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Kapitel 4

Johannisnacht 1977.

Tante Charlotte war zeitlebens ein Mensch, der gottesfürchtig den Weg ging, den der Herr für sie vorgesehen hatte. Sie hatte keine eigenen Pläne. Die hatte Gott für sie entworfen auf dem göttlichen Spielfeld seiner Großzügigkeit. Sie hatte nie besonderen Ehrgeiz entwickelt. Wozu auch, solange der Herr im Himmel für sie sorgte.

Dennoch hielt sie sich strikt an ihre Leitsätze: Ein guter Apfelkuchen heilt jeden Kummer, eine frisch gebraute Tasse Kamillentee hilft beim Einschlafen und mit Savon de Marseille geht jeder Fleck aus der Wäsche weg. Wenn das mit dem Einschlafen trotzdem nicht klappte, halfen ein Gläschen Mirabellenschnaps und ein Gebet zusätzlich.

Der Mirabellenschnaps unterstützte auch, wenn sie an ihre Kindheit dachte, die sie als Tochter des Gärtners im Gartenhaus der Villa Pommier verbracht hatte. Sie duften nicht auf dem Anwesen spielen, schon gar nicht mit den Kindern des Besitzers. So blieb ihr nichts anderes übrig, als die Nase an die Fensterscheibe des kleinen Hauses zu pressen, um die Schönheit der Rosen im Park zu betrachten. Ihr Vater war für die Blumen zuständig, für die Pflege des Rasens und die Sauberkeit in der Einfahrt. Die Mutter putzte im Herrenhaus und sorgte dort für Ordnung. Währenddessen passte Charlotte auf ihre vier kleinen Schwestern auf. Gefragt wurde sie nie, das war ihre Pflicht. Punkt. Keine Wiederrede, sonst kommt Papa mit dem Gurt, der treibt dir die revolutionäre Sichtweise aus dem Kopf. Sei dankbar, Kind! Da half ein Schnäpschen, um die Gedanken zu vertreiben, die bitter in ihrem Gaumen brannten. Spülte jeweils die Erinnerungen herunter, die sich gelegentlich aufbäumten, wie wilde Pferde.

Gieß Schnaps darüber, Charlotte, das desinfiziert tüchtig und du kannst klarer denken!

Weder der Schnaps half ihr in jener unvergesslichen Nacht der Sünde noch die Gebete. Gott fand sich nicht in der Flasche, er versteckte sich auch nicht zwischen den Bibelversen, in denen sie Trost suchte. Wenn der Geist der Mirabelle nicht half, oder umgekehrt. In dieser gottverlassenen Nacht damals, als ihr Inneres nach außen gestülpt wurde und man darauf spuckte, als wäre es stinkender Abfall, war sie alleine. Als sie erniedrigt am Boden lag, schwor sie sich, dass sie es zeitlebens bleiben würde.

In jener Nacht fielen die zwei der apokalyptischen Reiter über sie her: Einer hielt sie, während der andere sich an ihr vergnügte. Sie hatte an dem Tag Johanniskraut gesammelt, der im Garten der leerstehenden Villa wie Unkraut wuchs. An diesem einen Tag, so sagt es der Brauch, ist die Kraft des Krautes stärker als an jedem anderen. Darum sammelte sie seit jeher die gelben Blüten an dem einen Tag. Im Dunkel des Abends leuchteten die Glühwürmchen, als würden sie Lichter aussenden, um den trostlosen Menschen den Heimweg zu weisen. Charlotte saß auf der Treppe vor dem Haus, neben ihr die gebündelten Blumen, die sie für die Salbe verwenden wollte. Die Blütenköpfe leuchteten gelb: Winzige Punkte auf der grauen Steintreppe. Der Mond war hinter einer Wolke verdeckt. Weit hinten am Horizont hatte jemand ein Johannisfeuer entzündet.

»So allein?«

Sie erschrak, die Stimme kam aus dem Dunkel. Zuerst erkannte sie die nicht.

»Wer bist du?« Fragte sie.

»Charlotte. Liebe Charlotte. Wir möchten dir etwas zeigen.«

Jemand lachte dumpf. Ein freudloses Lachen. Schatten, noch immer, obwohl sie mit zusammengekniffenen Augen das Dunkel nach Schemen absuchte. Zwei Männer. Nicht einer. Es waren zwei.

»Ich kann dich nicht sehen.« Sie kniff die Augen zusammen.

»Du möchtest uns sehen? Ja?«

Die beiden Männer traten aus der Dunkelheit auf sie zu. Bedächtig. Zielstrebig. Die Wolke gab den Mond für einen Augenblick frei. Charlotte erkannte die Männer. Und plötzlich hatte sie Angst.

Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein. 1. Mose, Kapitel 3.

Ihr Mann und Herr in den folgenden Jahren war Gott. Ihm fühlte sie sich nahe. Den Sündenfall jener Nacht könnte man vergessen. Das ginge, wenn man wollte. Sie wollte nicht. Jahrelang wurde sie täglich mit ihrer Qual konfrontiert. Als das aufhörte, hatte sich die Erinnerung daran schon geprägt, dass es einem unliebsamen Tattoo entsprach, das man täglich auf der Haut sah. Da war der Griff zur Schnapsflasche eine selige Erlösung.

Deshalb hatte sie nie geheiratet, sie schlug jeden Jüngling in die Flucht, der ihr näher als erlaubt kommen kam. Anwärter gab es ein paar, vor allem, als sie noch jung war. Später blieben sie aus. Charlotte nannte sich konsequent Mademoiselle. Auch als dieser Begriff längst frauenfeindlich verpönt war.

Fortgehen wäre eine Option gewesen. Das Bleiben verlängerte ihr Leiden. Sie zog den qualvolleren Weg vor, wie Jesus, der für die Menschen am Kreuz leidend starb. So verharrte sie in ihrer Erinnerung, sie vergab nichts und niemandem. Lernte aber, sich eine lächelnde Maske über das Gesicht zu legen. Sie sagte:

»Warum sollte ich von hier fortgehen? Hier lebt es sich wunderbar!«

Sie war pragmatisch in ihrem Denken, korrekt in ihrem Tun und stets freundlich zu allen: Wenn man ein Formular einreichen musste oder eine Reklamation anzubringen hatte, weil der Mirabellenbaum des Nachbarn seine Äste in den eigenen Garten streckte. Wenn der Hund von Pepe frei herumlief und Löcher in die Vorgärten buddelte, kam man nicht um Tata Charlotte herum. Sie war die Sekretärin des Maire und gleichzeitig seine einzige Angestellte. Ihre Arbeitszeiten waren seit Jahren gleich: anzutreffen dienstags bis freitags von acht bis elf Uhr und von zwei bis fünf im Büro der Gemeindekanzlei.

Tata Charlotte war nicht nur für das Schlichten von Streitereien zuständig, sondern auch für die Überprüfung der Steuerformulare. Sie goss die Blumen, welche in Töpfen auf den Fenstern und neben der Treppe zum Gemeindehaus wuchsen. Und sie erteilte Bewilligungen für alles, was möglich war in Saint-Loup. Sie prüfte Steuererklärungen auf ihre Richtigkeit, kümmerte sich um die Einteilung der Gräber auf dem Friedhof und darum, dass Pepe, zuständig für die Sauberkeit in den Straßen, seine Arbeit richtig ausführte. Pepe trank gerne über den Durst, ließ seinen Hund überall sein Geschäft verrichten und war morgens zu nichts zu gebrauchen. Dennoch arbeitete er sorgfältig. Man ließ ihn gewähren. So gab es keinen Ärger und er stand unter ihrer Kontrolle. Er war als spanischer Gastarbeiter in jungen Jahren nach Saint-Loup gekommen, um bei der Ernte zu helfen und geblieben. Keiner wusste, warum. Am wenigsten Pepe selbst. Er blieb – und wurde irgendwann von der Dorfgemeinschaft adoptiert. Dass er sich anpasste, hatte nicht zuletzt mit Tata Charlotte zu tun, die immer ein gutes Wort für ihn einlegte, wenn er mal wieder des Nachts laut tobend durch die Straße gezogen war und über alles, schimpfte, insbesondere über Politik. Pepe randalierte abends zuweilen in der Brasserie, wenn er sein Temperament nicht zügeln konnte. Die Zugeständnisse, die sie für ihn machte, waren eine gute Investition: Er fraß ihr aus der Hand. Nicht freiwillig, aber er tat es, was für sie nützlich war.

Charlotte hatte sich ihre Maske im Laufe der Jahre so passend gemacht, dass sie gar nicht mehr merkte, wann sie die Gesichtsmaske trug. Zunehmend zog Charlotte sie abends nicht mehr aus. Irgendwann blieb sie kleben, wie eine zweite Haut. Eine Camouflage, ihr eigenes Gesicht eine Erinnerung, mehr nicht.

Pepe war es, der Tata Charlotte fand: Nachdem er sie nicht im Büro antraf, wurde er unruhig. Sie war in den 43 Jahren als Sekretärin des Gemeindepräsidenten nur ein einziges Mal zu spät gekommen – als sie die Nacht am Bett ihrer kranken Mutter verbrachte. Am nächsten Morgen verschlief sie. Und diese Tatsache war ihr ungemein peinlich. Denn man erzählte sich, dass sie vielleicht einen Liebhaber habe und deswegen morgens nicht pünktlich erschien. Mit ihrem Privatleben ging sie zurückhaltend um. Man sagte, dass sie keines habe. Was aber nicht ganz der Wahrheit entsprach, wie sich post mortem herausstellen würde.

Der Gemeindepräsident selbst rief Pepe zu sich und bat ihn, doch mal bei Tata Charlotte vorbei zu schauen. Sie sei nicht zur Arbeit erschienen und abgemeldet habe sie sich auch nicht. Pepe war ausnahmsweise wach, und nüchtern, ein Umstand, der seinem Auftrag entgegenkam. Er zog sich die Arbeitshosen an und radelte mit seinem rostigen Rad quer durchs Dorf, begleitet von Manolo, seinem bellenden Mischlingshund. Er war nach einem spanischen Stierkämpfer benannt worden. Eigentlich hieß er Manolete, Manuel Rodrigez Sanchez. Aber dieser Name war zu lang. Also hieß er Manolo.

Der Hund hörte nicht auf seinen Namen, aber das störte Pepe nicht.

Er klingelte an der Haustüre von Tata Charlotte, im zweiten Stock des alten Holzhauses. Als sie nach mehrmaligem Klingeln und anschließendem Klopfen an der Türe nicht reagierte, drückte er die Klinke herunter. Sie öffnete sich, was nicht dem Sicherheitsdenken der älteren Dame entsprach. Sie schloss den Eingang immer ab und zog abends die Fensterläden zu, verriegelte sich gewissenhaft. Obwohl sie allen erzählte, dass Saint-Loup der sicherste Ort der Welt sei, wollte sie offenbar auf Nummer sicher gehen.

Das Haus befand sich am Ende der Straße. Dahinter war nur Acker. Am Horizont sah man, je nach Wetter, die Bergkette der Haute Savoie. Meistens trugen die Bergspitzen eine Haube aus Schnee, in den drei Sommermonaten waren sie frei davon. Als Pepe die Türe anschob, gab sie nach und schwang auf. Er rief Charlottes Namen, zuerst schüchtern, dann lauter. Es war ihm unangenehm, sich in ihrer Wohnung aufzuhalten, während sie womöglich einkaufen war. Am allerschlimmsten erschien ihm Gedanke, sie in ihrem Nachthemd im Bett anzutreffen.

Die Wohnung roch nach Schmierseife und etwas säuerlich nach Äpfeln. Das würde er später zu Protokoll geben, auf die Frage des Kommissars, ob er etwas Besonderes wahrgenommen habe beim Eintreten. Wie erwartet erschien alles sauber: Pepe zog sich die Schuhe aus und ging auf Socken in das Wohnzimmer, noch immer laut rufend. Auch, um seine eigene Unsicherheit zu verbergen. Eine rustikale Polstergarnitur, braun, ein alter Fernsehen und ein Tisch aus robustem Holz. In der Ecke hing ein Vogelkäfig: Der grüne Wellensittich hüpfte aufgeregt von einer Stange zur anderen. Hoch und runter. Eine weiße Blumenvase auf dem Tisch, darin Rosen oder so. Er kannte sich mit Blumen nicht aus. Pepe ging in die Küche, die, wie alles in der Wohnung, penibel aufgeräumt war. Auf dem roten Resopaltisch lag ein Apfelkuchen in seiner Backform zum Auskühlen. Über dem Stuhl hing ein kariertes Küchentuch. Sorgfältig zusammengelegt.

Er seufzte. Sie war nicht da. Ende und fertig. Pepe wollte heraus aus der Wohnung, hinunter zu Manolo und zurück in seine eigenen vier Wände. Jetzt brauchte er ein Bier und vielleicht noch eine Stunde Schlaf. Später würde er die Blumen auf dem Friedhof gießen müssen. Das gab so viel zu schleppen, weil der Gemeinderat ihm nicht erlaubte, die Gräber mit dem Gartenschlauch zu wässern, was doch wesentlich praktischer gewesen wäre. So blieb ihm nichts anderes übrig, als jeweils mit zwei der vier verfügbaren Gießkannen hin und her zu marschieren. Es würde ein heißer Tag werden, da war er sicher. Ein letzter Blick ins Schlafzimmer, wie unangenehm, ins Bad und er hatte seinen Auftrag erfüllt: Tata Charlotte blieb unauffindbar.

Weiß der Himmel, wo sie sich aufhielt, hier war sie jedenfalls nicht.

Der Vogel im Wohnzimmer fing an zu zwitschern. Laut und krächzend. Pepe sah, dass sein Futternapf leer war und er kein Wasser mehr hatte. Mit einem Seufzen schob er die Käfigtüre auf, griff nach dem Plastikschüsselchen, als er die bestrumpften Beine von Tata Charlotte auf dem Boden neben dem Sofa hervorragen sah.

Kapitel 5

Julie saß am antiquarisch erworbenen Schreibtisch im Buchladen. Die Oberfläche wies Risse und Unebenheiten auf. Die unzähligen Tassen Tee, die auf ihm abgestellt wurden in den letzten Jahren, hatten Abdrücke hinterlassen. Sie zeichneten ein eigenes Muster, wie eine Landkarte. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne in ihrer Fassung. Das Licht reichte gerade, um den Arbeitsplatz hell genug zu machen. Ein kleiner Raum, düster. Julie hatte den Schreibtisch so gedreht, dass sie jetzt, wenn sie an ihm saß, den Laden überblicken konnte. Den grauen, fadenscheinigen Vorhang, der das fensterlose Büro vom vorderen Teil des Ladens trennte, hatte sie entfernt. Sie gab eine Bestellung in den Computer ein. Im Geschäft wartete niemand. Falls ein Kunde käme, wäre sie rasch zur Stelle. Die Regale mit den Büchern reichten bis zur Decke, das oberste Regal ließ sie frei, da es nur mühsam mit einer Leiter zu erreichen war. Als sie den Laden übernahm, waren die Bücher nicht sortiert: Ein Dürrenmatt stand in absurder und doch friedlicher Nachbarschaft zu Astrid Lindgren. Georges Simenons Kommissar Maigret paffte seine Pfeife gemütlich neben Hemingways Novelle Der alte Mann und das Meer. Zwei kauzige Männer: Während der eine auf seine Weise bedächtig Mörder jagte, rang der andere in seinem Boot mit einem Fisch. Karl May, der sich seltsamerweise noch immer verkaufen ließ, neben einem Rezeptbuch für Kompotte und Konfitüren. Die satanischen Verse von Salman Rushdie schliefen in liebevoller Harmonie neben einem Bildband über die Geschichte des Fußballs in Frankreich. Atlanten türmten sich mannshoch neben dem Eingang. Julie fürchtete den Tag, an dem ein paar übermütige Kinder in den Laden kämen und dabei den Berg umwürfen.

Ein Gemischtwarenladen mit dem staubigen Charme einer alten Tante, die in einer Schürze hinter dem Tresen steht und den Kindern bunte Süßigkeiten anbietet. Ein kurioses Sammelsurium von Büchern. Julie mochte den Laden mit seinem verwirrten Charme, er entsprach aber keineswegs den Ansprüchen der Kundschaft. Wenn denn mal ein Kunde käme! Zudem stellte sich die Suche nach einem Buch als sehr aufwendig dar, weil nichts alphabetisch geordnet. Es roch nach Staub, die beiden Schaufenster waren schmutzig. Der Spannteppich am Boden hatte mal in dem grellen Orange geleuchtet, das in den Siebzigern als modern galt. Sie riss ihn heraus,als sie den Laden übernahm, putzte den Riemenboden aus Holz, der darunter hervor kam. Wenn das Wetter umschlug, konnte man den Moder riechen, der aus dem Keller zog.

Julie war eher zufällig hier. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, im verlassenen Elternhaus nach Gegenständen zu suchen, die ihr wichtig waren. Das Haus sollte verkauft werden. Mutter lebte bereits seit Jahren in Lyon, hatte sich dort eingerichtet und beschlossen, ihr neues Leben in der Stadt zu genießen. Das Haus war eine Last geworden. Mäuse hatten sich breitgemacht, Staub überzog alles, und der Wert der Liegenschaft sank mit jeder Woche, in der das Gebäude leer stand. Den Garten hatten längst Brennnesseln eingenommen und überwuchert, Moos den Gartenweg überzogen.Die Ranken der wilden Brombeeren wuchsen über den Gartenzaun und strebten bereits auf den Asphalt der Straße. Die Bäume mussten zurückgeschnitten werden.

Julie füllte Kisten mit Schallplatten von AC/DC und Deep Purple. Sie würde sie nie mehr hören können, besaß längst keinen Plattenspieler mehr. Vielleicht ließ sich die Sammlung auf eBay verkaufen. In ihrem alten Zimmer hingen noch Poster an den Wänden: eine große Weltkarte, auf die sie damals mit roten Nadeln die Ziele angepinnt hatte, an die sie reisen wollte. Wenn sie groß war. New York. Eine Nadel steckte in einem Wald mitten in Kanada. London. Sydney. Mexiko. Auckland. Alles Ziele, die sie angeflogen hatte inzwischen. Auckland stand noch aus. In einem Schuhkarton, mit billigen Klebern aus dem Supermarkt dekoriert, lagen Fotos. Sie setzte sich auf den Boden, kippte die Kiste aus und wühlte sich durch die Erinnerungen. Sie weinte ein bisschen, wischte sich die Tränen mit dem Putzlappen ab, mit dem sie vorher den Staub von den Fenstern gewischt hatte. Sie musste raus aus an die Sonne, an die frische Luft. Während sie durch Saint-Loup spazierte, beruhigte sie sich langsam wieder. Beim alten Buchladen klebte ein Schild aus Pappmaschee am Fenster, ausgebleicht von der Sonne. Die Ecken rollten sich bereits ein. Eine Aushilfe wurde gesucht, stand da mit Großbuchstaben. Julie knipste ein Foto von der Telefonnummer und fuhr zurück nach Lausanne. Sie befand sich in einer Phase ihres Lebens, in der alles besser war als das, was sie gerade tat. Im Gepäckraum des Autos befanden sich zwei Kisten mit den Schallplatten. Alles andere ließ sie vorläufig in Saint-Loup zurück.

Drei Wochen später, der Frühling hatte Einzug gehalten, fuhr sie in ihr Heimatdorf zurück, traf sich mit Monsieur Marchadour, der sie - aufgeregt und sich immer wieder für die Unordnung entschuldigend – durch das Geschäft führte. Er wolle sich zurückziehen, sagte er. Aber verkaufen wolle er das Geschäft auf keinen Fall. Es sei seit Generationen in Familienbesitz.

»Mein Großvater verkaufte Bücher, mein Vater verkaufte Bücher und ich tat es auch. Da ich keine Kinder habe, suche ich jemanden, der das Geschäft hier führt. Viel Geld kann ich nicht bieten, in Lausanne verdienen Sie viel mehr, dafür sind Sie umgeben von Kostbarkeiten. Der Welt der Geschichten und des geschriebenen Wortes.« Er lächelte, hob ein Buch aus dem Regal, strich zärtlich darüber, als wäre es der seidige Pelz einer Katze, und schob es seufzend wieder zurück.

»Entschuldigen Sie meine Offenheit: Wie läuft das Geschäft denn? Ich meine. Bis jetzt ist noch niemand in den Laden gekommen und es sieht ein bisschen renovierungsbedürftig aus, Monsieur Marchadour.«

Er lächelte, erklärte, dass der Umsatz besser sein könne und er inzwischen modernisiert habe und viele Bücher über das Internet verkaufe.

»Das läuft gut. Wenn Sie sich vorstellen können, täglich ein paar Pakete mit Büchern zur Post zu bringen und die Homepage gut am

Laufen halten können, sind wir im Geschäft.«

»Das Gehalt. Wie wenig ist denn wenig?«

»1650.«

Das war weniger, als sie während ihres Studiums als Kellnerin einer Fastfood-Kette verdiente. Sie hatte Geld gespart. Außerdem zahlte sie keine Miete. Es würde reichen.

Julie kündigte ihren Job an der Universität in Lausanne, bezog noch ihre drei Wochen Ferien und hatte das Glück, dass sie mit zwei Wochen unbezahlter Ferien aufstocken konnte. Julie verließ die Stadt weinend: In ihrem alten Renault passte nur das Nötigste – und die Katze, die in ihrem Korb auf dem ganzen Weg nach Saint-Loup mit ihr schluchzte. Die Wohnung konnte sie einer Studentin vermitteln, die Einrichtung, größtenteils Günstiges von Ikea oder vom Flohmarkt, hinterließ sie ihr für hundertfünfzig Franken.

Saint-Loup begrüßte sie mit strömendem Regen. Monsieur Marchadour, der Besitzer des Buchladens, blieb unauffindbar an diesem Morgen, der Laden war geschlossen. Sie ließ die Katze im Auto zurück und begab sich, inzwischen nass bis auf die Haut, in die ›Brasserie Margot‹ direkt gegenüber. Sie bekam eine Tasse Tee und die Zusicherung, dass Jean-Michel Marchadour innerhalb einer Stunde hier sein werde und sie übernehme. Margot, eine zierliche Frau mit zähem Charakter, telefonierte hinter der Bar ein paar Mal, schimpfte laut hörbar. Eine Stunde und fünfzehn Minuten später holte ihr zukünftiger Chef sie in der Brasserie ab, entschuldigte sich ebenso wortreich wie fantasievoll, übergab ihr einen Schlüsselbund mit ein paar Anweisungen für die nächsten Tage. Er versprach, Ende der Woche ins Geschäft zu kommen, um die letzten Details zu klären.

Julie putzte eine Woche lang den Laden, strich die Wände. Unter dem Spannteppich entdeckte sie einen Dielenboden, den sie mit Edouards Hilfe schliff, bis er glänzte. Sie sortierte Bücher, warf weg, was nicht zu brauchen war und kaufte sich in einem Auktionshaus im Internet ein rotes Sofa aus Samt. Es riss ein Loch in ihr knapp bemessenes Budget, aber es musste sein. Jetzt stand es in der Nische neben dem Eingang, das stilvolle Oma-Sofa. Es bot den wenigen Leuten, die den Laden besuchten, eine Sitzgelegenheit und gab gleichzeitig dem Geschäft einen neuen Namen: Librairie le Divan stand in gemalten, roten Buchstaben auf der Front des Schaufensters. Gemalt, weil sie kein Geld für eine individuell angefertigte Klebefolie ausgeben wollte.

»Wenn es dir gefällt, ändere es. Von mir aus alles. Ich kann dir aber nichts dafür geben.«

Monsieur Marchadour ließ ihr freie Hand. Bei seinen gelegentlichen Besuchen gab er ihr deutlich zu verstehen, dass er ihren Enthusiasmus schätze und überzeugt sei, mit ihr einen Glücksgriff getan zu haben.

Abends fuhr sie mit dem Rad zurück zum Haus und putzte dort weiter. In den ersten Tagen hatte sie nicht mal Strom. Es dauerte einfach, bis das Elektrizitätswerk die Leitungen freigab. Wenn es abends gegen halb zehn dunkel wurde über Saint-Loup, setzte sie sich im Schein der Kerze an den Küchentisch und las. Die ungewohnte körperliche Arbeit ermüdete sie, lenkte aber auch von ihren Gedanken ab. Von den Zweifeln, die täglich an ihr nagten. Der Frage, ob die Entscheidung, Lausanne zu verlassen, nicht nur eine kopflose Flucht war. Oder tatsächlich ein Fortschritt. Back to the roots. Das war es!

In den ersten Tagen kamen die Leute zögernd in den Laden, sie sahen sich um. Staunten über den neuen Glanz, den Julie dem muffigen Ambiente entlocken konnte. Sie lobten ihren Geschmack, die Kunden hießen die Veränderung gut. Aus Freundlichkeit kauften sie Bücher, die sie nach langem Stöbern wahllos aus den Regalen zogen und zur alten Registrierkasse trugen. Der Umsatz, den sie in den ersten Tagen machte, wiederholte sie nie wieder. Julie war realistisch genug, nichts zu erwarten. Der alte Mann, der über der Bäckerei wohnte, kam täglich vorbei. Nicht, weil er sich in der Welt der Bücher so geborgen fühlte, sondern weil Julie ihm einen Kaffee anbot. Umsonst. So setzte er sich auf den roten Diwan, stellte die Tasse auf das runde Tischchen, den Edouard ihr von einem Flohmarkt mitgebracht hatte und nickte zuweilen ein. Es konnte sein, dass er gut zwei Stunden schlief, bis Julie ihn weckte. Er trank den Kaffee kalt, verabschiedete sich zerstreut und schlurfte aus der Türe. Bebe, so nannten man ihn in Saint-Loup, sprach selten. Er trug eine Brille mit so dicken Gläsern, dass seine Augen dahinter riesengroß durchschienen. Das Brillengestell war alt, er hatte es behelfsmäßig mit braunem Klebeband geflickt. Manchmal bot Julie ihm Kekse aus der weihnachtlich dekorierten Dose an, die sie zu Hause gefunden hatte. Bebe tunkte die Kekse sorgfältig in den Kaffee, aß langsam und kaute gut. Wenn er aufstand, verstreute er die Krümel von seiner Hose auf den Boden.

Manchmal klebte noch Buttercreme in seinem Mundwinkel.

Sie hatte sich an ihn gewöhnt. Das ging so weit, dass sie ihn vermisste, wenn er mal nicht kam. Zusammen mit ihm war sie nicht alleine in der Buchhandlung. Er wurde zu ihrem Talisman, ein bisschen jedenfalls. Niemand hörte so geduldig zu wie er, was vermutlich damit zu tun hatte, dass er kaum mehr etwas hörte. Ein Hörgerät trug er nicht.

Nachdem er einige Zeit bei ihr aufgetaucht war, fand sie auf dem Tischchen neben seiner leeren Tasse einen winzigen Bären. Der war sorgfältig und in unglaublicher Feinarbeit aus einem Korken geschnitzt worden, einem gewöhnlichen Zapfen, wie er für das Verschließen von Weinflaschen benutzt wird. Julie konnte im Lauf der zwei Jahre, die sie den Laden führte, die Sammlung um eine Katze erweitern, um ein winziges Auto, einen Apfel, in den sich eine Raupe bohrte, und den Kopf einer Frau mit langen Haaren. Sie sah aus wie Julie. Das Fahrzeug war kein gewöhnliches Auto, sondern ein Citroën, wie ihr Vater ihn bevorzugt fuhr. Die, wie nebenbei liegen gebliebenen Geschenke, berührten sie.

Tata Charlotte kam immer Ende der Woche vorbei. Nachmittags, wenn sie um sechzehn Uhr Feierabend machte. Sie lief stets mit geradem Rücken schweigend durch die Buchreihen. Blieb gelegentlich stehen, hob eines der Bücher aus dem Regal, schob sich die Brille zurecht und las die Rückseite des Buchs. Ordentlich stellte sie es wieder in die Reihe. Sie konnte es nicht lassen, auch die anderen Bücher akkurat in eine Reihe zu stellen. Wenn einer der Einbände, auch nur wenig, aus der Reihe hüpfte, strich sie jedes mit den Händen so lange zurück, bis alle korrekt wie stramme Soldaten in Reih und Glied standen. Sie war immer tadellos angezogen, trug kniebedeckende Röcke und ein passendes Twinset dazu. Um ihren Hals baumelte die Brille an einer silbernen Kette. Mehr Schmuck trug sie nie. Wenn es regnete, hatte sie ihren weinroten Filzhut auf, den Julie noch von früher kannte. Tata Charlotte behandelte ihre Kleider gut, lebte sehr sparsam.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Julie Charlotte zögernd, als sie das erste Mal den Laden betreten hatte. Sie war im September mit allen Renovierungsarbeiten fertig und hatte vor einer Woche erst geöffnet. Im Laden befand sich niemand außer ihnen beiden.

»Ich trinke keinen Kaffee.« Erwiderte sie trocken.

»Möchtest du Tee, ich kann dir einen Tee kochen, wenn du willst.«

»Kamille bitte.« Julie wühlte in der Schublade mit den verschiedenen Teesorten.

»Ich habe keinen Kamillentee. Pfefferminze vielleicht. Oder Grüntee?«

»Nein.«

»Also nichts?«

»Richtig. Du warst lange weg. Warum bist du zurückgekommen?« Sie fragte forsch, während ihr prüfender Blick über Julie glitt, als suche sie etwas.

Die Direktheit befremdete Julie Sie war es gewohnt, sich vorsichtig an die Dinge heranzutasten. Langsam, um Zeit wirken zu lassen.

»Nun. Ich habe in Lausanne als Biologin unter Professor Markus Weisbrot gearbeitet. Ich brauche eine Pause. Hier fühle ich mich wohl.«

»Wie lange gedenkst, du zu bleiben?« Sie hatte ein spitzes Kinn, ihre Augen waren von einem wässrigen Blau. Eine hohe Stirn, die grauen Haare straff nach hinten gekämmt. Sie war angespannt, das konnte man an den Fingern sehen, die fest um den Bügel ihrer Tasche verkrampft waren. So sehr, dass die Fingerknöchel weiß hervor stachen. Sie erinnerten Julie an die Klauen eines Vogels.

»Ich habe keine Pläne. Solange es mir gefällt, Charly. Mir scheint, du hast ein Problem damit.«

»Nenn mich nicht Charly, meine Liebe. Du wirst dich hier langweilen. Hier passiert nichts. Der letzte Bus nach Chambéry fährt um 19 Uhr. Das ist kein Ort für eine Frau wie dich.«

Sie rauschte aus dem Laden, ohne etwas zu kaufen. Als sie das nächste Mal kam, hatte Julie Kamillentee gekauft. Tata Charlotte bat Julie, ihr ein Buch über Konfitüren zu bestellen, das neu herausgekommen war. Sie wollte entschieden keinen Tee.

Das war fast zwei Jahre her. Sie konnte mit der Abneigung von Charlotte umgehen, obwohl ihr die Ursache dafür weiterhin unbekannt war. Julie lebte sich gut ein, führte ein idyllisches Leben, wie sie es sich erhofft hatte. Zuweilen fehlte ihr der Pulsschlag der Stadt, das Nachtleben, die Konzerte und die nächtlichen Gespräche mit ihren Freunden. Der See, die Nachmittage, die sie dort verbrachte. Das Labor der Uni. Die Berge, die sie gemeinsam erklommen, André und sie und die anderen. Das quirlige Leben in dem Beruf, die Referate, die sie gelegentlich den Studenten hielt, wenn André nicht da war. Die Reisen, die sie zusammen unternahmen. Solche Anfälle der Melancholie überkamen sie bisweilen. Sie ergab sich dann den Erinnerungen, ließ sich treiben und wusste, dass diese Episoden immer weniger werden würden mit der Zeit. Inzwischen hatte sie gelernt, damit um zu gehen. Es war ihre Entscheidung, ihre Existenz zurück zu lassen und in Saint-Loup neu zu beginnen. Mit einem kargen Lohn in einem schäbigen, im Winter kaum heizbaren Haus zu leben. Die persönliche Freiheit sah jetzt so aus: viel selbstbestimmte Zeit, einen Liebhaber, der sich um sie bemühte und ein paar nette Kontakte, nicht zu persönlich, mit Leuten aus dem Dorf. Ein beschauliches Leben, gemütlich und klein, für das sie keine Koordinaten und Straßenschilder brauchte, um sich zurechtzufinden.

Es passte. Jetzt und für die nächste Zeit. Was danach kam, wenn Jean-Michel sterben würde und der Buchladen für immer schloss, war ihr egal. Die Zeit für eine neue Standortbestimmung stand noch aus.

Julie hob den Blick vom Bildschirm, als sie das Polizeiauto vorbei fahren sah. Sie hatten eine kleine Gendarmerie in Saint-Loup, mit beschränkten Aufgaben. Die Beamten unterstanden dem Polizeipräsidium Chambéry. Die Gendarmerie befand sich im gleichen Haus wie die Gemeindekanzlei. Zwei Polizisten wachten über Saint-Loup: Ein Junge, Jérôme Roux, der im Rahmen seiner Ausbildung ein halbes Jahr in Saint-Loup verbrachte und sich, wie er sagte, tödlich langweilte. Er hatte sich für ein Praktikum bei der Police Nationale in Marseille und Paris beworben. Dort, wo das Verbrechen agierte, wo die richtig bösen Jungs wirkten. Jérôme stand für Gerechtigkeit, der Jean-Claude Van Damme des Gesetzes. Ohne Furcht und mit viel körperlichem Einsatz wollte er Marseille von der Mafia befreien, die für die dortige Kriminalität zuständig war. Oder in den Banlieues von Paris für Ordnung zwischen den verfeindeten Gangs sorgen. Stattdessen hatten sie ihn in ein Kaff in der Provinz geschoben. Jérôme litt unter Heuschnupfen, seine Augen tränten ständig und das Atmen fiel ihm schwer. Er hasste den Geruch von Gülle, die Regen ankündigte und das träge Leben hier, das keinen Platz für Action zuließ. Der Internetempfang erwies sich als so schwach in Saint-Loup, dass er zeitweise nicht mal mit der Welt draußen verbunden war: wie das Leben auf einem fremden Stern, einer entfernten Galaxy. Er mochte Louis Perrin nicht, seinen direkten Vorgesetzten, der sich ständig ächzend den Bund der Uniformhose über seinen dicken Bauch zog und dessen Stuhl ob seines Gewichtes quietschte.

Zum Glück verließ er den Schemel tagsüber selten, dazu war er zu phlegmatisch. Wenn er sich bewegte, neigte er zu intensivem Schwitzen, was in ihrem kleinen Büro zu einer außerordentlichen Geruchsbelästigung führte. Die Fenster ließen sich zwar öffnen, die Luft von draußen brachte keine Erleichterung, sondern blies in den Raum provokativ Pollen, die seine Schleimhäute anschwellen ließen. Um dies zu vermeiden, hatten sie beschlossen, die Fenster für die Dauer seines Aufenthaltes geschlossen zu halten. Noch neunzig Tage. Dann wurde er versetzt. Diesmal womöglich nach Lyon. Das war gut. Alles war besser als dieses Bauernkaff.

Louis, der Bruder ihres Liebhabers Edouard, führte die Gendarmerie seit Jahren. Er fuhr jetzt temporeich am Schaufenster von Julie vorbei. Hinter ihm her raste Pepe mit seinem Fahrrad. Er stieg in die Pedale, als gelte es, die Tour de France zu gewinnen. Als würde er sich eine Verfolgungsjagd mit dem weißen Renault liefern. Manolo, der braunweiße Mischlingshund von Pepe, spurtete mit heraushängender Zunge hinter dem Fahrrad und seinem Herrchen her. Es hätte nicht viel gefehlt, und Julie hätte ob der Szene laut gelacht. Sie verließ ihren Platz am Computer, wischte sich die Hände am Kleid ab und ging vor die Türe in der Absicht, eine Zigarette zu rauchen. Die schwüle Luft schlug ihr ins Gesicht.

Das Dorf war unruhig, belebter als sonst um diese Zeit. Gegenüber, vor der Brasserie, stand Margot mit ein paar Gästen. Julie winkte ihr zu, war erstaunt, als sie nicht zurückgrüßte. Vor dem Friseur sah sie eine Kundin mit Wicklern in den Haaren und eine andere, die eine Folie auf dem Kopf trug. Die Fenster oberhalb der Bäckerei hatte jemand geöffnet, man sah in die Richtung, in der das Auto verschwunden war. Das Polizeiauto, Pepe und dem Hund hatten die Rue bereits verlassen und waren nach links abgebogen. Die Sonne brannte herunter, die Pappeln raschelten nicht wie sonst. Plötzlich war es still in der Straße. Niemand sprach. Julie wollte sich, unangenehm berührt, von der Szene abwenden und zurück zu der Sicherheit ihrer Bücher, als Tonton der Postbote mit seinem Fahrrad neben ihr hielt. Rot im Gesicht, sein Atem rasselte stoßweise und seine Pupillen vor Angst geweitet.

»Tata Charlotte ist tot. Sie wurde erschossen. Oder erstochen.« Er flüsterte: »Ermordet!«

Seine Augen weit aufgerissen. Da er mit dem linken Auge leicht schielte, erinnerte er Julie in diesem Augenblick an ein Chamäleon.

»Wie meinst du das? Umgebracht?«

»Pepe hat es mir gesagt, er hat sie gefunden. Ihr hing die Zunge aus dem Mund heraus. Hat er gesagt. Liegt in ihrer Wohnung. Oh, mein Gott!«

»Saint-Loup ist der sicherste Ort der Welt, ich schließe nachts nicht mal meine Türe. Das muss ein Irrtum sein. Vielleicht ist sie ausgerutscht und hat sich den Kopf gestoßen und …«

»Warte, bis die Polizei kommt. Louis ist unterwegs. Er wird es herausfinden. Ich brauche einen Schnaps, Julie.« Sein rechtes Auge schaute geradeaus zum Gemeindehaus am Ende der Allee, das linke glitt leicht nach links, zur Brasserie von Margot, seinem erklärten Ziel.

Er stieg umständlich auf sein Rad, indem er das rechte Bein gestreckt über den Sattel zu schwingen versuchte, am Gepäckträger hängen blieb und beinahe gefallen wäre. Julie hatte die Hände ausgestreckt in der Absicht, ihm zu helfen.

Tata Charlotte? Tot? Man starb in Paris, nachts durch einen Überfall. Oder in den Gettos von Chicago. Aber niemals in Saint-Loup.

Tonton war inzwischen mit seinem Rad auf der anderen Straßenseite bei Margot angekommen, trank hastig einen Schnaps, den Margot großzügig nachschenkte, während Julie ein paar Mal aus Betroffenheit vergeblich versuchte, sich ihre Zigarette anzuzünden: Sie rutschte immer wieder mit ihrem Daumen an dem kleinen Metallrad des Feuerzeugs ab und brachte damit ein leises Klicken zustande, aber kein Feuer. Ein Mord in Saint-Loup?

Sie drehte sich zum Schaufenster um, betrachtete nachdenklich ihr eigenes Spiegelbild: eine Frau in einem roten Kleid, zierlich, mit langen, braunen Haaren, die sie der Hitze wegen im Nacken zu einem Knoten geschlungen hatte. Ihr Mund, etwas zu groß für das Gesicht, die Augen waren ockerbraun, gebrannte Erde, die Tönung der alten Häuser von Saint-Loup. Die Augenfarbe war so einzigartig wie wechselnd. Je nach Lichteinfall wirkten sie beinahe bernsteinfarben. Ihre Mutter war blond, blauäugig. Ihre Figur eher üppig mit großen Brüsten, die in ihren Dekolletés kaum zu bändigen waren. Wenn die Familie an Ostern oder Weihnachten zusammen kam, suchten die Mitglieder Ähnlichkeiten zur Familie. Man fand keine. Nicht mal Julies Augen fanden eine Entsprechung in einem Familienmitglied. Oder dann weit weg, bei einer Urgroßtante mütterlicherseits vielleicht, die auch ähnliche Katzenaugen hatte. »Die dumpfen Augen einer Kuh«, sagte ihre Cousine, die selbst winzige Schweinsäuglein in ihrem großflächigen Gesicht hatte. Julie sagte nichts. Auch nicht, als sie auf ihre Sommersprossen aufmerksam gemacht wurde, die zuweilen so nahe beieinander sprossen, dass sie Inseln im Gesicht bildeten. »Du musst Gurkenscheiben auflegen, das hilft.« Oder: «Mach dir nichts draus, kannst du später mit Make-up überdecken.« Bei der letzten Zählung waren noch fünfzehn winzige Kleckse geblieben. Mehr nicht. Im Sommer verdoppelte sich die Anzahl, was Julie keineswegs missfiel. Nicht mehr.

Sie ging in den Laden zurück. Er wirkte düster, sie brauchte einen Moment, bis ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Julie entnahm der Schublade einen kleinen Karton und warf ihn mit Schwung in den Abfalleimer. Sie mochte Kamillentee nicht.

Die Tote von Saint Loup

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