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Die Spur

Dary fand ihre Sachen im Treppenhaus. Der Weg durch die Küche führte direkt dorthin, in eine Art Empfangsraum, eingerichtet mit bequemen Sitzmöbeln und kleinen Tischchen, von wo aus jeweils eine breite Treppe nach oben und eine nach unten führte. Hier hing ihr Rucksack an einer goldverzierten Kommode. An der Wand leuchtete eine gedimmte Lampe, sodass Dary in dem sonst stuckdüsteren Treppenhaus genug sehen konnte, um sich nicht irgendwo den Hals zu brechen. Das nahm sie zumindest an.

Vorsichtig und leise nahm sie den Rucksack vom Haken. Als das enorme Gewicht ihre Schultern nach unten zog, erinnerte sie sich äußerst schmerzhaft daran, dass sie sich bei ihrem Sturz verletzt hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ein verräterisches Geräusch zu unterdrücken. Sie hielt ein paar Sekunden inne, in der Hoffnung, der Schmerz würde nachlassen, dann wurde das Pochen in ihrer Schulter unerträglich und sie setzte den Rucksack wieder auf dem Boden ab. Mit einem leisen Fluchen ging sie in die Hocke und zog den Reißverschluss auf. Ohne das schwere Zelt würde ihr der Rucksack sicher keine Probleme bereiten, also ließ sie es am besten hier und holte es sich später wieder. Sie hatte nicht vor, Ma Felton endgültig zu verlassen. Die alte Dame war dafür viel zu freundlich mit ihr umgegangen und außerdem glaubte Dary nach wie vor, dass ihr etwas verheimlicht wurde… und das galt es noch herauszufinden.

Als sie das Zelt aus dem Rucksack holte und es nahe der Kommode ablegte, fiel ihr Blick in einen schmalen Spiegel an der Wand. Der Anblick des weißen Verbands, der um ihre Stirn gewickelt war, ließ sie erschrocken zusammenzucken. Auch der Rest ihrer Erscheinung hatte schon mal bessere Tage gesehen. Jetzt erst wurde Dary bewusst, dass sie immer noch die gleichen Kleider am Leib trug, mit denen sie die heimischen Wände verlassen hatte. Ihr kleiner Waldausflug hatte seine Spuren hinterlassen. Das T-Shirt war zerkratzt und schmutzig, die Jeans voller Grasflecken und ihre Haare sahen aus, als hätten sie ganz unabhängig von ihr ihren ganz eigenen Waldspaziergang unternommen. Dary starrte sich einige Augenblicke lang an, dann grinste sie und kramte weiter in ihrem Rucksack nach ihrer Taschenlampe. Für einen Nachtspaziergang würde sie sich garantiert nicht fein machen.

Wo war nur ihre Taschenlampe geblieben? Dary war sich hundertprozentig sicher, sie in das vordere Fach des Rucksacks getan zu haben, doch da waren nur Unterwäsche und ein paar Tütenmahlzeiten. Ungeduldig wühlte sie weiter und bekam schließlich etwas zu fassen, das sich ganz wie ihr MP3-Player anfühlte. Darys Verwunderung wurde noch größer. Hatte sie das Gerät nicht zu Hause gelassen, weil sie vor ein paar Wochen ihre Kopfhörer verloren hatte? Dass es sich zweifelsfrei um einen MP3-Player handelte, war in dem Moment klar, als sie das kleine, ovale Gerät herauszog und es in Augenschein nahm. Doch nun kam eine ganz andere Frage auf: Woher zum Teufel kam dieses Ding? Denn genauso zweifelsfrei gehörte dieses Exemplar nicht Dary, nicht nur, weil es mit einem scheinbar einwandfreien Paar Kopfhörer umwickelt war, sondern weil es sich um ein völlig anderes Modell handelte. Es hatte nicht einmal ein Display.

Dary drehte den Player zwischen den Fingern und versuchte, sich darauf einen Reim zu machen. Steckte etwa Ma Felton dahinter? Irgendjemand hatte diesen Player jedenfalls in ihren Rucksack getan. Aber was machte das für einen Sinn?

In einem plötzlichen Anflug von etwas, das ihr wie Verfolgungswahn vorkam, stand sie auf und sah sich nach allen Seiten um. Dabei wickelten ihre Finger ganz automatisch die dünnen Kopfhörerkabel von dem Gerät und fuhren dann langsam über die winzigen Tasten. Ein Gefühl von Aufregung durchfuhr sie, das ihr sehr bekannt vorkam. Es war nicht lange her, seit sie es das letzte Mal gespürt hatte. Doch ganz wie beim letzten Mal besaß das Gefühl keine abschreckende, sondern eher eine anziehende Wirkung. Ohne überhaupt darüber nachzudenken, was sie tat, schnallte sie sich den Rucksack auf, steckte sich die Hörer in die Ohren und machte sich daran, die Treppen hinunter zu steigen.

Sie gelangte in die Eingangshalle, und noch bevor sie die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte, fiel ihr wieder etwas Merkwürdiges auf: Die Haustür stand offen. Das war nun eindeutig nicht normal und es beunruhigte Dary. Dieses Haus war wirklich keines, dessen Haustür man mitten in der Nacht offen ließ. So verrückt konnte Ma Felton nicht sein, so sonderbar der erste Eindruck von ihr auch sein mochte.

Wieder fühlte sich Dary beobachtet. Machte sich hier jemand einen Spaß mit ihr? Oder bedeutete das gar, dass jemand in dieses Haus eingedrungen war, ein Einbrecher vielleicht… zu holen gab es hier zweifellos genug.

Die Aufregung pochte in ihr und mischte sich mit der Unentschlossenheit… was sollte sie jetzt tun? Ma Felton warnen? Die Polizei rufen? Aber was würde sie erzählen? Dass die Tür offen stand?!

Dary atmete einmal tief ein und zwang sich zur Vernunft. Das alles hatte nur eins zu bedeuten: Das Schicksal befürwortete ihren Nachtspaziergang und hielt ihr schon mal ganz gentlemanlike die Tür auf.

Die unfassbare Naivität und Unsinnigkeit dieses Gedankens, aber auch die Tatsache, dass sie überhaupt auf so etwas kam, erweckte in Dary den gleichen Tatendrang, der sie wenige Stunden zuvor schon dazu bewogen hatte, den befestigten Weg zu verlassen und durch den Wald zu stapfen. Dary konnte es sich nicht erklären, aber sie war offensichtlich verrückt geworden.

Sie verließ Ma Feltons Haus und schloss die Tür hinter sich, ohne daran zu denken, wie sie wieder hineinkommen würde. Und irgendwie war sie gar nicht so überrascht, als sie den Startknopf des MP3-Players betätigte und hören konnte, was auf dem Gerät gespeichert war.

Die ersten Töne konnte sie nicht einordnen, aber nach wenigen Sekunden spielte eine ihr wohlbekannte Melodie, hinterlegt mit dumpfen E-Bässen und einem schaurig-schönen Klanggemisch, das ihr eine Gänsehaut über die Unterarme fahren ließ. Der Widererkennungseffekt war gravierend. Sofort fühlte sie sich in den Wald zurückversetzt, erinnerte sich haargenau an den verborgenen Pfad, an die Treppe, und natürlich an die Klänge, die sie dort gehört hatte. Dary hatte damals nicht erkannt, was es eigentlich sein sollte, aber jetzt war es weitaus einfacher, das Genre zu bestimmen. Es handelte sich hier um eine Musikrichtung, sie sie persönlich nie besonders interessiert hatte. Sie war sich nicht sicher, wie man es nannte, Death-Rock, Gothic, irgendwann hatte sie auch mal den Ausdruck psychodelische Musik gehört, aber sie war sich nicht sicher. Ganz egal, wie man es nannte, es war faszinierend. Eine Frau begann zu singen, mit einer glockenklaren Stimme, auf einer Sprache, die Dary nicht erkannte, und das Ganze verwandelte sich in ein mystisches Klangkunstwerk, das von Darys Sinnen gierig aufgesogen wurde. Ihre Finger spielten an der Lautstärkeregelung, während sie sich zu entscheiden versuchte, in welche Richtung sie gehen sollte.

Etwas in ihr rebellierte gerade und manifestierte sich in einem sehr unangenehmen Magenkrampf: Die Vernunft. Derjenige, der im Wald diese Musik gehört hatte, hatte ihr den MP3-Player zugejubelt und die Tür offen gelassen wie eine Einladung. Vielleicht hatte sie gar nicht geträumt und sie war tatsächlich beim Schlafen beobachtet worden, vorhin in Ma Feltons Wohnzimmer. Und trotzdem war sie auf die Straße gegangen, trotz dieser erschreckenden Erkenntnisse! Irgendetwas in ihrem Kopf musste bei ihrem Sturz wohl in Mitleidenschaft gezogen worden sein.

Trotz allem ging sie schließlich einfach los, unter den nutzlosen Straßenlaternen die Straße entlang. Sie war wieder der Abenteurer, der entflohene Häftling auf der Flucht vor etwas, das sie nicht richtig einordnen konnte. Ihr Weg würde sie schon irgendwohin führen. Wenn es dabei irgendwelche Gefahren zu überstehen gab, umso besser.

Nach wenigen Metern schon fand sie den Beweis dafür, dass sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Ihre Taschenlampe lag eingeschaltet auf einem Stromkasten. Der Lichtkegel wies wie der buchstäbliche Wink mit dem Zaunpfahl auf das Einbahnstraßenschild auf der anderen Straßenseite.

Darys Herz pochte dumpf unter ihren Rippen. Jemand wies ihr den Weg, legte Spuren, denen sie folgen sollte. Die Wahl war klar. Entweder sie ließ sich auf das Spiel ein oder kehrte zu Ma Felton zurück. Die Musik in ihren Ohren verwandelte alles in eine Filmszene, in der Dary die Protagonistin war. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie hatte langweilige Filme schon immer gehasst.

Sie nahm die Taschenlampe an sich und schlug den Weg ein, der ihr gewiesen worden war. Die Einbahnstraße verdiente ihren Namen; sie war so schmal, dass Dary bezweifelte, dass auch nur ein einziges Auto hindurch passte. Am Straßenrand standen kaum Gebäude und nach einer Weile säumten nur noch ausladende Wiesen mit kleinen Schuppen und Hüttchen den Weg. Dary kam an einem Hof vorbei, der völlig im Dunkeln dalag, und war nicht sonderlich überrascht, als die Straße aufhörte und in einen schmalen Kiespfad überging.

Jetzt war es an der Zeit, sich in Geduld zu üben. Sie ahnte bereits, wohin die Spur sie führen sollte, und erinnerte sich gut daran, wie versteckt dieses Ziel lag.

Sie war verrückt geworden.

Aber ihre Füße trugen sie immer weiter, wieder fort von der Zivilisation, zurück in jene abenteuerliche und gefährliche Welt, die sie vor kurzem zum ersten Mal betreten hatte. Und doch war es kaum vergleichbar. Jetzt war es dunkel, nur die Sterne wachten über die Welt. Im Dunkeln durch den Wald zu spazieren würde noch einmal eine völlig andere Erfahrung werden.

Ihre Gedanken waren wie betäubt von der Musik und von der Nacht, die sie einzuhüllen begann wie eine weiche Decke. Niemals zuvor hatte sie sich derart entrückt von aller Realität gefühlt. So ähnlich musste es sein, wenn man Drogen nahm oder zu viel Alkohol trank.

Wer auch immer die Spur gelegt hatte, war darauf bedacht gewesen, für ihre Unterhaltung zu sorgen. Als das erste Lied endete, befürchtete Dary schon, das wäre alles gewesen oder es würde sich jetzt in einer Endlosschleife wiederholen. Stattdessen sprang der Player auf das nächste Lied und Darys Aufmerksamkeit war wieder völlig der Musik gewidmet, die sie immer mehr in ihren Bann zog.

Das Licht der Taschenlampe huschte rastlos vor ihr über den Boden und leuchtete die Umgebung ab, um neue Wegweiser zu entdecken. Aber es kam nichts. Dary folgte dem Weg, bis sie nach einiger Zeit tatsächlich wieder den Wald sehen konnte. Die Neugier wurde fast unerträglich, sodass sie sogar kurz anfing zu rennen, jedoch nur um dann vor der pechschwarzen Wand stehen zu bleiben, die bedrohlich über ihr aufragte.

Die Taschenlampe war nicht in der Lage, die Schatten zu durchdringen, die dort auf sie warteten.

Plötzlich fühlte sie sich klein, sehr klein, und vor allem allein. Sie stand hier, bestimmt einen Kilometer von Ma Feltons Haus entfernt im Niemandsland, nur mit einer Taschenlampe bewaffnet und dachte darüber nach, den dubiosen Spuren eines womöglich Wahnsinnigen zu folgen.

Dary nahm die Kopfhörer aus den Ohren und stellte die Musik ab.

Die darauf folgende Ruhe war beängstigender als jede Musik es hätte sein können, obwohl es keine vollkommene Ruhe war.

Der Wind strich durch die sacht wogenden Schatten über ihrem Kopf und verursachte ein Geräusch, als würde der Wald atmen. Als würde er ihr zuflüstern, dass sie lieber dort blieb, wo sie war. Dary fröstelte und schluckte, womit sie ihre plötzliche Angst unter Kontrolle bringen wollte. Sie hatte schon einmal die Gefahren des Waldes unterschätzt und damals war es hell gewesen. Wer wusste schon, ob jetzt nicht irgendwelche gefährlichen Tiere umherstreiften, Wildschweine oder vielleicht sogar Wölfe, von Spinnen und dem ganzen anderen Kriechtier, das über ihren Kopf und über ihre Füße tänzeln würde, ganz zu schweigen.

Und natürlich ganz zu schweigen von der Gefahr, die unter Umständen auf sie wartete, wenn sie den Spurenleger gefunden hatte.

Das Ganze war ohnehin nur ein Spaß gewesen. Ein Streich, mehr nicht. Was hatte sie vorgefunden, eine offen stehende Tür und ihre Taschenlampe, die auf einem Stromkasten lag? Dass das Spuren waren, die sie irgendwohin führen sollten, war womöglich nur Resultat ihrer eigenen Auslegung. Immerhin hatte sie keine weiteren Hinweise mehr gefunden. Aber wieso der MP3 Player mit exakt der gleichen Musik?

Die Antwort war so einfach, dass sie alle anderen Argumente verblassen ließ. Gleichzeitig ließ sie alles, was in den letzten Stunden geschehen war, in einem logischen Licht erscheinen. Es war nicht Ma Felton gewesen, die sie gefunden hatte. Der unheimliche Fremde, der im Wald Musik gehört hatte, hatte sie gefunden, weil Dary ihm ja quasi vor die Füße gefallen war, und hatte sie vielleicht sogar zu Ma Felton gebracht. Ma Felton und die Waldperson standen irgendwie in Verbindung. Und jetzt wollte die Waldperson auf sich aufmerksam machen, indem sie ihr diese Hinweise buchstäblich vor die Nase hielt.

Nur warum gab es dann keinen weiteren Anhaltspunkt oder Wegweiser mehr?!

Weil sie nicht richtig hinsah. So einfach war das. Also schloss Dary die Finger fester um die Taschenlampe und sah sich um. Sie hatte die Herausforderung angenommen, indem sie Ma Feltons Haus verlassen hatte. Jetzt einen Rückzieher zu machen, wäre feige. Der nächste Schritt wäre, sich wieder als Anhalter an die Straße zu stellen, um wieder nach Hause zu fahren. Nein, auf keinen Fall!

Sie ging nicht in den Wald hinein; der Wald verschlang sie. Noch lag der Kiesweg unter ihren Füßen, und doch schloss sich die Gemeinschaft der Schatten um sie, kaum dass sie die ersten Meter hinter sich gebracht hatte. Dary vermied es jetzt, den Lichtkegel der Taschenlampe in ihre Umgebung schweifen zu lassen, da dadurch die sonderbarsten Gebilde aus Dunkelheit zum Leben erweckt wurden. Sie musste nur aufpassen, dass sich noch Boden unter ihren Füßen befand; nach allem was sie erlebt hatte, war das die Priorität.

Es verstrich eine geraume Zeit, ohne dass der Weg abbrach oder unangenehme Überraschungen auftraten. Das einzige, was Dary nachhaltig zu ängstigen begann, war die abnehmende Lichtintensität ihrer Taschenlampe.

Nach etwa zehn Minuten konnte Dary erkennen, dass sich der Weg gabelte. Verunsichert ging sie langsamer. Jetzt brauchte sie einen neuen Hinweis. Sorgfältig leuchtete sie die Umgebung ab, auf der Suche nach etwas, das sie schon erkennen würde, wenn sie es erst gefunden hatte. Die Suche dauerte nicht einmal lang und Dary schluckte die wieder aufwallende Angst hinunter, als sie sich der verdächtigen Ansammlung von Ästen wenige Meter vor ihren Füßen näherte. Zuerst dachte sie, jemand hätte die Äste einfach auf einen Haufen geworfen, doch dann erkannte sie, was es darstellen sollte: Ein Pentagramm, das mit der obersten Spitze auf den Weg zeigte, der nach links führte.

„Das gibt es doch nicht“, murmelte Dary, bückte sich und hob einen der Äste auf. Dann musste sie lachen, schüttelte den Kopf und stand wieder auf. Sie ging weiter, und tatsächlich: Jedes Mal, wenn es mehrere Wegmöglichkeiten gab, wies ihr erneut eines der geheimnisvollen Zeichen den Weg. Der Spurenleger hatte sich große Mühe gegeben. Wieder verlor Dary jedes Zeitgefühl, sodass der einzige Hinweis auf die Dauer ihres Nachtspaziergangs die schwächer werdende Taschenlampe war. Sie fand wieder ein Pentagramm, das dieses Mal allerdings fort vom befestigten Weg, hinein ins Unterholz führte, und als sie versuchte, ins Dickicht zu leuchten, konnte sie kaum mehr als ein paar Meter weit sehen. Noch ein paar Minuten, und sie würde völlig im Dunkeln dastehen. Dary schluckte schwer, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Sie würde ohne Taschenlampe zurückfinden müssen… Schon der Gedanke daran ließ ihr die Knie zittern.

Moment.

Dary hob wieder die Lampe und schärfte ihren Blick. War dort hinten nicht irgendetwas? Für einen Moment glaubte sie, ein Licht gesehen zu haben. Ihr Herz schlug laut und fast schon schmerzvoll heftig, als sie die ersten Äste zur Seite bog und den Waldweg verließ. Vielleicht war es ja wirklich nicht mehr weit…

Zu Darys Verblüffung waren nur die ersten paar Meter beschwerlich. Sie kletterte über ein paar morsche Baumstämme und fand sich plötzlich auf einem tunnelartigen Schleichweg wieder. Um sie herum wucherten dichte Hecken und Gebüsche, die sich über ihrem Kopf trafen. Das Verblüffendste war jedoch das schwache Licht, das nun eindeutig vom Ende des Schleichwegs her kam. Sie richtete sich auf und ging weiter. Die Taschenlampe spendete mittlerweile gerade noch so viel Licht, dass sie ihre eigenen Füße sehen konnte, wie sie sich immer weiter dem Ziel dieses nächtlichen Ausfluges näherten.

Die Taschenlampe flackerte. Dary fluchte und schüttelte das Gerät, aber es half nichts. Jetzt musste sie sich wohl oder übel auf die andere Lichtquelle verlassen… Je näher sie kam, desto deutlicher glaubte sie irgendwo dort hinten ein Gebäude zu sehen…

Über ihrem Kopf waren plötzlich Sterne und Dary fragte sich, wo denn die ganzen Bäume geblieben waren. Verwirrt drehte sie sich einmal im Kreis und erkannte, dass sie gerade auf einer Lichtung gelandet war. Und am anderen Ende des weitläufigen Platzes stand ein Haus. Hinter den Fenstern flackerte schwaches Licht.

Dary näherte sich dem Gebäude, streifte durch kniehohes Gras und sah sich noch aufmerksamer um. Eine etwa zwei Meter hohe, brüchige Mauer beschrieb einen Halbkreis hinter dem Haus entlang. Und oberhalb der Mauer ragten wieder die Bäume auf, der Wald hob sich in einer beachtlichen Steigung dem Himmel entgegen. Sie kannte diesen Ort, denn sie war schon einmal hier gewesen… damals war sie nur aus einer anderen Richtung gekommen.

Eine zweistufige Treppe führte zu der großen, überdachten Terrasse hinauf, auf der sich die Haustür befand. Darys Verstand war wieder betäubt genug, um die Hand einfach nach der Klinke auszustrecken und sie hinunter zu drücken. Schummriges Licht flutete ihr entgegen, als sie die Tür öffnete und Blick auf einen langen Flur hatte.

„Hallo?“, fragte sie, die Stimme zu einem Hauchen gesenkt, sodass sie sich kaum selbst hörte. Dary räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Ist hier jemand?“

Es kam keine Antwort. Sollte sie etwa hier her gelockt worden sein, nur um jetzt ein verlassenes Haus vorzufinden? Zögerlich machte sie den ersten Schritt ins Gebäudeinnere. Ihre Füße sanken sofort in tiefen, weichen Teppichboden. Der ganze Flur war damit ausgelegt, allerdings nicht auf die Art, wie man es erwartet hätte. Es waren dutzende einzelne Teppiche in den verschiedensten Größen, Formen und Arten, dicke, fransige, flauschige, schlichte Teppiche. Alle waren sie neben- und aufeinander gelegt, sodass sie einen ziemlich absonderlich wirkenden Bodenbelag bildeten.

Jetzt etwas selbstsicherer hob sie wieder die Stimme:„Hallo? Ist irgendjemand hier?“

Im Zimmer nebenan wurde ein Stuhl zur Seite geschoben. Darys Herz machte einen Sprung und sie hielt die Luft an. Jetzt war ein guter Zeitpunkt, um kehrt zu machen und das Weite zu suchen! Worauf wartete sie bloß? War sie wirklich scharf darauf, jemanden kennen zu lernen, der sie mit unheimlicher Musik und Pentagrammen in sein Haus lockte? Sie stellte sich diese Frage allein aus dem Grund, dass man sie doch nur mit nein beantworten konnte. Das half aber auch nichts. Dary war immer noch neugierig… und fand einfach kein Nein in sich.

Also ging sie weiter bis zu der offen stehenden Tür zu dem Zimmer, aus dem das Geräusch gekommen war, und trat ein. Es war niemand da.

Sie konnte den Stuhl sehen, dessen Beine hier über den Holzboden gezogen worden waren; er stand schief vor einem altmodischen Schreibtisch, der von Zetteln, Notizbüchern, zerknülltem Papier, Büchern und halbfertigen Zeichnungen überquoll. Auf dem Boden standen Kerzen, wohin das Auge auch reichte, so weit Dary es erkennen konnte, waren es ausnahmslos schwarze Kerzen, dicke, dünne, große und kleine, Kerzen in Halterungen, Kerzen auf Tellern, Kerzen in Gläsern, Kerzen, die einfach auf dem Boden standen und von ihrem eigenen Wachs gehalten wurden. Das Ganze verlieh diesem Zimmer einen mysteriösen, gleichzeitig aber auch beklemmend verschrobenen Charakter, der dadurch verstärkt wurde, dass die Wände pechschwarz waren und sich außer Schreibtisch, Stuhl und Kerzen kein einziger anderer Gegenstand hier befand.

„Du bist mutig, hier her zu kommen.“

Diesmal erschrak Dary so sehr, dass sie zurücktaumelte und unsanft gegen den Türrahmen prallte. Die Stimme kam wie aus dem Nichts, und erst nach einer weiteren Sekunde wurde Dary klar, dass sie nicht genau hingesehen hatte. Sie hatte geglaubt, das Zimmer wäre fensterlos, doch das war es nicht. Es wirkte so, weil das große Wandfenster, hinter dem die Düsternis der Terrasse wartete, offen stand.

„Ein bisschen zu mutig, würde ich sagen.“ Die Umrisse der Gestalt, zu der die Stimme gehörte, tauchten im Wandfenster auf.

Dary war vor Angst nicht einmal mehr fähig, zu atmen. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und jeder einzelne davon schien ihre Fähigkeit zu einer Reaktion zu blockieren. Sie stand einfach nur da, wie zur Eissäule erstarrt.

Der Fremde trug einen Mantel, eine Kutte oder etwas Ähnliches und das Gesicht konnte sie nicht erkennen, da es von einer Kapuze verborgen war. Was Dary allerdings sehen konnte war, dass die Gestalt irgendetwas in der rechten Hand hielt, das sie nicht richtig erkennen konnte. Es sah aus, als könne man damit gut jemandem wehtun. Außerdem spürte sie, wie sie angestarrt wurde, begutachtet von oben bis unten. Obwohl sie die dazugehörigen Augen nicht sehen konnte, war es ein so intensives Gefühl, dass sie sich fast nackt fühlte… nackt und ausgeliefert. Sie schauderte, als die Stimme schließlich erneut erklang: „Bist du eine Verrückte oder so etwas?“

Dary versuchte zu sprechen, aber es ging nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Tatsache, dass der Fremde auf sie zukam, ganz langsam und auf eine Art und Weise, die ohne jeden Zweifel bedrohlich war. Den Gegenstand, den er in der Rechten hielt, hielt er vor ihren Augen verborgen, was ihre Beunruhigung exponentiell steigen ließ.

„Wieso auf einmal so ängstlich?“, spottete der Fremde. Seine Stimme war tief und ruhig, besaß aber auch ein hauchdünnes Rasseln, präsent und gleichzeitig irreal wie das Geräusch eines starken Regenschauers, den man in einem geschlossenen Raum auf das Dach prasseln hört. „Du musst doch erwartet haben, jemandem zu begegnen. Die offene Tür, der Player, der nicht dir gehört… deine Taschenlampe, die Pentagramme… du hast all das gefunden und bist trotzdem hier her gekommen.“

Dary war sich nicht sicher, ob es wirklich Boshaftigkeit war, die in dieser Stimme lag. Für einen Augenblick glaubte sie fast, eine Art Bewunderung und noch etwas völlig Anderes herauszuhören, aber das war nun wirklich kein Grund, plötzlich Vertrauen zu fassen. Sie holte tief Luft und war endlich fähig, zu sprechen: „Es tut mir Leid. Ich… ich wollte nur…“

„Du wolltest nur mal testen, ob dir jemand einen Streich spielt?“ Der Fremde gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Hier, wo dich niemand kennt? Sei realistisch. Ich kann dir sagen, was du hier tust. Der einzige Grund, das zu tun, was du gerade getan hast, ist absolute Lebensmüdigkeit.“

Dary wich zurück.

Auf dem Gesicht unter der Kapuze erschien ein Lächeln. Dann verschwand es, und der Fremde flüsterte: „Und jetzt lauf endlich.“

Als sie nach zwei Sekunden noch immer nicht reagierte, bewegte sich der Fremde minimal, sodass der Gegenstand sichtbar wurde, den er in der rechten Hand hielt. Es war eine gut achtzig Zentimeter lange, gebogene Eisenstange. „Ich sagte: Lauf!“

Es war kein Streich. Sie war in Gefahr. Diese Erkenntnis durchfuhr Dary wie ein Blitzschlag und bewegte ihre Beine fast ohne ihr Zutun. Sie wirbelte herum, rannte durch den Flur und stürmte aus dem Haus, hinaus auf die Lichtung, blind vor Angst der Dunkelheit entgegen.

Xenon

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