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Kapitel 1: Eine neue Welt
ОглавлениеDas Schicksal besitzt einen komischen Sinn für Humor, doch es macht keine Fehler.
Stephans Augen stolperten über die Schlagzeile; sie diente als Titel irgendeiner Promireportage in einer Klatsch- und Tratschzeitschrift. Der angebliche Promi sagte ihm nichts, aber irgendwie blieben seine Gedanken an den Worten hängen. Machte das Schicksal wirklich keine Fehler? Ob das in jedem Fall zutraf, vermochte er nicht zu sagen, aber für sein Empfinden steckte ein Fünkchen Wahrheit in den Worten. Denn es war ein seltsamer Zufall, dass er als Pferdewandler, der durch einen Autounfall verwaist war, ausgerechnet von Pferdezüchtern adoptiert worden war. Seine Adoptiveltern hatten ihn nicht nur mit Liebe überhäuft, bevor sie überraschend doch zwei leibliche Kinder bekommen hatten, sie hatten ihn sich als stolzen großen Bruder fühlen lassen, hatten sich mit seiner überschüssigen Energie, die einem Wandler innewohnte, auseinandergesetzt, damit arrangiert und hatten ihn Zeit seines Lebens unterstützt. Auch den Schock, als eines Tages anstelle ihres Sohnes ein waschechtes, pechschwarzes Fohlen in seinem Zimmer gestanden hatte, hatten sie verarbeitet. Sie hatten versucht an Informationen über Wandler zu kommen, die sie schließlich vom besten Freund seines Adoptivvaters, Sensei Enzo, bekommen hatten, der nach wie vor rätselhafte Verbindungen besaß. Das gesammelte Wissen hatten sie an Stephan vermittelt, damit sie alle mit seiner zweiten Natur umgehen konnten. Das war nicht selbstverständlich. Inzwischen wusste er, dass die meisten Wandler, die aufgrund unglücklicher Umstände in menschlichen Pflegefamilien landeten, oftmals von einer zur nächsten gereicht und als schwer erziehbar eingestuft wurden und nur selten dauerhafte Adoptiveltern fanden. Spätestens nach ihrer ersten Verwandlung wurde es hässlich. Wandler wurden dann meistens verstoßen oder ihnen wurde Schlimmeres angetan. Es kam auch vor, dass sie Opfer von schweren Misshandlungen oder gar brutalen Teufelsaustreibungen wurden. Und das bis heute, im verdammten 21. Jahrhundert. So aufgeklärt sich die Menschen auch gaben, wenn man sie mit etwas scheinbar Unerklärlichem konfrontierte, zeigten sie sich so abergläubisch wie eh und je. Die Existenz von Wandlern war zwar größtenteils ein gut gehütetes Geheimnis und die wenigsten Menschen wussten etwas darüber, dennoch gab es überall strategisch platzierte Individuen, die entweder das Geheimnis kannten oder aber selbst Wandler waren. Der Wandlerrat bemühte sich stets, die Gesellschaft auf allen Ebenen mit Wandlern und aufgeklärten Sympathisanten zu durchdringen, die aus Schlüsselpositionen Wandlern halfen, die mit der Welt der Menschen in Konflikt gerieten, und zugleich versuchte der Rat das Geheimnis zu wahren. Außerdem sorgte er für den Einhalt der internationalen Wandlergesetze, die eine angepasste Charta der Menschenrechte enthielten und darüber bestimmten, wann und in welcher Form ein Wandler von nationalen Gesetzen abweichen durfte. Im Interesse des allgemeinen Friedens hatten die meisten Regierungen diesen Text unter vorgehaltener Hand ratifiziert. Würde öffentlich bekannt, dass es Wandler gab, oder gar wozu sie fähig waren, wäre ein Krieg unausweichlich. Das wollte niemand.
In Anbetracht der widrigen Umstände konnte sich Stephan als gesegnet betrachten, als damals Fünfjähriger von solch verständnisvollen Adoptiveltern aufgenommen worden zu sein. Seine leiblichen Eltern vermisste er kaum, denn sie waren nur noch eine schemenhafte Erinnerung in seinen Träumen.
***
»Flight three zero five from San Fransisco will be delayed by thirty minutes«, riss die Flughafenansage Stephan aus seinen Gedanken.
Na prima, das bedeutete, dass er noch mehr Zeit am Flughafen totschlagen musste. Geduld war nicht seine Stärke.
Während er sich genervt und gelangweilt auf einen der unbequemen Plastiksessel fallen ließ, die wenig dekorativ in der Empfangshalle aufgereiht waren, versuchte er die Gedanken an das Schicksal abzuschütteln. Unsinniges Herumphilosophieren war nicht seine Art.
Neben ihm ließ sich eine hübsche Brünette frustriert schnaufend nieder. Sie sah ihn kurz darauf lächelnd an. Ihr Blick war eine Einladung, sie anzusprechen. Eigentlich war ihm nicht nach flirten, aber alte Gewohnheiten waren schwer abzulegen und sie war genau sein Typ. Außerdem hatte er gerade nichts Besseres zu tun.
»Da werden diese uneleganten Plastikgestelle doch gleich viel schöner«, verwickelte er sie in ein Gespräch.
»Interessante Wortwahl. Innenarchitekt?« Sie betrachtete ihn unter hochgezogenen Augenbrauen.
Zugegeben, es war nicht sein bester Anmachspruch gewesen. »Nicht schlecht. Ich studiere im letzten Semester Architektur.«
Flirtstimmung oder nicht, eine halbe Stunde später hatte er Jennys Handynummer, wusste, dass sie gerade ihr Examen als Krankenschwester gemacht hatte, gerne ins Fitnessstudio und in die Tanzschule ging und gerade ihre Schwester abholen wollte, deren Flug aus München ebenfalls Verspätung hatte. Offensichtlich flirtete sie ebenso gerne wie er und hatte sich womöglich nicht zufällig neben ihn gesetzt. Er konnte sich durchaus vorstellen, sie näher kennenzulernen. Normalerweise hätte er keinen Augenblick gezögert, doch etwas bremste ihn. Seine tierische Hälfte blieb vehement uninteressiert, während sich seine menschliche irritiert fragte, was los war.
»Und warum hängst du hier ab?«, fragte sie. »Oder bist du nur hier, um unschuldige Mädchen aufzureißen?«
Ihr neckischer Tonfall verriet ihm, dass sie alles anderes als unschuldig war und Interesse hatte. Vermutlich könnte er ein paar unverbindliche Dates und eine Menge Spaß mit ihr haben. Könnte.
»Ich hole meinen Tandempartner ab«, antwortete er knapp. Irgendwie hatte er keine Lust, das Gespräch zu vertiefen und etwas über sich preiszugeben.
Mission des Tages: Führe den unangenehmsten Flirt deines Lebens. Mission erfüllt, dachte er.
»Oh, fahrt ihr zusammen Fahrrad? Etwa Rennen? Gibt es so etwas auch für Tandems?«
Stephan schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, tun wir nicht. Und ich weiß nicht.« Das Missverständnis war nachvollziehbar, er hatte sich schließlich zu unklar ausgedrückt. Was zum Henker war heute nur los mit ihm? »Ich habe doch erzählt, dass ich hier an der Uni studiere«, sagte er schulterzuckend. »Hier in Dortmund gibt es ein Programm für ein Alltagstutoring, oder so etwas in der Art, für ausländische Studis. Da mache ich mit. Man muss dafür nur eine Fremdsprache fließend beherrschen. Sie nennen es Tandemprogramm. Es geht darum, die Uni zu erklären, wo man einkauft, welche Papiere man wo beantragt, Alltagskram halt. Mein Tandempartner kommt aus Oregon und landet hoffentlich bald mit dem Flieger aus San Francisco.« Was er verschwieg, war, dass er von einem der Wandler des AStA darum gebeten worden war, sich um den Pumawandler Reggie Miller zu kümmern. Ich kenne dich, Stephan, hatte sein Bekannter Mark gesagt. Du schreckst nicht davor zurück, mit einem großen Raubtierwandler zu arbeiten. Die meisten Wandler an der Uni sind entweder Beutetiere, sehr kleine Raubtiere oder nicht dominant genug. Er ist ein dominantes Mitglied eines starken Rudels. Außerdem sprichst du Englisch besser als so manch Muttersprachler. Mark war kein Freund. Die tierische Hälfte des Fuchswandlers war zu unterwürfig und er war darüber hinaus viel zu schüchtern, um mit Stephans sehr dominantem Hengst umgehen zu können. Es war nicht einfach, Freundschaft mit jemandem zu schließen, der ihm niemals in die Augen sah. Aber Stephan wusste, dass Mark gut darin war, abzuschätzen, wer mit wem harmonierte. Davon abgesehen, wollte sich Stephan nicht die Chance entgehen lassen, den Pumawandler kennenzulernen.
Im dicht bevölkerten Ruhrgebiet gab es keine Rudel im eigentlichen Sinne, es war eine der größten offiziellen rudelfreien Zonen. In manchen Gebieten verbot es der Rat, dass sie von Rudeln beansprucht wurden. Wandler, die hier lebten, waren Einzelgänger wie Stephan oder lebten in kleinen Familiengruppen. Abgesehen davon waren in Mitteleuropa, trotz der hohen Bevölkerungsdichte, starke Rudelverbände überaus selten. Stephan war neugierig auf die Lebensweise des Amerikaners.
Jenny legte ihre Stirn in Falten, als müsse sie darüber nachdenken, was er ihr gesagt hatte. »Wenigstens ist es ein Kerl.«
Der Unterton in ihrer Stimme sprach Bände. Wenn er vorhatte, sie anzurufen, sollte er wohl besser nicht erwähnen, dass er bi war und die Frage des Geschlechts somit irrelevant. »Ja«, sagte er nur.
»Wie sieht er denn aus?«, fragte sie neugierig.
»Ich habe keine Ahnung, ich habe ihn noch nie gesehen«, antwortete er schulterzuckend. Er hatte nicht einmal einen Facebook-Account gefunden. Allem Anschein nach schützten die Rudel in Amerika ihre Privatsphäre deutlich stärker als Wandler in Europa.
»Hat er dich schon gesehen?«
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Wenn Reggie soziale Netzwerke nicht nutzte, hatte er vermutlich auch nicht darin nach ihm gesucht.
Sie musterte ihn. »Du scheinst keine Willkommenstafel dabeizuhaben. Wie willst du ihn denn finden?«
Darüber hatte er gar nicht nachgedacht, denn er war davon überzeugt, dass sie sich finden würden. Wieder zuckte Stephan mit den Schultern. »Ich werde ihn nicht verfehlen können.« Sollte der Flieger nicht aufgrund eines seltsamen Zufalls voller Katzenwandler sein. Wandler hatten nicht nur einen feineren Geruchssinn als Menschen, sie hatten auch einen anderen Körpergeruch. Das konnte und wollte er Jenny jedoch nicht erklären. Sie blickte ihn fragend ab, aber er ignorierte es.
In diesem Augenblick kündigte die Durchsage die Ankunft des Fluges aus San Francisco an, wodurch er erleichtert den Rückzug antreten konnte. Das Gespräch mit der hübschen Krankenschwester war ihm zunehmend unangenehmer geworden. Dennoch behielt er das Lächeln im Gesicht und nahm sich vor, sie wirklich anzurufen und um ein Date zu bitten. Es war schließlich nicht ihr Fehler, dass sein Pferd gerade heute beschlossen hatte, sich von einem Hengst in einen zahmen Wallach zu verwandeln. Warum auch immer.
***
Reggie Miller trat mit einer Mischung aus Aufregung, Vorfreude und Orientierungslosigkeit durch den Zoll in die Empfangshalle des Flughafens in Dortmund. Sarah und Declan Summers, Rudelmitglieder und Freunde von ihm, hatten ihn bis zum San Francisco Airport begleitet und zuvor mit ihm einen Ausflug in die kalifornische Metropole gemacht. Sie waren durch Chinatown gebummelt und hatten sich am Strand unter die Badenden gemischt. Aber hier war er auf sich allein gestellt. Er war einer der angehenden Kämpfer seines Rudels, was jedoch nichts an der Tatsache änderte, dass er hier in einem anderen Land, einer anderen Welt war. Und er war zugegebenermaßen ein wenig nervös. Sein Puma lief mental unruhig im Kreis. Und innerlich schalt er sich, seinem Puma nicht gestern noch einmal Platz und Zeit zum Austoben gegeben zu haben, anstatt den Tag mit Sightseeing zu verplempern.
Oder vielleicht hätte ich ein spezielleres Sightseeing machen sollen, immerhin ist San Francisco eine besondere Stadt.
Reggies Gedanken schweiften ab. Er versuchte an den Rat seines Vaters zu denken: Tritt nicht zu aggressiv auf, halt deine Dominanz zurück und geh nicht zu sehr auf Tuchfühlung. Dein Tandempartner ist ein Beutetierwandler. Wir können nichts gegen unsere Urinstinkte tun. Beutetierwandler sind meistens verschüchtert, wenn sie auf unsereins treffen. Und du musst mit dem Mann zusammenarbeiten können. Zumindest in der ersten Zeit. Sein Vater war deutlich älter als seine Mutter. Wie viele andere Wandler seiner Generation, hatte er im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten gekämpft, daher hatte er auch mit einer ganzen Reihe anderer Wandlerspezies Kontakt gehabt. Dan Miller sollte sich also ein wenig damit auskennen, wie diese sich verhielten. Er war nun mal ein Puma, das konnte er nicht ablegen. Wobei er sich seiner Dominanz weniger sicher war, als er es sollte. Das war einer der Gründe, weshalb er dieses Auslandssemester antrat. In der letzten Zeit hatten sein Puma und er zunehmend Kommunikationsschwierigkeiten; seine Instinkte ließen ihn immer öfter im Stich und er verlor schnell den Überblick, wenn er unter Druck stand. Oft driftete er gedanklich ab, was tödliche Folgen haben konnte, wenn er beispielsweise gerade sein Rudel beschützen sollte.
In Bear Creek war es friedlich. Sie hatten eine große Anzahl starker und erfahrener Mitglieder, bewohnten ihr Territorium seit Jahrhunderten und hatten einen grenzübergreifenden Ruf. Arcadius hatte klare Regeln darüber aufgestellt, was rudelfremden Wandlern in Bear Creek erlaubt war und wie lange sie bleiben durften. Übergriffe passierten selten, aber hin und wieder gab es ernste und gefährliche Auseinandersetzungen. Während Reggie über sein Rudel und den Konflikt mit seinem Puma sinnierte, fiel ihm ein ungewöhnlich großer junger Mann auf, der durch die Empfangshalle direkt in seine Richtung zu kommen schien. Er war schätzungsweise über zwei Meter groß und würde ihn selbst um mindestens einen halben Kopf überragen. Das war jedoch nicht das Besondere an ihm, sondern dass er vom Titelbild eines Lifestyle- oder Modemagazins stammen könnte. Der Unbekannte hatte seine Haare, die leicht gewellt und pechschwarz waren, zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein paar Strähnen hingen heraus und umrahmten sein braun gebranntes Gesicht. Er trug ein eng anliegendes Sweatshirt, das seine Muskulatur betonte. Während sich der Mann ihm näherte, glitt dieser regelrecht durch die Menschenmenge. Für einen Moment erinnerten ihn seine fließenden Bewegungen an einen Mustang, der elegant durch das hohe Gras der Prärie streifte.
Mit einem seltsam warmen Gefühl breitete sich in seinem Bauch die Vorahnung aus, dass der dunkle, schöne Fremde nicht zufällig in seine Richtung lief. Das war sein Tandempartner, der Pferdewandler Stephan Voigt.
Die Vorahnung wurde zur Gewissheit, als dieser einen knappen halben Meter vor ihm stoppte. Reggie sah auf in ein Gesicht mit klaren, männlichen Zügen und einem definierten, aber nicht kantigen Kinn, das einen Schatten nachwachsender Bartstoppeln zeigte. Mit seiner geraden Nase und den hohen Wangenknochen hatte er ein sowohl markantes als auch elegantes Gesicht, das Reggie ein wenig an die Angehörigen des Cayuse-Stammes erinnerte, dessen Reservat an das Territorium seines Rudels angrenzte. Stephans Lippen wirkten in ihren klaren Linien überraschend sinnlich. Dunkelblaue Augen strahlten Reggie an, zeigten dabei keine Spur von Scheu oder Zurückhaltung. Und er stand nahe genug, um den Pferdewandler deutlich zu riechen. Ein Hauch Moschus, Gras, Herbstwind und irgendein Gewürz … Der Typ roch verdammt gut und fuhr Reggie direkt unter die Gürtellinie. Stephan war ein fleischgewordener Ausschnitt seiner Träume, jener, über die man lieber nicht sprach. Das bedeutete Ärger, großen Ärger. Er schluckte, als sein Mund trocken wurde, und versuchte an Spüldienst zu denken, nachdem es Blumenkohlsuppe gegeben hatte. Den Geruch konnte man seiner Meinung nach als Chemiewaffe einsetzen. Bei dem Gedanken daran konnte sein Blut unmöglich nach Süden fließen. Es funktionierte. Exakt so lange, bis der Typ zu sprechen begann.
***
Stephan ließ seinen Blick über die ankommenden Passagiere gleiten. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er sich sicher war, den Pumawandler identifiziert zu haben. Er war in seinem Leben einigen Luchsen, ein paar Wildkatzen, einem Löwen und einem Tiger begegnet. Das reichte, um jede Katze als solche zu erkennen. Katzenwandler hatten eine unverkennbare Art sich zu bewegen. Wie eine Katze eben. Reggie, der ihm als dominant beschrieben worden war, wirkte etwas eingeschüchtert und nervös, was wohl daran lag, dass er gerade in einem fremden Land angekommen war. Für die Dominanz eines Wandlers war die tierische Hälfte verantwortlich, während das Selbstbewusstsein vor allem von den Erfahrungen des menschlichen Lebens beeinflusst wurde, nicht von den tierischen Instinkten.
Stephan musterte den Pumawandler, während er sich ihm näherte. Der Bursche war hübsch, nein, vielmehr heiß. Er war ein wenig kleiner als er und hatte blondes, sonnengebleichtes Haar, das etwas länger und mit Gel gebändigt worden war. Sein Teint war hell, hatte jedoch eine dezente Sonnenbräune. Als er näher kam, erkannte er, dass sich unter T-Shirt und Jeans definierte Muskeln verbargen. Smaragdgrüne Augen in einem Gesicht, das eine perfekte Mischung aus sinnlich und männlich war, waren auf ihn fixiert, viel zu intensiv, um reine Neugier für einen Fremden zu bekunden. Sein Blick brannte förmlich über seinen Körper.
Zurückhaltung hatte noch nie zu seinen Charaktereigenschaften gehört, also trat er so nahe wie möglich an sein Gegenüber heran, damit er ihn riechen konnte. Zum Teufel mit dem Wallach. Der Hengst war augenblicklich mit voller Kraft zurückgekehrt und wollte unbedingt wissen, wie der sexy Kerl reagierte, wenn er auf Tuchfühlung ging.
»Hi! You must be Reggie Miller.« Im Gegensatz zu vorhin, war sein Lächeln nicht aufgesetzt. Der hübsche Pumawandler sorgte dafür, dass er über das ganze Gesicht grinste.
***
Stephans Stimme fuhr über Reggies Haut wie ein warmer Windhauch; er konnte sie fast wie eine Berührung spüren. In seinem Gehirn kam augenblicklich zu wenig Blut an und das breite Lächeln machte es nicht besser. Stephan Voigt hatte Ausstrahlung. Verdammt! Es war nicht nur zu lange her, dass er seinen Puma hatte laufen lassen, auch andere Dinge lagen definitiv zu lange zurück. Das kam ihm gerade gar nicht gelegen. Wieso musste ihm dieser Kerl so auf die Pelle rücken? Noch dazu tastete ihn sein Gegenüber sichtlich interessiert mit seinem Blick ab, als wäre er gerade mit ihm auf der Tanzfläche im Rainbow Pot in Pendleton. Während er Stephan anstarrte, bemerkte er zunächst nicht, dass dieser seine Hand zur Begrüßung ausgestreckt hatte. Als es ihm auffiel, trat er schnell einen halben Schritt zurück und ergriff sie. Hoffentlich waren Pferdenasen nicht so gut wie die von Pumas oder Wölfen, sonst wäre das hier gerade noch peinlicher.
***
Reggie roch nach Wald und Moos, unverkennbar männlich, und der Geruch intensivierte sich, als Stephan ihn ansprach, führte einen Hauch Erregung mit sich. Die hypnotisierend strahlenden Augen des Pumas mit verboten langen Wimpern waren leicht geweitet. Im nächsten Moment folgte der Geruch von Schreck und Verwirrung und der Puma trat einen halben Schritt zurück.
Was zum Teufel?, dachte Stephan.
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»Ähm, e-er…«, stotterte Reggie, jetzt erst recht aus der Fassung gebracht, bevor er sich einen mentalen Tritt in den Hintern verpasste. Er war kein verschüchtertes Landei, sondern ein angehender Kämpfer des ‚Bear Creek‘-Rudels, tatsächlich einer der besten seiner Altersgruppe, und mit 21 Jahren würde er vermutlich bei seiner Rückkehr den vollen Status als Soldat des Rudels erhalten. Und hier stand er nun, endlich in Europa angekommen, und stammelte vor sich hin, während er dem ersten gut aussehenden Kerl, dem er begegnete, halb sabbernd ins Gesicht starrte. »Ja, aber bitte sprich Deutsch mit mir«, sagte er, als er endlich seine Stimme wiederfand, zusammen mit der Abteilung für die deutsche Sprache, die er so fleißig geübt hatte. Fremdsprachen waren sein großes Talent; er beherrschte neben Englisch zwei indianische Sprachen, Spanisch, Mandarin und Deutsch. Deutsch war die einzige Sprache, die er offiziell gelernt hatte, die anderen Sprachen hatte er von Rudelmitgliedern, Mitschülern oder Bekannten ‚aufgeschnappt‘, was er der geänderten Rudelpolitik durch seinen Alphas zu verdanken hatte. Er gehörte der zweiten Generation an, der es erlaubt war, eine gewöhnliche Highschool zu besuchen. »Ich muss mich daran gewöhnen«, fuhr er fort, sich zur Ruhe zwingend. »Ab Montag brauche ich es ja an der Uni. Die meisten meiner Kurse sind auf Deutsch.« Ein leichtes Lächeln war auf sein Gesicht zurückgekehrt, wenngleich es nicht das selbstbewussteste war. Er war bemüht, dem Wandler in die Augen zu sehen.
Stephan schien beeindruckt, hielt seinem Blick aber dennoch mit einem nonchalanten Lächeln stand. Dummerweise machte das den Mann nur noch faszinierender.
***
»Okay. Wow, dein Deutsch klingt wirklich super!« Das tat es wirklich, Reggies Akzent verriet kaum seine Muttersprache. Die Sprachmelodie war ein wenig zu fließend, aber das fiel kaum auf.
»Danke.« Reggie hatte vorher schon gut ausgesehen, aber jetzt mit dem offenen Lächeln war er einfach umwerfend. »Ist das dein einziges Gepäck?«, fragte Stephan und zeigte auf den großen Trekkingrucksack, den Reggie auf dem Rücken trug.
»Ja, der Rest kommt mit der Post. Für die nächsten ein bis zwei Wochen habe ich genug dabei.« Der Puma senkte vor ihm den Blick und überspielte es, indem er betont zur großen Uhr am Ende der Empfangshalle sah.
»Okay.«
Mist! Das war wohl gerade sein Lieblingswort. Stephan räusperte sich; er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm aufgefallen war, dass der Pumawandler gerade ein Problem mit seiner oder seiner eigenen Dominanz zu haben schien. Wieso passierte ihm das immer wieder? Raubtierwandler waren in der Regel wenig begeistert, wenn sie feststellten, wie dominant er war, was nicht gerade dem gängigen Bild eines Pferdewandlers entsprach.
»Dann komm mal mit. Mein Auto steht ganz in der Nähe.«
***
Als Stephan sich umdrehte und losmarschierte, bekam Reggie die Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Der andere Wandler wusste eindeutig, wie gut er aussah und wie er sich präsentierte. Die beinahe schwarze, enge Washed-out-Jeans war mit Kontrastnähten versehen, die förmlich auf den ohnehin unübersehbaren Knackarsch wiesen. Das Shirt mit seinem abstrakten Tribal, das dieselbe Farbe wie die Nähte hatte, saß hauteng und steckte im Hosenbund, wodurch es sich noch mehr an Stephans Muskulatur schmiegte. Die Klamotten waren mit Sicherheit nicht zufällig gewählt, und zusammen mit der eleganten Art, mit der sich Stephan bewegte, waren sie ein Blickfang für Reggie, obwohl sein Tandempartner nichts tat, außer durch die Empfangshalle zu gehen.
Anscheinend hatte Stephan bemerkt, dass er ihm nicht folgte, also blieb er stehen und sah ihn über die Schulter hinweg mit einem fragenden und belustigten Blick an.
Reggie, der immer noch starrte, fühlte sich ertappt, lief rot an und bemühte sich, seine Augen endlich abzuwenden und ihm zu folgen. Er war dankbar, dass Stephan nicht weiter auf sein seltsames Verhalten einging.
»Wir werden im gleichen Wohnheim sein. Es ist eines von dreien, die speziell für Wandler reserviert sind, und liegt direkt an einem umzäunten und gesicherten Waldstück, in dem wir auch laufen können. Nichts Großes, aber es genügt. Du erhältst Montag beim AStA deinen eigenen Zugangscode für das Tor vom ’Laufstall’ und einen Plan, wann der Wald für Beute- oder Raubtierwandler reserviert ist. Wenn du heute nach dem langen Flug laufen musst, darfst du meinen Code benutzen. Es ist ein offener Tag. Das heißt, Beute- und Raubtierwandler dürfen beide hinein. Aber du darfst an offenen Tagen nicht jagen.«
Reggie starrte Stephan einen Augenblick lang mit offenem Mund an, von seinen ebenso unwillkommenen wie widersprüchlichen Instinkten abgelenkt. »Wow, das ist ganz schön kompliziert … Und ein ganzes Heim nur für Wandler? Gibt es so viele an der Universität?«, wollte er wissen, während sie zum Auto gingen.
»Na ja, relativ. Dortmund ist eine Massenuniversität, annähernd sechzigtausend Studierende, davon etwas über vierhundert Wandler unterschiedlicher Spezies; circa die Hälfte davon lebt direkt auf dem Campus. Dazu kommen einige unter den Angestellten der Universität, aber ich weiß nicht, wie viele das genau sind. Unis, die logistisch speziell auf Wandler eingestellt sind, liegen am Rand des Ruhrgebiets, wo etwas mehr Raum ist. Dortmund und Duisburg, an den entgegengesetzten Rändern der Region. An den anderen Unis im Pott sind wir relativ auf uns gestellt.«
Wir? Stephan schien keine Grenze zwischen Beute- und Raubtierwandlern zu ziehen. Faszinierend! »Pott?« Das Wort war definitiv nicht im Sprachkurs vorgekommen.
»Oh. Ja. Sorry. Das ist ein anderer Name für das Ruhrgebiet. Früher gab es hier überall Steinkohleabbau. Die Einwohner nannten die Region Kohlenpott, und der Name blieb irgendwie hängen.«
»Ach so … Ja, darüber habe ich etwas gelesen.«
»Ähnliche Regelungen und Areale findest du auch in anderen Städten und dicht besiedelten Regionen Mitteleuropas«, fuhr Stephan fort. »Hier ist einfach nicht so viel Platz wie in Nordamerika. Rudel sind eher klein, sie haben teilweise nicht einmal feste Territorien. In Osteuropa oder Skandinavien ist es wohl ganz ähnlich wie bei euch, soweit ich weiß. Aber bei uns ist kein Raum für große isolierte Territorien.« Stephan zuckte mit den Schultern und wies mit dem Autoschlüssel auf einen schwarzen SUV, bevor er die Zentralverriegelung öffnete. Der Wagen sah nicht wirklich nach einem Studenten aus, zumindest nicht nach einem, der knapp bei Kasse war.
Schwarz … Wie Stephans Haare und Klamotten. Ob das seine Lieblingsfarbe war?
»Wir haben in Deutschland und den Nachbarstaaten ohnehin einen prozentual geringeren Bevölkerungsanteil als im Rest der Welt, auch siebzig Jahre danach. Der Wandlerrat hat einen Kompromiss geschaffen, wie wir friedlich und sicher miteinander und unentdeckt von den Menschen leben können. Das ist doch die Hauptsache.«
Siebzig Jahre danach … Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Todesschwadronen des Nazi-Regimes, speziellen SS-Einheiten die eine regelrechte Hetzjagd auf Wandler gemacht hatten. Sein Vater hatte diese Zeit gesehen, hatte Reggie davon erzählt. Das war etwas, was der normale Geschichtsunterricht in der Highschool natürlich nicht erklärte.
»Ja, ich denke, schon.«
***
Auf dem Weg zu Stephans Auto hatte Reggie seinen Körper wieder unter Kontrolle bekommen. Das Gespräch hatte auch sein Gehirn wieder arbeiten lassen. In der relativen Enge der Fahrzeugkabine allerdings schlugen seine Hormone erneut zu. Er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen, und hoffte weiterhin, dass Pferdewandlernasen weniger fein waren als die von Wölfen oder Pumas. Dabei hielt er den Trekkingrucksack auf dem Schoß und versuchte eine bequeme Sitzposition zu finden. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Er verlor sonst nie die Kontrolle über seinen Körper, zu groß war seine Angst, sich zu verraten. Zudem war sein Puma der Dominanz des Pferdewandlers ausgewichen, was nicht weniger irritierend war. Nach allem, was man ihm über Beutetierwandler beigebracht hatte, war das nicht üblich. Allerdings reagierte Stephan ebenfalls auf ihn, wenn er die Blicke bedachte, die ihm der Mann zuwarf, aber er schien damit nicht das geringste Problem zu haben. Ob er Reggies körperliche Reaktionen bemerkte, ließ er nicht durchblicken.
Die Tatsache, dass er schwul und ungeoutet war, war einer der Gründe, weshalb er ein Semester lang in Europa studieren wollte. Er brauchte die Distanz zu seinem Rudel, um sich klar darüber zu werden, wer er war und was er sein wollte. Er war keine Jungfrau, bei Weitem nicht, schließlich war körperliche Nähe für einen Wandler ein deutlich stärkeres Grundbedürfnis als für einen durchschnittlichen Menschen, aber seine Dates waren stets anonyme One-Night-Stands, und er erlaubte sich diese nur, wenn er die nächstgrößere Stadt besuchte. Aber selbst wenn er bis Pendleton fuhr, blieb er immer vorsichtig. Auch wenn er als Wandler immun gegen sexuell übertragbare Krankheiten war, benutzte er stets Kondome und duschte ausgiebig, bevor er ins Rudelterritorium zurückkehrte. Alles, um keine verräterischen Gerüche anzunehmen. Niemand wusste von seiner Homosexualität. Niemand durfte es erfahren. In den vergangenen Monaten waren ihm die Maskerade und das Versteckspiel zunehmend an die Nerven gegangen. Anscheinend hatte beides sein Verhalten auffallend verändert, denn sein Vater hatte immer häufiger gefragt, was mit ihm los war, ebenso wie Donnie, sein Ausbilder. Schließlich war er sogar zu einem Gespräch bei seinem Alpha Arcadius befohlen worden. Der Alpha war freundlich gewesen, hatte aber nachgebohrt. Danach hatte für ihn festgestanden, dass er für eine Weile fortmusste, lange genug, um mit sich und der Welt wieder klarzukommen und herauszufinden, wer er ohne sein Rudel war und ob er mit diesem Reggie leben konnte. Die Vorstellung, Bear Creek für immer zu verlassen, erfüllte ihn mit Schrecken. Und dann hatte dieser Pferdewandler, der ganz offensichtlich an ihm interessiert war, sein Gehirn auch noch dazu gebracht, auszusetzen, was eine Komplikation in seinem Leben war, die er gerade nicht gebrauchen konnte. Zu allem Überfluss bedachte Stephan ihn zwischendurch mit Blicken, die ihm das Gefühl gaben, er wäre die Beute und Stephan der Jäger. Völlig absurd. Garniert wurde das Ganze mit einer Aura der Dominanz, die deutlich machte, dass er es gewohnt war, zu bekommen, was er wollte, und sich beneidenswert wohl in seiner Haut fühlte. Reggies menschlicher Anteil wäre am liebsten ausgestiegen, um der Enge der Fahrzeugkabine zu entkommen, während sein Puma am liebsten zu Stephan auf den Fahrersitz gekrochen wäre. Option eins schied aus, er war in dieser Stadt völlig orientierungslos, und Option zwei stand nicht zur Debatte. Also saß er angespannt und wortkarg neben seinem Alltagstutor und hoffte, die Fahrt mochte schnell vorbeigehen.
***
Stephan rätselte über die seltsamen Botschaften, die sein Tandempartner sendete. Der sechs Jahre jüngere Mann fühlte sich eindeutig zu ihm hingezogen. Reggie hatte ihn in der Empfangshalle des Flughafens mit seinen Blicken förmlich ausgezogen und dann doch so schnell wie möglich einen Rückzieher gemacht. Das eher unscheinbare Outfit des Pumas und die zurückgegelte, aktuell von gefühlt dem halben Planeten getragene Frisur sprachen für das Bedürfnis, nicht aufzufallen, was zum einen nicht zu einem dominanten Wandler passte und zum anderen ein dermaßen gut aussehender Typ nicht nötig hatte.
Die Fahrt über saß Reggie schweigend und verkrampft neben ihm, sah ihn ab und zu verstohlen an und roch nach Erregung, Verwirrung und Angst. Er sah dabei aus, als wollte er aus dem Auto springen und davonlaufen.
Als sie am Wohnheim ankamen, zeigte Stephan ihm den Weg zum Laufstall, wie er den Wald mit einem Augenzwinkern nannte, und drückte ihm einen Zettel mit dem Zugangscode in die Hand. Der Kontakt jagte Funken durch seinen Körper und ließ Stephan innehalten. Überrascht von der intensiven Reaktion, zögerte er, sich von Reggie zu lösen. Der Puma hingegen sog scharf die Luft ein und hielt den Atem an. Ohne Zweifel hatte er gerade das Gleiche gespürt.
***
»Du solltest wirklich eine Runde laufen. Ich denke, das hast du nötig«, meinte Stephan schließlich und drückte dabei Reggies Hand länger als nötig.
Reggie hörte bei dem direkten Körperkontakt seinen eigenen Herzschlag und das Blut in seinen Ohren rauschen. Sein Körper war ein verdammter Verräter.
»Hey, atmen nicht vergessen, Kittycat.« Bei den Worten hatte sich Stephan zu ihm hinuntergebeugt und in sein Ohr gesprochen.
Kittycat? Das war eine Unverschämtheit! Definitiv ein dominanter, amüsierter und verführerischer Alphatypwandler. Zum Teufel mit der gottverdammten Spezies! Reggie entzog Stephan unsanft seine Hand und versuchte seine Gehirnzellen für eine empörte Antwort zu mobilisieren, oder eine schlagfertige; egal, irgendeine Antwort jedenfalls. Aber mehr als ein wütendes Anfunkeln brachte er nicht zustande. Währenddessen fühlten sich seine Hand und seine Ohren an, als würden sie in Flammen stehen.
»Und denk daran, es ist ein offener Tag, also Jagdverbot! Auch wenn Wandler einander in jeder Form erkennen können, soll diese Regel Spannungen vermeiden, bevor sie entstehen.«
»Ich jage nicht gerne«, erwiderte Reggie kleinlaut. Das war nicht gerade die Reaktion, die er hatte zeigen wollen. »Nicht nach Wild jedenfalls …«
»Nicht?« Stephan klang überrascht.
»Mein Puma möchte beschützen und versorgen, nicht erobern und töten. Ich kann es, aber es bereitet mir keine Freude.« Er räusperte sich. »Bei dominanten Raubtierwandlern gar nicht so selten«, erklärte er, als wäre es nötig, sich für seinen mangelnden Tötungsdrang zu rechtfertigen. Nicht wirklich selten, aber auch nicht gerade häufig, vor allem nicht bei männlichen Wandlern, aber er verspürte nicht das Bedürfnis, Stephan über diese Details zu informieren, denn sein Gegenüber sah auch so schon mehr, als ihm lieb war. Vor seinem geistigen Auge sah er Pete Jenkins, eines seiner Rudelmitglieder. Der Wolf prahlte stets mit seinen Jagderfolgen. Reggie war dafür der bessere Kämpfer, aber der ähnlich dominante Wolf nutzte jede Gelegenheit, um ihn anzustacheln.
Anscheinend wusste Stephan nicht, was er entgegnen sollte. Sein Gesicht wurde ernst und zeigte einen Augenblick lang … Ja, was? Sorge? Verständnis? »Na dann, viel Spaß.« Er zwinkerte Reggie zu und klopfte ihm sanft auf die Schulter. Nun lag gar nichts Verführerisches mehr in den Gesten und die Berührung hatte etwas seltsam Beruhigendes.
»Was ist mit dir?«
»Mit mir?« Stephan winkte lachend ab. »Ich habe gleich Parcours-Training im alten Industriegebiet am Campus Süd. Mein Pferd spielt in menschlicher Gestalt.«
Reggies Gehirn produzierte ungebeten Bilder in seinem Kopf, wie sich der dunkelhaarige Mann bei dem modernen Extremsport bewegen würde, und schnitt Stephan in die Videos, die er darüber gesehen hatte. Ein Teil von ihm wollte ihm gerne dabei zusehen, der andere Teil war bereits mit dem bloßen Gedanken daran überfordert.
»Soll ich dich morgen abholen? Dann kann ich dir den Campus zeigen und wo alles ist.«
Reggie war sich einen Moment nicht sicher, ob er sich bereit fühlte, mehrere Stunden mit dem Pferdewandler zu verbringen. Andererseits war es sinnvoll, den Campus kennenzulernen. »Okay. Gegen halb neun? Reicht das?«
»Sicher. Bis morgen.«
»Bis morgen.«
Ja, Reggie war ein angehender Soldat des “Bear Creek“-Rudels, aber ein ziemlich armseliger. Seine Ankunft in Europa hatte er sich anders vorgestellt. Verschüchterter Beutetierwandler? Wenn Stephan verschüchtert war, war er selber eine Feldmaus, kein Puma.
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Auch nach anderthalb Stunden Rennen, Springen und Ducken über, unter und zwischen Treppen, Geländern, Zäunen, Industrieruinen und allem, was er so finden konnte, fühlte sich Stephan weder entspannt noch ausgepowert. Seinem inneren Pferd leuchtete so gar nicht ein, warum es nicht bei dem sexy Kerl aus Amerika war und mit ihm durch den Wald lief. Aber Reggie hatte die ganze Zeit über so widersprüchliche Botschaften gesendet, dass Stephan nicht wusste, ob er willkommen gewesen wäre. Es schien außerdem, als hätte der Katzenwandler ein Problem, das seinem ähnlich war: Er entsprach nicht ganz dem gängigen dem Bild. Reggie hatte verloren gewirkt, fast beschämt. Und Stephan hatte den Impuls verspürt, ihn zu trösten. Fuck! Der Puma war ihm gewaltig unter die Haut gefahren. Er hatte keine Ahnung, was er davon halten und wie er damit umgehen sollte.
Zurück im Wohnheim schnappte er sich Bogen, Köcher, Zielscheibe, Dreibein und Pfeilnetz und stieg auf das Flachdach des Wohnheims. Er blockierte die Tür zum Treppenhaus, um sicherzugehen, dass niemand in seine Schussbahn laufen konnte. Bogenschießen war wie eine Meditation für ihn, und irgendwie brachte es immer Ordnung in seine Gedanken und Emotionen. Meister Stahl, der Vater seines jetzigen Meisters Enzo, hatte ihn mit zwölf dazu überredet, diese Methode auszuprobieren. Natürlich hatte er es Stephan schmackhaft gemacht, indem er es als eine Herausforderung dargestellt hatte, denn er konnte bei einer solchen einfach nicht widerstehen. Wie auch immer, es half. Nach einer guten halben Stunde auf dem Dach fühlte er sich ruhig wie ein See. Dann fiel ihm ein, dass er mit Reggie nicht einkaufen gewesen war, und morgen war Sonntag. Der andere Wandler war mit einem leeren Kühlschrank in der Fremde gelandet. Verdammt!
Ja, du bist ein toller Alltagstutor. Echt klasse.