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Kapitel 4

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Simon und ich lernten uns in einem Transferbus kennen. Unser Flug von Paris nach Wien wurde umgeleitet und wir landeten außerplanmäßig in Budapest. Der Schneefall war am Nachmittag so ergiebig und ausdauernd gewesen, dass der Flugbetrieb in Wien eingestellt worden war. Wir warteten ewig. Rund um mich herum, gab es nur fragende und aufgeregte Gesichter – und Simon. Simon wirkte so entspannt, dass sein fröhlicher Gesichtsausdruck inmitten der gereizten Menge fast schon unanständig erschien.

Die Leute waren ungeduldig und sahen immer wieder auf die Uhr. Wir wurden in zwei Busse verfrachtet. Simon stand hinter mir in der Schlange und als ich mich umdrehte, lachte er mich an. Sein Lachen war wie ein heller Lichtstrahl. Ich stieg ein und er setzte sich ganz selbstverständlich auf den freien Platz neben mir. Er teilte mit mir sein Salami-Sandwich und dazu zauberte er aus seinem Rucksack eine Flasche edlen Rotweins, die eigentlich für das Weihnachtsfest gewesen wäre.

»Budapest schauen wir uns ein anderes Mal an, einverstanden?«, sagte er und seine grünen Augen blitzten auf, während er mit einem Leatherman die Flasche öffnete. »Vielleicht im Frühling, wenn es wärmer ist?«

Es war unser erstes Date, vier Tage vor Weihnachten, vor fast zehn Jahren. Der Schnee fiel dicht und geräuschlos durch die dunkle Nacht und es war die schönste Transferfahrt meines Lebens.

Wir trafen uns am nächsten Abend und am Übernächsten und von da an schliefen wir keine Nacht mehr alleine. Auch nicht zu Weihnachten. Wir waren unwahrscheinlich ineinander verliebt, telefonierten drei Mal am Tag, kauften dieselben Winterhauben, gingen Schlittschuhfahren, verwechselten unsere Zahnbürsten.

Im Frühling fuhren wir nicht nach Budapest. Wir zogen in eine hübsche Wohnung ans andere Ende der Stadt mit einer kleinen Terrasse mit Blick ins Grüne und einem Kinderzimmer. So wie viele junge Paare es sich wünschen, wenn sie jung sind und Pläne schmieden. Wir waren glücklich und wünschten uns nur, zusammen alt zu werden.

Wir träumten von einer eigenen Familie und Kindern. Man braucht Gott nicht, wenn man glücklich ist. Man muss sich nicht an ihn wenden. Man vergisst ihn. Wenn die Sinne verwöhnt sind und es das Leben gut mit einem meint, vergisst man nicht nur Gott, sondern auch sich selbst.

Dann kam Nico und unser Glück war perfekt. Simon arbeitete mehr, weil die Verantwortung jetzt größer war, wollte mehr verdienen, arbeitete noch mehr und irgendwann waren wir weniger verliebt. Das geschah schleichend, ich weiß nicht mehr genau, wann es begonnen hat. Er war ein hervorragender Osteopath und seine Hände waren sanft und bewirkten Wunder. Und je mehr Wunder er vollbrachte, desto begehrter wurde ein Termin bei ihm.

Dann kam eine Fehlgeburt. Das Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Ich kam aus dem Krankenhaus und konnte nicht aufhören zu weinen. Simon legte seine Hände auf den Nacken einer der vielen Damen, die unter Verspannungen litten, während ich fast an meinen Tränen erstickte und mir nur wünschte, dass seine Hände mich umarmten. Mich, meinen Schmerz und meinen Bauch, der so leer war.

Die Damen mit den Verspannungen stellten sich an und wahrscheinlich wählte er eine aus. Ich roch das neue Rasierwasser, ich sah neue Hemden. Ich spürte sein schlechtes Gewissen, verstand die noch längeren Arbeitszeiten, die Einsilbigkeit seiner ausweichenden Antworten und wusste, dass er mich betrog.

Ich liebte Simon und ich liebte ihn wahrscheinlich auch noch, als er mir zu verstehen gab, dass wir ihn nur noch am Leben hinderten. Mein Kummer schien ihm erträglich. Ich hatte ihm meinen Schmerz auf eine für ihn erträgliche Art und Weise gezeigt. Ich schwieg und litt still vor mich hin. Und mein Schweigen kam einem Einverständnis gleich.

Nico nahm er in den letzten Wochen kaum noch mehr in den Arm, vermutlich, damit es ihm weniger wehtat, wenn er ging. Was für eine elende, verworrene Zeit!

Ich lege das Notizbuch zur Seite, gehe ins Badezimmer, halte meine Hände unter das kalte Wasser und wasche mir das Gesicht. Ich denke an Traugott. Alleine die Vorstellung seines Lächelns ist wie eine lindernde Umarmung. Traugott hat mich gelehrt, dass es nichts Zufälliges geben kann, dass es im Leben kein Versehen gibt und dass jede Schneeflocke zur rechten Zeit am rechten Ort landet. Simon und ich – wir waren nie wieder in Budapest.

Je mehr ich an Traugott denke, desto mehr kommen mir bruchstückhaft wieder seine Worte in den Sinn:

»Sei geduldig. Wer Geduld hat, versteht, dass er immer jetzt am richtigen Ort ist. Muße ist nicht Trägheit, genauso wenig wie Zufriedenheit Stagnation bedeutet. Wer Muße hat, ist reich, denn er hat immer ausreichend Zeit für das, was ihm das Leben jetzt gerade bietet.«

Traugott hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, auf die kleinen Dinge zu achten, die das Leben uns allen schenkt, und zu vertrauen, dass jeder so wie er ist geliebt wird. Er hatte mich aufgefordert, die Priorität meiner Werte zu überdenken und neu zu sortieren.

Ich setze mich auf das Sofa mit der beängstigenden Einsicht, wie wenig ich mich im Leben und mit mir selbst auskenne. Auf der dritten Seite von Traugotts Notizbuch findet sich nur ein Satz und ein Pfeil fordert zum Umblättern auf.

Know you are loved →

3. Notiz (die Erklärung dazu)

Es ist wirklich sehr einfach: Es gibt zwei Wünsche, nach deren Erfüllung alle Menschen permanent streben. Nur diese zwei. Und darum dreht sich die ganze Welt. Der eine ist der Wunsch nach Liebe und der andere der Wunsch nach Anerkennung.

All unser Streben lässt sich auf diese zwei Wünsche reduzieren. Jeder von uns will geliebt und anerkannt werden. Wir streben danach in einem Ausmaß, als würde unser Leben davon abhängen. Die Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich dieser beiden Wünsche mögen unterschiedliche Ausprägungen haben, die Wurzel ist jedoch immer dieselbe.

Du willst geliebt werden – so wie du bist, für das, was du bist. Und du suchst diese Liebe im Außen. Du willst sie von anderen bestätigt wissen. Wenn du verstanden hast, dass du so wie du bist bereits geliebt wirst, brauchst du im Außen nicht mehr zu suchen. Liebe von außen ist ein Konstrukt, das irgendwann zusammenbricht. Denn in der polaren Welt ist nichts einseitig von Dauer. Jeder Pol hat seinen Gegenpol und Mensch zu sein heißt, die Erfahrung der Polarität zu machen.

Du wünschst dir, geliebt zu werden, und glaubst, dass du dir diese Liebe verdienen müsstest! Du malst ein Bild von dir selbst, dem du entsprechen möchtest, und siehst zu, dass du diesem Bild ähnlich wirst. Du glaubst, dass wenn du diesem Bild entsprichst, du dir die Liebe verdienen könntest! Mehr noch, du glaubst sogar, du hättest dann einen Anspruch auf die Liebe, weil du an diesem Bild akribisch feilst, und bist enttäuscht, wenn es nicht so ist. Welche Anstrengungen du permanent unternehmen musst, damit sich der Wunsch nach Liebe für dich erfüllt!

Selbst wenn er sich für dich eine Zeit lang erfüllt, ist die Befriedigung nur von kurzer Dauer: Entweder es keimen neue Wünsche auf oder du hast Angst, sie wieder zu verlieren. Du lebst immer in der Polarität von Erwartung und Befürchtung.

Wahr ist vielmehr, dass du dir diese Liebe nicht verdienen musst. Du kannst sie dir gar nicht verdienen, weil du so wie du bist, schon geliebt bist.

Du musst keinem anderen Bild entsprechen als jenem, das Gott von dir schon gezeichnet hat! So wie du bist, bist du von Gott gewollt. Sonst wärst du gar nicht hier auf Erden!

Du musst nichts an Gottes Werk verbessern, korrigieren oder berichtigen. Denn das würde bedeuten, Gott nicht dafür wertzuschätzen, was er in dir veranlagt hat, und dich nicht wertzuschätzen für das, was du in dieser Welt zum Ausdruck bringen sollst. Und wenn du selbst nicht wertschätzt, was Gott in dir veranlagt hat, kannst du auch jene nicht wertschätzen, die dich lieben, und damit kann diese äußere Form der Liebe auch nicht beständig sein.

Du stellst nicht nur dich selbst infrage, sondern auch jene, die dich lieben, und am Ende auch Gott selbst. Die Anerkennung messen wir in den unterschiedlichsten Einheiten: Es geht um Status, um Wohlstand, um Macht, um Intelligenz, um Aussehen – je nachdem, was uns gerade am meisten fehlt oder von dem wir glauben, dass es uns am dienlichsten ist, um Anerkennung wirksam im Außen finden zu können und von anderen bestätigt zu wissen.

Anerkennung von außen ist auch ein Konstrukt, das niemals ewig standhalten kann: Denn selbst der mächtigste Mensch, wird im Angesichts des Todes all seine Macht abgeben und sie Gott aushändigen müssen. Selbst der reichste Mensch wird sich irgendwann von seinem Reichtum trennen müssen und auch das attraktivste Gesicht und der sportlichste Körper werden altern und irgendwann erschlaffen. Alles, wonach ihr strebt, ist vergänglich. Vergänglichkeit ist die Natur aller Dinge.

Du willst anerkannt werden für das, was du bist, für deine Werke und deine Taten? Erkenne dich selbst an, erkenne Gott in dem an, was er in dir und durch dich zum Ausdruck bringt. Und du wirst Demut und Dankbarkeit empfinden für das, was du bist, und nicht mehr nach Liebe und Anerkennung im Außen suchen.

Du wirst verstehen, dass dich Gott anerkennt, so wie du bist, und dass du nichts tun oder sein musst, um dir diese Anerkennung zu verdienen, weil sie gottgegeben ist. Suche nicht im Außen das, was im Inneren bereits vorhanden ist. Wende dich nach innen, lebe von innen nach außen und erfahre in dir Gottes Liebe und Anerkennung.

Weil du im Außen immer nur versuchst, deine Wünsche zu erfüllen, ist dein Leben anstrengend. Du wendest ein hohes Ausmaß an Energie auf, um permanent einem Bild zu entsprechen, das du dir selbst auferlegst. Du tust Dinge, von denen du meinst, dass sie dir die Anerkennung bringen, der du glaubst zu bedürfen. Du läufst immer selbst gesteckten Erwartungen hinterher, weil an ihnen dein Glück zu hängen vermag. Aus einem Bedürfnis entstehen immer Zwang und Perfektionismus. Und Zwang ist das Gegenteil von Freiheit. Deshalb fühlst du dich gefangen. Du nimmst dir selbst deine Freiheit.

Erkenne dich selbst an, dann kannst du frei sein, frei handeln. Du tust dann nur noch Dinge, die dein Ausdruck von Gott sind, und nicht mehr ausschließlich solche Dinge, die Ausdruck deiner Bedürfnisse nach Liebe und Anerkennung von außen sind.

Wünsche sind ein Fass ohne Boden, denn kaum sind sie erfüllt, entstehen neue Wünsche, die als Nächstes erfüllt werden wollen. Denn auch die Befriedigung der Wunscherfüllung ist vergänglich.

Stell dir vor, jeder würde erkennen, dass er so wie er ist anerkannt und geliebt ist. Jeder wäre frei in seinen Handlungen und müsste nicht permanent versuchen, seine Wünsche nach Liebe und Anerkennung zu erfüllen. Das wäre ein Leben in Freiheit und Harmonie, in dem jeder in jedem Gott erkennen würde. Dann wäre jeder frei von seiner Bedürftigkeit und könnte sich in Freiheit seinen tiefsten Sehnsüchten und seiner ureigenen Lebensaufgabe zuwenden. Das wäre das Paradies.

Ja, es ist so. Die meisten wollen nur geliebt werden und strengen sich dafür außerordentlich an. Ganze Industrien leben ziemlich gut davon, dass die Menschen Liebe und Anerkennung brauchen. Mode, Sport, Diäten, Kosmetik, Wellness … Die Liste ist lang. Wie wäre die Welt, wenn die Menschen in dem Ausmaß lieben würden, wie sie geliebt werden wollen?

Ist es wirklich Liebe, wenn ich mich an Simon festklammere? Ist es Liebe, wenn ich ihn gefühlsmäßig für mein Glück so sehr brauche?

4. Notiz

Wenn du mit deinem Leben nicht zufrieden bist, dann denke neu, erfinde dich neu. Male dir in den schönsten Farben ein neues Leben aus und lass das alte los. Schau nicht zurück.

Du kannst nicht am alten Leben hängen, es beklagen, es bedauern und gleichzeitig dein neues Leben entwerfen wollen. Nimm ein neues Blatt Papier, ein unverbrauchtes, leeres Blatt, und male dir deine erhabensten Wünsche aus. Überlege, wie du dein Potenzial und deine Talente am besten zum Ausdruck bringen kannst, und mache dich auf den Weg. Beklage nicht, was jetzt ist – du hast es so gewählt –, sondern akzeptiere, dass du so gewählt hast, und mache dich auf zu neuen Ufern.

Warte nicht auf ein Ereignis im außen, um dich auf den Weg zu machen, es kommt jetzt nicht.

Wirkliche Veränderungen finden von innen nach außen statt, nicht von außen nach innen.

Du musst über den Tellerrand hinausblicken. Es gibt nichts, was du zu beklagen hättest. Das Leben meint es gut mit dir. Du hältst an dem Vertrauten fest, du hast Angst, es loszulassen, weil es dir Sicherheit gibt. Aber das ist nur eine scheinbare Sicherheit. Es gibt nichts im Leben, das man festhalten könnte. Du musst alles loslassen, damit es zu dir zurückkommt. Nichts, woran du festhältst, wird dich auf Dauer glücklich machen.

Loslassen heißt, etwas freigeben. Nichts ist von Dauer. Alles, was besteht, ist dem Wandel unterworfen. Bewege dich mit dem Wandel und denke neu. Was du festzuhalten versuchst, kann sich nicht verändern.

Durch dein Festhalten versuchst du, ein universelles Gesetz zu unterbinden. Was du festhältst, kann sich nicht weiterentwickeln. Was du festhältst, kann nicht wachsen, es kann sich nicht entfalten, es verdirbt in deinen Händen. Das was du am meisten liebst und am meisten fürchtest, musst du loslassen.

Loslassen heißt, es gehen zu lassen, keine Erwartungen und Befürchtungen mehr zu hegen, es einfach sein zu lassen. Keine Emotionen aufkommen zu lassen. Das ist ein Prozess und je höher der Leidensdruck, desto eher wirst du immer darauf gestoßen, es zu praktizieren. Dafür bedarf es der Geduld, der Ausdauer und der Disziplin.

Bei geringem Leidensdruck wird es an Disziplin mangeln, je höher aber der Leidensdruck, desto höher wird deine Bereitschaft sein zu verändern.

Ich lausche dem Regen, der jetzt auf die Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses klopft. Ich betrachte Simons Foto und lege es in die Schachtel. Er wollte uns nicht genug, um bei uns zu bleiben. Vorläufig.

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Traugott

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