Читать книгу Mina über den Wolken - David Goliath - Страница 5
Jürgen
Оглавление»Was machst du denn hier?«
Ich bin erstarrt. Kai hat die Tür aufgerissen, als ich mich mit dem Schlüssel daran vergangen habe. Katrin wartet unten im Auto. Mir fehlt mit einem Schlag der Rückhalt, den ich dringend brauche.
»Ich«, ich bekomme keinen Ton heraus. Eigentlich hätte er in der Uni sein müssen. Keine Ahnung, warum er nun vor mir steht und mich anpflaumt und voller Abscheu löchert. Bin ich so schnell zum Feindbild avanciert? Oder hat er mir nur sehr lange etwas vorgegaukelt?
Er schiebt einen Koffer durch den Türspalt, den er gewährt. »Da sind deine Sachen drin. Wenn was fehlt, ruf vorher an.«
Fast hätte er die Tür zugeknallt, aber er schwingt sie wieder auf und zeigt mir seine Handfläche.
»Den Schlüssel!«
Ich nicke demütig, fummele mit zitternden Fingern den Schlüssel vom Schlüsselring und lege ihn in Kais fordernde Hand, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Als er die Beute zufrieden inspiziert hat, knallt er die Tür zu. Ich bleibe zurück im Treppenhaus. Allein.
Den Brocken in meinem Hals kann ich kaum schlucken. Leise wimmernd starre ich noch eine Weile auf die Tür, durch die ich so oft aus- und eingegangen bin. Statt des Schlüssels habe ich nun einen Koffer. Wie kaltblütig muss man sein, wenn man über Nacht die Kleidung seiner Liebsten lieblos in einen kaputten Koffer stopft. Er hat ihn noch nicht einmal entstaubt. Unsere letzte Reise ist etwas her. Und der Koffer ist schon etwas älter. Groß, aber mitgenommen.
Eine Hand berührt den zerkratzten Korpus, als bräuchte ich eine Stütze. Gleichzeitig frage ich mich, ob Kai alles eingepackt hat, was mir gehört. Was gehört mir? Gehen nicht alle Besitztümer in gemeinsamen Besitz über, wenn man so viele Jahre zusammenlebt, wenn man sich liebt? Sind das nur meine Klamotten oder werde ich auch Küchengeräte finden, oder Bücher oder Filme?
Wir haben uns gegenseitig überrumpelt. Er hat nicht mit mir gerechnet und ich überhaupt nicht mit ihm. Trotzdem war er auf meine Ankunft vorbereitet, hatte den Koffer gepackt. Ich war wieder nicht vorbereitet.
Als ich mein Schluchzen endlich stoppen und unterbinden kann, atme ich tief durch, schließe die Augen und freue mich auf Katrin, die unten auf mich wartet. Ein letztes Mal lausche ich im Haus, besser gesagt, an der Wohnungstür, die niemals ein Hindernis für mich darstellte. Nun ist sie unüberwindbar.
Was versuche ich zu hören? Die Klospülung? Den Fernseher? Seine grässliche Musik? Oder eine andere Frau? War das der Grund für die Trennung? Eine andere Frau?
Ich weiß, dass unser – sein – Bett quietscht, wenn man sich bewegt. Nicht laut, aber man hört es, wenn man ganz still ist. Vor allem hört man es, wenn sich zwei Körper darin wild bespringen. Wie am Anfang unserer Gemeinsamkeit, als wir das Animalische nicht im Zaum halten konnten. Als wir uns gegenseitig erforscht haben. In letzter Zeit leider nicht mehr so intensiv oder häufig. Selten, trifft es besser. Sehr selten.
Ich nehme Abschied. Ohne die Tür zu berühren, halte ich meine Hand davor, als wollte ich sie von einer Krankheit heilen oder den letzten Segen erteilen. Abschied von meiner Bleibe. Abschied von meinem Rückzugsort. Abschied von meiner Umgebung. Abschied von meinem Partner.
Ob er schon bemerkt hat, dass ich Kai Kaktus stibitzt habe? Da, wo er jetzt ist, geht es ihm besser. Ganz sicher.
Unten an der Haustür lechze ich mich nach der frischen Herbstluft – verdorrte Blätter und feuchte Regenankündigung. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Es rumst. Ich zucke kurz. Erneut bahnen sich Tränen an. Ich ziehe die Nase hoch und versuche so den Ansturm niederzuschlagen. Meine Augen huschen unstet umher, an der Klingel bleiben sie hängen. Neben elf Namen verschiedener Nationalitäten steht Kais Name. Meiner fehlt. Schon immer. Es war seine Wohnung; es ist wieder nur seine Wohnung. Ich war ein vorübergehendes Anhängsel. Nicht einmal für meinen Namen an der Klingel hat es gereicht. Unser überschaubarer Freundeskreis kannte mich unter Kais Name. Pakete für mich waren mit Kais Name beschriftet. Mina wohnte hier nicht offiziell. Offiziell wohnt Mina noch bei ihren Eltern in Lübeck. Ich hatte offenbar keine Zeit, mich umzumelden. Es hat aber auch niemanden interessiert – am wenigsten Kai. Er hat mich als Accessoire gesehen, als ein Teil seiner Wohnung und seines Lebens. Ein Teil, von dem er sich problemlos trennen kann, wenn er ihm überdrüssig wurde. Ich bin überflüssig geworden.
Katrin steigt sofort aus, als sie mich sieht. Und sie erkennt, dass ich geweint habe und gleich wieder damit anfangen könnte. Und sie sieht den gepackten Koffer.
»Alles drin, was du brauchst?«, nickt sie feinfühlig zum Reisebegleiter.
»Keine Ahnung«, schluchze ich, »Kai hat ihn gepackt.«
»Wollen wir nochmal zusammen hoch und schauen, was fehlen könnte?«
»Nein«, schüttele ich den Kopf und schniefe, »Kai ist da.«
Dann versiegt meine Sprachfähigkeit und geht in unstillbares Flennen über.
Katrin schnappt mich und den Koffer, lädt uns ein und fährt los. Rockige Musik – ohne irgendeine Anbahnung von Ballade – dröhnt aus dem Autoradio. Nicht zu laut, aber laut genug, um sich nicht für mein Weinen entschuldigen zu müssen. Nicht zu leise, aber leise genug, um keinen Hörsturz zu bekommen.
Das Spaghetti-Eis hat gut getan. Katrin hatte erkannt, dass ich zuerst etwas für mein Seelenheil brauchte. Jetzt will sie noch shoppen gehen, obwohl ich nicht unbedingt in der Stimmung dafür bin. Shopping ist für mich Stress. Meistens bestelle ich online. In Umkleidekabinen bekomme ich Panik, genauso an den überfüllten Kassen, wo ich die Hyperventilation unterdrücken muss. Enge und Gedränge sind einfach nichts für mich und meine zwei Begleiter: Klaus und Agora.
Die beiden habe ich zusammen mit Kai kennengelernt. Es waren seine Begleiter, quasi Schatten und Spiegelbild. Nach kurzer Zeit leisteten sie auch mir Gesellschaft. Irgendwann verstanden wir uns prima und seitdem hocken sie auf meinen Schultern, stets achtsam und alarmiert, wo ich mich befinde und was eine Angstattacke auslösen könnte. Klaus kennt man sonst unter Klaustrophobie, der Angst vor Enge. Agora kürzt sich ab aus Agoraphobie, der Angst vor Gedränge. Keine guten Begleiter für eine Shoppingtour. Und vielleicht auch die Widerstände, die meinen Kindheitstraum nach der Fliegerei gekonnt unterdrücken, wo in schmalen Gängen Menschenmassen bedient werden müssen.
»Schon gut«, winke ich direkt beim ersten Laden ab und will auf meinen nicht vorhandenen Absätzen kehrtmachen, »lass uns fahren.«
Doch Katrin kann ich damit nicht überzeugen.
»Mina«, sagt sie manipulierend und schaut an mir herab, »Ich weiß nicht, was in deinem Koffer drin ist, aber wenn ein einziger Koffer all deine Kleidungsstücke beinhalten kann, dann fühle ich mich in der Verantwortung, dir und deinem schönen Körper zur Blüte zu verhelfen.«
Schöner Körper. Sie schmeichelt mir schon wieder. Meine Wangen dürften glühen. Trotzdem schüttele ich den Kopf.
»Ich habe mich krankgemeldet«, suche ich mit den Augen nach Kolleginnen, die mich anschwärzen könnten, »Ich kann jetzt nicht shoppen gehen.«
Katrin grinst und streicht mir ein paar Strähnen zu einem Pony. Eine Frisur, die ich zuletzt in Kindheitstagen getragen hatte. Vor meinen Augen sehe ich den Ansatz eines haarigen Vorhangs.
»So, jetzt erkennt dich keiner mehr.«
Ich verfalle ihren Überredungskünsten. Ihrem Lächeln bin ich schon längst verfallen. Ohne Gegenwehr zieht sie mich in den Laden, der Mode noch und nöcher bietet.
Nach einer Stunde, einer Modenschau, einem geknebelten Klaus und einer missmutigen Agora, die aber nicht eingreifen musste, komme ich mit zwei vollen Tüten aus dem Laden. Oberteile und Hosen. Trotz meiner Vorbehalte hatte ich Spaß. Katrin hat meine Ängste ruhiggestellt und mich mit ihrer offenen Art dazu bewogen, ein kleines Vermögen zu berappen.
Als ich noch damit kämpfe, die Tüten zu balancieren, kommt sie mit einer anderen Trophäe wieder. Ich habe gar nicht gemerkt, wie sie mich allein in dem Einkaufszentrum zurückgelassen hat. Agora hat sich nicht gemeldet. Anscheinend ist sie genauso geblendet von Katrin wie ich.
»Damit du dich nicht totschleppen musst«, sagt Katrin und stellt mir einen nagelneuen Koffer vor die Füße. »So einen habe ich auch. Die sind robust, handlich und sehr schick.«
Bevor ich nach dem Preis fragen kann – zweifellos mehr als ich für einen Koffer mit ausziehbarem Handgriff und Flüsterrollen ausgeben würde -, erstickt sie meine Zurückhaltung im Keim.
»Den schenke ich dir«, zwinkert sie kokett.
»Nein«, antworte ich karg. Der Rest kann sich nicht zu Worten formen. Mein neuer Pony weht mit der Bewegung, die mein konfuser Kopf zu beiden Seiten vollzieht.
»Keine Sorge«, beruhigt sie, »Ich bekomme Rabatt.«
Aber der muss doch trotzdem noch ein Vermögen kosten, denke ich, und suche das Preisschild, erfolglos.
Sie, dagegen, voller Eifer und Elan, öffnet den Koffer versiert und packt die gekauften Klamotten hinein.
»Perfekt. Passt alles rein und wir haben sogar noch Platz.«
»Katrin«, versuche ich zu intervenieren.
»Freundinnen helfen sich«, erwidert sie vieldeutig.
Ihre Hand streichelt mir über Hals und Schulter. Ich will zerfließen, einerseits, und mich wehren, andererseits. Zwei Dämonen bekriegen sich. Letztlich verlieren beide.
»Du wirst schon noch eine Gelegenheit bekommen, dich zu revanchieren«, fügt sie hinzu, mit dem Blick bereits beim nächsten Laden. »Komm!«
Ich folge ihr mit dem schicken Koffer und fühle mich ein bisschen wie die Flugbegleiterin auf dem Weg zum Flieger. Auch wenn ich es nicht gut finde, dass Katrin mich dazu verführt so viel Geld auszugeben und dass sie mir extravagante Dinge kauft, die ich nicht brauche. Ich hänge in ihrem Windschatten fest. Das innere Mädchen, die kleine Mina, wird erweckt.
»Nein!«, stemme ich mich gegen mein Schicksal wie ein störrischer Esel. Ich stehe vor dem nächsten Laden und will mich keinen Meter bewegen. Schon gar nicht, will ich den Laden betreten. Allein die Schaufenster lassen mich in Schamesröte vergehen. Es ist ein Unterwäschegeschäft.
Die dürren Modelpuppen schrecken mich wie Vogelscheuchen ab, genauso wie die transparenten Sachen, die sich nicht damit brüsten, etwas verdecken zu wollen. Wieso sollte ich so teure Stofffetzen tragen, wenn sie ohnehin keiner zu Gesicht bekommt? Ganz abgesehen davon, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich mich darin wohlfühle. Das muss doch zwicken und einschnüren.
Katrin war schon hineingegangen, kommt aber wieder heraus.
»Was ist los?«, hakt sie spitzbübisch nach.
»Das brauche ich nicht.«
Sie legt ihren Kopf schief und lächelt verständnisvoll.
»Nach dem, was ich gesehen habe, würde ich schon sagen, dass du das brauchst.«
Was hat sie denn gesehen? Die Röte will sich nicht mehr verziehen. Ich weiche ihrem Blick aus. Dabei ist mir bewusst, dass sie mich gestern Abend entkleidet und meine Klamotten gewaschen hat. Unter dem Luxus-Schlafanzug hatte ich nichts an. Sie hat demnach nicht nur meine triste Baumwollunterwäsche gesehen, sondern auch meine gesamte Blöße.
»Du hast so einen tollen Körper. Den muss man präsentieren.«
Ich verneine mimisch. Was hat sie nur? Sie ist die schlanke, schöne Frau, die sich schminken und kleiden kann. Ich bin nur das Allerweltsmädchen mit ein paar Kilos zu viel auf den Rippen. Ich muss nicht betonen, was sich sowieso seinen Weg sucht.
»Katrin«, wiederhole ich mich, diesmal verschämt. »Das ist mir unangenehm.«
Sie beißt sich auf die Lippe. Unsicherheit? Trotzdem äußerst sexy.
»Ein Set«, schlägt sie vor.
»Ein Set was?« Ich weiß wirklich nicht, was sie meint.
»Einen BH und ein Höschen, mehr nicht.«
Sie will verhandeln.
Mein Kopf schüttelt sich automatisch.
Als sie merkt, dass sie mich nicht dazu bewegen kann, studiert sie mich, besser gesagt, meinen Körper.
»80E, hattest du gesagt«, sie schaut auf meine Hüfte.
Nach einem Zögern schaut sie mir ins Gesicht. Meine Augen können den Blickkontakt immer nur kurz aufrechterhalten. Ich hoffe, dass sie von ihrem Plan ablässt. Ich hoffe, dass sie sieht, dass ich mich geniere.
Dann fasst sie mir sanft an meine Hüfte. Es ist kein Grapschen, sondern vielmehr liebevoller Zuspruch.
»L?«
Ich schlucke. Models haben S oder XS, normale Frauen auch schon mal M. Ich, aber, bin bei L. Large. Groß. Obwohl ich gerade so die ein Meter 60 erreiche. Das ist nicht groß. Meine Konfektionsgröße dagegen schon. Klar, es gibt auch XL und darüber hinaus, aber meine kleine Unförmigkeit macht mir eben zu schaffen, vor allem, wenn ich sie so zur Schau stellen muss.
Katrin nimmt meine Hand. Ihr Streicheln ist wie Balsam.
»Du bist eine wunderschöne Frau, Mina. Das will ich dir zeigen. Sieh es dir wenigstens an. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du es ablehnen, ok?«
Ich sträube mich gegen den Laden. Mein Körper ist nicht bereit für die viele Unterwäsche, die nur wirklich atemberaubend an schlanken Frauen aussieht. Natürlich gibt es auch Liebhaber einer Rubensfrau, aber mein fehlendes Selbstwertgefühl verwischt das Schönheitsurteil des Betrachters. Ich stelle mich ungern zur Schau.
»Warte hier«, sagt Katrin und verschwindet im Laden.
Was hat sie vor? Ich schaue mich um. Viele Leute drängen sich in den Einkaufspassagen, Kinder tollen, Rubel rollen. Ich rechne mit einer Kollegin, die mich trotz Tarnfrisur erkennt. Nervös betrachte ich mein Handy. Niemand hat angerufen oder eine Nachricht geschickt. Inzwischen müsste die Trennung durch den Kölner Freundeskreis gesickert sein. Schlagen sich alle auf Kais Seite? Ich könnte Lübeck informieren, aber will ich mir die versteckten Vorwürfe anhören? Meine entfernten Freundinnen will ich aber auch nicht mit meinem ramponierten Liebesleben nerven. Im Mittelpunkt zu stehen ist mir unangenehm. Außerdem würde mich das Thema nur wieder aufwühlen.
Ich sehe Katrin an der Kasse. Sie hat irgendetwas gekauft. Ich ahne Schlimmes, denn sie kennt meine Konfektionsgröße. Warum macht sie das? Warum ist sie mehr Freundin als alle anderen, obwohl wir uns eigentlich gar nicht kennen? Ist das eine Art Credo, das sie aus ihrem Job mitbringt: Menschen eine Freude machen und ein Lächeln schenken? Sie macht mir eine Freude, mehr als eine. Und sie schenkt mir ein Lächeln und kitzelt ein Lächeln aus mir heraus wie sonst keiner.
»Ok«, lächelt sie, als sie zurückkommt, »jetzt können wir gehen.«
Was sie in der kleinen brauen Tüte hat, will ich nicht wissen. Ich denke, es ist für mich. Ich hoffe, sie hat sich selbst etwas gekauft und lässt mich mit dieser Reizüberflutung in Ruhe.
Bei ihr in der Wohnung vergleiche ich die beiden Koffer samt Inhalt. Mein alter, mitgenommener Koffer mit den alten Klamotten, die so schmucklos wirken - wahrscheinlich hat Kais Stapelkunst damit etwas zu tun. Und mein neuer, geschenkter, schmucker Koffer mit den modernen, gut geschnittenen Teilen, in denen ich mich in der Umkleidekabine so wohl gefühlt habe. Vielleicht war es Katrins Zuspruch, ihr fachmännischer Blick oder ihr Verkaufstalent, aber in dieser engen Kabine habe ich mich seit langem das erste Mal wieder befreit gefühlt. Meine Beine sahen nicht so dick aus wie ich sie in Erinnerung hatte und meine Rettungsringe wurden von feschen, frechen Shirts kaschiert. Am liebsten würde ich den alten Koffer unangetastet aus dem Fenster werfen. Mit den neuen Sachen könnte ich mich zwei bis drei Tage bei moderater Witterung zeigen. Dies könnte ich mit häufigem Waschen eine Zeit lang durchziehen, bis ich mit Katrins Beistand ein neues Modebewusstsein etabliert hätte. Leider reicht mein Bankkonto nicht für derartige Exkursionen.
Ich schließe den alten Koffer, nachdem ich den neuen noch mit meiner alten Unterwäsche aufgefüllt habe, und schiebe das zerschlissene Ding beiseite.
»Willst du mit joggen gehen?«, ruft Katrin aus der Küche, wo sie sich gerade einen Smoothie mixt.
»Joggen?« Meine Stimme wankt, meine Bereitschaft mich Katrin hinzugeben schwankt.
»Ja, ich gehe manchmal mit zwei Kollegen joggen, wenn unsere Dienstpläne zueinander passen. Wir treffen uns zwischen Königsforst und Wahner Heide. Weißt du, wo das ist?«
Ihrem Unterton wohnt etwas Listiges inne. Des Rätsels Lösung könnte witzig sein. Ich überlege. Königsforst? Kommt mir bekannt vor. Aber ich kann es nicht zuordnen. Und ich weiß auch nicht, worauf sie hinaus will.
»Stadtmitte?«, rate ich ins Blaue, wahrscheinlich weit vorbei am Schwarzen.
»Beim Flughafen«, feixt sie und schlürft den grünen Cocktail, ein Auge auf den neuen, offenen Koffer, dessen Inhalt ich sorgsam sowie vorfreudig sortiere.
Flughafen, klar. Was sonst? Flugbegleiter. Treffpunkt: Flughafen. Schon irgendwie witzig.
»Wenn du mitkommen willst, solltest du dich fertig machen«, mahnt sie.
Mir fällt auf, dass sie bereits sportlich gekleidet ist. Und wie! Hauteng und freizügig, ähnlich dem Netz, das der Tannenbaumtrichter um den Weihnachtsbaum legt. Dazu noch schulterfrei und bauchfrei. Ihr Busen ist zwar durch Sport-BH und Sport-Top eingepfercht, aber ihre knackigen Mini-Kurven lassen mich mit den Zähnen schlackern. Hoffentlich zieht sie noch ein Jäckchen drüber. Es ist schließlich Herbst.
Ihre bunte Hose – eine zweite Haut, nur etwas impressionistischer und leuchtintensiv - ist unterhalb der Knie mit Schlitzen versehen. Aerodynamisch? Antitranspirant? Ventilierend? Auf jeden Fall sehr sexy! Wenn ich das richtig erkenne, hat sie Achseln und Beine frisch rasiert. Ich wundere mich immer wieder, wie lang ich mich mit plumpen Dingen beschäftigen kann, während andere Berge versetzen. Sie hat sich rasiert, umgezogen und einen Smoothie zubereitet, während ich bloß entschieden habe, meine alten Klamotten nach und nach auszurangieren, ohne wirklich tätig zu werden.
Apropos. Sportklamotten haben wir heute nicht gekauft. Katrin hätte mich da aber auch genauso wenig dazu gebracht wie bei der Unterwäsche. Wahrscheinlich wollte sie nicht zweimal kämpfen und hat sich für das … Unpraktischere entschieden? Die Sportklamotten hätte ich jetzt wenigstens einweihen können. Wenn in der ominösen, kleinen Tüte wirklich etwas für mich drin ist, dann wüsste ich nicht, wann ich das tragen sollte.
Ich öffne meinen alten Koffer nochmal und krame eine Hose und einen Pullover heraus. Was sonst für den Couchabend gedacht war, muss nun herhalten, um nicht als Couchpotato abgestempelt zu werden. Dass meine weite, weiche, graue Jogginghose nicht unbedingt fürs Joggen geeignet ist, kann ich mir bald wieder unter Beweis stellen. Der dazu passende Pullover mit dem fetten Markenfrontdruck hat auch noch kein Grün beim Vorbeilaufen gesehen.
Die Krankmeldung und die Unvereinbarkeit mit der nahenden sportlichen Betätigung lege ich ad acta. Katrins Elan verzaubert mich.
Nach einer halben Stunde Autofahrt parken wir im Mitarbeiterparkhaus am Flughafen Köln-Bonn. Etwas wehmütig machen mich die Flugzeuge, erinnern sie mich doch an die lebensfrohe, junge Version meines Vaters, des vormals passionierten Piloten. Aber viel Zeit in den Erinnerungen zu schwelgen bleibt mir nicht, denn Katrins Kollegen erwarten uns schon. Claudia und Jürgen, wie Katrin sie mir vorstellt.
Claudia - groß, gertenschlank, blond – könnte Model sein oder die oberen Regale im Drogeriemarkt einräumen. Sofort werde ich noch kleiner, obwohl ich ohnehin die Kleinste in der Runde bin. Zu meiner Figur und meinem mickrigen Selbstwertgefühl kommt noch die edle Kleidung, die ich mir für das Wettrennen ausgesucht habe. Mein graufader Schlabberlook passt überhaupt nicht in dieses Grüppchen hübscher Püppchen, die mit neonfarbigen Strapsen und blitzblanken Markenlaufschuhen ins Aufwärmdehnen übergehen.
Jürgen macht mich zudem noch verlegen, wie er mich anlächelt, nicht so aufgesetzt wie Claudia, die wohl gern ihre gebleichten Zähne zeigt, dafür ehrlich und zugeneigt. Er trägt eine eckige Brille mit hauchdünner Fassung, kurze Haare und keinen Bart. Auf Anfang 40 würde ich ihn schätzen. Ein paar kleinere Falten, die ihn männlich machen, vor allem beim Lachen, und erste graue Haarspitzen, die er sich nicht vor lauter Eitelkeit färbt. Ein attraktiver Mann. Nicht meine Liga – zu hoch für mich -, aber einen Blick wert. Angesichts meiner Lage vermeide ich allerdings zu viele Blicke. Rote Wangen kommen mit grauer Schmuddelbekleidung noch besser zur Geltung.
»Eine Nichtfliegerin«, strahlt er, »schön, dich kennenzulernen.«
Woher weiß er, dass ich seit meiner Kindheit nicht mehr geflogen bin? Weder real, noch bei Flugzeug mit meinem Vater. Für die Elternbesuche im hohen Norden nutze ich ausnahmslos die Gleise.
»Das ist wie unsere Rheinwelle«, stupst mich Katrin von der Seite an, »Ein Running Gag unter den Crews, die mehr Flugmeilen sammeln als jeder andere Mensch.«
»Rheinwelle?«, forscht Jürgen interessiert nach.
Claudia scheint von der Konversation nichts zu halten. Sie lockert sich in ihrer eigenen Welt, wie es aussieht.
»Statt Donauwelle«, antwortet Katrin schneller als ich denken kann und fängt zu lachen an.
Jürgen stimmt ein. »Der ist gut!«
Auch mich überzieht ein Lächeln, und wahrscheinlich auch ein hochroter Schleier im Gesicht, denn Jürgen schaut mich ununterbrochen an. Nicht die zwei Schönheiten mit ihren knappen Outfits und den knackigen Körpern. Sondern mich, die kleine Dicke mit dem roten Haarband am Pferdeschwanz.
Als ich kurz davor bin, im Boden zu versinken, weil er mich scheinbar mit Blicken auszieht – wer kann es ihm verübeln bei den Klamotten, die ich trage? -, beginnen die drei ein kurzes Gespräch über ihre derzeitigen Flüge. Katrin muss anscheinend morgen wieder los – Mehrtagestour einmal quer durch Europa. Jürgen kam gerade erst aus Kanada und hat jetzt fünf Tage frei. Claudia fliegt übermorgen nach Dubai. Anscheinend sei Sightseeing zwischen den Flügen geplant, aber sie will sich abkapseln und lieber den Pool im Hotel genießen.
»Wir waren auf einer Whale-Watching-Tour«, sagt Jürgen, »Immer wieder spannend.«
»Teambildung und Ausgleich«, klärt mich Katrin auf, »Sonst würden einige Kollegen in der Klapse landen.«
Alle drei lachen. Ein Insider irgendwie. Ich lächele anstandshalber. Und nach einem kurzen Briefing wo es langgeht, laufen wir los.
Ein paar Meter beanspruchen wir noch die Gehwege am Flughafen, ehe wir abbiegen und in sattes Grün tauchen. Trotz der Wolken am Himmel, die jederzeit Regen abwerfen könnten, tummeln sich viele Menschen in der Natur – mit dem Fahrrad, dem Hund oder dem Partner.
Die ersten Minuten kann ich noch gut mithalten, aber meine schlechte Form wartet nur darauf, dass ich den Esprit vergesse, den ich als Rumpf zwischen den Flügeln Katrin und Jürgen verspüre. Sobald sich in meinem Geist eine Lücke auftut, die meine körperliche Minderverfassung nicht mit Willenskraft pushen kann, wird sich meine fehlende Fitness rächen.
Claudia rennt vornweg, mit kabellosen Stöpseln im Ohr. Was sie hört, weiß ich nicht. Ein Hörbuch oder Musik. Jedem das Seine. Mich stört nur ihr perfekter Po, der direkt vor meinen Augen wackelt.
Katrin rennt neben mir, obwohl ich merke, dass sie schneller laufen könnte. Sie drosselt ihr Tempo, um bei mir zu sein, um mich zu unterstützen, wenn ich Unterstützung brauche.
Jürgen rennt neben mir – auf der anderen Seite -, weil er mit mir reden will. Ich kenne den Namen seines Golden Retriever (Wanda), den Finanzierungsstand seiner Doppelhaushälfte, die Zeugnisnoten seiner beiden Kinder und seine Funktion in den Lüften: Purser, sozusagen Chef der Flugbegleiter.
Moment!
Kinder?
Ich holpere und stolpere bei dem Gedanken, dass ich mit einem verheirateten Familienvater flirte – oder vielmehr, er mit mir, so kommt es mir zumindest vor.
Katrin als auch Jürgen stützen mich – jeder auf seiner Seite -, da sie denken, dass sich meine untrainierten Beine verhakt haben und mich zu Fall bringen wollen.
Als ich mich mit Hilfe der beiden fangen kann, luge ich zu Jürgens Händen, um nach einem Ring oder einer blassen Druckstelle zu suchen. Fehlanzeige.
Verheiratet? Geschieden? Verwitwet?
Oh mein Gott! Ich könnte nun dutzende Fettnäpfchen mitnehmen und letztlich allein zurückbleiben, irgendwo in den Wiesen in der Nähe des Flughafens, wenn ich alle vergrault habe.
»Ihr Freund hat schlussgemacht und sie rausgeworfen«, höre ich Katrin sagen.
Ich bin gemeint! Oh nein! Jürgen hat mir eine Frage gestellt und ich habe anscheinend nicht rechtzeitig geantwortet, in Gedanken versunken.
»Das tut mir leid«, meint Jürgen, »für deinen Ex«, schiebt er lächelnd nach, »So eine hübsche Frau setzt man doch nicht auf die Straße. Das ist Frevel!«
Katrin gibt mir einen Ellbogenklaps von der Seite, als wöllte sie sagen: siehst du, du bist hübsch, das ist nicht nur meine Meinung!
Hechelnd und lächelnd versuche ich etwas zu verbalisieren. Schachtelsätze werden dabei nicht herauskommen. Dafür fehlt mir die Luft. Vielleicht hat Katrin auch an meiner statt geantwortet, weil sie bemerkt hat, dass ich aus der Puste bin.
»Danke«, keuche ich für das Kompliment. Da mein ganzer Kopf glüht, vor Anstrengung, fällt das Aufglühen der Wangen nicht weiter ins Gewicht.
Meine abnehmende Konstitution verhindert das Führen einer Konversation. Ich kämpfe mit Krämpfen, vor allem mit Seitenstechen. Meine Beine sind Wackelpudding; meine Lunge ist Kartoffelstampf; mein Schädel ist eine gekochte Tomate. Wenigstens tragen wir alle Wasserflaschen mit uns herum. Ich eine gekaufte Plastikflasche, die anderen drei wiederverwendbare Individualbehälter mit originellen Dichtverschlüssen und durch Steine sowie Tiefkühlkräuter aufgewertetes Leitungswasser, das somit zum Leistungswasser transformiert.
Nach einem gefühlten Marathon komme ich mit Jürgen als Schlusslicht wieder im Parkhaus an. Er könnte noch so eine Tortur laufen, hat er sich doch kaum verausgabt, als er meinen Niedergang live miterlebt hat. Katrin hatte sich nach einer Weile abgesetzt, da sie anscheinend erkannte, dass ich bei Jürgen in bester Gesellschaft bin. Jetzt erwarten uns die beiden Gazellen verschwitzt und glücklich an den Parkbuchten.
Ich schnaufe wie eine Dampflokomotive nach einer Bergfahrt. An mir herunterzuschauen wage ich nicht. Wahrscheinlich sind meine Klamotten mittlerweile dunkelgrau, vom vielen Schweiß. Meine Augen brennen; meine Ohren pfeifen; meine Knie zittern.
Da hat Spaß gemacht!
Achtung: Sarkasmus.
Jürgen konnte mir wenigstens die Zeit verkürzen, indem er frei von der Leber über seinen Job erzählt hat. Vieles deckt sich mit den Schwärmereien von Katrin. Auch Jürgen scheint mit seinem Job verschmolzen zu sein, ist immer galant, charmant, aufrichtig, positiv. Getreu dem Motto: Menschen eine Freude machen und ein Lächeln schenken. Nebenbei reise man um die Welt, erweitere seinen Horizont und sei Gott sowie den Sternen näher als sonst jemand.
Ich bin mir nicht sicher, ob Jürgen strenggläubig ist oder nicht, aber er hat einige religiöse Metaphern eingebaut, die ich nicht als scherzhafte Anspielung gedeutet habe.
Als ranghöchster Flugbegleiter sei er die Schnittstelle zwischen Kabinen- und Cockpitcrew, also Saftschubsen und Autopiloten, war eine der anderen Informationen, die ich zwischen dem Luftschnappen aufschnappen konnte.
Er erzählte mir auch von der First Class, wo er schon zahlreichen Prominenten das Kissen aufschütteln durfte. Sein Erzählstil ist dabei aber nicht geprägt von Überschwang, sondern von Nüchternheit.
»Würden wir uns durch sowas verrückt machen lassen, hätten wir bald keine Kundschaft mehr«, führte er aus.
Professionelle Zurückhaltung, nannte er das. Es seien schließlich ja auch nur Menschen, die was zu trinken haben wollen und die Bordtoilette benutzen. Die meisten dieser Personen des öffentlichen Interesses hätten einzig im Flieger ein paar Stunden Ruhe. Die zugeteilten Flugbegleiter seien dann dafür da, diese Zeit so angenehm wie möglich zu machen, wie den übrigen Passagieren ebenso.
»Ich kann dir sagen, welcher Promi schnarcht oder gern eine doppelte Portion isst, aber Fotos habe ich keine und meine Geschichten werden dir auch nicht von der Klatschpresse aus den Händen gerissen, weil der Beweis fehlt. Diskretion gehört ebenso zu meinem Job wie Loyalität. Ich bin nach außen hin diskret und dem Kunden gegenüber loyal. Wenn die High Society eins hasst, dann bezahlte Dienstleister, wie mich, die ihnen auf die Pelle rücken.«
Beeindruckt musste ich feststellen, dass Jürgen ohne Probleme wie am Fließband labern konnte, obwohl seine Beine Schwerstarbeit leisteten.
Die halbe Rückfahrt kämpfe ich mit meinem Zustand. Katrin hat zum Glück Handtücher im Auto, die wir auf die Sitze gelegt haben. Wegen der Straßenunebenheiten sieht sie auch nicht, dass ich unaufhörlich zittere – vor Erschöpfung.
»Das Schönste ist die Dusche danach«, beginnt sie nach stummer Rekonvaleszenz, »Du darfst natürlich zuerst. Du bist mein Gast.«
»Das ist nett, danke, aber mach du nur. Ich brauche noch ein paar Minuten.« Eine Untertreibung. Ich würde am liebsten mehrere Stunden schlafen, auf der Stelle.
»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du morgen fliegst?«, frage ich nach weiteren Luftzügen und Schweißkaskaden.
»Hätte ich heute Abend«, gesteht sie, sich keiner Schuld bewusst.
»Dann suche ich mir morgen ein Hotel«, ist es eine Frage oder eine selbstbewusste Aussage? Keine Ahnung. Meine Muskeln rauben meinem Hirn Kapazitäten.
Katrin fängt an zu lachen. »Mina«, zieht sie lang. Sie könnte auch noch „du kleines Dummchen“ hinzufügen. Genauso klingt es.
»Mi casa es su casa. Mein Haus ist dein Haus. Bis du was gefunden hast, kannst du bei mir bleiben«, eröffnet sie großzügig.
»Ich weiß nicht, wie ich dir jemals danken soll.«
Sie sieht zu mir, aus dem Augenwinkel, und grinst. »Probiere das an, was ich dir gekauft habe.«
Mir stockt der Atem, diesmal psychisch und nicht physisch wie schon die ganze Zeit. Ich weiß ganz genau, dass sie auf die kleine Tüte abzielt, die sie in dem Unterwäschegeschäft gefüllt hat. Es ist also etwas für mich drin. Unterwäsche. Reizwäsche? Geht es immer noch darum, mein Selbstwertgefühl nach oben zu schrauben oder ist es ein obszönes Rollenspiel? Ist sie vielleicht doch lesbisch oder mindestens bisexuell? Bin ich das Mauerblümchen, das es zu pflücken gilt?
Mir wird schlecht. Wahrscheinlich die Kombination aus Anstrengung und Überforderung.
»Wie findest du Jürgen?«, lässt sie nicht locker und torpediert mich mit weiteren Unannehmlichkeiten. Langsam glaube ich, sie ist ein Sadist.
»Sympathisch«, werfe ich einen Brocken hin. Angestrengt schaue ich aus dem Seitenfenster. Katrin soll nicht sehen, dass ich schon wieder rot anlaufe.
Sie kichert. »Er dich auch.«
Ich schnaufe peinlich berührt und krümme mich. Der Autositz soll mich verschlucken. Die Tür soll mich ausspucken.
»Ist er schwul?«, platzt es aus mir heraus. Das Vorurteil, dass alle männlichen Flugbegleiter schwul sind, nimmt mich in Schutz, rede ich mir ein. So kann ich davon ablenken, dass wir offensichtlich geflirtet haben.
Katrin pocht gegen das Lenkrad und lacht laut.
»Er hat zwei Kinder«, hält sie dagegen.
Ich wippe mit den Schultern. »Lebenswandel?«
»Wünschst du dir, dass er homosexuell ist?«
Sie hat mich. Touché! Wäre er schwul, könnte ich mir das Interesse und die Nähe erklären. Schwule sind oftmals kommunikativ und empathisch, vor allem solche, die mit Menschen arbeiten, als Flugbegleiter zum Beispiel.
»Ist er nicht«, unterbricht sie die Pause, die zu lang wurde, und macht die Sache komplizierter. »Geschieden.«
Davon hatte er mir nichts erzählt. Vielleicht etwas, das er nicht gern breittritt. Trotzdem surren tausend Fragen durch meinen Kopf. Jürgen ist genauso interessant wie Katrin. Doch ich kann doch nicht unablässig Fragen stellen. Wie würde man mich dann ansehen? Als Nervensäge? Als Tratschtante?
»Ich hätte eine Idee«, knüpft sie an, »Da ich meine Tour so kurzfristig nicht absagen konnte, wärst du ein paar Tage allein in Köln.«
Sie setzt ab und schaut kurz rüber.
Es ehrt mich, dass sie für mich versucht hat, ein paar freie Tage herauszuschlagen. Kann man sich in diesen Zeiten eine bessere Freundin wünschen? Ich unterdrücke Tränen.
»Ich kenne Jürgen schon seit Jahren. Er hat auch viel durchgemacht und ist ein absolut verlässlicher, vertrauensvoller Mensch. Wenn du willst, gebe ich dir seine Nummer und ihr könnt euch kurzschließen.«
Die Worte stehen im Raum, während wir in ihre Straße einbiegen. Sie lässt das Gesagte wirken. Es löst in mir Aufregung aus, aber auch Angst und Unbehagen.
Als wir stehenbleiben, dreht sie sich zu mir, während sie den Motor ausmacht und sich abgurtet.
»Kein Date«, betont sie, »nur etwas Zeitvertreib zweier Menschen, die nicht gern allein sind.«
Jürgen allein? Ein so offener, interaktionsfreudiger Mensch ist doch nicht allein. Hat er keine Freunde? Was ist mit seinen Kindern? Katrin registriert meine Zweifel.
»Es kommt nicht von ihm. Es ist meine Idee. Weil ihr euch so gut versteht und weil ich dich nicht allein lassen will. Ich mache nicht gern blau. Es gibt zwar Nachrücker, aber wieso sollte ein Familienmensch für einen Single einspringen, der nur blau macht?«
»Das geht so schnell«, flüstere ich, mit Herzklopfen. Ein Rest vom Sport, neu entfacht durch die Perspektive männlicher Gesellschaft.
Nachdem wir beide geduscht sind und unseren Hunger mit einer Süßkartoffel-Karotten-Pfanne getilgt haben, sitzen wir mit Kai Kaktus noch am Tisch und reden. Wir lassen den Tag Revue passieren, verraten uns ein paar Geheimnisse und Katrin löchert mich mit Fragen zu meinem Job.
Das Beziehungsthema klammern wir aus, im gegenseitigen, stillen Einverständnis. Auch wenn ich nur zu gern wüsste, was Katrin bisher getrieben hat.
»Versicherungssachbearbeiterin«, kläre ich auf, »Geregelte Arbeitswoche, fester Büroplatz, Aktenablage.«
»Du verkaufst Versicherungen?«
»Nein, ich arbeite im Hinterzimmer und mache den ganzen Bürokratiekram.«
»Seit wann?«
»Seit ein paar Jahren, aber bei meinem aktuellen Arbeitgeber bin ich noch in der Probezeit«, lächle ich ohne Überzeugung.
»Macht es dir Spaß?«, fragt sie unumwunden.
Ich zögere, wodurch die Frage bereits beantwortet ist.
»Wer hat schon durchgehend Spaß bei der Arbeit?«, versuche ich mich rhetorisch.
»Ich auch nicht«, stimmt Katrin ein, weil ich sie visuell um eine Aussage bitte. »Zumindest nicht immer. Es gibt Tage, da ist einfach der Wurm drin, aber ich muss sagen, dass sich diese Tage enorm reduziert haben, seit ich über den Wolken arbeite.«
»Willst du es mir schmackhaft machen?«, scherze ich.
»Wir suchen immer Leute«, antwortet sie neutral.
Ich nippe am Glas Wein, um Zeit zu schinden. Kai Kaktus starrt mich an, der kleine Stachelstrauch. Als obdachloser Single wäre ich die ideale Kandidatin, sinniere ich leichtfertig, außer dass mein Körper nicht in die schmalen Gänge passt und mein Ego weder für Service noch für Notfälle geschaffen ist. Dazu kommen Klaus und Agora, die ein Wörtchen mitzureden haben.
»Was sagst du zur Klimadebatte?«, rutscht mir heraus. Puh, jetzt wird es trocken. Ich gönne mir noch einen Schluck. Katrin macht es mir nach.
»Als Flugbegleiterin oder als Umweltaktivistin?«
Mein Gesicht friert ein. Ich muss richtig blöd gucken. Hat sie das ernst gemeint?
»Glaubst du mir nicht?«, ergänzt sie lächelnd.
Ich suche nach Transparenten, die alles anprangern, suche nach Naturprodukten in ihrer Wohnung, suche nach Widerstand und Ungehorsam, Aufruhr und Umsturz. Doch ich sehe nichts, was den Regenwald rettet oder das Ozonloch schließt.
Katrin versteckt ihr Antlitz theatralisch hinter ihren Händen. »Du kannst mich Heuchlerin nennen«, wird von ihren Händen gedämpft, »Ich fliege beruflich, besitze ein Smartphone, suche den günstigsten Stromtarif und bin ein Fashion Victim, das nach Gefallen und nicht nach Bilanz kauft.«
»Schon gut«, spiele ich das Spielchen mit, »Wir haben alle unsere Leichen im Keller.«
Als sich ihre Hände senken, lacht sie unvermindert. »Du bist faszinierend, Mina. Ein graues Mäuschen, das plötzlich die Welt retten will.«
»Soweit würde ich nicht gehen«, bremse ich entschlossen.
»Aber es beschäftigt dich, sonst hättest du es nicht ausgesprochen«, kontert sie bissig, während ihre Lippen herausgefordert strahlen.
Meine Schultern hüpfen unschlüssig. »Vielleicht suche ich nur Argumente, um es mir auszureden.«
»Der Traum von der Flugbegleiterin?«
Ich nicke.
»Nichts ist klimaneutral. Alles hat seinen Preis. Und viele Faktoren beeinflussen unseren Untergang. Können wir wieder das Thema wechseln. Ich werde immer so depressiv, wenn man über das Schlechte redet, anstatt zu handeln.«
Depressiv kann ich mir bei ihr nicht vorstellen. Ein Sonnenschein sondergleichen. Bei all ihrer positiven Energie gibt es doch gar keinen Platz für schattige Rückschläge.
Ich gähne. Ein abwechslungs- und aufschlussreicher Tag liegt hinter mir. Kann mich nicht erinnern, wann sowas in meiner Beziehungszeit zuletzt passiert ist.
»Jetlag?«, witzelt Katrin.
Wir prusten los. Langsam werde ich warm für den Fliegereihumor.
»Lass uns ein anderes Mal über die Vorteile und Nachteile von Globalisierung und Kapitalismus reden, ok? Ich muss morgen früh raus und du auch, wenn du dich nicht wieder krankmeldest.«
»Gute Idee«, sage ich müde.
Katrin stellt die kleine, braune Tüte vom Unterwäschegeschäft auf den Tisch. Vorn drauf klebt ein gelber Notizzettel mit einer Telefonnummer darauf.
»Probiere es morgen an, versprochen?«, bittet sie mit Rehkitzaugen.
»Und dann?«, kontere ich abwehrend.
»Wenn es dir gefällt, schenke ich es dir. Wenn nicht, der Kassenzettel liegt bei.«
»Und die Nummer?« Ich kann mir denken, was abgeht. Jürgen.
Katrin lächelt geheimniskrämerisch. »Inhalt und Nummer sind unabhängig voneinander. Ich wollte dir nur beides kompakt überreichen. Du kannst natürlich das eine mit dem anderen verbinden.«
»Katrin«, mein sanfter Schlag verfehlt sein Ziel. Ich wollte ihren Arm treffen, wirbele aber nur Staub auf.