Читать книгу Mina über den Wolken - David Goliath - Страница 4

Kai Kaktus

Оглавление

»Es ist aus.«

Kais Schlussstrich hallt durch meinen Kopf, wie das Echo von klackernden High Heels im 360° gefliesten Vorhof der Hölle. Dabei bevorzuge ich doch flache Schuhe. Der Rest ist verstummt. Nur das schallende Klackern kehrt immer wieder – dieser eine Satz aus seinem Mund. Dieser Satz, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet habe.

»Es ist aus.«

Tinnitus.

»Es ist aus?«, frage ich verdutzt. Meine Gesichtszüge müssen erstarrt sein. Schockgefrostet, in dem Moment, wo ich die Lawine auf mich zurasen sah.

»Ja«, antwortet er kühl, trocken, fast schon distanziert. Als wäre ich ein Klient, den er verteidigen müsste, obwohl er weiß, dass ich was ausgefressen habe. Als angehender Anwalt hat er gelernt, einen dicken Panzer um sich zu legen, damit er objektiv bleiben kann. Diesen Panzer zeigt er mir gerade. Ich kann diesen nicht durchdringen, ich kann nicht zu ihm vordringen. Das Gesagte ist in Stein gemeißelt. Kai kann nicht von seiner Meinung abgebracht werden. Das weiß ich aus den Konflikten, die wir schon hatten.

Er verschwindet ohne weitere Worte im Nebenzimmer und lässt mich mit der Taubheit allein. Das Urteil ist gefällt. Empathie ist ein Luxus, den er sich nicht leisten will.

Ich laufe ihm hinterher, doch die Tür trennt uns, weil er sie schließt. Er schließt sie nicht ab. Aber das Türblatt wird zur Mauer, die ich nicht passieren kann, egal was ich sage.

In meiner Verwirrung suche ich die versteckte Kamera, Publikum oder eine Ringschachtel, die mich aus dem Tief ganz nach oben katapultieren soll. Ich rede mir ein, dass es ein derber Spaß ist, damit ich noch empfänglicher für die Erlösung bin – die Vermählung. Doch nichts geschieht. Mir will nicht einleuchten, was da eben geschah. Wo ist der Scheinwerfer, der mich in Szene setzt? Wo ist das Licht, das mich führt? Ich sehe nichts, doch ich bin geblendet. Ein helles Rieseln vor meinen Augen. Diffus. Chaotisch.

Aus dem Nichts.

Oder?

Was war passiert, dass er mich so abweisend abweisen kann?

Das verflixte siebte Jahr. Es hat uns erwischt. Es hat mich erwischt. Kalt erwischt.

Unter Tränen verlasse ich unsere Wohnung und das Haus. Ich weiß nicht, ob es Tränen der Erleichterung, des Schmerzes oder der Freude sind. Es fühlt sich taub an. Ich klammere mich an die wenigen Dinge, die ich auf die Schnelle zusammenklauben konnte. Eine kleine Kiste gefüllt mit Habseligkeiten, von denen ich denke, dass ich sie akut brauche: meine Kapselkaffeemaschine, ein kleiner grüner Kaktus und das halbe Badezimmer (Make-up gegen den Breakdown, Bürsten und Kämme, Lappen und Schwämme, Haarspray, Deodorant und mein rotes Haarband, Parfumflakons und Tampons, Zahnbürste und Zahnpasta, Feuchttücher und Abschminktücher, Körperlotion und Anti-Schuppen-Shampoo, Epilierer und Rasierer, Pinzette und eine Gratispackung Gurkengesichtsmaske).

Meine Klamotten hole ich später. Oder ich lasse sie holen, oder er soll sie mir bringen – ein letzter Freundschaftsdienst. Erneuter Träneneinschuss. Der Kaktus bekommt etwas Wasser ab.

Warum ich diesen kleinen, amerikanischen Stachelstrauch in der Eile eingepackt habe, kann ich gerade nicht nachvollziehen. Genau genommen ist es Kais Gewächs. Ich habe mich zwar darum gekümmert, sonst wäre es verkümmert, aber Kai hat ihn gekauft, einen sonnigen Platz dafür ausgesucht (das Küchenfenster) und jeden Morgen gegrüßt. Ein Ritual, wie er sagte. Vielleicht hat mich mein boshaftes Unterbewusstsein dazu getrieben, seinen Kaktus zu stibitzen. Vielleicht will ich ihm damit etwas nehmen, weil er mir etwas genommen hat – Sicherheit, Rückhalt, Geborgenheit, Liebe. Womöglich brauche ich das kleine Grün als Übergang vom Beziehungsmensch zum Single. Ein kleiner Begleiter, der mich an die Turbulenzen erinnert, denen man als Paar ausgesetzt ist. Sinnbildlich für die Aufs und Abs, zwischen den Dornen ist es weich, manchmal auch haarsträubend.

Vor dem Haus warte ich darauf, dass jemand die Tür hinter mir aufreißt – außer Atem – und mich in den Arm nimmt, mir zuflüstert, dass es ein Schnellschuss war und mir die schwere Kiste abnimmt, um sie zusammen mit mir zurück in die Wohnung zu tragen.

Ich warte. Vergeblich.

Erschöpft würde ich mich jetzt gern in meinen mitschwingenden Lesesessel fallen lassen, doch das einzige Mobiliar, das ich in der kleinen Studentenbude finanziert habe, musste ich im Eifer des Gefechts zurücklassen. Wie hätte ich den Sessel die Treppen herunterhieven sollen? Und dann? Campieren auf dem Gehweg?

Ich muss an meinen, vielleicht, überstürzten Einzug denken. Von meinem Elternhaus im hanseatischen Lübeck zu diesem Kölner Kerl, den meine Eltern nicht mögen, in die kleine Großstadtwohnung voller Filmposter, Pizzakartons und FC-Schals. Ein Protest meines jugendlichen Ichs. Die Zicke zieht aus, raus in die Welt, zu einem Geißbock, einer Internetbekanntschaft. Ich wollte sagen: schaut her, wir lieben uns, er kümmert sich um mich, ihr könnt mir nicht mein Leben diktieren.

Jetzt kommt die Retourkutsche. Und meine Eltern würden mich daran erinnern, wie eindringlich sie mir damals davon abgeraten hatten, trotz seiner eingeschlagenen Juristenlaufbahn. Immerhin haben wir es bis ins verflixte siebte Jahr geschafft. Warum es zum einseitigen Bruch kam, weiß ich noch nicht. Ich muss es erst einmal verdauen, ehe ich mich mit dem Warum auseinandersetze.

Meinen Sessel hole ich mir später. Oder es kommt zum Tausch: Sessel gegen Kaktus. Den kleinen Stachelstrauch behalte ich solange als Pfand. Ich könnte mir auch einfach einen neuen Lesesessel holen, irgendwann, wenn ich wieder Lust auf dieses Möbelhausphänomen habe, wo expansionswillige Fünfziger ihren zweiten Frühling ausstaffieren, praktisch veranlagte Familienmütter und –väter nach robustem, günstigem Handwerk suchen, liebeshungrige Pärchen mit dem Maßband konfigurieren und mutige Singles noch mehr unnützes Zeug für ihre heillos überfüllten Refugien shoppen. Mein Kopf ist nicht aufnahmefähig für skandinavische Namen, Menschenmassen und Regalnummern. Mein Magen rebelliert gegen den obligatorischen Abschluss mit Ein-Euro-Hotdog und Automaten-Softeis.

Die schattenspendenden Birken im Zebramuster vor dem Mehrfamilienhaus in der dichtbebauten, zugeparkten Einbahnstraße in Köln-Lindenthal empfangen mich freundlich. Kinder tollen auf dem kleinen Spielplatz ein paar Meter weiter, der eine Nische in die Reihe von Parkplätzen schlägt, während sich ein paar Mütter mit Hidschab mehr um ihre Handys als um ihre Plagegeister kümmern, die sich gern gegenseitig tyrannisieren. Neben schallenden Telefonaten mit fremder Zunge tönt Kindergeschrei durch die Straßen und wird an den lückenlosen Häuserfassaden verstärkt. Eine Handvoll Kinder hört sich so an wie eine Horde hungriger Hyänen, die kreischend umherspringen.

Kalte Luft trocknet meine Tränen. Durch den Kanal, den die Häuserschlucht schafft, zieht der Wind eine Schneise. Die Böen halten auf mich zu, brechen an meiner Statur und säuseln mir ins Ohr. Ich kann sie nicht verstehen, genauso wenig wie die Mütter im Hidschab oder Kai. Alle sprechen in einer Sprache, derer ich nicht mächtig bin. Ich fühle mich plötzlich verloren. Eine Million Menschen in Köln, doch ich fühle mich einsam.

Braune Blätter auf dem Gehweg bedeuten, dass sich der Herbst ankündigt. Vielleicht will mir der Wind das sagen. Zieh dich warm an, Kind, will er sagen. Das dünne Jäckchen, das ich trage, taugt wenig für den Herbst. Kleidungstechnisch hänge ich noch im Spätsommer fest – luftige Kleidchen und ein dünnes Jäckchen, mehr zur Zierde, denn zum Schutz.

Normalerweise bin ich angreifbar, wenn es um Wind und Kälte geht. Ich friere schnell, mein Haar zerzaust, Becken und Nieren sind anfällig. Selbst dicke Socken tun sich schwer, meine Füße zu wärmen. Aber nun, allein vor der Altbauhäuserfassade, spüre ich nichts – weder Wind noch Kälte. Selbst meine Arme halten eine Kiste, die sonst zu schwer für mich wäre, seit geraumer Zeit, ohne Murren.

Zielstrebig umkurven mich die Passanten, denen ich im Weg stehe. Sie alle haben ein Ziel – einen Ort, wo sie hinkönnen. Ich, dagegen, weiß noch nicht, wohin ich soll. Eltern, Freunde, Hotel?

Bis nach Lübeck zu meinen Eltern wäre zu weit. Fünf bis sechs Stunden mit der Bahn. Außerdem muss ich morgen wieder arbeiten. Dazu kommen fünf bis sechs Stunden allein im Zug, allein mit meinen Gedanken, Fragen, Vorwürfen, Ängsten. Allein, trotz der Anwesenheit der anderen Fahrgäste. Aber jeder sitzt für sich allein, abgeschottet, isoliert.

Als ich meine Freundesliste abklappere, komme ich schnell zum Ende. Die meisten sind nicht in Reichweite. Lübeck, Kiel, Berlin, Jena, Würzburg. Schulfreunde, die es in alle Himmelsrichtungen verstreut hat.

Ich ertappe mich, wie ich mich zur Klingel drehe und Kai darum bitte, mich auf dem Sofa schlafen zu lassen, aber die Wohnung ist so klein, dass wir uns ständig über die Füße stolpern würden. Irgendeinen Grund hatte er, dass er mit mir Schluss gemacht hat, und dieser war so triftig, dass er es nicht mehr in einem Raum mit mir ausgehalten hat. Ein Missverständnis? Wieso wollte ich nicht bleiben und mit ihm reden, oder vielmehr, auf ihn einreden? Wieso habe ich mich kampflos ergeben? Hatte ich selbst schon mit unserer Beziehung abgeschlossen? Hat der Alltag unsere Liebe gefressen?

Ich stelle die Kiste ab. Meine Arme danken mir und kribbeln vor Freude. Der grüne Kaktus sieht mich vom Boden aus eindringlich an, doch ich kann nicht ergründen, was er meint. Bin ich schuld? Habe ich etwas gesagt oder getan?

»Hat er dir was erzählt?«, nuschele ich ihm zu, mit so wenig wie möglich Lippenbewegungen, um die arglosen Menschen um mich herum nicht in die Irre zu führen.

Er antwortet mir nicht, sondern schaut mich nur an. Ähnlich wie Kai, der Konflikten gern aus dem Weg ging, sie aussaß und nach einer Weile Funkstille so tat, als wäre nichts geschehen. Der kleine Kaktus ist demnach ein Ebenbild von Kai. Ich nenne ihn also folgerichtig fortan Kai. Kai Kaktus. Damit gebe ich dem Namen, der in mir positive und negative Assoziationen auslöst und mit vielen guten und nicht so guten Erinnerungen verbunden ist, eine neue Bedeutung. Vielleicht dauert es nicht lang, bis Kai Kaktus den anderen Typ in meinem Geiste ersetzt hat.

Gerade schmerzt es noch, wenn ich das kleine grüne Ding anschaue, aber in ein paar Tagen werde ich hoffentlich darüber lachen können. In ein paar Tagen, wenn die Gewissheit schonungslos den Herzschmerz befeuert, wenn ich heulend den Eisbecher auskratze, wenn ich im Schlabberlook zum Bäcker gehe, um mehr als ein Schokoladencroissant zu vertilgen, oder wenn ich mich an jeden Strohhalm klammere, damit ich nicht so einsam bin. Mit Strohhalm meine ich Mann.

Wäre gerade Karneval in Köln kämen zu der eine Million Menschen noch einmal eine Million dazu. Da gäbe es bestimmt ein paar potenzielle Proleten, die einer alkoholisierten Frau Gesellschaft leisten würden. Dass ich unbeholfen wirke, würde nicht auffallen. Kostümierung und alljährlich ähnliches Frohlocken gehören eben nicht zu meinen Favoriten. Hinter den lächelnden Masken verstecken sich oft gefrustete Gestalten, die Heiterkeit und Heiserkeit mit Alkohol hervorrufen. Die wenigen Traditionalisten mit ihren vorgegaukelten Werten, der politischen Satire und dem apostolischen Schabernack können weder gegen die Kommerzialisierung noch gegen den Massenansturm feierwütiger Sauf- und Sextouristen bestehen.

Kai meinte immer, ich solle aus meinem Kokon herauskommen und mich mitreißen lassen. Als waschechter Narr hat er mich jedes Jahr mitgeschleift. Getreu seiner cineastischen Passion sind wir stets als kostümiertes, fülliges Pärchen aufgetreten – Batman und Catwoman, Barbie und Ken, Bambi und Klopfer, Schneewittchen und Wolf, Alice und der Hutmacher.

Wie andere auch, konnte ich mein wahres Gemüt hinter Schminke oder Masken verstecken. Etwas Alkohol gegen die Hemmschwelle und schon hat man dumme Texte mitgesungen und zu stupiden Liedern getanzt, Bonbons genascht und laienhafte Freizeitkünstler beklatscht. Irgendwo bin ich froh, dass ich den Quatsch nicht mehr mitmachen muss. Trotzdem bin ich betrübt, dass zurzeit keine fünfte Jahreszeit ist, denn da wäre ich nicht lang allein.

Mechanisch hole ich mein Handy aus der Tasche. Soll ich eines der Mädels aus dem Büro anrufen? Small Talk und Höflichkeitsfloskeln, gemischt mit einem jährlichen Ausflug auf den Weihnachtsmarkt, wo man bei Glühwein mal über etwas anderes als den Job tratscht?

Die Haustür öffnet sich. Aber bevor sich der Hoffnungsschimmer verfestigt, es könne Kai sein, wackelt Fridolin heraus. Fridolin ist der Rauhaardackel der älteren Nachbarin, die neben uns – neben Kai – wohnt. Zuerst schnuppert er argwöhnisch am Kaktus, bevor er mich links liegen lässt.

»Tag«, grüßt die Seniorin lapidar, als sie mich sieht.

»Hallo«, sage ich zögerlich, denn die ältere Frau blickt neugierig auf den Karton. Wir hatten ohnehin nie das beste Verhältnis. Und so geht sie auch, ohne weitere Bemerkung. Ihr Blick genügt. Ihr Augenrollen. Ihr Wimpernniederschlag. So, als wüsste sie, was Sache ist. Als hätte sie sich für eine Partei entschieden, zu der sie halten würde. Sie ist im Team Kai, denn mit ihrem Nachbarn will sie es sich nicht verscherzen. Auch Fridolin hat sich entschieden, abgeschreckt vom Kaktus und von mir, der nach Kaktus und Tränen riechenden Frau ohne Bleibe. Selbst eine Tüte Kamellen könnte ihn nicht umstimmen. Er gehorcht seinem Frauchen, folgt ihr auf Schritt und Tritt, an der Leine.

Ich scrolle durch die Nachrichten und die Telefonkontakte. Jedes Mal wird mir klar, wie weit entfernt die Menschen wohnen, die ich mag. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Sie ist nicht in den Top Five, noch nicht einmal in den Top Ten. Aber sie wohnt in Köln, ist weiblich, so alt wie ich und nach dem Kennenlernen haben wir Nummern ausgetauscht und uns regelmäßig geschrieben, seltener getroffen. Außerdem ist sie Single – genau wie ich. In ihrer Wohnung ist kein Testosteronochse, der sich über den Geruch von Nagellackentferner aufregt oder im Stehen pinkelt.

Katrin.

Ich überlege. Was war unsere Gemeinsamkeit? Wie haben wir uns kennengelernt? Ich erinnere mich dunkel, es war ein Malkurs an der Volkshochschule. Vor etwa vier Jahren. Seit etwa drei Jahren habe ich mich nicht mehr gemeldet. Die Arbeit, wechselnde Jobs, und andere übliche Ausreden, weshalb man keine Zeit mehr für soziale Bindungen hat. Ehrlicherweise war es aber der Fakt, dass Katrin nicht in den Top Ten ist, was meinen Antrieb für eine Aufrechterhaltung der Bindung extrem bremst. Bis auf Köln haben wir keinen gemeinsamen Nenner, beziehungsweise, mehr hat sich noch nicht herauskristallisiert. Der Malkurs hat auch nur mein fehlendes Talent offenbart. Im Gegensatz zu Katrin, die wahnsinnig gut den Pinsel schwingen kann.

Bevor ich Katrin anrufe, wähle ich Kais Nummer, direkt über Katrins Nummer in meinem Telefonbuch. So stapeln sich die Nummern der Vergangenheit. Er drückt mich weg, wie erwartet. Ich ärgere mich über mein Vorhaben. Jetzt weiß er, dass ich leide. Wollte ich doch Stärke demonstrieren, bröckelt das Fundament plötzlich wieder. Die Tränen sind getrocknet, vom Wind trockengeblasen, aber meine Verwirrung lässt mich Kais Nummer wählen. Er könnte oben am Fenster stehen und hinausschauen. Wenn er sein Gesicht ganz nah an die Scheibe pressen würde, könnte er mich unten auf dem Gehweg sehen. Oder er könnte auf mich spucken, wenn er das Fenster aufmachen würde.

Ich packe das Handy weg, nehme die Kiste und gehe. Ich muss aufpassen, dass das Pendeln der Kiste nicht dazu führt, dass mich der Kaktus ins Gesicht sticht. So bemerke ich nicht, dass ich das erste Hotel verpasse, in dem ich mir ein Zimmer hätte nehmen können. Genauso tapse ich an einer seltenen Telefonzelle vorbei, von wo aus ich Kai hätte anrufen können. Er hätte nicht gesehen, dass ich es bin, wäre rangegangen, hätte sich nicht drücken können, und ich hätte ihn fragen können, was der Scheiß soll. Aber mit dem Blick zu Kai Kaktus ziehen die Chancen an mir vorbei, während ich durch Köln-Lindenthal wanke. Bevor ich mir ein Hotelzimmer nehme, will ich erst eine Gefälligkeit einlösen. Katrin habe ich damals im Malkurs einen Pinsel geliehen, den sie mir nicht zurückgegeben hat. Ich verzichte auf meinen Anspruch und frage nach einem Unterschlupf für die Nacht. Ein fairer Deal.

Es klingelt.

Einmal, zweimal, dreimal.

Dann höre ich eine samtig weiche Stimme am anderen Ende.

»Hallo?«, eröffnet die Stimme eines Engels.

»Ähm, hallo«, stammele ich, als hätte ich mich verwählt, oder wäre ein liebestrunkener Teenager beim Telefonstreich mit dem nichtsahnenden Schwarm. Ich muss tief Luft holen.

»Hallo Katrin?« Wieso frage ich? Vielleicht hat sie ihr Handy weitergegeben oder die Nummer wurde schon neu vergeben? Ihre Stimme ist mir nicht so vertraut. Wir haben uns lang nicht mehr gehört. »Hier ist Mina«, schiebe ich schnell nach, damit sie der unsicheren Tussi einen Namen geben kann. Vielleicht kann sie sich sogar an mich erinnern.

Ich gebe ihr Zeit zu verarbeiten, bevor ich sie mit meiner Bitte in eine Zwangslage bringe. Der Kaktus zu meinen Füßen schaut mich komisch an. Könnte er, würde er mit dem Kopf schütteln. Er würde sagen, dass ich cool bleiben solle. Ich sitze in einer Bushaltestelle, geschützt vor dem Wind, der den Herbst ankündigt. Den Bussen winke ich zu, dass ich nicht einsteigen will. Die meisten verstehen den Wink und fahren dankbar weiter.

»Mina«, entgegnet Katrin langgezogen. Sie überlegt, wo sie mich hinstecken soll. Ich höre es. Sie schindet Zeit. Ich muss lächeln.

»Wie geht es dir?«

Sie gibt den Ball zurück, mit einer Standardfloskel, die in anderen Sprachen nicht einmal beantwortet wird. Ich bin wieder am Zug.

Meine Gedanken kreisen um das Wie und Wann und Warum und überhaupt. Ich möchte am liebsten alles erzählen, alle Theorien und Vermutungen, alle Höhen und Tiefen. Alles über Kai und dessen Pendant Kai Kaktus. Es soll nicht so klingen, wie es tatsächlich klingt – wie ein Hilferuf. Ich will es schön verpacken, sie nicht ausnutzen, nicht schnorren. Ich bin kein Parasit, aber eben auch keine gute Freundin. Ich bin nur eine Bekannte, die sich seit Ewigkeiten mal wieder meldet. Eine flüchtige Bekanntschaft, die den Stuhl, das Bett und den Teller fordert. Fordert? Erbittet? Erbettelt, wohl eher. Würde ich selbst einer derartigen Bitte nachkommen? Würde ich einer praktisch Unbekannten mein Heim anbieten? Nur weil die Unbekannte so blöd ist, sich von ihrem Freund vor die Tür setzen zu lassen?

Meine Zweifel werden unterbrochen von der Stimme des Engels: »Mina?«

»Ja«, antworte ich fix. Nicht, dass Katrin auflegt, weil sie denkt das Gespräch wäre unterbrochen. »Vom Malkurs an der Volkshochschule vor etwa vier Jahren. Hast du Zeit? Bist du zuhause? Kann ich vorbeikommen?«

Grandios, Mina! Eine Kanonade sondergleichen. Zusammen mit meiner Nervosität kann ich auch gleich sagen, dass ich Probleme habe und sie die Einzige ist, die mir gerade helfen kann. Mit der Tür ins Haus.

»Alles in Ordnung, Mina?«

Ihr Ton ist vorsichtiger geworden. Sie hat erkannt, dass ich Hilfe brauche. Bei Kai hätte ich dafür Sex, Steak und eine Schnulze, während der ich mich schluchzend an ihn schmiege, gebraucht. Und selbst dann hätte ich einzig seine Aufmerksamkeit, nicht sein Mitgefühl.

»Wollen wir uns auf einen Kaffee treffen?«, schiebt sie nach, das Gesprächsbedürfnis entlarvend.

Ehe ich sagen kann, dass ich es lieber etwas privater mag, ergänzt sie: »Oder willst du zu mir kommen?«

Wieso ist sie nicht in meiner Top Ten? Oder ist es die Situation, die sie so einfühlsam macht? Hat sie sich vielleicht geändert? Hat sie Ähnliches erlebt?

»Das wäre toll«, höre ich mich sagen. Mein Ton ist wohl immer noch hilfsbedürftig. Ein schlechtes Gewissen überkommt mich. Ich hasse solche Menschen, die sich nur melden, wenn sie etwas brauchen. Ich, Schmarotzer.

»Ich schicke dir die Adresse«, endet sie freundlich.

Aufgeregt wie ein Kind vorm eingepackten Geburtstagsgeschenk warte ich an der Bushaltestelle auf die Adresse. Soll ich etwas mitbringen? Ein Gastgeschenk? Blumen? Pralinen? Schnaps?

Ist sie allergisch? Ist sie auf Diät? Ist sie trocken?

Oh mein Gott!

Ich kenne diese Frau gar nicht und jetzt will ich sie mit meinem Leben überfrachten, sie überfallen und ihre Wohnung (oder ihr Haus oder ihre WG) besetzen.

Nachdem ich alle Geschenkideen verworfen habe, lege ich mir die Worte zurecht, die meine Lage kurz schildern, ohne zu viel Unnützes wiederzugeben.

Mit einem Taxi geht es quer durch die halbe Stadt, vom Westen in den Nordosten von Köln. Während der Fahrt gehe ich die anderen Auswege durch, aber weder Eltern-Almosen noch Samariter-Kai noch eine Nacht im Büro erscheinen mir erstrebenswert.

Abwesend zahle ich den Betrag, auch wenn es die letzten Bargeldreserven sind, steige aus und bestaune die ruhige Wohngegend, mit viel Platz und Grün zwischen den Häusern.

Ich suche die Klingel und werde schnell fündig. Neben kargen, vergilbten Klingelschildern mit den Aufschriften eines Steuerberaters und zwei anderer Familien leuchtet dem Besucher farbenfroh ein Schild in orange und lila mit einem kleinen, selbstgemalten Engelchen entgegen. Auf ihm steht „K. Engelmann“. Sicherlich steht das K für Katrin. Die Adresse stimmt zumindest. Dem kleinen Engel drücke ich auf die Nase.

Es läutet oben im Dachgeschoss des dreistöckigen Hauses mit Tiefparterre. Ein Fenster im Dachgeschoss scheint gekippt zu sein, weshalb man das Läuten hört. Der Türöffner surrt. Anscheinend hat man mich erkannt.

»Ganz oben«, ruft jemand, als ich durch die Haustür trete.

Wenn das Katrin war, was sie ganz bestimmt war, hört sich ihre Stimme in echt noch samtiger an als am Telefon. Mein Puls beschleunigt sich. Ich stapfe die Treppenstufen mit meiner traurigen Kaktuskiste nach oben. Unter mir knarren die Holzdielen der Treppe.

»Komm rein«, winkt sie mir wohlgesonnen zu, an der Wohnungstür mit purpurnen Pantoffeln wartend.

Ich keuche, angesichts der Treppen und der Kiste mit meinen Habseligkeiten. Im Flur stelle ich die Utensilienbox ab. Katrin umarmt mich sofort. Ich kann nicht glauben, wie herzlich ich empfangen werde, denn eigentlich kennen wir uns kaum.

»Schön, dich zu sehen«, sagt sie strahlend, dann betrachtet sie meine Kiste samt Inhalt. »Wurdest du entlassen?«

Sie verknüpft sehr flott. Kaktus, Kaffeemaschine, Make-up und Badartikel. Dinge, die man auch im Büro lagert. Dabei weiß sie ja nicht einmal was ich beruflich mache. Sie versucht nur schnell zu verstehen, wie sie dazu kommt, spontan eine Fremde bei sich begrüßen zu dürfen.

Ihre helle Wohnung fällt mir sofort auf. Große Fenster, helle Wände, ein offener Schnitt, nur einzelne Stützbalken zum Dach hin. An den Balken hängen Bilder, wahrscheinlich von ihr gemalt. Bunte Farben, getupfte Landschaften, abstrakte Formen, verschwommene Gesichter. Fröhlich und beklemmend zugleich.

»Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht«, kläre ich sie zähneknirschend auf. »Und mich vor die Tür gesetzt«, nicke ich gefasst zur Kiste. Ich formuliere es emotionslos, da ich die Worte auf dem Herweg dutzendfach wiederholt habe, damit ich nicht in Tränen ausbreche.

»Wichser«, flucht Katrin leise, räuspert sich aber schnell und überspielt ihre Bemerkung mit einem mitfühlenden Blick.

Sie kennt die Geschichte nicht – ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich die wahre Geschichte kenne, obwohl ich eine der beiden Hauptfiguren bin -, doch sie schlägt sich direkt auf meine Seite. Was soll sie anderes machen? Immerhin stehe ich wahrhaftig vor ihr. Oder sie unterstützt per se das weibliche Geschlecht.

»Willst du einen Kaffee?«

Sehe ich so mitgenommen aus? Anscheinend. Ich nicke.

»Darf ich dein Bad benutzen?«, frage ich.

»Natürlich. Da hinten«, zeigt sie auf eine von zwei Innentüren in ihrem Domizil, während sie in die offene Küche schlendert. Die andere Tür führt wahrscheinlich ins Schlafzimmer.

Im Bad werde ich von dutzenden, funkelnden Scherben an den Wänden willkommen geheißen. Wenn ich Katrin richtig einschätze, hat sie hier ihrer künstlerischen Ader freien Lauf gelassen. Es sieht nach mühevoller, lohnender Handarbeit aus, wie die vielen, kleinen Stücke geklebt sind. Sie spiegeln das Licht und erzeugen eine tolle Atmosphäre. Ich stelle mir vor, wie schön es sein muss, das Bad morgens zu betreten, wenn die durch das Dachfenster fallenden Sonnenstrahlen bunte, warme Lichter erzeugen, als würde man in einem Glitzermeer baden.

Ich betrachte mich kurz im Spiegel. Verweinte Augen, verwischtes Make-up. Kein Wunder, dass ich so viel Mitleid ernte. Schon der Taxifahrer sah mich an, als hätte er einen verwahrlosten Hund aufgelesen.

Zurück im Wohnraum wabert der Duft von frischem Kaffee umher. Ich spüre die Energie, ohne einen Schluck getrunken zu haben.

Wir nehmen auf dem Sofa Platz. Mein Schlürfen an der warmen Tasse stört sie nicht. Sie wartet auf meinen Redeschwall.

Nach der halben Tasse beginne ich. Zwei Minuten später hat sie die wichtigsten Informationen erhalten, schüttelt allerdings nur den Kopf.

»Wie konnte das passieren?«

»Das frage ich mich auch«, zucke ich mit den Schultern.

Ihre ruhige Art und ihre offene Haltung erschaffen eine wohlige Aura. Es kommt mir vor, als säße ich bei meiner besten Freundin zuhause in Lübeck und wir würden über Gott und die Welt schwafeln – zwanglos, locker, vertraut.

Sie reicht mir ein Taschentuch. Erst weiß ich nicht, weshalb, fuchtele an meiner Nase herum, um dem vermeintlichen Popel Herr zu werden, aber sie deutet auf meine Augen. Tränen hatten sich verflüchtigt.

»Ich habe heute nichts weiter vor«, sagt sie, »erzähl mir alles, von Anfang an.«

Erstaunt über ihr Interesse, zögere ich nicht lang. Als hätten sich Schleusen geöffnet, bricht es aus mir heraus – automatisch. Nach über sechs Jahren Beziehung mit einem abrupten Ende schließe ich mit Kai Kaktus, wonach Katrin ausgelassen lacht. Auch ich werde angesteckt und muss lachen.

Mittlerweile hatten wir drei Tassen Kaffee. Dazwischen hat sie für jeden von uns ein Stück Kuchen aufgetaut: Donauwelle. Genau mein Geschmack. Zudem haben wir unseren ersten, gemeinsamen Running Gag: Rheinwelle. Denn die Donau fließt auf der anderen Seite der Bundesrepublik. Durch Köln schlängelt sich der Rhein.

»Auch wenn ich überrascht bin«, wird sie schließlich wieder ernster, »ich freue mich, dass du zu mir gekommen bist.«

Ich muss wohl blöd gucken, was sie zu einer Erklärung veranlasst: »Bei mir ist auch viel passiert in letzter Zeit. Deshalb ist es schön, wenn man nicht allein ist, wenn man Schmerz und Freude teilen kann.«

Ist jemand verstorben?

Reflexartig mustere ich die Wohnung. Minimalistisches Interieur, selbstgemachte Möbel, Kunst, keine Fotos. Auf den zweiten Blick wirkt es wie eine Wochenendwohnung einer geheimnisvollen Person. Ich muss sie näher kennenlernen. Bis es dunkel wird, bleiben mir noch ein paar Stunden. Dann kann ich entscheiden, ob ich mich bei ihr sicher fühle, oder nicht.

»Hast du nur die Kiste dabei?«, fragt sie skeptisch.

Ich bejahe schüchtern. Make-up habe ich frischer Unterwäsche vorgezogen. Auch wenn es nur ein schmaler Strich Kajal, etwas Nagellack und ein Hauch Puder ist, hat mich mein Zehnerpack schwarzer Einheitsbaumwollhöschen nicht dazu bewogen, sie mitzunehmen. Ok, Kai hatte das Schlafzimmer besetzt. Wie sollte ich meine Klamotten holen?

»Willst du erstmal die Nacht hierbleiben und morgen sehen wir weiter?«, fährt sie fort.

Angesichts ihrer Offerte fällt meine Kinnlade herunter. Den geliehenen Pinsel kann sie gern behalten. Diese Großzügigkeit übertrifft meine Erwartungen bei weitem.

»Gern.«

»Du kannst einen Schlafanzug von mir haben«, bietet sie an.

Ich wippe unsicher. »Ich will dir nicht zu viele Umstände machen.«

»Ach Quatsch«, winkt sie ab, »Ich freue mich über meine neue Mitbewohnerin«, zwinkert sie.

Etwas unheimlich, wie schnell sie mich in ihr Leben einbindet. Ist sie einfach nur übermäßig freundlich, lesbisch oder gefährlich? Ein Killer oder ein Kannibale?

Sie lehnt sich leicht zu mir. Im Affekt lehne ich mich von ihr weg, so wenig, dass sie es hoffentlich nicht registriert.

»Ich will dir nicht auf die Pelle rücken, aber wäre es ok, wenn wir zusammen im Bett schlafen. Es ist groß genug und das Sofa ist zu hart«, zeigt sie auf ihren Rücken, der anscheinend schon einige Strapazen erdulden musste.

»Ich kann doch auf dem Sofa schlafen«, erwidere ich mit Unverständnis, denn mehr steht mir doch sowieso nicht zu.

»Nein«, widerspricht sie vehement, »Ein guter Gastgeber überlässt das bequeme Bett dem Gast. Aber es ist groß genug für uns beide, dass sich niemand auf dem Sofa quälen muss.«

Ich atme überfordert aus, ziehe die Mundwinkel nach oben und zucke mit den Schultern. »Für mich wäre das in Ordnung. Ich bin dankbar für alles.«

Katrin springt auf. »Super!«

Als hätte ich ihr erlaubt, in ihrem eigenen Bett zu schlafen. Ein bisschen merkwürdig ist sie schon, muss ich zugeben. Ihre Haare glänzen so seidig. Das kenne ich sonst nur aus der Fernsehwerbung. Sie muss sehr viel Zeit in die Pflege stecken.

»Komm mit! Ich zeig dir alles.«

Der Rundgang ist rasch erledigt, denn so riesig ist ihre Dachgeschosswohnung nicht. Zum Schluss betreten wir noch das Schlafzimmer. Wieder kann sie mich verblüffen.

Alles ist aus Holz, wie in einem Puppenhaus, dazu noch hellorange lackiert. Bett, Regale, Kleiderschrank, Nachttischchen. In der Mitte ein orangefarbener Teppich in blütenform, darüber eine Deckenlampe als gläserne, geöffnete Staude. Auf dem Nachttisch steht eine hölzerne Weltkugel, was ich so noch nie gesehen habe. Aus der Nähe betrachtet sieht man lauter kleiner Nägel, die jeweils in den Ländern der Welt stecken – nicht ganz hineingehämmert, sondern nur leicht hineingeschlagen. Wie eine Voodoo-Weltkugel. Das einzige Foto an der Wand ist ein handsigniertes Bild von fünf jungen Frauen in knappen Outfits von Ende der Neunziger. Jede scheint einer Zielgruppe zu entsprechen. Vermutlich eine Girlgroup. No Angels, steht darunter. Ich verbiete mir ein Urteil oder eine Frage, will ich doch in kein Fettnäpfchen treten. Geschmäcker sind zum Glück verschieden. Aber Humor hat sie, heißt sie doch Engelmann.

Während ich mich noch umschaue, hat sie mir einen Schlafanzug aufs Bett gelegt.

»Den kannst du anziehen. Der müsste dir passen«, vermisst sie mich visuell.

Sofort erkenne ich die Marke: unerschwinglich. Aus Interesse fühle ich den Stoff – Seide. Mir bleibt es im Halse stecken. Das Teil kostet wahrscheinlich so viel wie eine Monatsmiete.

»Wahnsinn«, entweicht mir zuerst, ehe ich »den kann ich nicht tragen« ergänze.

»Warum nicht? Gefällt er dir nicht? Oder ist es die Seide?«

Ich trete zurück. Weil ich nichts kaputt machen will. »Der ist doch viel zu teuer!«

»War ein Geschenk«, lächelt sie kokett.

Als sie so lächelt, fallen mir ihre leuchtend weißen Zähne auf. Dazu noch ihre makellose Haut – scheinbar makellos. Ich denke an gesunde Ernährung und viel Sport; kein Alkohol, kein Nikotin. Kannibalismus fällt demnach weg; Killer ebenso - zu stressig. Ist sie eine Fitnesstrainerin? Eine Bloggerin? Beauty, Food, Health? Sie ist nur dezent geschminkt, trägt aber wohl mehr als ich. Und sie bewegt sich grazil, als hätte sie Übung. Ein Model? Außerdem ist ihre Aussprache perfekt. Kein Akzent, kein Dialekt. Klar und deutlich, hochdeutsch. Moderatorin? Ich versuche die Sendungen durchzugehen, die ich kenne. Katrin Engelmann. Nein, kenne ich nicht.

»Hast du Hunger?«

Sie reißt mich aus den Gedanken. Verdutzt starre ich sie an, wie ich sie wahrscheinlich schon eine ganze Weile angestarrt habe. Sie neigt ihren Kopf leicht, in Erwartung meiner Antwort. Meinem verdutzten Blick hält sie stand. Faszinierend! Sie ist schön, redegewandt, selbstsicher, höflich. Eine Hostess?

Mich trifft der Schlag. Plötzlich habe ich schmuddeligere Berufsbilder im Kopf. Arbeitet sie im Rotlicht?

Ich bejahe ihre Frage, um meine abstrusen Gedankengänge zu kaschieren, die sich um einen reichen Freier drehen, der ihr teure Geschenke macht – einen Luxus-Schlafanzug, zum Beispiel.

»Wollen wir uns Pizza bestellen?«

Fitness und Model kann ich wohl streichen. Keiner davon würde sich abends eine derartige Kohlenhydratbombe gönnen.

Während wir auf die Pizzen warten, ordne ich meine Kiste, unter Katrins Augen. Kaktus und Kaffeemaschine werden nicht infrage gestellt, wohl aber meine Schminkartikel.

»Ist das alles?«, forscht sie neugierig nach.

»Mehr brauche ich nicht«, entgegne ich schüchtern.

Sie macht zum ersten Mal ein komisches Gesicht. Eine Mischung aus Enttäuschung und Skepsis. Dann deutet sie mit dem Kopf ins Bad und geht voran. Ich folge. Im Bad öffnet sie eine Schublade. Ein eingebautes Licht geht an und entblößt unzählige Nagellacke. Die gesamte Schublade ist gefüllt mit den kleinen Fläschchen. Wie zum Beweis halte ich meinen einen Nagellack noch in der Hand. Ich verstecke ihn vor der Schar und vor ihren Augen.

»Trägst du die alle?«, frage ich erstaunt.

Katrin lacht. »Ich bin süchtig. Die meisten hatte ich schon einmal drauf. Andere habe ich einfach nur gesammelt.« Sie stupst mich an. »Wie Männer.«

Ihr Lachen teile ich anstandshalber. Nachvollziehen kann ich beide Sachen nicht – weder Nagellackhundertschaft noch Männerverschleiß.

Was in den anderen Schubladen und Schränken ist, traue ich mich nicht zu fragen. Aber schon zu spät. Sie gibt mir eine kleine Tour durch ihren Schönheitssalon. Dutzende Lippenstifte von knallrot bis ultraviolett, Eyeliner, Mascara in verschiedenen Größen, Kajal, diverses Rouge (farblich in Nuancen sortiert), Lidschattenbottiche, Concealer und Corrector, Foundation, und so weiter. Die meisten Begriffe muss ich ablesen. Das geht weit über mein Standardschminken hinaus. Ich hätte zudem noch künstliche Wimpern zum Aufkleben erwartet. Mein musternder Blick auf ihre Wimpern scheint ihr aufzufallen.

»Die lass ich mir regelmäßig machen«, zeigt sie auf ihre langen, dunklen Wimpern. Nichts im Vergleich zu meinen kleinen Härchen, die ich laienhaft durch Kajal versuche zu pushen.

»Die Männer stehen drauf, wenn ich die Augen aufschlage«, haucht sie und führt die Bewegung vor.

Ich muss schlucken, sonst hätte ich gesabbert. Ja, auch mich kann sie damit umgarnen. Ihre Schönheit wird mir erst nach und nach richtig bewusst. Langsam legt sich der erste Schleier der Zurückweisung durch Kai. Ich merke zwar die Enge in meinem Brustkorb, doch Katrin versteht es, mich mit ihrer Welt gebührend abzulenken.

Ihr Badezimmer ist ein Prinzessinnenpalast. Jedes Mädchen träumt von sowas. Große beleuchtete Spiegel, reichlich Make-up, eine eckige Badewanne mit Massagedüsen, eine riesige Dusche mit Wasserfallbrause, ein Bidet, und genügend Stauraum für alle anderen Hygieneartikel, die Besucher nicht gleich sehen müssen.

Ich halte es nicht länger aus und drehe mich zu ihr.

»Darf ich fragen, was du beruflich machst?« Du bist so wunderschön, will ich ergänzen, doch ich kann mich gerade noch zusammenreißen. Sie soll nicht sehen, dass ich sie anhimmele. Ich will keine unangenehme Situation schaffen. Schließlich bin ich mir noch nicht sicher, was ihre sexuelle Ausrichtung angeht.

Meine ist hetero.

Ich überlege.

Oder?

Jedenfalls will ich keine verfahrene Konstellation schaffen. Nur, weil ich so gebannt von ihrer Erscheinung bin.

Katrin lächelt geheimnisvoll. »Was denkst du?«

Verdammt! Sie weiß, dass sie mich an der Angel hat. Und im Grunde weiß ich nichts von ihr.

»Du hilfst Menschen«, wage ich einen Versuch, denn ihre Kombination aus Schönheit und Hilfsbereitschaft, ihre offensichtliche soziale Isolation und die zeitliche, scheinbar flexible, Verfügbarkeit begrenzen ihre Tätigkeit, meiner Meinung nach, auf Callgirl oder Krankenschwester. Vielleicht ist sie sogar beides.

Katrin nickt. »Willst du weiter raten? Oder soll ich dir einen Tipp geben?«

Ich verlange nach dem Tipp.

Sie zeigt nach oben.

Affektiert schaue ich zur Decke. Holzbalken. Oder meint sie Gott? Ist sie eine Priesterin? Gibt es überhaupt weibliche Priester? Oder arbeitet sie nur für die Kirche? Eine Betreuerin oder Verwalterin vielleicht?

»Seelsorge?«, rutscht mir heraus, nachdem ich unablässig im Trüben fische.

Ihr schönes Lächeln versiegt nicht. »Fast«, meint sie, »Um das leibliche und seelische Wohl sorge ich mich, allerdings nicht ganz so spirituell wie du denkst. Ich bin Flugbegleiterin.«

Meine Kinnlade will sich nicht mehr schließen. Jedenfalls fühlt es sich so an. Ich spüre den Luftzug und die Austrocknung meines Rachens.

Eine Flugbegleiterin.

Kinder haben Träume. Jungs wollen Astronaut oder Feuerwehrmann werden. Weil beides heroisch, aufopfernd und sagenumwoben ist, bis man sich in älteren Jahren davon entfernt, konfrontiert mit der Wahrheit. Harte Auswahlkriterien, hartes Training, tatsächlich wenig Glamour und Prestige. Letztlich nur eine kleine Aufwandsentschädigung, dafür, dass man sein Leben riskiert. Beim Weltraumpilot mit militärischen Ehren und wissenschaftlicher Neugier. Beim Brandbekämpfer mit Rußlunge und Rückenschmerzen. Eine Uniform, die Frauen anzieht, aber Dienste und Bereitschaften, die eine Familiengründung erschweren. Wissen und Technik, wo andere nur Bahnhof verstehen, aber am Ende ist man Fachidiot, der lediglich Befehle befolgt.

Bei den Mädchen sind es meistens abwegigere Fantasien, wie man sein Leben verbringen will: Prinzessin, Tierärztin oder irgendwas mit Pferden, Ballerina. Bei mir war es anders. Im Süden von Lübeck aufgewachsen, im Stadtbezirk Blankensee, in Reichweite zum Regionalflughafen Lübeck, war ich von Kindheitstagen an in engem Kontakt mit dem Luftverkehr. Noch enger, weil mein Vater Pilot war. Die Faszination, die er nach seinen mehrtägigen Abwesenheiten mit nach Hause brachte, hat mich immer gepackt, zumal er um die ganze Welt reiste und stets neue Geschichten im Gepäck hatte. Wir spielten immer, sofern er denn mal zuhause war und sich Zeit für mich nahm, Flugzeug – er, der Pilot, und ich, die Flugbegleiterin. Ich kümmerte mich um die Fluggäste, die wir auf aufgereihten Stühlen platzierten – meine Puppen, manchmal meine Mutter dazu -, und er steuerte die Maschine, funkte mit dem Boden und bediente unsichtbare Knöpfe, Hebel und Schalter. Ich servierte Saft und Kissen, er warnte vor Turbulenzen, immer einen lockeren Spruch auf Lager. Mit der Zeit verblasste die Faszination. Schule, Hausaufgaben. Ich hatte meine Freundinnen. Mein Vater verlor den kindlichen Spieltrieb. Seine langen Abwesenheiten und die Distanz, die sich zunehmend vergrößerte, wenn er zuhause war, führten zum Verebben unserer gemeinsamen Aktivität. Meistens wollte er sich ausruhen, wenn wir dann doch einmal beide Luft hatten. Ich, im Wachstum und rebellisch, bevorzugte gleichaltrige, gleichgeschlechtliche Spielpartner. Auch die Geschichten meines Vaters hatten nicht mehr die Anziehungskraft, denn sie wiederholten sich, wurden zudem immer melancholischer, zusammen mit der abnehmenden Strahlkraft seines Berufsbildes, aufgeschwemmt durch technische Assistenzsysteme, entlarvende Massenmedien und preis- sowie wettbewerbsbedingte Sparmaßnahmen. Irgendwann war mein Kindheitstraum gelöscht. Anstelle der Flugbegleiterin trat die Zicke, die einfach nur irgendwie den Schulabschluss schaffen und mit Jungs rumknutschen wollte. Beides habe ich geschafft. Mit beidem stehe ich nun in einer Sackgasse. Lebenskrise, könnte man meinen.

»Mina?«

Katrin zieht mich aus dem Sumpf der Erinnerungen. Ich wische mir Tränen weg, die meinen Werdegang bedauern und das vergangene Schicksal betrauern. Wäre ich nicht in einer fremden Wohnung und würde ich nicht einer leuchtenden Göttin gegenüberstehen, hätte es mir die Knie weggezogen. So aber unterdrücke ich den Kollaps, kanalisiere mit ein paar Tränen und besinne mich auf mein Gegenüber, das meinen Kindheitstraum lebt.

Ein Lächeln kaschiert den Rückfall, doch Katrins Miene zeigt mir, dass sie bemerkt hat, wie sich alte Kamellen eingeschlichen haben.

»Du bist blass? Geht es dir gut?«

Sie kommt näher und nimmt meine Hand. Ihre Wärme strömt durch mich hindurch. Am liebsten würde ich mich an ihren Hals schmeißen, sie umarmen und erst loslassen, wenn ihr Rücken durchnässt ist – von meinen Tränen.

»Ich dachte eher an Callgirl oder Krankenschwester«, sage ich mit dünner Stimme. Ein Versuch, meine Schwäche zu übergehen.

Doch Katrin enttarnt auch dieses Ausweichmanöver. Sie nimmt mich in den Arm, genauso wie ich es mir gewünscht habe und schon brechen alle Dämme. Ich schluchze ihr ins Ohr und benetze ihre Schulter, doch sie lässt sich davon nicht abschrecken, sondern bleibt standhaft, gibt mir Halt.

Auch Kai taucht nun immer wieder vor meinem Auge auf. Er wechselt sich mit meinem Vater ab. Zwei Männer, die mich erst glücklich gemacht und dann bitterlich enttäuscht haben. Zwei Männer, denen ich absolut nichts Böses wünsche, aber die sich aus Sturheit nicht helfen lassen. Zwei Männer, die lieber schweigen als Dampf abzulassen, die alles in sich hineinfressen und sich plötzlich abwenden.

Erst die Flucht aus Lübeck. Jetzt die Flucht aus Köln-Lindenthal. Gelandet bin ich in den Armen einer verständnisvollen, liebevollen Flugbegleiterin, die mir Asyl gewährt und mich auffängt. Sie scheint der Engel zu sein, den ich gebraucht habe, auch wenn ich es nicht wusste. Sie hat etwas von einem Callgirl, wie ein Engel es ja auch ist. Man ruft sie und sie kommt, um dich zu retten. Sie hat aber auch etwas von einer Krankenschwester, die dir beisteht, dich beruhigt und sich um dich kümmert. Auch ohne Uniform, Hütchen und Köfferchen sehe ich in ihr diesen Mensch, der trotz brennendem Triebwerk mit einer positiven Präsenz für Ruhe sorgt. Jemand, der Getränke und Essen bringt, obwohl sich die Mägen umdrehen, weil die Gewitterzelle durchstoßen wird und die Wolken den kleinen Flieger zum Spielball machen.

Während wir engumschlungen in ihrem Schlafzimmer neben dem Luxus-Schlafanzug stehen, sprudelt es aus mir heraus. Nicht nur die Tränen und Flüche, sondern auch der Niedergang meines Vaters vom stolzen Piloten zum zeternden Rentner und die Abwärtsspirale meiner Beziehung zu Kai, die anfänglich durch meine Rebellion Aufwind bekam, sich mit Gleichgültigkeit über die Jahre schleppte und schließlich einseitig gekappt wurde. Auch mein derzeitiger Job kommt nicht zu kurz. Haben mich Eintönigkeit und Langeweile noch nie gestört, könnten sie nun zum Zünglein an der Waage werden, wenn ich mein gesamtes Leben hinterfrage. Ich lasse jedenfalls kein gutes Haar an meinen Kolleginnen, dem Aufgabengebiet und vor allem meinem Chef.

Immer wieder streichelt sie mir über den Rücken und murmelt aufrichtig. Es fühlt sich gerade so an, als könnte ich ihr alles erzählen. Anscheinend habe ich die Suche nach einer lokalen besten Freundin zu lang hinausgezögert. Kai und mein Arbeitsmarkt-Pingpong hielten mich davon ab, nach einer Gleichgesinnten im Rheinland zu suchen, denn alle anderen sah ich maximal einmal im Jahr. Die langen Telefonate mit meinen fernen Freundinnen konnten mein Bedürfnis nach sozialer Interaktion nicht gänzlich befriedigen, wie ich jetzt feststellen muss.

Und irgendetwas sagt mir, dass auch Katrin viel zu erzählen hat. Einerseits über ihr Leben, andererseits über ihren Job.

Pizza und Sekt haben meine Tränenkanäle geschlossen. Vollgefressen und leicht angetrunken fläzen wir auf dem Sofa. Es ist bereits dunkel. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich bleibe heute Nacht bei Katrin.

Sie erzählt mir von ihrer Arbeit als Flugbegleiterin, weil mir die Ablenkung gut tut und ich ihr beichtete, dass die kleine Mina in mir genau das machen wollte.

Sie sei genauso gefangen gewesen wie ich, erzählt sie, hing im Büro mit lästernden Schnepfen und einem frauenfeindlichen Vorgesetzen fest, musste Montag bis Freitag nine-to-five irgendwelche Dokumente korrigieren, sortieren und archivieren, und klammerte sich an jede Beziehung, egal wie ignorant der Kerl mit ihr umging. Als sie nicht mehr konnte, schmiss sie alles hin – Job, Beziehungen, Gewohnheiten. Sie ist auch keine gebürtige Kölnerin, sondern Zugezogene – eine Flüchtige wie ich. Erst kam sie nach Köln um zu kellnern, kämpfte mit Ober- und Untergriff, wo sie Finger kreuzen und am Tellerrand über- und untereinander drücken musste, um drei Teller gleichzeitig gerade und schnell zu transportieren, und finanzierte sich so ein Einzimmerapartment. Irgendwann wollte sie mehr als sich Tag für Tag die Füße wund zu laufen, ihr Dekolletee für etwas mehr Trinkgeld aufzupolstern und unzufriedene Gäste mit einem Zahnpastalächeln zu besänftigen, um auf die Küche zu verweisen. Da sie nicht mehr zurück in ihren alten Beruf, aber trotzdem in der Stadt leben wollte, suchte sie nach besseren Verdienstmöglichkeiten. Natürlich bekam sie auch unmoralische Angebote dubioser Geschäftsleute, verdingte sich zuweilen als Messehostess oder posierte für Werbefotos. Doch dann warb man sie für das vermutlich spannendste Restaurant der Welt an, wo sie in 12.000 Metern Höhe kellnern durfte. Stewardess, erklärt sie, bedeute immerhin Kellnerin.

Seit drei Jahren fliegt sie, zuständig für die Sicherheit, den Notfall und den Service. Vor allem allein reisende Kinder betreue sie. Sie schwärmt von der Welt, den Reisen und der Vielfalt, wie es mein Vater vor vielen Jahren tat. Dass sie ständig unterwegs sei und weder Freunde noch Familie sehe, stört sie nicht. Ihre Familie genüge ihr zu den Geburtstagen und zu Weihnachten, wo sie die volle Breitseite Nähe abbekommt. Manche Geburtstage verpasse sie zwar, weil sie in Tokyo zwischen den Flügen das beste Sushi esse, aber dafür kann sie dann bei der nächsten Familienzusammenkunft abenteuerlich berichten. Freunde habe sie kaum. Mit den vielen Reisen sei das schwer zu vereinbaren. Ihre beste Freundin wanderte nach Australien aus – immer wenn sie in Sydney landet, besucht sie sie. Ansonsten haben sich alle Kindheits- und Schulverbindungen nach und nach gelöst, bis nichts mehr übrig war.

»Halb so schlimm«, grinst sie, »mit einigen Kollegen verstehe ich mich super. Außerdem habe ich auf der ganzen Welt Freunde – Kurzzeitfreunde. Manche sehe ich nur einmal in meinem Leben – die studentische Aushilfe im Hotel in Rio de Janeiro oder der Taxifahrer in Kapstadt. Aber diese kurzen, intensiven Gespräche, in denen so unterschiedliche Geschichten zu Tage kommen, entschädigen für die fehlende Beziehungstiefe. Man muss nur offen und freundlich sein, denn wie es in den Wald schallt …«, zwinkert sie wie ein Prediger.

Es sei zwar romantisch dargestellt, weil man die ganze Welt sehe, manchmal sogar obszön, weil den Crews irgendwelche Techtelmechtel nachgesagt würden, aber durch die ausgefüllte Arbeitszeit mit Briefings und Boarding, Passagierwehwehchen und Logistikspagat, Transferfahrten und Grundbedürfnissen (Schlaf, essen) bleibe kaum Zeit, um Stockholm von London zu unterscheiden, Palmen oder Berge zu genießen oder dem Piloten den Ehering vom Finger zu ziehen. Dazu kommen Jetlag, Zeitzonenspringen und Tag-und-Nacht-Wirrwarr, das durch künstliches Licht und Extrawünsche im Flug vergeht. Vor allem Langstreckenflüge, wo man gefühlt oder tatsächlich einmal um die Welt fliegt, rauben einem den Sinn für Zeit und Ästhetik. Egal wie viel Schnee in den Rocky Mountains liegt oder wie klein die Pyramiden von Gizeh vom Himmel aus aussehen, man sei froh, wenn man allen Wünschen gerecht würde und nach dem Flug ein paar Stunden allein im Hotelzimmer dösen könne.

Es ist so spannend, ihr zuzuhören, doch Müdigkeit übermannt mich. Apathisch starre ich sie an, bis ich merke, dass meine Augen an ihr herunterrutschen. An ihren Füßen angekommen, fallen die Lider kurz zu, bevor ich sie erschrocken aufreiße.

»Mina?«

Ich schrecke hoch. Da bin ich doch tatsächlich vor Katrin auf dem Sofa eingeschlafen. Ich grinse entschuldigend.

»Du bist müde.«

Oh ja, sie hat so Recht.

»Lass uns morgen weiter quatschen. Musst du arbeiten?«

Ich brauche einen Moment, ehe ich die Frage verstehe. Ein weiterer Moment vergeht, ehe ich mir bewusst werde, dass ich morgen arbeiten muss. Wann sie wieder arbeiten muss, frage ich nicht. Dafür fehlt mir die Kraft. Sie hätte es mir hoffentlich gesagt, wenn sie morgen früh raus müsste.

»Ich melde mich krank«, murmele ich mit einem Gähnen.

Ein sanftes Rieseln von Wassertropfen weckt mich. Es ist hell draußen. Ich fühle mich ausgeschlafen. Entweder es war die Erschöpfung oder Katrins Bett, weshalb ich so gut geschlafen habe. Vielleicht auch beides, plus Katrin selbst, deren Anwesenheit pures Seelenheil ist.

Sie scheint sich gerade zu duschen, vermute ich. Die Seide auf meiner Haut fühlt sich verdammt gut an. Ich schlage die Bettdecke zur Seite, die mir den teuren Schlafanzug offenbart – an mir. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich da rein gekommen bin. Die geleerte Sektflasche hat einen kleinen Anteil daran.

Ich rufe mir den vergangenen Tag ins Gedächtnis. Kai hat mit mir Schluss gemacht. Wenn ich daran denke, wird mir nicht mehr übel, Tränen schießen nicht mehr ein und die Enge in meiner Brust bleibt auch aus. Es ist wie eine Trance, oder ein Traum. Ich bin in einer fremden Wohnung, habe neben einer fremden Frau in einem schweineteuren Seiden-Fummel geschlafen und freue mich auf das Frühstück, das bestimmt auch irgendwelche Überraschungen parat hält.

Mein Nine-to-five-Job würde bald mit der Kernarbeitszeit starten, weshalb ich mich noch schnell krankmelde. Keine gute Idee in der Probezeit, aber Katrins Geschichte gibt mir Mut, etwas an meiner Geschichte zu ändern. Wenn schon Kai passé ist, dann kann ich genauso meinen tristen Büroalltag über Bord werfen. Wenn ich eins aus Katrins Anekdoten gelernt habe, dann, dass man glücklich sein muss, sonst zerstört man sich selbst.

Die auf dem Nachttischchen drapierte Weltholzkugel mit den Nägeln drin hat auch plötzlich eine andere Bedeutung. Ich sehe diese kleine Welt jetzt aus Katrins Augen, die mit den Markierungen ihre schier unendliche Reise dokumentiert. Jeder Nagel steht für ein besuchtes Land. So wie ich das in der Schnelle überblicken kann, fehlen nicht mehr viele Länder. Einige davon haben wahrscheinlich nicht einmal einen Flughafen.

»Guten Morgen!«

Ich zucke zusammen. Katrin hat mich erschreckt. Sie spaziert nur mit einem Bademantel bekleidet und ihre Haare in einen Handtuchturban gewickelt ins Schlafzimmer und holt sich Klamotten aus ihrem Kleiderschrank. Ungeschminkt sieht sie auch sehr gut aus. Durch die künstlichen Wimpern, die ihre Augen betonen und keiner Pflege bedürfen, hat sie leichtes Spiel. Die übrige Schminke hebt sie dann nur noch mehr hervor.

»Morgen«, erwidere ich eingeschüchtert. Die Bettdecke ziehe ich wieder über mich. Trotz Schlafanzug will ich mich ihr nicht zeigen. Scham überkommt mich, denn mein Körper ist nicht so perfekt wie ihrer – zumindest was ich durch den Bademantel sehe und was ich gestern unter ihrer Kleidung gesehen zu haben glaube.

»Deine Klamotten hängen im Bad. Du kannst jetzt rein. Ich bin fertig.« Mit einem Lächeln und ihrer Ausbeute bleibt sie zwischen Bett und Kleiderschrank stehen. »Du kannst auch liegenbleiben, wenn es dich nicht stört.«

Was soll mich stören?

Sie legt Hose, Shirt, Unterwäsche und Söckchen auf die leere Bettseite und schaut mich ein weiteres Mal abwartend an.

»Ok«, sagt sie locker und beginnt den Bademantel aufzumachen.

Sofort drehe ich mich zur Bettkante, husche unter der Decke hervor, springe aus dem Bett und eile hinaus, den Blick immer von ihr abgewendet. Hinter mir höre ich sie nur lachen. Meine Wangen glühen rot. Die Badezimmertür schließe ich in einem Reflex ab und lehne mich gegen das Türblatt. Mein Herz holpert; meine Augen sind noch geweitet, auseinandergezogen von meinen Brauen.

»Ich wollte dich nicht verjagen«, ruft sie feixend.

»Schon gut«, stottere ich, »Ich muss sowieso mal-«

Oh Gott! Wie peinlich! Meine Hand klatscht gegen die Stirn. Natürlich muss jeder auf die Toilette, aber manche Menschen – ich, zum Beispiel – sprechen nicht darüber. Ich muss zwar auf die Toilette, aber der Hauptgrund für meinen überstürzten Aufbruch war die Aussicht auf nackte Haut. Wir sind noch nicht so vertraut, dass wir uns nackt zeigen. Vor allem wohnt mir eine gewisse Prüderie inne, die sich in meiner Pubertät entwickelt hat und bis heute nicht gewichen ist, sogar komplexer geworden ist – mit vielen Komplexen. Ich akzeptiere meinen Körper, bete ihn allerdings nicht an. Wenn ich könnte, würde ich ihn umtauschen, aber das kann ich nicht. Manche müssen nicht viel dafür tun, gut auszusehen. Manche trainieren viel und essen gesund. Ich schwanke zwischen Euphorie und Apathie, Elegie und Appetit. Selten kann ich einen Fitnessplan länger als drei Wochen durchhalten oder meinen Speiseplan langfristig entfetten. Oft werde ich zurückgeworfen, von meinen eigenen Erwartungen und den überzogenen oder fehlenden Ansprüchen anderer. Kais ungesunder Lebensstil verführte mich. Für ihn brauchte ich weder Knackpopo noch Waschbrettbauch. Ihm war wichtig, dass ich ihn während meiner Regel in Ruhe lasse und dass ich nicht den kalorienreduzierten Scheiß kaufe.

Nachdem ich alle wichtigen Abläufe vollzogen habe, widme ich mich meiner Kleidung. Sie ist faltenfrei und duftet blumig. Katrin muss sie gewaschen haben. Wann?

»Ich habe deine Klamotten gewaschen«, ruft sie plötzlich, näher, wahrscheinlich direkt vor der Tür, auf ihrem Weg vom Schlafzimmer in die Küche.

»Wann?«, frage ich, diesmal wirklich und nicht nur in meinem Kopf.

»Gestern Abend im Kurzprogramm. Dann konnten sie über Nacht trocknen. Ich hoffe, das war ok?«

Gestern Abend? Mein Filmriss – ein kleiner, denke ich.

»Ja«, antworte ich schüchtern, »Vielen Dank!«

»Kein Problem.« Ein paar Sekunden vergehen. »Du hast schöne Brüste. Ich hätte auch gern so große Brüste. Was ist das? 80D?«

Wieder werden meine Wangen rot. Ich sehe es im Spiegel. Am Waschbecken muss ich mich festhalten. An das Entkleiden kann ich mich kaum erinnern. Sie hat mir anscheinend geholfen. Betrunken, vollgefressen, unrasiert. Sie hat mehr gesehen als Kai in über sechs Jahren.

»80E«, erwidere ich mit zusammengepressten Lippen, damit sie nicht weiter darauf herumreitet.

»Wirklich sehr schön«, höre ich sie reden, aber sie entfernt sich. Offenbar Richtung Küche. »Kaffee?«, ruft sie mit Abstand.

Ich lehne mich gegen die Tür, um nicht so schreien zu müssen und einen Stimmbruch zu riskieren, der meine Scham demaskiert. »Ja, bitte«, antworte ich hochkonzentriert.

Wir frühstücken im Stillen. Kai Kaktus steht mittig auf dem Tisch. Ich, noch peinlich berührt und irritiert. Sie, mit vollem Mund und Smartphone. Ihre tollen, künstlichen Nägel rutschen übers Display. Ich vermute, dass sie auf sozialen Netzwerken unterwegs ist. Nach einer Weile legt sie das Smartphone weg.

»Soll ich dich fahren?«

Ich schlucke ein Brötchenkrümel herunter. Auf ein Gespräch war ich nicht vorbereitet – noch nicht. Umgehend muss ich etwas trinken. Sie wartet geduldig. Immer mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln, diesmal ohne Zähne, mit geschlossenem Mund.

»Wohin?« Ich bin noch nicht rational.

»Zu deinem Ex? Du willst doch deine übrigen Sachen holen, oder?« Sie sagt es so unbeschwert, dass es auch ein Nachmittagsspaziergang mit Picknick sein könnte.

»Ach ja«, nuschele ich.

Mein Ex.

Kai.

Angehender Jurist.

Uni.

»Der ist nicht da.«

»Umso besser«, meint Katrin, »Du hast doch noch den Schlüssel, oder?«

Der Schlüssel! Natürlich! Den habe ich noch. Ich bin baff. Ich hätte gestern einfach wieder nach oben gehen können, in seine/unsere Wohnung. Stattdessen bin ich weggetigert wie ein begossener Pudel.

Ups.

Das Thema kocht hoch. Es ist wieder real. Die Trance ist vorüber; der Traum ist vorbei. Kai hat mich verlassen. Mehr als sechs Jahre Beziehung sind vernichtet. Liebe? Glühende Liebe wie am Anfang? Wahrscheinlich nicht. Aber Liebe, partnerschaftliche Liebe, Vertrautheit, Sicherheit. Er hat mir alles genommen. Der sichere Hafen ist von der Flut zerstört. Der Anker ist aus dem Boden gerissen und fortgespült worden. Ich war unvorbereitet; er war die Flut; er war der Blitz. Es donnert noch immer in mir. Jetzt zieht sich mein Brustkorb zusammen. Ich kann keinen Bissen mehr hinunterschlucken.

Katrin legt ihre Hand auf meine, als würde sie sehen oder ahnen, dass es in mir bebt. »Und danach können wir shoppen gehen und ein Eis essen, ja?«

Sie ist so süß. Sie versucht mich abzulenken, mich aufzubauen. Dabei kennen wir uns kaum. Ok, sie hat mich nackt gesehen, scheinbar. Wir haben eine Nacht zusammen verbracht. Mehr als ich mit vielen anderen Menschen geteilt habe. Katrin kommt direkt nach Kai und meinen Eltern. Und das nach so kurzer Zeit. Ich hoffe, dass uns unsere Turbofreundschaft – so nenne ich das komische Gebilde, das sich gerade hier auftut, einfach mal – nicht um die Ohren fliegt.

Mina über den Wolken

Подняться наверх