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Frankfurt 2013

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Der Therapeut machte die Tür auf, Johnny M. Walker trat ein und setzte sich auf die Couch im Patientenzimmer.

„Guten Tag, Herr Mackebrandt.“

„Ich mag den Namen Mackebrandt nicht. Nennen Sie mich Walker“, griff Johnny sofort an.

„Guten Tag, Herr Walker.“

„Guten Tag, Dr. Camara.“

„Wie geht es Ihnen heute?“, fragte Doktor Camara.

„Ich weiß es nicht, Herr Doktor. Es ist so komisch mit mir. Aber seit Monaten eigentlich nichts Unnormales für mich. Ich weiß, dass Sie, wie ihre Kollegen, sagen werden, dass ich nur müde bin und Ruhe brauche. Deswegen frage ich mich wirklich, warum ich eigentlich hier bin.“

„Warum sind Sie dann heute hier?“, fragte der Therapeut.

„Ich glaube nicht, dass ich wirklich verrückt bin, wie Dr. Helling bereits gesagt hat. Ich höre Stimmen in mir, das heißt, ich höre eine bestimmte Stimme in mir. Die Stimme eines Kindes, das mich auffordert, es zu befreien. Das Kind weint und weint und sagt, dass ich sterben soll. Ja, es sagt, ich soll mich umbringen, damit es endlich seine Ruhe findet, aber ich weiß nicht, wer es ist und was es will“, erklärte Johnny M. Walker.

„Warum fragen Sie es nicht direkt, wer es ist? Es redet doch und Sie können es hören. Vielleicht kann es Sie auch hören?“, fragte der Therapeut ein bisschen ironisch.

„Ich weigere mich, Herr Doktor, zu glauben, dass ich verrückt bin. Mit ihm zu reden würde heißen, ich bin verrückt. Mit ihm zu reden würde bedeuten, dass ich multiple Persönlichkeiten habe, aber das stimmt nicht. Ich bin nicht viele“, gab Johnny zurück.

„Und was wollen Sie dann bei mir, wenn Sie nicht krank sind?“

„Ich weiß, dass ich nicht krank bin. Ich kann alles sonst normal machen, aber es wird von Tag zu Tag immer schwerer. Früher hat diese Person nur nachts mit mir geredet, wenn alles ruhig und ich allein war. Nun redet sie auch, wenn ich unter Leuten bin oder auch während eines Vortrages, überall. Ah ja, wie jetzt! Es redet, Doktor. Das ist die Stimme, da ist sie!“, sagte Johnny.

„Wie ist die Stimme? Ist es die Stimme eines Jungen oder eines Mädchens?“, wollte Dr. Camara wissen.

„Es ist die Stimme eines Jungen“, antwortete Johnny M. Walker.

„Was sagt das Kind?“

„Das Kind ist nicht von hier. Es hat einen total anderen Akzent. Es hat nur einmal Französisch geredet, als es mir sagte, dass ich sterben muss, sonst redet es in einer fremden Sprache, die ich nicht kenne“, erklärte Johnny.

„Können Sie beschreiben, was es auf Französisch gesagt hat?“, bat der Therapeut.

„Es sagte: libérez moi, libérez moi, je suis mort pour que tu vives, maintenant tu dois mourir pour que je trouve ma paix.“

„Ja, es sagte, es ist gestorben, damit Sie leben, und Sie müssen nun sterben, damit es seine Ruhe findet. Und die andere Sprache?“, fragte Dr. Camara.

„Ich habe sie noch nie gehört und kann sie gar nicht wiedergeben. Es klingt so fremd und die Stimme wird immer bedrohlicher“ sagte Johnny.


* * *


Johnny M. Walker war 32 Jahre alt, Rechtsanwalt, verheiratet, Chef und Teilhaber der Kanzlei Mackebrandt und Mackebrandt, seine Mutter war die andere Teilhaberin.

Er wohnte am Woog in Darmstadt und war der Sohn des Bauunternehmers Walker Mackebrandt und der Rechtsanwältin Margot Mackebrandt.

Das Leben von Johnny war bzw. besser gesagt sollte eigentlich ein Musterleben sein. Von außen schien es auch so.

Vor 34 Jahren hatten sich seine Eltern Walker und Margot Mackebrandt kennengelernt. Damals arbeitete W. Mackebrandt in der kleinen Baufirma seines Vaters.

Er war gerade mit dem Studium fertig gewesen und hatte sich bei verschiedenen Firmen beworben. Während er auf eine positive Antwort wartete, half er in der Firma seines Vaters, die ständig gegen die Pleite kämpfen musste.

Er hatte nicht vor, in dieser kleinen Stadt und in der Nähe seiner Eltern zu bleiben, und deswegen bewarb er sich nur bei Firmen, die in großen Städten saßen.

Der frühe Tod seines Vaters, der sich aus bis heute ungeklärten Gründen das Leben nahm, änderte seine Zukunft. Er blieb doch in Darmstadt. Die Firma seines Vaters zu retten wurde für ihn eine persönliche Sache, eine Ehrensache, und bald wurde die Firma Mackebrandt Bau die größte Baufirma der Region und der Name Mackebrandt eine Institution in Darmstadt.

Er machte die Bekanntschaft mit Margot, als er Baumaterial bei ihren Eltern abliefern musste. Sie war allein zu Hause und lernte für ihr Abitur.

Eine Woche später trafen sie sich zufällig in der Straßenbahn nach Eberstadt wieder, und seitdem waren sie nicht mehr zu trennen.

Margot studierte nach ihrem Abi Jura in Frankfurt, und zwei Jahre später heirateten sie. Sehr schnell, noch als Studentin, wurde sie schwanger, und 9 Monate später, vor exakt 32 Jahren, wurde Johnny W. Mackebrandt geboren.

Der kleine Johnny war für die Familie Mackebrandt das Zentrum des Lebens. Als einziges Enkelkind auf beiden Elternseiten wurde er entsprechend verwöhnt und bekam alles, was er wollte und auch alles, was er nicht wollte und gar nicht brauchte.

Er wuchs in einem sehr behüteten Umfeld auf, wo man sich über Geld keine Gedanken machen musste, es aber ein wichtiges Statussymbol war. Es wurde nicht nur luxuriös gelebt, es wurde auch gezeigt und präsentiert, wie reich man war und in welchem Luxus man lebte.

Als Johnny 7 war zogen seine Eltern aus dem Darmstädter Vorort Eberstadt direkt nach Darmstadt, in das noble Steinbergviertel, wo sie zu dritt in einer riesigen, dreistöckigen Villa wohnten.

Margot war mit dem Studium fertig und arbeitete nun als Rechtsanwältin in einer Kanzlei in Frankfurt.

Die Firma Mackebrandt erhielt sogar Aufträge aus dem Ausland und wuchs sehr schnell. Beide Elternteile waren beruflich erfolgreich und gesellschaftlich anerkannt, aber privat unglücklich.

Der kleine Johnny liebte es Fußball zu spielen, und nach einigem Zögern stimmte die Familie zu, dass er doch in einer Mannschaft spielen durfte. Häufig musste seine Oma ihn ins Training und auch zu den Spielen fahren. Seine Mama schaffte es, am Wochenende Zeit zu haben, aber der Papa selten. Er hatte immer etwas zu tun, war ständig auf Veranstaltungen, und wenn er zu Hause war, wurden Gäste eingeladen.

Der kleine Johnny hatte seinen Vater selten für sich allein und das machte ihn sehr traurig. Er hatte alles, was andere Kinder nicht hatten, er konnte sich alles kaufen und bestellen lassen, aber das, was die anderen Jungs in seinem Alter hatten, vermissten er sehr: seinen Papa und eine normale Familie. Er träumte davon, im Sommer nachmittags nach der Arbeit oder am Wochenende mit seinem Papa auf den Fußballplatz zu gehen und Fußball zu spielen. Er träumte davon, mit Papa und Mama einfach zu spielen, auf seinen Vater zu hüpfen, mit ihm Quatsch zu machen. Aber dieser Traum wurde selten Wirklichkeit. Wenn er sich beklagte, sagte die Oma nur: „Deine Eltern müssen so viel arbeiten, damit es dir gut geht.“ Johnny verstand das nie richtig und war sehr traurig darüber. Er fing an, an seinen Fingernägeln zu kauen, und seinen Frust verarbeitete er mit Sport: mit Schwimmen und Fitness im Sportkeller der Villa.

Fußball spielte er sehr gern, und er wurde bei den Spielen seiner Mannschaft fast immer aufgestellt. Er war zielstrebig, fleißig und zuverlässig, genau die Werte, die man ihm zu Hause mitgab. Wenn er etwas machte, machte er es voll. Er gab alles, hatte keine Angst vor Verletzungen und Verlusten, war sehr kämpferisch. Das gefiel seinem Trainer sehr, und obwohl er nicht so talentiert war, war er dennoch immer dabei.

Dann kam dieser Tag, der Tag des Schreckens. Es war im Mai 1990. Obwohl er die letzten Tage eine schwere Erkältung gehabt hatte und Antibiotika einnehmen musste, hatte er sich entschieden, das nächste Spiel zu spielen.

Er erinnerte sich noch, wie er mitten beim Spiel der TSG 1846 gegen den SV Darmstadt 98 plötzlich da auf dem Boden lag und alles vor seinen Augen verschwamm.

Er erinnerte sich noch, wie er wie im Traum etwas hörte: „Schnell, schnell einen Krankenwagen! Ruf einen Krankenwagen!“, und auf einmal war der Blackout da. Er war gerade 9 Jahre alt.


* * *


Johnny war mittlerweile 32 Jahre alt und verheiratet. Seine Tochter Melanie war 4, sein Sohn Jonas 7 Jahre alt, und er vergötterte die beiden über alles. Die schlechten Erfahrungen aus seiner Kindheit hatten ihn dazu gebracht, mehr für sie da zu sein. Er kümmerte sich sehr um sie und nahm sich viel Zeit für die Familie. Er begleitete seinen Sohn mindestens einmal pro Woche ins Training. Am Wochenende hatte er nichts anderes zu tun, als für seine Familie da zu sein. Genau das Gegenteil von dem, was sein Vater getan hatte. Vielleicht auch wegen der schlechten Erfahrung mit seiner Eltern, hatte er sich als Frau keine Karrieristin ausgesucht, sondern eine Frau, die der Familie ebenfalls viel Zeit geben konnte und wollte. Seine Frau Lisa, ebenfalls 32, war Grundschullehrerin an der Elly-Heuss-Knapp Schule in Darmstadt und hatte so genug Zeit für die Kinder und musste nicht, wie seine Mama, nur auf Kindermädchen zählen.

Obwohl er sich alles leisten konnte, hatte er es vorgezogen, in einem normalen Haus zu wohnen. Er hatte bis heute noch Angst, wenn er riesige Häuser mit sehr vielen Räumen sah. Das erinnerte ihn immer an seine leere und kalte Kindheit zu Hause. Damals hatten sie in der dreistöckigen Villa mit mehr als 10 Zimmern, 5 Bädern, einem Schwimmbad im Freien und einem im Keller gewohnt, obwohl sie nur zu dritt gewesen waren. Zu groß hatte er sein Zuhause immer gefunden und ohne Wärme. Meistens war er mit dem Dienstmädchen allein zu Hause gewesen und war dann aus Langweile immer von Zimmer zu Zimmer gegangen, damit die Zeit schneller verging.

Er hatte sich lieber ein beschauliches Haus in der Heinrich- Fuhr-Straße gekauft, wo jedes Kind sein Zimmer hatte, er seines und seine Frau ihres. Nichts war überflüssig, er hatte den Eindruck, dass es viel Wärme im Haus gab, und er konnte die Familie sofort im Blick haben.

Die Spätfolgen seiner unglücklichen Kindheit verfolgten ihn immer noch. Der frühe Tod des Vaters beschäftige ihn nach wie vor. Er hatte diesen Tod damals als persönlichen Angriff gegen sich selbst empfunden. Und er machte sich viele Vorwürfe. Hatte es daran gelegen, dass er seinem Vater die Liebe verweigerte und kaum Bindung zu ihm hatte? Hatte es daran gelegen, dass er unglücklich war und sein Vater es bemerkte? Hatte es daran gelegen, dass er seinem Vater einmal gesagt hatte, er sollte sich mehr um seine Familie kümmern, statt um den Ruhm bei falschen Freunden? Hatte es daran gelegen, dass er kein Interesse gehabt hatte, den Ingenieurberuf zu erlernen wie sein Vater? Dass er immer das Gegenteil machte und wollte als sein Vater? Tatsache war, dass ihn dieser Selbstmord, genau wie der seines Großvaters, sehr erschütterte und er das Gefühl hatte, dass es ihn als Versager und böses Kind darstellte.


* * *


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