garten und vom Inneren des Hauses. Jeder Raum – insgesamt waren es dreizehn – war von der Sonne durchflutet und schien zu leuchten. Das Mobiliar war entfernt worden. Der Eichenholzboden war frisch gebohnert. In jedem Zimmer hing ein Bild: Getreidefelder waren abgebildet, Porträts von Leuten in altmodischen Kostümen und straff sitzenden Anzügen aus dem letzten Jahrhundert und Stimmungsbilder, die das Landleben symbolisierten. Vermutlich billige Kopien aus China, in kitschigen, goldenen Rahmen.

Julie klickte konzentriert durch die Räume. Das Zimmer von Yves war das letzte, das sie sich ansah. Es befand sich im oberen Stockwerk, man erreichte es, indem man die Treppe nach oben nahm, dann nach links abbog. Das letzte am Ende des Ganges. Weit entfernt vom Schlafzimmer der Eltern, das Zimmer, in dem sie damals die weiße Frau gesehen hatte. Yves’ Bude hatte zwei Fenster, sie gingen beide nach Westen raus. Die große Eiche, die damals noch nicht gefällt worden war, stand vor seinen Fenstern und warf zuweilen zuckende Schatten an die teure Tapete, die seine Mutter ausgesucht hatte. Eine Komposition aus Lilien und Ranken. Sie passte nicht in die Lebenswelt eines Jungen. Das Poster von AC/DC, mit Reißnägeln an die Wand montiert, sah absurd aus, vor dem Hintergrund.

Einer der letzten Mieter hatte den Dachstock ausgebaut; er maß 150 Quadratmeter. In der Ecke stand ein Ledersofa, daneben eine sehr teuer aussehende Lampe. Neben das Fenster hatte jemand ein Plakat von Christian Dior an die Wand gepinnt. Ein Klavier stand mitten im Raum: Verkaufsfördernd so platziert, dass es den Anschein hatte, als würde ein Klavierspieler hier ein Konzert für einen einzigen Gast geben, der auf dem Sofa lag. Die Werbung von Dior implizierte, dass sich dort eine wunderschöne Frau rekelte.

Julie klickte sich online weiter durch die Fotos vom jetzt gepflegten Garten. Des neu gestrichenen Gärtnerhauses, Ockergelb, während das Haus in pastelligem Rosa den Eindruck einer romantischen Zuckertorte vermittelte, die mit Marzipan überzogen war. Julie schauderte ob so viel des Kitsches. Nicht nur die Eiche war gefällt worden, sondern der größte Teil des alten Baumbestandes hatte einem gepflegten Rasen Platz gemacht. Akkurat und genauso tot wie gradlinig wuchs hier Gras, das keiner Blüte eine Chance gab. Die Brombeerranken waren längst geschnitten worden. Die Tanne allerdings, unter der sich ihr, Julies, kleiner Garten befand, stand noch. Sie hatte etwas gelitten, die unteren Äste waren gekappt worden, aber sie hatte die Arbeitswut des Gärtners überlebt. Julie freute sich darüber, holte sich die Weinflasche aus der Küche. Füllte ihr Glas zur Hälfte und klickte sich nochmals vorbei am Fumier, dem Billardzimmer und dem Gang zum Schlafzimmer der Eltern. Die Aufnahmetechnik erlaubte es ihr, verschiedene Blickwinkel des Zimmers heranzuzoomen: Nahe an die Wand heran, von oben herunter wie eine Stubenfliege, nahe an das Fenster, als wäre sie der Geist, der ihr als Kind Angst einflößte. Als stünde sie am Fenster und blickte herunter auf das verängstigte Mädchen, das vor Angst zitternde Knie bekam, bevor es wegrannte. Aus diesem Winkel konnte sie die Zufahrt aus Kies überblicken. Die Bäume, welche die Einfahrt säumten und die kleine Steinmauer, auf der unlängst die Männer des Dorfs gesessen hatten in Erwartung einer Peepshow, die niemals stattfand.

Julie biss in das letzte Stück Käse, wischte die Finger an den Jeans ab und knipste die Deckenlampe an. Sie fror in ihrem Shirt, das sie sich hastig übergezogen hatte, bevor sie Edouard die Treppe nach unten gefolgt war, um ihm Adieu zu sagen. Jetzt war sie zu faul, um sich eine Strickjacke zu holen, die entweder im Garten oder oben im Schlafzimmer hing.

Der Blickwinkel auf dem Computer entsprach noch immer dem Blick, den die Frau nach unten vor das Haus hatte. Ohne Möbel wirkte das Zimmer steril. Es ließ keine Melancholie zu, keine Ängste eines Mädchens, das auch als erwachsene Frau gewisse Vorkommnisse noch immer nicht erklären konnte. Das Foto entsprach nicht den schwarz-weiß grobkörnigen Fotos, die man im Internet fand, wenn man das Suchwort Geister eingab. Da war kein mysteriöser Schatten, der an der Tapete klebte. Da war kein sich spiegelndes Gesicht im geputzten Fenster. Nicht mal die Vorhänge blähten sich romantisch im Wind. Es war ein normales Zimmer und präsentierte sich adrett dem zahlungsfähigen Kunden, der auf die Seite der Maklerfirma klickte.

Julie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Mit Bestimmtheit nicht die emotionslose Gelassenheit, mit der sie anschließend ihre Mailbox prüfte, ein drittes Glas Wein einschenkte und ein paar Mails beantwortete. Bevor sie die Katze ins Haus rief, ihr Futter hinstellte und nach oben ins Bett ging. Sie glaubte, eine Distanz zur Villa Pommier hergestellt zu haben, keine Unruhe beim Betrachten der Bilder, nichts. Als hätte sie die Zimmer eines Hauses angeschaut, zu dem sie keinen Bezug hatte. Eine Fremde in einem fremden Raum, mehr nicht.

Als sie sich auszog, die Kleider auf dem Stuhl in der Ecke warf und nackt unter die Baumwolldecke warf, dröhnte ihr Kopf von der ungewohnten Menge Weins. Das Bett schaukelte ein bisschen, wie ein Schiff in einem leichten Sturm. Sie hatte ihr Handy unten im Garten vergessen und konnte den Wecker für den kommenden Tag nicht einstellen. Julie würde verschlafen. Vielleicht aber auch nicht. Sie ließ es darauf ankommen und glitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Kapitel 2

Sommer 1990.

Damals. Als noch so vieles keinen Sinn ergab. Weil alle Fäden erst verknüpft werden mussten, damit man ein Muster sehen konnte. In einem Buch hatte Julie gelesen, dass man die Rückseite eines Teppichs betrachten soll, um zu verstehen, wie er gewebt worden ist. Will man der süßen Idylle glauben schenken, soll man eben diesen Blick sein lassen und sich nur die Vorderseite ansehen. Julie liebte es schon immer, den Dingen auf den Grund zu gehen. Auch wenn sie hierzu Teppiche wenden und die Mauer zum Anwesen überklettern muss. Dass sie sich dabei Schrammen holte, war ein Zoll, den sie gerne bezahlte. Was war ein Riss in einem Knie gegen die Gewissheit, hinter einer Mauer ein vermutetes Paradies zu sehen? Natürlich hätte sie den beschaulichen Weg gehen können, der direkt zur Einfahrt aus Kies führte. Die beiden Tore standen offen. Das wäre jedoch nicht halb so spannend gewesen wie die abenteuerliche Kletterei.

Das Haus war zweistöckig, im Stil von Louis XIII. erbaut. An der Vorderseite befanden sich fünf Fenster. Links und rechts vom Eingang standen zwei Säulen. Hier hatte jemand versucht, etwas römisches Flair in den Charakter der Villa zu bringen. Die Fenster waren alle mit weißen Vorhängen versehen, die das Tageslicht aussperrten. Julie fand, das Gebäude machte so den Eindruck, als wäre es blind. Der Anblick geschlossener Augenlider. An diesem Abend wollte sie heim und zu diesem Zweck um das Haus herum zur Rückseite gehen. Dort führte eine Abkürzung über die brachliegende Wiese nach Hause. Außerdem konnte sie so sicher sein, dass niemand sie sehen würde. Als Julie die Bewegung am oberen Fenster wahrnahm, glaubte sie an eine Täuschung: ein Schatten vielleicht? Sie hielt inne. Kaute unschlüssig an ihrer Unterlippe. Der Vorhang war auf die Seite gezogen. War das schon immer so gewesen? Alle Vorhänge bündig zugezogen bis auf eines?

Als sie weiterlief und einen letzten, beunruhigten Blick zur Fassade im Licht der untergehenden Sonne warf, konnte sie die Silhouette einer menschlichen Gestalt erkennen. Eine Frau!

Das würde sie später erzählen. Eine Frau mit Haaren, die wie ein auf dem Kopf aufgetürmtes Vogelnest aussahen. Sie stand da mit einem weißen Kleid. Vielleicht so wie das Nachthemd aus heller Baumwolle, dass Oma manchmal trug. Die Frau mit dem Vogelnest auf dem Kopf blickte zu Julie herunter. Starr wie eine Statue stand sie da, die Hüterin des Hauses. Ein weißes Gespenst.

Sie verließ das Grundstück und rannte die Straße hinauf, bis ihre Lungen brannten und sie keine Luft mehr bekam. Beim Bäcker blieb sie stehen, stemmte die Arme in die Seite und bückte sich nach vorne. Ihr war schlecht. Die Frau des Bäckers, die sie kommen sah, war im Begriff, die Kreidetafel mit den Angeboten des Tages in den Laden zu tragen, um das Geschäft zu schließen. »Julie? Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Sie streckte ihre Hand aus, um ihr zur Beruhigung die Hand auf den Kopf zu legen. Julie schnappte nach Luft und rannte weiter. Vorbei an den Männern, die vor der Brasserie standen und sich voneinander verabschiedeten. Die ihren abendlichen Wein getrunken hatten und nun heim strebten. Sie grüßte nicht. Rannte. Spürte einen Stein schmerzhaft in ihren Schuhen und den salzigen Geschmack von Tränen im Mund. Hetzte am Gemeindehaus vorbei, nahm die Kurve dort so knapp, dass sie beinahe mit Madame Kassovitz zusammengestoßen wäre, die schwer atmend eine Einkaufstasche vor sich auf den Boden stellte. Lief vorbei an den Vorgärten. Nach der Kirche links und noch ein paar Meter – sie war gerettet. Sie riss die Eingangstüre auf, ließ sie laut ins Schloss fallen. Die Mutter hielt einen Kochlöffel in der Hand und den missmutigen Ausdruck einer Frau im Gesicht, deren Tochter sich nicht an die Regeln des Hauses hielt. Julie warf sich an ihre Mutter, umschlang sie mit den Armen, schluchzte in den warmen, tröstenden Bauch. Er roch nach gebratenen Zwiebeln und dem honigwarmen Duft von Geborgenheit.

Ihre Mutter hörte ihren gestammelten Worten zu, nahm sie in die Arme. Aus den Pfannen dampfte Wasser. Papa war noch nicht da.

»Du hast die weiße Dame gesehen?«

Sie legte den Kochlöffel auf den Tisch und bekreuzigte sich.

»Julie! Wie oft ich habe ich dir gesagt, du sollst dich nicht dort herumtreiben? Wie oft?«

Ihre Stimme signalisierte eine Mischung aus Besorgnis und Unverständnis. Julie schniefte, setzte sich auf den Küchenboden, um sich die Schuhe auszuziehen. Sie schüttelte so lange am Schuh, bis der Stein auf den Boden rollte. Die Mutter hob ihn auf und trug ihn zum Mülleimer. Hier war die Welt in Ordnung, hier herrschte die Geborgenheit der Familie. Da gab es keine Gespenster. Hier nicht. Niemals.

»Geh dir jetzt die Hände waschen, wir essen bald. Papa kommt gleich, dann reden wir.«

Sie wusch die Hände in dem kleinen Badezimmer, rieb sich die Hände so lange mit Seife ein, bis ihr das schmierige Oval aus den Händen in das Lavabo rutschte. Als sie das Wasser aufdrehte, kalt, weil der Boiler nicht viel warmes Wasser hergab und Papa sich abends noch waschen wollte, vermied sie es, den Blick in den Spiegel zu werfen. Gespenster konnte man im Spiegel sehen, das wusste sie. Womöglich stand sie hinter ihr, blickte ihr zähnefletschend über die Schulter. Wenn sie Julie bis hierher folgte, war sie hier womöglich gar nicht so sicher, wie sie es annahm. Julie fühlte sich schuldig, weil sie in dem fremden Garten gespielt hatte. Das Grundstück gehörte der Dame mit dem Vogelnest auf dem Kopf. Das war klar. Und sie, Julie, hatte dort nichts verloren.

Als sie in die Küche zurückkam, barfuß und sich die Hände an den schmutzigen Jeans trockenreibend, konnte sie hören, dass ihre Mutter telefonierte. Sie erzählte, was passiert war.

»Das Gespensterhaus …« So nannte sie die Villa.

»… die weiße Frau … jedes Mal, wenn sie auftaucht …«

Ihre Worte gingen in einem Flüstern unter. Julie kannte die Gerüchte. Man sprach in der Schule davon. Bisher hatte sie keine Angst davor gehabt und jeden ausgelacht, der sich weigerte, auch nur einen Fuß in den Garten der Villa zu setzen. Ihr war das gerade Recht. Wenn alle Angst hatten, konnte sie unbehelligt dort spielen. Sie brauchte niemanden. Außerdem teilte Julie diesen Ort ungern mit irgendwem. Heute wäre sie froh gewesen, wenn jemand bei ihr gewesen wäre und mit ihr jetzt vielleicht über die Frau am Fenster lachen könnte. Eine hässliche Alte! So würden sie sie nennen und sich biegen vor Lachen, weil die Haare wirklich unmöglich frisiert waren. Sie kannte die Frisuren aus den alten Filmen mit Louis de Funès: die Haare zu einem Berg toupiert wie eine Haube aus Unkraut.

Sie schlief schlecht in dieser Nacht. Fürchtete sich vor den sich blähenden Vorhängen am Fenster, den sonst so gemütlich knarrenden Dielen, wenn Papa noch zur Toilette ging, bevor er ins Bett schlurfte. Hatte Angst vor dem Schatten, den die Straßenlaterne auf ihren Zimmerboden warf. Als die Kirchturmuhr, die damals noch korrekt die Zeit angab, drei Mal schlug, schlich sie zu ihren Eltern ins Bett. Sie legte sich leise zwischen die beiden, drückte ihre Nase an den pudrigen Duft des Nachthemdes ihrer Mutter und versuchte zu schlafen. Sie war zu alt, um sich nachts noch in die Sicherheit des Elternbettes zu retten. Aber dies war ein Notfall und rechtfertigte ihr Tun.

Der nächste Tag war ein Samstag. Ihre Mutter nahm sie mit zum Pfarrer, der damals schon sehr alt war. Sie saßen bei ihm im Wohnzimmer des Pfarrhauses. Er ermunterte sie bei den Keksen zuzugreifen, die die Haushälterin selbst gebacken hatte. »Essen«, sagte er, »hält Leib und Seele zusammen.« Der Pfarrer war ausgesprochen dick. Ob seine Seele auch Nahrung in Form von Keksen bekam?

Julie steckte die Hände zwischen ihre Beine, beobachtete eine Fliege, die immer wieder an das Fenster schlug und erschrak, als er das Wort an sie richtete.

»Warst du denn oft dort in dem Garten? Wie oft hast du die Person gesehen?«

Sie log. Sagte, dass sie nur ein paar Mal da gewesen war.

»Ich habe die Frau mit dem Nachthemd nur einmal gesehen. Gestern.«

»Was hast du dort gemacht?«

»Nichts. Schneckenhäuser gesammelt.«

Er erklärte, indem er genüsslich in einen Keks biss, dass sie ihm versprechen müsse, nie mehr zu dieser Villa zu gehen. Es sei unerlässlich, dass sie der Mutter gehorche. Sie habe ja jetzt gesehen, wohin die Unfolgsamkeit führe.

Der Pfarrer wischte die Krümel zufrieden von den Beinen. Die Fliege flog eine Schlaufe, um unbelehrbar erneut einen Anflug auf die Fensterscheibe zu starten. Draußen zog ein Gewitter auf. Mit den Händen glättete ihre Mutter unruhig die Falten des Kleides, die nur sie sah. Dann öffnete sie ihre Handtasche, um etwas darin zu suchen. Sie schien nicht fündig geworden zu sein und schloss die Tasche wieder.

Niemand stellte den Wahrheitsgehalt der Beobachtung infrage, was vermutlich damit zusammenhing, dass andere die gleiche Erscheinung in unregelmäßigen Abständen gesehen hatten. Jedes Dorf hatte seine Geister. Das von Saint-Loup trug ein weißes Kleid, eine zerzauste Frisur und war keine wirkliche Gefahr. Wenn man von den Geschichten absah, deren Protagonistin sie war: Sie raubte Kinder, stahl die besten Pferde aus den Ställen und blies den Männern lauwarme Gedanken ins Ohr, die sie dazu trieb, das ganze Geld in der Brasserie bei Fanny zu verprassen. So, dass die Frauen wochenlang ihren Kindern nur Kartoffeln vom Feld servieren konnten. Die Mütter selbst erzählten einander, dass die Geisterfrau einer Beobachtung zufolge nichts als nackte Haut unter ihrem dünnen Hemd trug. Fortan sah man öfters Männer abends auf der kleinen Steinmauer bei der Villa Pommier sitzen. Während ihre Frauen alleine im ehelichen Bett lagen und ins Kissen seufzten.

Später zündete ihre Mutter in der Kirche eine Kerze an. Sie betete zur Heiligen Mutter und anschließend – diese Situation erforderte besonderen Schutz – zur heiligen Rita von Cascia. Während Julie es bedauerte, dass sie ihre Strickjacke nicht angezogen hatte, weil sie direkt am Mittelgang auf den harten Holzbänken saßen. Da war es immer ein bisschen zugig. Sie versuchte konzentriert auszusehen, einerseits, um ihrer Mutter eine Freude zu machen und vielleicht halfen die Heiligen, dass die weiße Frau vom Fenster ihr nicht schaden würde. Das konnte man nicht wissen. Aber die schöne Zeit in dem Park war Geschichte. Da würden sie keine zehn Pferde mehr hinbringen. Mit Sicherheit nicht. Niemals mehr. Keine Brombeeren mehr. Kein magischer Zaubergarten unter der Tanne mehr. Sich nie mehr an die borstige Rinde der alten Tanne kuscheln, während außerhalb der schützenden Äste ein Sommerregen niederging. Keine Raupenzählung mehr. Nie mehr gedankenverloren auf der Wiese beim Gärtnerhaus liegen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, um Wolken beim Vorbeiziehen zu beobachten.

Keine Möglichkeit mehr, Monsieur Lefebre heimlich betrachten, wie er im Juli die ersten Klara-Äpfel erntete. Er gab sie den Lehrern, damit die das Obst vor der Pause an die Schüler verteilen konnten. Monsieur Lefebre konnte sich des steifen Knies wegen nicht gut bücken und reichte mit dem abgespreizten Bein zu Boden, um die Äpfel aufzuheben. Was ihm ein etwas artistisches Aussehen gab. Wie das einer Tänzerin, die am Ende der Vorstellung auf der Bühne einen achtungsvollen Knicks macht, indem sie ein Bein nach hinten wirft. Der alte Holunderbusch würde ohne sie klarkommen, Julie würde seine Äste während der Blüte nicht mehr voneinander trennen können, damit die Beeren im Herbst nicht gegeneinander Schatten warfen, sondern direkt von der Sonne beschienen wurden. Aber wer kümmerte sich jetzt um Beeren, die wild und herrlich wuchsen? Man musste doch die Ranken von ihrer schweren Last befreien. Wenn man es nicht tat, litt die Pflanze wie die Kühe des Nachbarn, die eines Abends nicht gemolken wurden, weil Jacques die Kellertreppe heruntergefallen war: Er hatte eine Flasche Wein fürs Abendessen holen wollen. Da er allein lebte, wurden die Nachbarn auf ihn aufmerksam, weil seine Kühe wie unter Schmerzen muhten. Ihre Euter waren so prall, dass sie zu platzen drohten. Die Leute reden noch lange davon, nachdem sie seine Kühe für ihn gemolken hatten, während er im Krankenhaus lag. Wie Ballone aufgebläht waren sie, durchzogen von blauen Linien aus Venen. Nun, die Beeren würden sich am Ende ihres Reifeprozesses einfach fallen lassen. Bis dahin litt die Pflanze. Da war sich Julie sicher. Dieser Gedanke betrübte sie, zumindest so lange, bis das Wochenende vorbei war und sie wieder zur Schule ging.

Alle wussten davon und wollten alles darüber wissen. Sie war, zum ersten Mal in ihrem Leben der bewunderte Mittelpunkt der kleinen Schule: das begehrte Objekt, Trägerin eines Geheimnisses, über das alle aus erster Hand Informationen beziehen wollten. War die Haut der Geisterfrau wirklich so durchsichtig wie die Fensterscheibe, vor der sie stand? Stimmte es, dass ihre Hand die Klaue eines Löwen nachzeichnete und sie Selbst oben Mensch und unten Monster? War ihre Stimme so tief wie die eines Mannes und tropfte Kinderblut von ihren Mundwinkeln herunter? Julie gab Antwort, zurückhaltend und schüchtern. Sie war diese Aufmerksamkeit nicht gewohnt. Als die Schulglocke das Ende der Pause ankündigte, stoben alle die Treppe hinauf und rannten in ihre Schul1zimmer. Sie war erleichtert.

Nachts schlief sie noch immer schlecht und tagsüber konnte sie sich in der Schule nicht konzentrieren, nur deswegen. Außerdem konnte sie mit keiner blutrünstigen Geschichte die gierigen Ohren ihrer Mitschüler stopfen. Also verlor sie bald die Aufmerksamkeit der anderen. Sie stand wieder mit ihren Freundinnen herum und kaute ihren Apfel. Gelegentlich wurde sie ausgelacht, weil es hieß, sie habe kein Gespenst gesehen, sondern diese Geschichte erfunden, um sich wichtig zu machen. Sie ließen gruselige Geräusche ab, wenn Julie an ihnen vorbei ins Schulhaus lief.

Aber auch das war irgendwann zu Ende, in etwa um die Zeit, als die Familie in der Villa Pommier einzog. Das war jetzt fesselnder. Vor allem, als der Lehrer an einem der nächsten Montage Yves als neuen Mitschüler vorstellte. Er sei erst zugezogen und wohne in der Villa Pommier.

Yves hatte rote Haare, die an der Sonne wie eine Clementine leuchteten, er war genauso schüchtern wie sie und wurde ihr bester Freund.

Das Gespenst tauchte nie mehr auf. Ein bisschen so, als hätten Yves und sie den Kampf gewonnen.

Gegen wen auch immer.

Kapitel 3

Es war spät geworden. Hatte sie so lange im Buchladen für die paar Pakete gebraucht? Manchmal kam es ihr so vor, als fiele sie in Zeitlöcher, die sie dort festhielten. Wenn sie endlich herauskletterte, war viel mehr Zeit vergangen als geglaubt. Die Glocke schlug elf Mal. Das konnte nicht sein. Sie log, wie so oft.

Die Katze weckte sie am nächsten Morgen. Julie hatte die Türe ausnahmsweise offengelassen und der Katze somit ungewollt Zugang zu ihrem Schlafzimmer ermöglicht. Beharrlich trommelte sie mit ihren Vorderpfoten auf Julies Brust. Milchtritt, hatte sie mal gelesen. Das tun Katzen, wenn sie sich ausgesprochen wohlfühlen. Oder, wenn sie als junges Kätzchen beim Saugen die Milch kräftiger in Fluss bringen wollten. Dabei schnurrte sie laut, brummend und entschlossen, Julie aus dem Bett zu treiben. Da die Vorhänge geöffnet waren, konnte sie die Sonne sehen, die zögernd über den Hügel brach, dessen Namen sie schon in der Schule immer wieder vergessen hatte. Gemächlich schoben sich die Sonnenstrahlen über ihre Decke. Eine Wanderung, die sich über eine Stunde hinziehen würde. So lange wollte sie nicht warten: Julie hob die dicke Katze hoch und stellte sie auf den Boden. Sie öffnete das Fenster, stellte ihre Hände auf das Fensterbrett ab und hob ihr Gesicht zur Sonne.

So sah sie der Tonton, der alte Postbote, als der mit seinem Rad um die Ecke fuhr: eine dunkelhaarige Frau Mitte dreißig, deren Brüste zu sehen waren und die ihr Gesicht lächelnd gegen den Himmel reckte. Er bedauerte, dass ihr Fenster nur bis knapp oberhalb des Bauchnabels reichte und noch mehr bedauerte er, dass Julie ihn entdeckte hatte. Sie drehte sich um und verschwand im Inneren ihres Hauses. Er stieg von seinem Rad, erinnerte sich dabei an Julies Mutter, die in dem Haus gewohnt hatte, bis sie nach Lyon zog. Ihre Tochter Julie war vor vier Jahren zurückgekommen, nachdem sie jahrelang keinen Fuß mehr in das Dorf gesetzt hatte. Weiss der Teufel warum! Julie sprach nicht darüber, mit niemandem und wich den Fragen hierzu geschickt aus. Sie habe in der Schweiz studiert, hatte einen gut bezahlten Job. So eine wie sie habe es nicht nötig, hier in Saint-Loup zu versauern. Sagte man. Diese Meinung teilte er: Heiraten soll sie, Kinder haben oder an ihrer Karriere basteln. Hier in dem Dorf blieb ihr nur eine zu werden wie Tata Charlotte: eine verbitterte Jungfrau, die allerorts ihre wunderfitzige Nase hineinsteckte und immer das letzte Wort hatte. Er stellte sein Rad an den Gartenzaun, der einen Anstrich gebrauchen könnte. Ein Mann im Haus fehlte, da waren sich alle einig. Einer, der das Haus auf Vordermann brachte, der Ordnung in ihr Leben blies. Ihr Vater war tot, der hätte alles repariert. Tonton schüttelte den Kopf, als er sah, dass ihr Namensschild, ein mit Kleber hingepappter Notizzettel mit ihrem Namen, abgefallen war und am Boden lag. Bereits ein halbes Dutzend Mal hatte er Julie gesagt, dass sie sich bei Claude im Dorf ein schönes Schild machen lassen konnte für ein paar Euro. Statt des Papierstreifens. Sie hatte abgewinkt, mit ihrem Lächeln, das ihn jedes Mal wieder an ihre schöne Mutter erinnerte. Ja, er hatte sie geliebt. Mehr als einmal hatte er seinen Mut zusammengenommen und sie auf dem Weg ins Dorf oder zur Kirche abgepasst, um ihr hastig und stotternd seine Liebe zu gestehen. Natürlich hatte sie gelächelt, als er vor ihr stand, die Hände in den Hosentaschen. Die Haare streng nach hinten gekämmt, wie es damals Mode war. Die ganze Nacht hatte er kaum geschlafen, weil er seine Worte immer wieder prüfte. Nichts schien richtig genug, aber es musste gesagt werden. Also stellte er sich hin und stotterte.

»Ich … ich … wowowowo … ltte dir nur sasa … sagen … dass du wuwunderschön bist … ichich … llllliiebe dich.«

Ihr Lächeln hätte überheblich sein können. Arrogant oder herablassend. Das war es nicht. Sie lächelte, als hätte sie ein nettes Geschenk bekommen. Pralinen oder Blumen. Claudine bedankte sich höflich, nahm es als ein Kompliment und ging ihres Weges. Nicht ohne ihm vorher einen schönen Tag zu wünschen. Er schrieb ihr Briefe. Schwülstige Worte, die er aus alten Büchern kopierte, gemischt mit sehnsüchtigen Versprechen. Sie antwortete nie. Was ihn noch mehr anstachelte. Da er die Liebe zu ihr geheim halten wollte, schickte er die Briefe nicht mit der Post, sondern steckte sie abends in den Briefkasten. Jener Briefkasten, in den er jetzt einen kleinen Stapel Werbeprospekte schob.

Sie heiratete Antoine. Das kam für alle überraschend. Antoine war weder besonders schön, noch reich. Er war in nichts herausragend.

Ein stiller Mann, der unscheinbar durch die Schulzeit gegangen war.

»Antoine? Bist du nicht mit ihm zur Schule gegangen?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Doch. Ganz bestimmt. Er trug doch im Winter immer diese grüne Jacke, so ein hässliches Ding.«

»Ach? Das war Antoine?«

Ausgerechnet Antoine bekam die schöne Claudine. Wie er das erreicht hatte, war ihm ein Rätsel. Er arbeitete hart, war ein guter Vater und ein besonders guter Belot-Spieler. Er gewann meistens. Ihre Wahl schien eine gute gewesen zu sein, obwohl er dies bedauerte und zeitlebens warme Gefühle für sie hegte, tat er dies nur noch heimlich. Er stotterte nicht mehr. Ausnahmsweise dann, wenn er Claudine ein Paket abliefern musste, kam es vor, dass er an bestimmten Wörtern hängen blieb. Oder sich bei ihrem Anblick so verlor, dass er ihr wortlos das Paket übergab und winkend auf sein Fahrrad stieg und davonfuhr. Damals war der Briefkasten noch ordentlich beschriftet, der Zaun in tadellosem Zustand, der Garten gepflegt und das Haus sorgsam in Schuss gehalten. Jetzt blätterte der Verputz, die Fenster hatten die Doppelverglasung von früher, sie hätten längst modernisiert werden müssen. Neben der Türe stand ein Korb mit leeren Flaschen, den Julie vergessen hatte. Der Postbote schüttelte den Kopf. Es war halt nichts mehr so wie früher: Traditionelle Werte verloren ihren Reiz. Jeder war sich selbst am Nächsten und schaute für sich. Man reiste in der Welt herum, kannte aber die Namen der Nachbardörfer nicht mehr. Einkaufen konnte man im Internet, Briefe schreiben auch. Er hatte gelesen, dass man inzwischen nicht mal mehr zum Arzt musste, wenn man krank war: Es reichte, wenn man mit diesen neuen Handys ein Foto von sich schoss und es als SMS schickte. Umgehend kam die Diagnose, zusammen mit dem verordneten Rezept, das man in der Apotheke einlösen konnte. Die Steuererklärung, sagte ihm Charlotte, musste man nicht mehr auf Bögen ausfüllen, auch das ging jetzt über das Internet. Gerade sie, die nie etwas auf dem Computer machte. Alles ging so schnell. Hier im Dorf kannte man sich, man wusste, wer krank war und half sich gegenseitig aus. Das war einfach, fand er, bei 770 Einwohnern. Er kannte jeden hier, füllte täglich die Briefkästen. Und er musste zugeben, dass der von Julie noch immer einen ganz besonderen Reiz auf ihn ausübte. Ihn, den alten Tonton, der kurz vor seiner Pensionierung stand und der plötzlich wieder fünfzehn war, als er die Brüste von Julie am Fenster sah. Zugegeben, für ihn war es Claudine, die da oben stand und sie lächelte nur für ihn. Antoine hatte es nie gegeben, er war nie geboren worden. Da war nur Tonton. Claudine und Tonton. So wie er es heimlich in die Rinde der großen Tanne beim Schulhaus ritzte. Mit dem Rüstmesser aus der Küche. T&C. Darunter ein großes Herz.

Bevor er weiterfuhr, hob er das Namensschild aus Papier auf und strich es sorgfältig glatt. Dann schob er es vorsichtig in die kleine Lücke oben bei der Öffnung, die für das Schild vorgesehen war. ›Julie Monte‹ konnte man lesen. Das ›Il‹ des Nachnamens war nur noch ein Fleck, der die Buchstaben ausgewischt hatte. Er seufzte, stieg auf sein Rad, wobei er sich sputen musste wie damals Eddy Merckx, als der mehrfach die Tour de France gewann, wenn er die Post pünktlich austeilen wollte. Er hatte seiner Tagträumerei wegen viel Zeit verloren.

Julie hatte geduscht und sah Tonton wegfahren. Sie stand mit ihrer Kaffeetasse in der Küche am Fenster, trug ein rotes Trägerkleid und war barfuß. Meistens war sie schon weg, wenn der Postbote kam. Sie ging den kleinen Weg mit den Pflastersteinen zum Briefkasten, wich einer glitschigen Schnecke aus und trug den Stapel Post ins Haus. Werbung. Ein paar Rechnungen, die sie zu den anderen auf den Berg der unerledigten Dinge schob. Julie wischte die Krümel vom Essen des gestrigen Abends weg, spülte den Teller und das Weinglas, legte alles zum Trocknen auf das Spülbrett. Sie schüttete die Reste des Trockenfutters in den Katzennapf – sie würde heute wirklich einkaufen gehen müssen – und fuhr anschließend mit ihrem Rad in das kleine Buchantiquariat: Der Morgen war erwacht, die Sonne hatte die Kuppe des Hügels übersprungen und schien jetzt über die Dächer des Dorfes.

Sie liebte diese ruhige Stimmung morgens. Wenn der Tag alles versprach, wenn alles möglich war. Die eigenen Talente dabei waren zu erwachen und man der Schläfrigkeit wegen nicht imstande, sie zu stoppen.

Tata Charlotte, die niemandes Tante Charlotte war und dennoch von allen so genannt wurde, würde nie mehr eigene Talente entdecken. Sie würde keinen Morgen erwachen mehr sehen und keine einzige Möglichkeit mehr in ihrem Leben haben. Sie war nämlich tot.

Nur wusste das, außer ihr und ihrem Mörder, noch niemand. Julie steckte den Schlüssel in das Schloss, legte ihre ganze Kraft in die Schulter und schob die alte Türe des Buchantiquariats auf. Es war Dienstagmorgen. Der zweitletzte im August.

Die Tote von Saint Loup

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