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Kapitel 2: Kittycat und Bronco
ОглавлениеGegensätze ziehen sich an. Ich würde deinen Vater oder dich niemals gegen einen Wolf eintauschen wollen. Und in dir steckt mehr von mir, als du denkst, Kätzchen.
- Reggies Mutter Grace zu ihm, als er zehn war
Reggies Magen knurrte am Morgen lautstark. So ein Mist. Warum hatte er nicht daran gedacht, dass es in Europa kein 24-Stunden-Shopping gab? Er war deutlich länger durch den Wald gelaufen, als er vorgehabt hatte, in dem vergeblichen Versuch seine widerstreitenden Emotionen und Hormone zu beruhigen. Zurück in menschlicher Gestalt hatte er schließlich feststellen müssen, dass der Supermarkt, an dem sie kurz vor dem Wohnheim vorbeigekommen waren, bereits geschlossen war. Jetzt hatte er einen leeren Kühlschrank und einen nicht weniger leeren Magen. Außerdem war sein Schlaf nur wenig erholsam gewesen, dank der acht Stunden Zeitunterschied und wegen der Träume von einem gewissen, viel zu gut aussehenden und viel zu selbstbewussten Pferdewandler. Bislang gestaltete sich sein neues Leben nicht gerade rühmlich.
Er ließ sich die Müdigkeit und die unerwünschten Träume von einer eiskalten Dusche abspülen, bevor er nervös in seinem Rucksack kramte.
»Reiß dich zusammen, Reggie Miller. Das ist schließlich kein Date«, schalt er sich, bevor er dann doch seine Lieblingsjeans anzog, die er sonst nur bei seinen Ausflügen nach Pendleton trug.
Um Punkt acht Uhr, eine halbe Stunde zu früh, schellte es plötzlich an seiner Tür. Stephan wollte doch erst um halb neun hier sein, und jemand anderes kannte er in Deutschland nicht. Seltsam.
Aber vor der Tür stand tatsächlich Stephan mit zerknirschtem Gesicht, einer großen Papiertüte, deren Inhalt lecker duftete, und einer Thermoskanne sowie zwei Tassen in den Händen. »Hi! Hunger?«
Sein Magen knurrte, bevor er antworten konnte. »Ähm, ja. Ein wenig.«
Stephan lachte, sein Lachen wurde von einem leisen Grummeln begleitet.
Das Geräusch erinnerte Reggie an die Familienausflüge in seiner Kindheit. Seine Mutter, eine sanfte Wölfin mit klugen grauen Augen, war eine Pferdenärrin gewesen und hatte ihn oft mit zu einer Ranch genommen, die Ausritte anbot. Die Pferde dort hatten, wenn sie sich wohlgefühlt hatten, ein ähnliches Geräusch gemacht, und eine kleine Stimme in seinem Kopf fragte sich, ob das Stephans Entsprechung eines Schnurrens war.
»Nur ein wenig?« Blaue Augen funkelten amüsiert, wurden jedoch schnell ernst. Wie konnte jemand derart tiefblaue Augen und pechschwarze Haare haben? »Tut mir leid, wir hätten gestern noch einkaufen sollen. Das gehört schließlich zu meinen Aufgaben. In den USA könnt ihr das ja auch am Sonntag tun, hier geht das nicht.«
»Ist schon okay.« Reggie winkte ab. Er war bemüht, nicht zu zeigen, dass ihn Stephans Sorge berührte. Die Konsequenzen daraus waren zu unbequem. »Eigentlich weiß ich das selber, ich bin ja nicht völlig naiv hergeflogen.«
»Darf ich reinkommen? Ich weiß, ich bin zu früh.«
»Oh, ja, klar, sorry.« Reggie trat beiseite, um Stephan reinzulassen. »Wo hast du die Sachen denn an einem Sonntag her?«
»Die belegten Brötchen habe ich vom Bäcker, der hat sonntagmorgens auf, auch in Deutschland. Ich hoffe, Kaffee ist okay.« Stephan zwinkerte ihm zu. Flirten schien in seiner Natur zu liegen wie Atmen oder Gehen. »Meiner Kaffeemaschine ist der Wochentag übrigens egal.«
»Interessant. Und gut zu wissen.« Er deutete auf den Stehtisch und die zwei Barhocker, die in der beengten Wohnküche des Apartments standen. Was Stephans indirekte Botschaften betraf, beschloss er, diese für den Moment zu ignorieren. »Setz dich bitte. Und danke für das Frühstück. Ist sehr nett von dir.« Zumindest konnte er sich noch an seine guten Manieren erinnern.
»Gern geschehen.« Seine dunkelblauen Augen strahlten wieder. »Ich wusste nicht, was du magst, also habe ich etwas Auswahl mitgebracht. Käse, Salami, Ei, Mett …«
»Was ist Mett?«
»Etwas typisch Deutsches, hat auch den Spitznamen Maurermarmelade«, erklärte Stephan leicht amüsiert.
Seine gute Laune war ansteckend. Reggie grinste. »Maurermarmelade?« Er drehte das Wort im Kopf herum, aber es ergab für ihn überhaupt keinen Sinn. Stephan hatte das Wort wohl nur verwendet, um ihn zu verwirren. Er schnaubte, als er versuchte die Belustigung seines Gegenübers zu ignorieren.
Mett war, wie er kurz darauf erfreut feststellte, ein Brotaufstrich aus rohem Fleisch, was für ihn und seinen Puma absolut köstlich war. Überraschenderweise biss Stephan ebenso begeistert in sein Brötchen mit diesem Belag.
***
Stephan hatte, seinem schlechten Gewissen folgend, beschlossen, seinen Termin mit Reggie zu ändern. Anstatt diesen, wie geplant, nach dem Frühstück abzuholen, wollte er ihn mit einer gemeinsamen Mahlzeit überraschen. Diese würde vielleicht auch helfen, den Pumawandler in seiner Nähe zu entspannen. Der Amerikaner faszinierte ihn und gab ihm Rätsel auf, die er unbedingt ergründen wollte.
Stephan blickte wieder in diese strahlend grünen Augen, die ihn bereits am Flughafen in den Bann gezogen hatten. Er wäre bereit, sich stundenlang nur auf diese Art beobachten zu lassen. Reggies Augen waren groß und weit vor Erstaunen. Er wusste nicht, woher diese Reaktion rührte, aber Reggie sah gerade unwiderstehlich aus, und am liebsten hätte Stephan sich über den Tisch gebeugt, um ihn zu küssen.
Was zum …? Seit wann reagiere ich so schnell und heftig auf jemanden?
Er überspielte seine unerwartete und rein instinktive Reaktion, indem er lachte, als er begriff, was sein Gegenüber so verwundert hatte.
***
Anscheinend hatte Reggie seine Überraschung deutlich gezeigt, weil Stephan wieder auf diese faszinierende, grummelnd summende Art lachte.
»Was ist? Dachtest du, ich sei Vegetarier?«
Reggie zuckte mit den Schultern. »Irgendwie schon. War wohl blöd von mir … Ich meine, ich bin noch nie einem Nichtraubtierwandler begegnet. Bei uns in den USA sind die Wandlerspezies ziemlich isoliert.« Er kaute etwas verlegen auf der Unterlippe herum. »Wir haben nur Pumas und Wölfe.«
»Für mich sind das zwei ziemlich verschiedene Spezies; so isoliert seid ihr wohl doch nicht.«
»Mein Rudel ist halt etwas ganz Besonderes«, sagte Reggie stolz lächelnd. Er wollte jedoch nicht erläutern, was sein Rudel so besonders machte.
***
Nach dem Frühstück nahm Stephan Reggie mit auf eine Tour über den Campus, oder vielmehr die Campusse. Die Uni besaß zwei getrennte Gelände, die über eine automatische Magnetschwebebahn verbunden waren. Sie nahmen jedoch den Fußweg, der unterhalb der Bahn durch ein üppig bewachsenes, parkähnliches Areal verlief. Die Universität war viel grüner und weitläufiger, als Reggie erwartet hatte. Es war beeindruckend, wie groß, lebendig und modern alles war. In der Schule hatte er gelernt, dass in Europa alles viel kleiner und älter war als in Amerika. Anscheinend war da nicht viel dran.
Die beiden plauderten mal locker, mal liefen sie in kameradschaftlichem Schweigen nebeneinander her. Reggie stellte fest, dass es Spaß machte, Zeit mit Stephan zu verbringen, der gerne lachte und ihn ebenso häufig zum Lachen brachte. Er erzählte dem Pferdewandler schließlich ein wenig von seinem Rudel und dessen Geschichte und wieso es aus zwei verschiedenen Wandlerspezies bestand.
Vor 250 Jahren hatten sich ein Puma- und eine Wolfswandlerin als Gefährten gefunden. Beide hatten den kläglichen Rest ihres jeweils schwer angeschlagenen Rudels angeführt. Während sich das Pumarudel mit den ansässigen Stämmen gegen die weißen Siedler verbündet hatte und durch diesen Krieg dezimiert worden war, waren die Wölfe vor Hunger und Verfolgung aus ihrer Heimat geflohen. Aus zwei schwachen Gruppen war durch ein Bündnis schließlich etwas Neues entstanden. Nach mehreren Generationen waren die Spezies genetisch so vermischt, dass manchmal zwei Pumawandler Eltern eines Wolfswandlers wurden, wenn sich die Gene wölfischer Vorfahren durchsetzten. Umgekehrt passierte das natürlich ebenfalls, auch wenn es jeweils selten vorkam. Sein Rudel war eben wirklich etwas Besonderes.
»Es setzen sich immer die einen oder die anderen Gene durch, aber manchmal gibt es dabei eine Überraschung. Bei Sarah zum Beispiel, wir sind seit der Junior High befreundet. In ihrer Familie sind fast alle Pumas. Aber ihr Zwillingsbruder ist ein Wolf. Die beiden ziehen sich immer damit auf, dass sie in allem den gleichen, aber jeder für sich den besseren Geschmack hat. So ähnlich sie sich in menschlicher Form auch sind, ihre Tiere sind grundverschieden.«
***
Stephan lauschte gebannt den Ausführungen seines Begleiters. Es war nicht nur spannend, etwas über das Leben in einem Rudel zu erfahren, er fragte sich auch, warum Reggie hierhergekommen war. Wenn dieser über sein Rudel redete, klang so viel Wärme und Liebe in der Stimme des hübschen blonden Mannes mit, dass Stephan sich fragte, wieso er seine erweiterte Familie, als die er sein Rudel offensichtlich betrachtete, für so lange Zeit verließ.
Sie waren inzwischen auf dem Rückweg vom Campus, aber sie gingen nicht zum Wohnheim.
»Wo geht es denn jetzt hin?«, wollte Reggie wissen.
»Wohin? Mittagessen! Dein Kühlschrank ist doch noch immer leer.«
»Okay, aber diesmal zahle ich. Du hast schon das Frühstück gekauft.«
Stephan wollte protestieren, nickte dann aber. »Okay, Kittycat.«
»Nenn mich nicht so! Das ist eine verdammte Verniedlichung!«, fauchte Reggie und baute sich vor ihm auf.
Die Katze hatte Krallen! Der Hengst in Stephan war begeistert, in keinster Weise abgeschreckt. »Du bist niedlich, und heiß obendrein.« Simple Tatsache. Er zuckte mit den Schultern und grinste.
Reggie beugte sich mit verengten Augen und verschränkten Armen vor und trat bis auf wenige Zentimeter an ihn heran. Wenn Wut ihn dazu brachte, seine Berührungsängste aufzugeben, sollte Stephan ihn häufiger ärgern. Wütend war der Puma außerdem noch viel anziehender als schüchtern. Reggies Atem fuhr warm über sein Gesicht und er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie sich die vollen Lippen des Pumawandlers anfühlen mochten. Wenn er doch nur ein wenig näher käme … Stephan fühlte sich in Reggies Gegenwart und in seiner enger werdenden Jeans etwas unbehaglich. Irgendwie war ihm der Kater schon wieder unter die Gürtellinie gekrochen.
»Um das klarzustellen: kein In-te-res-se! Ich bin nicht schwul, im Gegensatz zu dir. Ich bin ein Soldat des ‚Bear Creek‘-Rudels. Und jetzt lass uns Essen gehen«, sagte Reggie fauchend.
Er roch nach männlicher Erregung, Wut und ein wenig Unsicherheit. Stephans noch funktionierenden Gehirnzellen blieben an dem nicht logischen Zusammenhang zwischen Rudelposition und sexueller Orientierung hängen, zumal Reggie ganz offensichtlich log. Er bezweifelte jedoch, dass er eine Antwort auf eine Nachfrage bekäme. Als Reggie einen Schritt zurücktrat, ließ Stephan seinen Blick über dessen Körper gleiten. Reggies Jeans schien keinen Deut bequemer zu sein als seine eigene. »Kein Interesse?« Stephan blähte die Nasenflügel wie ein Pferd die Nüstern. »So, so!«
Reggie unterdrückte sichtlich ein genervtes Stöhnen.
»Und du irrst dich, Kittycat, ich bin bisexuell.«
»Das spielt keine Rolle. Und ich werde mich nicht provozieren lassen, Bronco. Wo geht es lang?« Reggie konnte also schlagfertig sein, wenn man ihn genug reizte. Er sah ihn mit verschränkten Armen und strengem Blick an.
Gott, es machte höllischen Spaß, mit Reggie zu streiten. »Okay, Redge, wie du meinst. Geradeaus und die Nächste rechts.« Der neue Kosename war eine spontane Eingebung. Er erntete einen skeptischen Blick, aber keinen weiteren Kommentar, und wusste nicht, ob er enttäuscht oder erfreut darüber sein sollte.
Reggie stapfte übertrieben voran, wodurch er Stephan einen guten Blick auf seinen Hintern gewährte. Anscheinend besaß der Puma nicht nur Klamotten, in denen er sich verstecken konnte … Er würde definitiv mehr Bogenschießen heute Abend brauchen!
»Soldat also? Ihr bekommt Kampftraining?«
»Wir werden nicht im Klöppeln unterrichtet!« Reggies Antwort klang mehr als nur ein wenig genervt. Und wo auch immer er diese Antwort mit der für Amerikaner eher exotischen Vokabel hergenommen hatte, sie war großartig.
Stephan mochte diese Version des Pumas definitiv viel lieber als die verschüchterte Variante, und er konnte einen Lachflash nicht zurückhalten.
***
Reggie hielt an und drehte sich empört um. Doch unter seine Wut mischte sich ein Gefühl, das seinen Puma umtrieb. Es war, als flüsterte dieser ihm ein Wort zu: Gefährte.
Gef…? Nein! Das kann nicht sein, auf keinen Fall!
Das würde bedeuten, dass er seine Stellung im Rudel verlor. Ausgeschlossen. Reggie schüttelte den Gedanken ab und spürte, wie seine menschliche Hälfte in Panik geriet. »Bist du fertig?«, fragte er mit wesentlich mehr Aggression als nötig, weil er gerade um Fassung rang.
***
Stephans Heiterkeit verstarb schneller, als es ihm lieb war. Es machte ihn irgendwie traurig, dass Reggie so aufgelöst wirkte. Und er wusste genau, woran das lag, denn er spürte es plötzlich so deutlich, dass es ihm kurz die Kehle zuschnürte.
Fuck! Gefährte? Kann das wirklich sein?
Er rollte das Wort wieder und wieder im Kopf herum, doch es fühlte sich nichts falsch daran an. Das Einzige, was gerade falsch war, war Reggies Reaktion. Oder war sie das gar nicht? Spürte er gerade dasselbe wie er? Stephans Instinkte befahlen ihm, ihn in die Arme zu schließen und zu beruhigen, aber er hatte gerade noch genug funktionierenden Verstand, um zu ahnen, dass zu viel Körperkontakt wahrscheinlich gerade nicht willkommen war, aber Abstand halten konnte er auch nicht. Also trat er auf Reggie zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Das war ein Kompromiss.
***
Reggie schluckte hart. Wie oft hatte Pete Jenkins, ein dominanter Wolf ihres Rudels, gesagt, es gäbe keine Gefährten für Schwuchteln? Keines der offen homosexuellen Mitglieder des Rudels wurde schlecht behandelt, aber sie blieben stets am unteren Ende der Hierarchie. Ein solches Leben war für ihn inakzeptabel! Er durfte nicht schwul sein, er durfte keinen Gefährten haben. Er würde alles verlieren und sein Vater zählte auf ihn und wäre maßlos enttäuscht von seinem einzigen Nachkommen.
Zugleich war ihm das paradoxerweise egal. Er spürte wärmende Hände auf seinen Schultern, er roch Moschus, Gras, Herbstwind und einen Hauch Gewürz, das er immer noch nicht umschreiben konnte. Es war betörend.
»Hey, alles okay?« Jetzt beinahe schwarze, wenig menschliche Augen blickten ihn voller Sorge an.
Der Körperkontakt beruhigte ihn auf eine Art, wie es sonst nur sein Rudel konnte. Er wusste nur zu gut, warum. Stephan durfte davon auf keinen Fall erfahren. Das G-Wort war tabu. »Nichts«, sagte er. »Alles gut.«
***
Stephan konnte sehen, wie die Panik aus Reggies Augen wich. Stattdessen schien er eine Wand um sich herum aufzubauen. Das gefiel ihm gar nicht, aber er war erleichtert, auch wenn er nicht begriff, was gerade passiert war.
»Sicher?«, hakte er nach.
Als Reggie nickte, seufzte er halb beruhigt, halb frustriert, weil sein Gefährte ihm nicht vertraute, aber schließlich kannten sie sich keine 24 Stunden, Vertrauen brauchte Zeit.
***
»Hey, das war kein Angriff, okay?«, meinte Stephan. »Ich wollte nur wissen, was du brauchst, um hier sinnvoll trainieren zu können. Deine Zeit in Europa soll dich ja nicht zurückwerfen, sondern weiterbringen.«
»Ähm …« Na toll, er hatte seine Sprache wieder verloren. Anscheinend brachte selbst diese harmlose Berührung von Stephan sein Gehirn zum Schmelzen, oder die Tatsache, dass dieser überraschend fürsorglich zu sein schien. Reggie räusperte sich umständlich, bemüht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, brachte es aber nicht über sich, Stephans Hände abzustreifen. Die seltsam vertraute Berührung fühlte sich viel zu gut an. »Ich dachte, ich gehe einfach zu einer der Kampfsportgruppen an der Uni.«
»Hmmm. Was da passiert, ist ganz nett für Hobbysportler, aber eher harmloses Geraufe. Ich glaube nicht, dass es das Richtige ist, um dich als Soldat zu trainieren.«
»Hast du eine bessere Idee?« Reggie bemühte sich um einen genervten Tonfall, das war besser, als seine Verunsicherung zu zeigen. Warum überraschte es ihn nicht im Geringsten, dass Stephan tatsächlich eine bessere Idee hatte?
»Ich schlage dir vor, mit mir in mein altes Dojo zu kommen. Ich bin in der Nähe von Dortmund aufgewachsen und trainiere noch immer dreimal in der Woche dort bei Meister Enzo Stahl. Offiziell MMA und Taekwondo, aber Onkel Enzo hat ein paar echt gute Tricks auf Lager, die man nicht im Dojo nebenan lernt. Er ist ein wirklich guter Lehrer. Er bewegt sich wie eine Katze und er weiß genug über Wandler, dass ich mich manchmal frage, ob er selber einer ist, wenn ich es nicht besser wüsste. Er hat mir das meiste beigebracht, was ich über Wandler weiß.«
Mehr Zeit mit Stephan? Eine ganz miese Idee. Und trotzdem grinste er dämlich. »Onkel Enzo?«
»Na ja, er ist nicht wirklich mein Onkel, aber er ist der beste Freund meines Adoptivvaters.«
»Oh.«
Super Antwort, Reggie!
»Also? Was hältst du davon? Vom Dojo? Ich will doch ein guter Alltagstutor sein.«
»Okay.« Gerade fühlte er sich gar nicht wie ein gefährlicher Kämpfer.
»Klasse, Kittycat!«
Er stand wieder Prinz Charming gegenüber, inklusive des strahlenden Lächelns. »Nenn mich nicht so!«
»Okay, Redge.«
Immer noch Prinz Charming, jetzt jedoch mit einem seltsamen Funkeln in den Augen. Verdammt, auf was hatte er sich da gerade eingelassen? Parcours, Mixed Martial Arts … Was hatte dieser Kerl noch auf Lager?
***
Das Mittagessen bestand aus einer Dönertasche, die Stephan mit den Worten Zweimal wie immer bestellt hatte. Auf die Frage hin, ob das auch wieder etwas typisches Deutsches war, hatte Stephan wenig hilfreich mit Ja und nein geantwortet. Was auch immer es war, das Ding war lecker, enthielt jede Menge Fleisch und machte satt.
Während er aß, beschäftigte ihn, dass Stephan sich anders verhielt, seit er vorhin so ausgeflippt war. Er flirtete ihn nicht mehr so offensiv an, blieb viel ruhiger und vor allem auf Distanz, wirkte beinahe abwartend. Vielleicht hatte Stephan beschlossen, dass er die Mühe nicht wert war. Er sollte erleichtert sein. Warum war er stattdessen enttäuscht? Reggie Miller, angehende Feldmaus und hoffnungsloser Fall, flog um den halben Erdball, um sich nicht mehr verstecken zu müssen, und flippte völlig aus, weil er einem heißen Typen begegnet war.
Was für eine Null!, dachte er über sich.
Er musste über seine Gedanken gestöhnt oder was auch immer getan haben, jedenfalls erntete er einen amüsierten Blick von Stephan. »Was ist los? Zu scharf?«
»Nein, für mich kann es nicht scharf genug sein.«
»So, so. Das werde ich mir merken.« Sein Blick war amüsiert, seine Augen blitzten förmlich auf. Stephan spielte wieder mit ihm.
Sein Puma triumphierte.
Verräter!
Dann wurde ihm klar, wie man seine Worte auslegen konnte … Verdammt! Wo war ein tiefes Loch im Boden, wenn man es gerade brauchte?
***
Stephan konnte sehen, wann Reggie klar wurde, was genau er gerade gesagt hatte, als dieser dunkelrot anlief. Die Röte wanderte über Gesicht und Hals und verschwand unter seinem T-Shirt. Er hätte zu gern gewusst, wie weit sie sich fortsetzte. Aber Reggie hatte sich so tief hinter einer Maske versteckt, dass er wahrscheinlich nicht mehr wusste, wie er darunter aussah. Er hatte noch eine Menge Arbeit vor sich, um das Vertrauen seines Gefährten zu bekommen. Und um dessen Herz zu erobern. Bislang hatte er nie ernsthaft um jemanden werben müssen oder wollen. Die wenigen Blicke, die er bislang hinter Reggies Maske hatte werfen können, faszinierten ihn jedoch unendlich.
Herausforderung akzeptiert!
***
»Sinologie und Wirtschaftsrecht? Wow, ich bin beeindruckt! Du bist eindeutig zu schlau für mich.« Stephan hatte darauf bestanden, Reggie am Unigebäude abzusetzen. Nicht, weil er bezweifelte, dass er den Weg alleine finden würde, er wollte sich nur nicht die Gelegenheit entgehen lassen, Zeit mit dem Mann zu verbringen, der ihm eine unruhige Nacht beschert hatte.
Reggie schnaubte abwertend als Antwort auf das Kompliment. »Fällt dir ja früh auf, Einstein.«
Der Kater hatte seine Krallen also nicht zu Hause gelassen. »Der war beim Patentamt, kein Architekt.«
»Bauplan ist Bauplan!«
Stephan lachte und fühlte sich glücklich in Reggies Gegenwart. Er hätte niemals erwartet, einen Gefährten zu finden. Unter Menschen aufgewachsen, zu stark, zu wild und eindeutig zu dominant für einen Beutetierwandler. Wer sollte da zu ihm passen? Jetzt war klar: Reggie Miller. Pumawandler, Sprachgenie und angehender Kämpfer seines Rudels, witzig, schlagfertig und sexy bis zum Umfallen, aber blöderweise im hintersten Winkel des Heteroschranks verkrochen, in den er doch offensichtlich nicht gehörte. Er würde ihn nur zu gern aus seinem Versteck locken.
Das Schicksal mag einen seltsamen Sinn für Humor haben, aber es macht keine Fehler.
»Bitte was?«
Anscheinend hatte er laut gedacht. Ups! »Nichts, nur ein Spruch, der mir in den Sinn gekommen ist.«
Reggies Blick blieb unergründlich, bevor er ihm zum Abschied zuwinkte. »Danke für die Begleitung. Bis später.«
»Um eins in der Cafete?«
»Was? Warum?«
»Nur so. Wenn du möchtest. Du weißt, Tandempartner und so.«
»Das bedeutet noch lange nicht, dass du mein Babysitter bist.«
Enttäuschung zeichnete sich auf Stephans Gesicht ab, bevor er sie schnell maskierte, aber seine Augen verrieten ihn.
»Doch nicht so ein großer Schauspieler, was?« Reggie schmunzelte. »War nur ein Witz. Bis um eins.«
Stephan grinste. Er fühlte sich bestärkt.
***
Reggie stöhnte innerlich, bevor er in das Gebäude ging, in dem die meisten seiner Kurse stattfinden würden. Was zum Geier war mit ihm nicht in Ordnung? Anscheinend unterlief der Pferdewandler all seine Verteidigungslinien, oder übersprang sie vielmehr wie ein Hindernis auf einem Parkour. Und was hatte er eben von Schicksal gemurmelt? War es möglich, dass sein Tandempartner das Gefährtenband ebenfalls spürte? Dieses Semester würde hart werden, ziemlich hart.
***
Wenn er gerade nicht in Panik geriet, weil er seinem Gefährten gegenüberstand, konnte Reggie wirklich charmant und charismatisch sein. Was er manchmal vergaß. Also war er um eins zwar, wie verabredet, in der Cafete, der Uni-Cafeteria, aber nicht allein. Er hatte bereits eine Clique gefunden.
Vanessa war keine Wandlerin, hatte aber offensichtlich Interesse an ihm, möglicherweise gerade deshalb, weil er ein Pumawandler war. Sie wusste über Wandler Bescheid wegen Silvia, ihrer besten Freundin und Fuchswandlerin. Dazu gehörte Mike, der wie Vanessa ein Mensch war. Dieser hatte von dem MMA-Studio gehört und gesagt, das wären Echt ernsthaft krasse Jungs da.
Silvia erklärte ihm unverblümt, Vanessa besäße einfach keinen Gaydar oder dieser wäre defekt.
Während Reggie sich noch immer versuchte davon zu erholen, dass ihn die kleine Fuchsfrau einfach entlarvt hatte, betrieb er Schadensbegrenzung, indem er vorgab, nicht zu wissen, was sie meinte. Europa war anscheinend ein gefährliches Pflaster. Und eines, wo sich allem Anschein nach niemand um die Nahrungskette scherte. Komplettiert wurde die Gruppe nämlich von dem Hirschwandler Phillip, Silvias Freund und Mikes bestem Kumpel. Dieser meinte entschuldigend, Silvia spräche oft schneller, als sie nachdächte, worauf diese ihm einen gespielt bösen Blick zuwarf.
Reggie war überwältigt und verwirrt von dieser Welt.
***
Stephan sah Reggie mit mehreren Kommilitonen in der Schlange an der Cafeteriatheke stehen. Offensichtlich befanden sich alle in einem angeregten Gespräch. In seinen Eingeweiden vermischte sich Stolz darüber, wie gut sich Reggie in diesem für ihn fremden Land zurechtgefunden und wie schnell er Freunde gefunden hatte, und Eifersucht darüber, dass er nicht gebraucht wurde. Unfähig, seine Emotionen zuzuordnen, ging er zu der Gruppe. Er sah genau, wann Reggie seine Anwesenheit bemerkte, obwohl dieser mit dem Rücken zu ihm stand. In einer vermutlich unbewussten Bewegung straffte der Puma die definierten Schultern, die in ein türkisfarbenes Shirt gehüllt waren. Die Farbe passte wunderbar zu seinem Surferlook und das Shirt war figurbetont, was ihm hervorragend stand.
Ohne Zweifel spürte Reggie ihre Verbindung, aber die widersprüchlichen Botschaften, die er ihm sendete, verunsicherten ihn. Das war eine neue, seltsame Erfahrung für Stephan, und das mochte er nicht.
»Hey, Tandem!«, begrüßte Stephan ihn. Nicht mit Kittycat, nicht vor allen Leuten.
»Stephan!« Reggie schien erfreut, ihn zu sehen. Das war eine positive Überraschung. »Hey, Leute, ich sehe euch gleich im Kurs.« Reggie packte ihn am Oberarm, zog ihn von der verdutzten Gruppe weg und aus der Cafete heraus.
Im Hintergrund sagte Phillip zu Silvia: »Ich hab’s doch gesagt!«
Und Silvia murmelte: »Tarzan.«
***
Reggie zog ihn aus der Cafete hinaus ins Freie, wo er sich auf eine leicht abseits stehende Bank fallen ließ und lautstark ausatmete.
»Was ist los, Redge? Ich dachte gerade, wie toll es ist, dass du schon Freunde hier hast. Und dann benutzt du mich als Fluchtmöglichkeit?« Stephan war verwirrt. Er setzte sich neben Reggie und strich ihm beruhigend über den Rücken. Wie gestern schon, wirkte seine Berührung anscheinend sofort. Reggie entspannte sich sichtlich.
»Vanessa steht auf mich und Silvia hat mich geoutet«, sagte er mit steigender Röte im Gesicht.
»Warte! Du hast ihr gesagt, dass du schwul bist? Und mich versuchst du anzuschwindeln?« Stephan bereute die Worte sofort, denn Reggie sank noch mehr in sich zusammen.
Eine gute Methode, Vertrauen aufzubauen. Klasse Leistung!
»Scheiße. Sorry. Das kam ganz anders rüber, als ich es gemeint habe. Du hast keinen Vorwurf verdient. Ich … Ich war nur überrascht, weil … weil …«
Weil du mein Gefährte bist und über alles mit mir reden können solltest, dachte er den Satz zu Ende. Aber das sollte ich besser nicht sagen, sonst gerät er wieder in Panik.
Und in diesem Moment wusste er, was gestern auf der Straße geschehen war. In dem Augenblick, in dem das Gefährtenband ‚eingerastet‘ war, hatten sie es beide gespürt. Reggie war in Panik geraten, weil Stephan sein Gefährte war. Also wusste er es. Konnte die Situation noch beschissener sein?
Was hat sich das Schicksal nur dabei gedacht?
»Sie hat es irgendwie gemerkt, ich habe es ihr nicht gesagt.« Und damit hatte er es vor ihm zugegeben. Das war ihm offenbar aufgefallen, denn er ließ seine Fassade nun fallen. »Ach Shit! Keiner in meinem Rudel weiß etwas davon, okay? Ich verstecke mich seit Jahren, vor allen. Nur anonyme Dates in der Stadt, wenn ich weit vom Territorium entfernt war, verstehst du? Und hier? Ich bin keine zweiundsiebzig Stunden hier, verdammt!«
Stephan lächelte ihn an, aber Reggie starrte weiterhin auf den Boden. Er wirkte zerbrechlich, und das gefiel ihm überhaupt nicht. Sein Gefährte sollte stolz und stark sein wie die Raubkatze, die er in sich trug. »Klingt einsam.«
»Ja. Das ist es.«
Stephan zog ihn in eine tröstende Umarmung, und Reggie ließ es glücklicherweise zu. Dieser lehnte seinen Kopf an seine Schulter. Sie saßen schweigend da.
Nach einer Weile räusperte sich Reggie. »Du hast gestern etwas gesagt, was mich überrascht hat«, wechselte er das Thema. »Adoptivvater? Bist du nicht bei deiner Herde aufgewachsen oder so etwas?«
Herde? Stephan schmunzelte innerlich. »Nein.« Er zuckte gelassen mit den Schultern. »Meine leiblichen Eltern starben bei einem Autounfall, als ich noch sehr klein war. Ich saß mit im Auto, aber ich erinnere mich nicht an diesen Tag.« Er lächelte. »Meine Adoptivfamilie ist großartig, sie weiß, was ich bin, und hat mich immer unterstützt. Ich liebe sie wie meine leiblichen Eltern. Sie haben nach meiner Adoption noch zwei Kinder bekommen, daher habe ich einen Bruder und eine Schwester. Da sie beide deutlich jünger sind, haben sie sich meistens gegen mich verschworen. Aber am Ende waren es doch immer wir gegen den Rest der Welt.«
Und oft auch mit Jürgen, dachte er an einen Freund erinnert, der ihm so fremd geworden war.
»Und nur zur Information: Es heißt auch bei Beutetierwandlern Rudel.«
»Oh.« Reggie errötete.
Er lachte. »Schon gut, das konntest du ja nicht wissen.«
Dem einzigen Pferdewandler, dem Stephan je begegnet war, war sein Betreuer gewesen, den der Rat nach seiner ersten Verwandlung und auf Enzos Nachfrage hin geschickt hatte. Der Mann hatte nach wenigen Tagen das Weite gesucht, weil er nach eigenen Angaben nicht der Richtige wäre, um sich um einen Feuerhufer zu kümmern. Eine Erklärung, was es damit auf sich hatte, hatte er nicht bekommen. Für Stephan war das Blödsinn, er war einfach nur etwas zu dominant für einen Pferdewandler.
»Wie alt warst du, als deine Eltern starben?«
»Fünf.«
»Scheiße.« Reggie sah ihn mitfühlend an. »Ich habe wenigstens noch meinen Dad …«
»Was ist mit deiner Mutter?«
»Sie ist mit einem Hubschrauber abgestürzt, da war ich zwölf. Meine Eltern waren keine Gefährten, sie haben sich einfach nur geliebt. Mein Dad wollte ihr nicht die Chance nehmen, ihren wahren Gefährten zu finden, aber ich glaube nicht, dass sie das überhaupt wollte.« Reggie schluckte hart. »Sie starb, als sie anderen das Leben retten wollte. Sie war Notärztin. Sie wollten eine Bergung in den Blue Mountains durchführen. Ein paar Wanderer, die sich über- und das Wetter unterschätzt hatten. Dabei stürzte sie selbst ab.«
»Oh Mann, das ist scheiße. Tut mir echt leid, Redge.« Stephan drückte ihn fester an sich und Reggie nahm die Geste dankbar an. Eltern sollten nicht so früh sterben. »Sie war eine Heldin.«
»Ja, das war sie. Für mich wird sie das immer sein.«
Wieder saßen sie eine Weile schweigend da, bis sie vom Trubel der Studenten in der Cafete abgelenkt wurden, die sich augenscheinlich wieder zu ihren Kursen begaben.
»Sieht so aus, als müssten wir den Rest des Tages hungrig in unseren Kursen sitzen«, meinte Stephan schmunzelnd.
»Offenbar.«
»Was hältst du davon, wenn ich heute Abend für uns koche? Um sieben bei mir? Ich kann ganz passabel kochen, also keine Vergiftungsgefahr. Was meinst du, Gefährte?«
Sekundenlang herrschte angespanntes Schweigen, während Stephan darauf wartete, wie Reggie auf diese Enthüllung reagierte.
»Du weißt …?«
»Ich schätze, exakt so lange wie du. Aber ich weiß, dass das alles kompliziert ist. Schritt für Schritt, Kittycat, okay?«
»Okay, Bronco.«