Читать книгу Auf der Straße: Eine Saison im Profipeloton - David Millar - Страница 10
ОглавлениеDie Prinzessin
Ryders neueste Marotte ist Smoothies-Machen mit dem Entsafter, also wird das erste Trainingslager des Jahres auf Mallorca zu einer wahren Entsaftungs-Orgie. Sein Entsafter heißt »Princess«. Wir entsaften, bis es qualmt. Das Ding vollbringt wahre Wunder, zumindest bilden wir uns das ein; auf jeden Fall ist es eine feine Möglichkeit, nachmittags Zeit totzuschlagen. Wir müssen los, Gemüse kaufen, und dann die Smoothies machen und anschließend die ganze Schweinerei beseitigen, die wir bei der Aktion hinterlassen haben. Das Hantieren mit dem Entsafter wird zu einer festen Einrichtung, etwas, worauf man sich freuen kann. Wir fühlen uns wie richtige Sportler. Dann ziehen wir los und genehmigen uns ein Bier an der Hotelbar, weil wir so unglaublich geile Typen sind.
Easy Ryder
Ryder präsentiert mir seinen ständig wachsenden Fundus an Selfies mit Radsportstars. Das ist sein Ding geworden, er hat ein paar wirklich schöne, die alle auf dem Rad entstanden sind – unter anderem ein ganz besonders Erstaunliches mit Nibali. Keine Ahnung, woher er die Zeit nimmt. Unweigerlich schaut jedes seiner Opfer, sei es Contador, Sagan, Cancellara oder wer auch immer, etwas ratlos drein. Sie sind unsicher, ob Ryder sie auf den Arm nehmen will. Kein Wunder, schließlich ist Ryder bisweilen so locker, dass man durchaus meinen könnte, er nähme ausgerechnet die Sache mit den albernen Selfies ernst, was die oft entgeisterten Blicke und skeptischen Mienen erklärt, die er einfängt.
Selbst seine Art, Rennen zu fahren, ist lässig: Kein anderer Fahrer seines Formats macht, was er macht. Nämlich, sich das Treiben von hinten anzuschauen. Er begreift nicht, warum sich alle um die vorderen Plätze im Peloton streiten, das ergibt für ihn keinen Sinn. Während des stundenlangen Geplänkels, das sich in den meisten Rennen abspielt, bevor es richtig losgeht, versteckt er sich zumeist ganz am Ende des Feldes. Ich persönlich halte nichts von dieser Taktik, aber er hat ein ums andere Mal gezeigt, dass sie für ihn funktioniert.
Ryder und Vincenzo Nibali (mit Photobomb von Alberto Contador).
Ryder und Alberto Contador.
Ryder und Fabian Cancellara.
Sich ans Ende des Feldes zu setzen, bringt ein paar Probleme mit sich. Das größte ist, dass man den Launen von fast 200 Fahrern ausgeliefert ist, die vor einem sind. Wenn zum Beispiel die eigene Mannschaft das Rennen kontrolliert, beteiligt man sich vorne an der Arbeit. Als Kapitän hält man sich dann in geschützter Position etwas weiter hinten in der Formation auf, aber niemals an letzter Stelle, denn man braucht einen Puffer von mehreren Fahrern zwischen sich und dem Gedränge der Positionskämpfe dahinter. Man braucht außerdem die Gewissheit, zwei oder drei Helfer hinter sich zu haben, die darauf achten, ob etwas passiert, statt dass man selbst nach vorne rufen muss, falls es ein Problem gibt. Meistens wird man eh nicht gehört.
Das heißt, dass man als Kapitän in dieser Position nur fünf oder sechs Fahrer vor sich hat, die aber aus der eigenen Mannschaft stammen und deren Job es ist, auf einen aufzupassen; hinter sich hat man dagegen 200 andere Fahrer, die sich um die besten Plätze balgen. Das sind 200 Dinge, die hinter einem schiefgehen können, gegenüber nur fünf oder sechs vor einem. Alles eine Frage der Risikoanalyse also.
Aber Ryder interessiert das einen Scheiß. Er schlägt sich lieber mit den Unwägbarkeiten herum, als sich den permanenten Stress der Positionskämpfe im vorderen Teil des Feldes anzutun. Denn genau so sieht es aus; es gibt nur eine Mannschaft, die vorne fahren kann, und sie genießt dieses Privileg, weil sie das Trikot des Führenden oder den Favoriten des Tages in ihren Reihen hat. Alle anderen streiten sich dahinter um die Plätze.
Das ist etwas, was sich im Verlauf meiner Karriere verändert hat. Als ich Ende der Neunziger anfing, war das Peloton ein organisch dahinfließendes Gebilde. Eine Mannschaft fuhr vorneweg, dann folgten relativ geschützt die Kapitäne der anderen Mannschaften, mit je zwei oder drei getreuen Domestiken an ihrer Seite, dahinter machte jeder, was er wollte. Es ist nicht mal unbedingt so, dass es weniger stressig gewesen wäre, es war nur ein anderer, losgelöster Stress. Jeder machte mich sich selbst aus, wie viel er kämpfen wollte.
Heutzutage ist alles roboterhaft. Die Teamleiter teilen ihren Fahrern über Funk mit, sich nach vorne zu begeben und als geschlossene Einheit zu fahren. Schön und gut, ich verstehe schon, was sie damit bezwecken, aber letztlich ist es kontraproduktiv, denn zu viele Mannschaften versuchen alle, das Gleiche zu tun, und was dabei herauskommt, ist ein Riesendurcheinander.
Sich selbst überlassen, sind nur die Fahrer vorne, die auch wirklich vorne sein wollen, und sie bringen die nötige Aufmerksamkeit und den Willen mit, dort zu bleiben; sie lassen es »fließen« und machen keinen Stress, halten ihre Position, ohne jemandem in die Quere zu kommen. Das ist ziemlich beeindruckend, wenn es gut gemacht wird, aber im modernen Peloton nur noch selten zu sehen. Heutzutage ist stressfreies Dahinrollen schwierig, weil man sich mit Fahrern herumschlagen muss, die gegen ihren Willen nach vorne beordert wurden. Oft sind das junge Burschen, die solchen Schiss haben, nicht das zu tun, was man ihnen sagt, dass sie vollkommen auf das Hinterrad ihres Teamkollegen fixiert sind und in einem an sich friedlichen Moment des Rennens mit anderen Fahrern aneinandergeraten und Unruhe stiften. Sie haben nie die Chance bekommen, zu lernen, wie man es im Peloton einfach fließen lässt.
Dieser permanente und unnötige Stress führt unweigerlich zu Stürzen, weil die Leute verbissen versuchen, ihre Positionen zu verteidigen, und dabei immer unvorsichtiger und achtloser werden … und dann reicht es, einen nichtsahnenden Fahrer, der in diesem scheinbar friedlichen Moment des Rennens ganz entspannt dahinrollt, nur leicht anzustoßen, und zack, schon ist das Unheil geschehen. In gewisser Weise kann ich Ryder verstehen.
Freilich hat Ryders Fahrweise auch eine Kehrseite. Man läuft Gefahr, hinter Stürzen, die vor einem passieren, festzusitzen und isoliert von der eigenen Mannschaft zurückzubleiben. Denn natürlich wird kein Team das Risiko in Kauf nehmen, alle Fahrer ans Ende des Pelotons zu beordern – wären alle hinten und es käme zu einem Sturz, der die Straße blockiert, säße die komplette Mannschaft fest, während der Rest des Feldes sich auf und davon macht. Genau das passierte auf der sechsten Etappe der Tour de France 2012, als unsere ganze Mannschaft hinter dem schlimmsten Massensturz, den ich je erlebt habe, festsaß (siehe auch »Die Theorie der Stürze«, Seite 99).
Mallorca Challenge (2)
Alles in allem der perfekte Wiedereinstieg ins Peloton. Anders als in anderen Jahren und als die meisten anderen Teams absolvieren wir nach dem fünftägigen Rennen ein zehntägiges Trainingslager. Das ist Teil des Deals, dem wir unseren Startplatz bei der Mallorca Challenge verdanken: Wir müssen dort auch unser Trainingslager abhalten. Trainingslager mit dem Team haben sich in den 20 Jahren, seitdem ich dabei bin, kaum verändert. Die Hotels sind fast immer so gut wie ausgestorben, da wir in Ferienresorts in der Nebensaison unterkommen. Das Wetter ist meistens schön, aber nicht schön genug, um sich dort aufzuhalten, sofern man nicht Radprofi ist, der dem nordeuropäischen Klima entfliehen möchte. Das Essen ist in der Regel ziemlich mäßig, aber im Vergleich mit dem Fraß, der uns in den Neunzigern in ähnlichen Trainingslagern vorgesetzt wurde, geradezu eines Gourmets würdig.
Calpe, nördlich von Benidorm, ist das bevorzugte Ziel vieler Teams. Manchmal halten sich dort im Dezember und Januar bis zu fünf der besten Radsportteams der Welt gleichzeitig auf. Ich habe Monate meines Lebens in Calpe verbracht. Deswegen bin ich ganz froh, dass wir diesmal auf Mallorca sind. Mal was anderes, statt immer der gewohnte Trott.
Das Programm hingegen ist immer das gleiche:
8:30 Uhr: Frühstück
10:00 Uhr: Aufbruch zum Training
15:00-16:00 Uhr: Mittagessen
17:00-20:00 Uhr: Massage (45 Min.)
20:00 Uhr: Abendessen
Dazu gibt es einen Tag, der für physiologische Tests vorgesehen ist, und einen für das Mannschaftsfoto, aber alles in allem war’s das. Das Training variiert ein wenig, aber kaum nennenswert. Für Ryder und mich steht außerdem Smoothies-Machen auf der Tagesordnung sowie ein Bier vor dem Abendessen, sofern unser Massage-Turnus es zulässt. Ansonsten wird viel herumgelungert. Früher habe ich gelesen, heute verplempere ich meine Zeit, indem ich am Computer oder auf dem Handy im Internet surfe. Ich sehne mich nach den Zeiten, als es noch kein Internet und keine Smartphones gab. Damals habe ich noch mein Hirn benutzt.
Wie gehabt baue ich meine Form im Laufe des Trainingslagers langsam auf, am letzten Tag dann teilen wir uns in Gruppen auf, um Mannschaftszeitfahren zu trainieren. Rohan Dennis und ich bilden die kleinste Gruppe, die als letzte losfährt. Wir sind die wohl besten reinen Zeitfahrer im Team, er jung, ich alt. Wir legen eine Schippe drauf, ich mache das, was ich am besten kann, und finde es großartig. Wir sind zu zweit schneller als die beiden Achtergruppen, die wir verfolgen. Ich fühle mich wieder jung und weiß, wozu ich in der Lage bin und warum ich es tue. Der perfekte Abschluss des Trainingslagers.
Klassementfahrer
Auf der einen Seite gibt es die durchgeknallten Spinner, die Spezialisten für die Klassiker, die in Katar mit Schaum vorm Mund und scharrenden Hufen der Frühform nachjagen. Dann gibt es die Klassementfahrer, die in der Lage sind, ein Etappenrennen zu gewinnen, ohne ein einziges Mal als Erster über die Ziellinie zu gehen. Für Klassementfahrer geht es vor allem um Schadensbegrenzung; sie verlegen sich auf eine konservative Fahrweise und versuchen, ihre Zeitverluste zu minimieren; zum Angriff gehen sie grundsätzlich nur dann über, wenn sie fast sicher sein können, Zeit gutzumachen. Aus diesem Grund zeigen sich die Fahrer, für die es um die Gesamtwertung geht, meistens erst im Finale – so halten sie ihre Verluste in Grenzen, sollte einmal etwas schiefgehen.
Deswegen reiben sich manchmal ganze Mannschaften an der Spitze des Feldes auf, bevor der Kapitän in Erscheinung tritt. In einer idealen Welt würde sich der Kapitän niemals an der Spitze verausgaben – er wäre zwar immer da, aber quasi unsichtbar, und würde im Hinblick auf den nächsten Tag stets so viel Körner sparen wie nur irgend möglich. Es ist ein Zahlenspiel: Alles ist genau berechnet und kalkuliert, um das effizienteste Ergebnis zu erzielen. Anders gesagt: Wer nicht wagt, der nicht verliert.
Ich hatte mir im Laufe der Jahre eine Klassementfahrer-Mentalität zugelegt. Ich wägte alle maßgeblichen Faktoren ab und entschied, welches die für mich effizienteste und effektivste Fahrweise wäre; Risiken ging ich nur dann ein, wenn ich Aussichten auf den Sieg hatte, was meistens im Zeitfahren der Fall war. Selbst dann war es ein kalkuliertes Risiko, denn ich hatte vorab gründlich die Strecke besichtigt, um schneller in die Kurven gehen zu können – wenn es vom Begleitwagen aus also so aussah, als wäre ich nicht ganz bei der Sache und würde wie eine gesengte Sau fahren, wusste ich aus meiner Sicht genau, was ich tat. Und darin liegt der größte Unterschied zwischen einem Klassementfahrer und einem Mann für Etappen und Eintagesrennen.
Ein Klassementfahrer versucht, alle Variablen zu kontrollieren – falls Risiken eingegangen werden, sind sie kalkuliert –, während Etappen- und Klassikerjäger wissen, dass die Gefahren im Grunde nicht zu kontrollieren sind. Also versuchen sie, deren Einfluss durch eine aggressive Fahrweise zu mindern, und balgen sich um die besten Positionen im Feld, um als Erster in eine bestimmte Kurve vor einer Engstelle oder in einen gefährlichen Kopfsteinpflaster-Abschnitt zu gehen, und sie verlangen von ihrer Mannschaft, sich aufzuopfern, um sie aus dem Gegenwind zu nehmen. Je näher sie der Spitze des Feldes sind, desto weniger Fahrer können ihnen in die Quere kommen – die größte Variable für Etappenjäger ist die Zahl der Fahrer, die vor ihnen liegen. Eintagesklassiker entwickeln sich zu Abnutzungskriegen, sie werden zu Ausscheidungsrennen. Ganz egal, wie stark man ist, wenn man nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, hat man keine Chance.
Klassikerspezialisten
Ich hatte in meiner Karriere früh die Entscheidung gefällt, die Klassiker möglichst zu meiden: Diese Eintagesrennen waren so lang und so hart, und ich schäme mich nicht zuzugeben, dass mir damals dafür auch einfach das nötige Können fehlte. In meinen ersten Jahren verlegte ich mich auf Rennen, die ich sauber gewinnen konnte. Nach meinem Dafürhalten waren die Klassiker ebenso wie die großen Rundfahrten nur mit unerlaubten Mitteln zu gewinnen. Das habe ich mir jedenfalls eingeredet.
Rückblickend und mit dem Wissen, das ich jetzt habe, kann ich mir durchaus vorstellen, dass der eine oder andere herausragende Fahrer auch ohne solche Mittel in der Lage war, es bei den Klassikern mit den Dopern aufzunehmen (ich glaube nach wie vor nicht, dass es bei den großen Landesrundfahrten möglich war), aber sie waren in der Minderheit. Natürlich wusste ich das damals nicht (woher auch?). Auch die sauberen Jungs konnten sich nicht öffentlich damit brüsten, auf anständige Weise gewonnen zu haben. Was sie in gewisser Weise ganz gut beschreibt: Die wenigen, die das Zeug hatten, waren aus einem anderen Holz geschnitzt, sie waren selbstsichere Burschen, die sich um Gruppenzwang nicht scherten und damit umgekehrt auch niemandem Rechenschaft schuldig waren. Sie taten es für sich selbst. Für sie gab es keine omertà, es war einfach ihr Naturell. Eine Zeitlang war ich einer von ihnen.
Klassikerjäger werden auch Eintages-Spezialisten genannt. Diese Bezeichnung sagt eigentlich alles. Sie müssen sich auf eine aggressivere Fahrweise verlegen, weil es, anders als in Etappenrennen, kein Morgen gibt. An diesem Tag als Erster über die Ziellinie zu fahren, ist das Einzige, was zählt. Ihr Motto lautet: »Wer wagt, gewinnt«. Jede Generation hat große Vertreter dieser Spezies hervorgebracht: Die Siebziger hatten Roger De Vlaeminck, die Achtziger Sean Kelly, die Neunziger Johan Museeuw, und heute teilen sich Tom Boonen und Fabian Cancellara die Ehre.
Nichts ist wie Radfahren in Flandern
Die beiden ersten Klassiker des Jahres sind der Omloop Het Nieuwsblad und Kuurne–Brüssel–Kuurne. Sie sind die ersten Tests für die Eintages-Spezialisten, deren eigentliche Ziele immer noch einen Monat entfernt sind. Die gleichen Typen, die sich in Katar scheinbar bis aufs Blut bekämpft hatten, ließen damals nur ein wenig die Muskeln spielen und machen jetzt erst richtig ernst.
Die Rennen finden vornehmlich in der belgischen Region Flandern statt. Zum Teil auch außerhalb davon, trotzdem gelten sie vom Charakter her gemeinhin als »flandrisch«. Es sind sehr spezielle Rennen, die sich durch Kopfsteinpflaster, schmale Feldwege, steile Anstiege, schlechtes Wetter, matschige Straßen und ungefähr 342.105 Kurven auszeichnen. Alle Klassikerspezialisten träumen davon, eines Tages zu »Flandriens« ehrenhalber ernannt zu werden. Das bedeutet, dass sie zu den ganz zähen Bastarden gehören, die auf diesem Terrain brillieren.
Die wichtigsten Rennen der flandrischen Kampagne sind:
Omloop Het Nieuwsblad
Kuurne–Brüssel–Kuurne
Dwars door Vlaanderen (Quer durch Flandern)
E3 Harelbeke
Gent–Wevelgem
Drei Tage von De Panne
Ronde van Vlaanderen bzw. Flandern-Rundfahrt
Paris–Roubaix
Manche Profis planen ihre ganze Saison um diesen Block herum – sie sind ausgewiesene und anerkannte »Flandriens«. Sobald sie Mitte April Paris–Roubaix hinter sich gebracht haben, ist ihre Saison quasi zu Ende; sie fahren weiterhin Rennen, aber ohne den Elan, die Aggressivität und die Motivation, die sie von Katar bis Roubaix an den Tag gelegt haben. Diejenigen, die den Sommer hindurch Etappenrennen fahren, können das lustlose Auftreten dieser Fahrer während des Rests der Saison nicht nachvollziehen. Es ist, als hielten sie Winterschlaf, bis sie im Januar wieder in Katar am Start stehen, bereit für ihre jährlichen drei Monate durchgeknallten Wahnsinns.
Die Flandern-Spezialisten scheinen miese Bedingungen zu mögen; wenn sie am Morgen eines ihrer geliebten Rennen aufwachen und Wind und Regen sehen, sind sie sofort bester Dinge und haben ein Leuchten in den Augen. Ihr Enthusiasmus in diesen sechs Wochen des Jahres ist nicht zu bändigen und nervt umso mehr, da man weiß, dass sie, sobald sie Paris–Roubaix hinter sich haben, den Rest der Saison mit Jammern verbringen werden, während alle anderen weiter ihren Mann stehen müssen. Ihr Vorrat an mentaler Energie brennt hell und heftig und ist nach kurzer Zeit verbraucht. Wir anderen müssen derweil zusehen, dass wir unsere Reserven so einteilen, dass wir bis Ende Oktober durchhalten – auf ihrem Terrain haben wir eh nicht den Hauch einer Chance. Es gibt ein paar kranke Typen, die in der Lage sind, das Feuer eine ganze Saison hindurch aufrechtzuerhalten, aber sie sind absolute Ausnahmeerscheinungen.
Ich habe mit der Zeit Gefallen an den Klassikern gefunden. Nachdem ich viele Jahre, Saison für Saison, die immer gleichen Rennen gefahren war, war es eine Freude, sich 2010 unter die »Flandriens« zu mischen. Ich gewann die Drei Tage von De Panne und war bei der Flandern-Rundfahrt bis zum Schluss bei den Favoriten mit dabei, womit ich im Leben nicht gerechnet hätte. Ich entdeckte zu spät, was mir möglicherweise am meisten lag. Das Problem war meine Verachtung für den Winter, wegen der ich, ungeachtet des Anscheins, eben doch nicht dazu bestimmt war, ein Klassikerjäger zu sein.
Nichts ist wie Radfahren in Flandern. Ja, ich glaube, dass es die wahre Heimat des Profiradsports ist. Die Atmosphäre ist einmalig und die Begeisterung der Einheimischen ansteckend. Ich habe den Eindruck, dass sich seit Jahrzehnten kaum etwas verändert hat; es kommen Fans jeden Alters und aus allen Schichten, und die Rennen selbst sind so chaotisch und planlos wie das Radfahren selbst. Es ist unbegreiflich, wie es überhaupt möglich ist, ein Rennen in Flandern auszurichten und über die Bühne zu bringen, denn die Strecken verlaufen im Kreis und in Schleifen, kreuz und quer. Um es mit Churchill zu sagen: Sie sind wie ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses umgeben von einem Mysterium.
Um ein Klassikerspezialist zu werden, genügt es nicht, einfach nur die richtigen Gene und den nötigen Einsatzwillen mitzubringen, um im Training die erforderlichen Leistungswerte auf dem Powermeter zu erreichen und dann als Mitfavorit aufzulaufen. Man muss die Straßen in- und auswendig kennen, so wie ein Londoner Taxifahrer den Durchblick haben muss. Und man muss nicht nur mit der Strecke als solcher vertraut sein, sondern auch sämtliche Straßen berücksichtigen, die von ihr weg oder zu ihr hin führen, die Kurven und Kehren, das Pflaster und die Anstiege. Die Strecke wird jedes Jahr leicht verändert, und zu wissen, was einen als Nächstes erwartet, ist ein unverzichtbarer Schlüssel zum Erfolg.
Wer schlecht informiert ist, fühlt sich wie in einem Labyrinth gefangen, ohne jegliche Orientierung und ohne jeden Plan, wo man ist und wohin man fährt. Man wird nicht begreifen, warum plötzlich, zu einem scheinbar willkürlichen Zeitpunkt im Rennen, mit einem Mal alle wie die Irren fahren. Dann sieht man weit vor sich die Begleitfahrzeuge und Motorräder nach links auf einen einspurigen Feldweg ausscheren, dicht gefolgt von der Spitzengruppe, die in einer langgezogenen Reihe aus der Kurve schießt … während man selbst, gefühlt ein paar Kilometer dahinter, im dicht gedrängten Feld abbremsen muss. Man könnte ebenso gut in einem anderen Rennen sein. So ist Rennen fahren in Flandern.
Der Omploop Het Nieuwsblad wird seinem Ruf in diesem Jahr voll und ganz gerecht: Das Wetter ist scheußlich, die Temperaturen werden kaum über fünf Grad steigen, und in den letzten beiden Stunden soll es regnen. Bei solchen Bedingungen lässt sich kaum verhindern, dass einem kalt wird, es sei denn, man zieht sich eine dicke Jacke über, aber dann wird man ruckzuck abgehängt, weil man so windschnittig ist wie ein Elefant. Ich bin weit davon entfernt, Bäume auszureißen, schaffe es aber, meine Aufgabe zu erfüllen und das Ziel zu erreichen, womit ich in Anbetracht der Umstände ganz zufrieden bin. Ian Stannard vom Team Sky, ein Brite also, gewinnt das Rennen und ist damit das neueste Mitglied im Club der »Flandriens« ehrenhalber – etwas, wovon Ian schon immer ebenso sehr geträumt hat, wie andere vom Tour-Sieg träumen.
Am nächsten Tag geht es weiter mit Kuurne–Brüsse–Kuurne. Beim Omloop Het Nieuwsblad war ich zwar schon mehrmals dabei, diesen Doppelschlag gebe ich mir aber zum ersten Mal. Ich weiß nicht so recht, was ich erwarten soll. Letztlich ist es eine Ernüchterung, denn unser Kapitän im Rennen, Tyler Farrar, ist in einen Sturz verwickelt, und ich bin derjenige, der ihn wieder ans Feld heranführen muss, was eine zehn Kilometer lange Verfolgungsjagd erfordert. So bringe ich ihn gerade noch rechtzeitig vor einer entscheidenden Phase des Rennens zurück, was wiederum bedeutet, dass das Rennen für mich gelaufen ist. Das ist nicht ideal, aber es gehört zu meinem Job, meinem Kapitän zu helfen, wenn er in Schwierigkeiten ist, und häufig bedeutet das, meine eigenen Chancen zu opfern.
Capitaine de Route
Im Laufe der Jahre bin ich innerhalb der Mannschaft immer mehr in die Rolle eines Capitaine de Route hineingewachsen. Das ist die natürliche Entwicklung, die viele Profis durchmachen, die nicht mehr im Zenit ihres Könnens stehen, aber noch gut genug sind, um bei den großen Rennen mitzumischen. Ich bin vielleicht nicht mehr in der Lage, beständig gute Ergebnisse einzufahren, aber dafür habe ich so viel Erfahrung, dass ich ein Rennen besser lesen kann als jeder andere in der Mannschaft, und ich habe mich auch nie davor gescheut, auf der Straße das Kommando zu übernehmen und zu sagen, wo es langgeht. Vor allem aber bin ich noch gut genug, um in den Schlüsselmomenten des Rennens vorne dabei zu sein, wenn die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden.
In gewisser Weise war ich schon immer ein Capitaine de Route. Selbst als Jungprofi bei Cofidis war ich oft derjenige, der auf der Straße die taktischen Entscheidungen traf. Der Unterschied war damals, dass ich außerdem derjenige war, von dem am Ende die Resultate erwartet wurden; die meisten Entscheidungen traf ich also für mich und nicht um der Mannschaft willen. Heute treffe ich sämtliche Entscheidungen im Sinne des Teams und nicht im Interesse einzelner Fahrer. Wenn wir bei einem Rennen antreten und einen ausgewiesenen Siegfahrer haben, werfen wir sämtliche unserer Ressourcen für ihn in die Waagschale. Falls er aber stürzt oder krank wird oder einfach hinter den Erwartungen zurückbleibt, muss ich schnell einen Plan B parat haben.
Als ich jünger und sowohl Siegfahrer als auch Capitaine de Route war, gab es keinen Plan B, wenn alles den Bach runterging. Es war ein zweischneidiges Schwert: Wenn ich gut drauf und motiviert war, riss ich alle anderen mit; aber wenn ich nicht gut drauf und lustlos war, zog ich alle anderen mit runter und es gab niemanden, der für mich in die Bresche sprang. Deswegen ist es immer gut, sowohl einen klassischen Kapitän, der aufs Ergebnis fährt, als auch einen Capitaine de Route zu haben, der für die Umsetzung von Plan A sorgt und falls nötig einen Plan B ausheckt. Solche Entscheidungen müssen auf dem Rad und nicht im Begleitwagen getroffen werden, denn oft gehen die Entwicklungen im Rennen so schnell vonstatten, dass der Sportliche Leiter im Teamfahrzeug gar nicht mitbekommt, was vor sich geht.
Ein weiterer Aspekt ist, dass ein guter Capitaine de Route auf dem Laufenden ist, wie es um seine Mannschaft bestellt ist. Teamfunk ist schön und gut, aber man kann sich weder darauf verlassen, dass er immer funktioniert, noch darauf, dass die Fahrer ihn benutzen, wie sie es sollen. Es ist gängige Praxis, den Teamfunk einfach zu ignorieren, wenn man schlecht drauf ist, denn das Letzte, was man dann will, ist, es der ganzen Mannschaft und der Crew im Begleitwagen auf die Nase zu binden. Es ist nicht schön, derjenige zu sein, der sagt: »Mir geht’s nicht so gut.« In dem Moment weiß man genau, was die anderen denken: »Natürlich geht’s dir nicht gut, Spaßvogel, das ist ja auch verflucht hart hier.« Außerdem wissen wir, was wir vom Sportlichen Leiter zu hören kriegen: »Keinem geht’s gut, halte durch, das wird schon.« Deswegen behält ein Fahrer, der eine schlechte Phase durchmacht, seinen Schmerz für sich, um mit seinem Leid allein sein zu können.
Wenn man als Capitaine de Route also merkt, dass ein oder zwei Teamkollegen nicht da sind, wo sie hingehören (nämlich in der Nähe des Kapitäns oder an der Spitze des Feldes), hält man nach ihnen Ausschau, redet mit ihnen und trifft die Entscheidung, was mit ihnen noch anzufangen ist, bevor sie endgültig aufgeben und der Mannschaft nicht mehr weiterhelfen können.
Wenn man sich schlecht fühlt, kann es sehr hilfreich sein, vom Capitaine de Route aufgemuntert zu werden und eine Aufgabe zugewiesen zu bekommen. Manchmal genügt es schon, nur zum Flaschenholen geschickt zu werden, um neuen Mut zu fassen, meistens aber ist es am besten, an die Spitze des Feldes beordert zu werden, denn in psychologischer Hinsicht ist es wesentlich besser, vorneweg zu fahren, die Kontrolle zu haben und das Tempo zu bestimmen, als hinten drin zu sitzen und sich allen anderen ausgeliefert zu fühlen, während eine innere Stimme einem fortwährend vorhält, was man für ein Versager sei und dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis man abgehängt werde.
Das Gleiche passiert am anderen Ende des Spektrums. Manchmal kommt der Kapitän, der eigentlich auf Sieg fahren soll, und teilt dem Capitaine de Route mit, dass er sich nicht gut fühle und es nicht sein Tag sei. Häufig muss man das ignorieren. Falls er ein Kletterer ist und die Taktik sieht vor, ihn vor dem letzten Anstieg in der Spitzengruppe zu platzieren, gibt man zurück: »Keinem geht’s gut, halte durch, das wird schon.« Dann setzt man die Anfahrt auf den letzten Anstieg fort. Falls es ein Sprinter ist, der ankommt und sagt, er fühle sich hundsmiserabel, und die Taktik sieht vor, die Ausreißer zu stellen und einen Massensprint vorzubereiten, gibt man zurück: »Keinem geht’s gut, halte durch, das wird schon.« Dann setzt man die Verfolgung der Ausreißer fort, um den Massensprint vorzubereiten. Im Allgemeinen muss man ignorieren, wie sich die Leute fühlen, denn obwohl wir Leistungssportler sind, kann es durchaus passieren, dass wir mit der eigenen Wahrnehmung dessen, was wir im Rennen durchmachen, vollkommen danebenliegen. Es kommt nicht selten vor, dass der spätere Sieger eines Rennens eine Phase durchgemacht hat, in der er überzeugt war, abgehängt zu werden und nicht das Ziel zu erreichen.
Inzwischen ist mein Job in fast jedem meiner Rennen der des Capitaine de Route. Das ist schön, bis zu einem gewissen Punkt, aber manchmal wäre es auch nett, einfach abschalten zu können und sich im Feld zu verstecken. Heute kann ich einschätzen, wie leicht ich es als junger Profi hatte, als ich selbst bestimmte, wo es langging, und niemandem Rechenschaft schuldig war. Klar, da ich jünger war, war mir damals nicht bewusst, wie gut ich es hatte.
Älter werden
Das erste Wochenende in Belgien unbeschadet zu überstehen, ist eine Erleichterung. Wenn wir uns auf den Weg dorthin machen, sind wir stets auf das Schlimmste gefasst, auf gruseliges Wetter ebenso wie auf Stürze. Die Kälte am Samstag hatte mir nicht viel ausgemacht, und ich ging an beiden Tagen allen Stürzen aus dem Weg, was sich für mich wie ein kleiner persönlicher Sieg anfühlt, so dass ich mich in gehobener Stimmung auf den Heimweg mache. Ich war seit fast einem Monat unterwegs. Früher hätte mir das nicht weiter zu schaffen gemacht – es war Teil meiner Arbeit und Lebensweise. Seitdem ich Kinder habe, hat sich das verändert. Inzwischen bin ich der alte Sack, der aufhören möchte, um mehr Zeit mit seiner Familie verbringen zu können. Vor nicht allzu langer Zeit konnte ich nicht nachvollziehen, wie man so etwas sagen, geschweige denn tun konnte. Ich glaubte einfach nicht, dass es mir je so ergehen könnte. Rennfahrer reden nicht darüber, dass sie Frau und Kinder vermissen, das passt nicht zu uns.
Als ich noch ein grüner Junge war, erzählte mir ein erfahrener italienischer Profi, dass der legendäre Teammanager Giancarlo Ferretti ihm einst geraten habe, so schnell wie möglich zu heiraten und Kinder zu kriegen, weil dies ihm ein stabiles und geregeltes Familienleben verschaffen und ihn so zu einem besseren Profi machen werde. Freilich war es Ferretti herzlich egal, ob sein Fahrer ein wunderbarer Familienvater wäre, es ging ihm nur darum, dass er besser Rad fahren würde – der Mann war nicht gerade für seine Warmherzigkeit bekannt. Viele junge Radprofis sind diesen Weg gegangen, und viele gehen ihn noch heute. Jung zu heiraten, gehört im Radsport fast schon zum guten Ton.
Dafür gibt es glaube ich mehrere Gründe: Einer ist sicher, bis über beide Ohren verliebt zu sein. Dazu kommt aber auch, dass viele Profis sich nach einem stabilen und normalen Privatleben sehnen, das den idealen Ausgleich für den Profi-Alltag darstellt. In gewisser Weise hatte Ferretti also nicht ganz Unrecht. Seine Beweggründe waren fraglos ein bisschen eigennützig, aber man kann nicht sagen, dass er abwegiges Zeug erzählte.
Ich heiratete später als die meisten meiner Kollegen, was vor allem daran lag, dass ich länger brauchte als andere, um mit mir ins Reine zu kommen. Ich habe mir nie viel aus Stabilität und Normalität gemacht. Meine Frau lernte ich erst kennen, nachdem ich den ersten Teil meines Lebens mit Vollgas an die Wand gefahren hatte und am Boden war. Sie war da, als ich einen Neuanfang als aufrechtes Mitglied der Gesellschaft wagte, statt ein unredlicher und kaputter Doper zu sein. Ich war 32, als wir heirateten, was für Radsportverhältnisse nah dem Rentenalter ist, und 34, als wir Archibald bekamen, unseren ersten Sohn. In dieser Hinsicht hinkte ich meinen Kollegen also weit hinterher.
Im Nachhinein war das gut so, denn im Gegensatz zu den meisten Fahrern, für die es nur noch aufwärts geht, sobald sie Kinder haben, trat ich in eine Phase ein, in der es langsam bergab ging. Alles, was ich bisher für so unendlich wichtig gehalten hatte, erschien nun, da ich dieses kleine Wunder in meinem Leben hatte, weit weniger bedeutsam.
Ich war immer der Typ im Team gewesen, der für alles zu haben war. Im Vorjahr hatte ich eine irrsinnige Zahl an Renntagen bestritten, ich war einer der wenigen Fahrer, die man zu fast jedem Rennen schicken und von ihnen stets eine gute Leistung erwarten konnte. Ich betrachtete es als meine Pflicht, immer für die Mannschaft da zu sein und alles für sie zu geben – das war mein Job, und ich würde ihn nach bestem Wissen und Gewissen erledigen; man würde zu schätzen wissen, dass man sich auf mich immer verlassen konnte. Ich war zu einem wahren Allrounder gereift und genoss es mehr als je zuvor. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, jemals aufzuhören, und fand es unbegreiflich, die Profikarriere zu beenden, wenn man körperlich noch in der Lage war, den Job zu machen. Von Kollegen zu hören, die der Straße überdrüssig geworden waren und einfach keine Lust mehr hatten, war durchaus nicht ungewöhnlich, aber für mich war dies eine vollkommen abwegige Vorstellung. Dann wurde ich Vater, und alles kehrte sich ins Gegenteil um.
Ganz gleich, wie oft man zu hören bekommt, wie sehr Kinder einen verändern, kann man sich letztlich nicht darauf vorbereiten. Ich war davon ausgegangen, schon alles irgendwie geregelt zu kriegen, aber ich hatte vergessen, dass Anmaßung die Mutter allen Scheiterns ist. Einfach gesagt fing ich an, die Rolle als Vater mehr zu genießen als die des Radprofis.
Das Dasein als Radprofi ist niemals eine reibungslose Angelegenheit. Solange wir gesund und fit und motiviert sind, macht uns der Beruf Freude, das Training ist reizvoll, und selbst wenn die Rennen unfassbar hart sind, können sie Spaß machen. Von außen betrachtet könnte man vielleicht meinen, dass es immer so ist. Ist es aber nicht. Wenn es so wäre, würde ich mich nicht darüber ärgern, wenn die Leute sagen: »Das ist doch keine Arbeit! Du darfst jeden Tag Rad fahren.« Ich vermute mal, dass es professionellen Radsport gar nicht gäbe, würde er nur zum Spaß ausgeübt werden.
Meistens laufen wir unserer Form hinterher, sind ständig auf der Jagd nach der maximalen Fitness und dem idealen Wettkampfgewicht, wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Energie aufnehmen und fasten, trainieren und erholen. Das erzeugt Neurosen. Und das ist nur das Training. Ich habe einen Haufen Fahrer erlebt, die Essstörungen oder Übertraining entwickelt haben. Ich habe damals beides durchgemacht, doch da ich so lange dabei bin, hat sich das, was als verordnete Routine begann, zu einer Lebensweise gewandelt. Aber genau darin liegt das Problem für ältere Profis: Gerade wenn wir anfangen, unseren Beruf zu beherrschen, läuft unsere Zeit ab. Gegen Ende meiner Karriere Vater zu werden, hat mir zu einer Zeit, als ich es in meinem Leben als Radprofi am wenigsten gebrauchen konnte, eine neue Sicht der Dinge vermittelt. Als Profi war ich besser damit gefahren, in meiner kleinen Blase zu leben und mich unberührt vom Rest der Welt und was in ihr vorging treiben zu lassen.
Wenn wir jung sind und so wie Tao Geoghegan Hart am Fuß des Berges stehen, interessieren wir uns nur für eins: den Berg zu erklimmen. Alles andere dient nur dazu, uns unterwegs zu helfen. Wir treffen Entscheidungen, die andere als Opfer empfinden, in Wahrheit aber nichts dergleichen sind. Es sind Entscheidungen, die uns auf unserem Weg weiterbringen; als Opfer erscheinen sie erst, wenn die Sache schiefgeht, denn sofern man es an die Spitze schafft, haben sich alle Entscheidungen als richtig erwiesen. Unsere Sichtweise ist sehr eindimensional und sie ist fast durchweg egoistisch. Ich habe es viele Male erlebt: Die besten Radprofis besitzen die unerhörte Gabe, keinen Millimeter von ihrem persönlichen Ziel abzuweichen, nichts kann sie aufhalten, sie lassen sich von den Menschen und Dingen um sich herum einfach nicht beeinflussen. Sie tun nur, was getan werden muss, um das zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben. Ich schätze, so ist es mit den meisten erfolgreichen Menschen. Leider macht sie das bisweilen zu ziemlich absonderlichen Zeitgenossen, die in einem selbstgebauten Tunnel hausen.
Ich habe keinen Zweifel, dass auch ich in meinem Leben ein solcher Mensch gewesen bin. Einen Großteil meines Erfolgs verdanke ich einem solchen Verhalten. Mein Problem ist mittlerweile, dass es mir als Vater schwerfällt, eine so egoistische und kranke Person zu sein, um als Profi auf höchstem Niveau mithalten zu können. Im letzten Winter habe ich mich dafür gegeißelt, nicht mehr mit dem gewohnten Eifer bei der Sache zu sein. Ich brachte nicht die Motivation auf, der selbstbezogene Profi zu sein, der ich sein musste. Ich glaubte, dass ich mich gehen gelassen hatte, aber das ergab keinen Sinn, da ich mehr denn je in meinem Leben das Gefühl hatte, alles im Griff zu haben. Also musste ich doch irgendwas richtig gemacht haben? Ich geriet so durcheinander, dass ich beschloss, mit dem Mann zu sprechen, der immer die passenden Antworten für mich hatte: Dr. Steve Peters.
Dave Brailsford war der Erste, mit dem ich 2004 in Biarritz nach meiner Entlassung aus dem Polizeigewahrsam sprach. Er wartete auf mich, als ich die Wache verließ, nachdem ich nach 48-stündiger Haft gestanden hatte, gedopt zu haben. Dave sah ein, dass er mir nicht würde helfen können, also ließ er Steve Peters aus Großbritannien einfliegen, da er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Nach den Polizeibeamten und Dave war Steve der erste Mensch, mit dem ich ausführlich über alles sprach, was ich getan hatte. Wir verbrachten den ganzen Tag miteinander. Am Morgen beantwortete ich seine Fragen, am Nachmittag hörte ich ihm zu. Er führte mir vor Augen, dass der Mensch, der ich war, und das Leben, das ich lebte – die Umstände, in denen ich mich befand –, aus der Summe meiner Entscheidungen resultierten, der guten wie der schlechten. Das alles rechtfertigte nichts, aber es war eine große Hilfe, in rationaler Weise zu reflektieren und zum ersten Mal das Wie und Warum meines bisherigen Lebens zu verstehen.
Das ist etwas, was mich seitdem nicht mehr losgelassen hat. Ich habe seither nur zwei Mal mit Steve gesprochen, aber beide Male habe ich etwas gelernt. Er lehrte mich, zwischen meinen emotionalen Empfindungen und meinen rationalen Gedanken zu unterscheiden – etwas, wovon ich früher keine Ahnung hatte –, und ich erkannte plötzlich, dass ich viele meiner Entscheidungen auf einer rein emotionalen Basis getroffen hatte. Unsere Beziehung begann damit, dass er mir meine Vergangenheit zu verstehen half; seitdem geht es darum, mit der Gegenwart umzugehen und mich auf die Zukunft einzustellen.
Ich vertraute ihm also, und was er sagte, war stets plausibel. Dieses Mal, 2013, erläuterte ich ihm meine Misere und wollte wissen, warum es mir so schwerfiel zu tun, was mir früher leichtgefallen war. Seine Antwort war überraschend, weil sie so simpel war: »David, du bist nicht mehr der gleiche Mensch, der du einmal warst. Also hat es keinen Zweck, dich mit ihm zu vergleichen. Deine Gehirnströme und deine Chemie haben sich zweifellos verändert. So etwas geschieht erwiesenermaßen mit dem Alter, und vor allem durch eine Vaterschaft.«
Damit wäre das also geklärt. Ich bin alt.
Postkarten / Sanfter Tod
Mittlerweile ist es eine meiner Hauptbeschäftigungen, wenn ich unterwegs bin, Postkarten aufzutreiben, die ich an meine Söhne schicken kann. Das ist nicht so einfach, wie es klingt, denn Postkarten sind nicht mehr so leicht zu finden wie früher. Das ist zu einer richtigen Marotte geworden, und inzwischen halten sämtliche Mitarbeiter des Teams die Augen offen, wenn sie an den Start- oder Zielort einer Etappe kommen und ein bisschen freie Zeit haben. Unser Busfahrer ist längst gewohnt, zwischendurch anhalten zu müssen, wenn ich einen Laden entdecke, der vielleicht welche verkauft. Oft sieht man mich abends nach einem Rennen auf der Suche nach Postkarten im Trainingsanzug durch irgendein Dorf oder eine Kleinstadt laufen. Es grenzt schon fast an eine Obsession. Wahrscheinlich ist es die letzte Bastion der Besessenheit, die mir in meiner Profikarriere erhalten geblieben ist. Ich mache es, weil ich mir der Tatsache bewusst bin, dass meine Söhne sich nie an mich als Rennfahrer erinnern werden, und doch ist das ein Teil meines Lebens, der unsere Zukunft in erheblichem Maße mitgestalten wird. Ihnen von den Orten, an denen ich Rennen bestreite, Postkarten zu schicken, ist eine Möglichkeit, habe ich mir überlegt, sie in gewisser Weise daran teilhaben zu lassen. Inzwischen ist es zu einem Ritual geworden, ich schicke ihnen Karten, wann immer ich von zu Hause fort bin. Es hat sich aber noch zu etwas anderem entwickelt, womit ich vorher nicht gerechnet hätte: zu einer Art Tagebuch meiner letzten Jahre als Profi. Ihnen zu schreiben, gibt mir die Möglichkeit, Abstand zu nehmen und mich zu besinnen, wo ich mich im Hier und Jetzt befinde, aber auch, wo ich im Laufe der Jahre überall war, denn bei allen Rennen und an allen Orten, von denen aus ich sie verschicke, bin ich bereits früher einmal gewesen.
Archibald hat fast hundert Postkarten bekommen, und nur wenige erzählen davon, wie ich ein Rennen dominiert habe. Es gibt eine Handvoll, bei denen ich Gelegenheit hatte, ihm von Heldentaten zu berichten, aber die sind rar gesät. In den letzten zwei Jahren habe ich selbst mehr gelitten, als dass ich andere habe leiden lassen. Ich sterbe einen langsamen, sanften Tod. Das ist nicht zu übersehen, wenn ich all die Postkarten durchlese. Der Verfall ist offensichtlich.
Film (1)
Wenn ich nicht gerade Postkarten suche oder Postkarten schreibe, denke ich über Filme nach. Es gibt ein Projekt, an dem ich mit dem schottischen Regisseur Finlay Pretsell schon eine ganze Weile arbeite: einen Film über den Profiradsport. Wir möchten zeigen, wie es im modernen Peloton wirklich zugeht. Darüber hinaus war ich im Winter als Berater für den Film The Program über Lance Armstrong tätig. Auf der etwas melancholischen Fahrt hinauf nach L’Alpe d’Huez mit Regisseur Stephen Frears und im Laufe der anschließenden zweiwöchigen Dreharbeiten begann ich zu verstehen, wie die Welt, in der ich lebte und aufgewachsen war, in den Augen eines Außenstehenden erscheint. Ich begann zu erkennen, wie sehr sich alles verändert hatte. Es war eine überaus merkwürdige Erfahrung, dabei zuzusehen, wie das, was meine Generation erlebt hatte, auf das Wesentliche verdichtet wurde, um die Geschichte auf eine möglichst einfache Weise erzählen zu können. In mancherlei Hinsicht war die Zeit, die ich mit der Arbeit an dem Film verbrachte, läuternder als alles, was ich sonst unternommen hatte – gleichzeitig war es so, als würde man der Abholzung eines Waldes beiwohnen. Anders als bei Büchern geschieht genau das beim Film: Alles wird zurechtgestutzt. Es dauert Wochen, Monate, manchmal Jahre, einen Film vorzubereiten, zu planen, zu schreiben und zu drehen, mit anderen Worten: den Wald großzuziehen. Dann, sobald der letzte Baum gepflanzt ist, fängt der Kahlschlag an. Die ganze Zeit und der ganze Aufwand unterliegen der Brutalität der Reduktion. Was bleibt, ist das bloße Minimum: Man kann einen Film ansehen und überzeugt sein, die ganze Geschichte verstanden zu haben, aber dann liest man das Buch und stellt fest, dass es noch tausend andere Aspekte gibt.
Das Rennen zur Sonne oder das Rennen zwischen den Meeren?
Im März, für viele der letzte Monat der Vorbereitung, finden zwei wichtige Rennen statt, die für den letzten Feinschliff genutzt werden. In Frankreich die Fernfahrt Paris–Nizza, das »Rennen zur Sonne«, in Italien die Fernfahrt Tirreno–Adriatico, auch bekannt als »Rennen zwischen den Meeren«. Die meisten Fahrer gehen lieber bei Tirreno an den Start, das als angenehmere Erfahrung gilt, was vor allem am Wetter liegt, das bei Paris–Nizza meist richtiggehend grässlich ist: kalt, nass und windig. Zu allem Überfluss sind die Hotels und Restaurants gelinde gesagt mittelmäßig; der finale Schlag ins Gesicht ist die Fahrweise, die so brutal ist, dass man das Rennen kaum noch als Vorbereitung bezeichnen kann – bisweilen geht es so intensiv zur Sache, als gäbe es kein Morgen. Die nachträglichen Rennauswertungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass Paris–Nizza gelegentlich für einige der besten Leistungsdaten der gesamten Saison sorgt.
Tirreno hingegen hat sich einen gewissen Anstand bewahrt. Das Feld besteht hauptsächlich aus Eintages-Spezialisten, die sich den letzten Schliff holen wollen. Das Wetter ist meist gut und die Hotels besser als mittelmäßig; verglichen mit Frankreich essen wir wie die Könige.
Das heißt nicht, dass ich in jedem März automatisch bei Tirreno an den Start gegangen wäre; im Laufe meiner Karriere war ich bei diesen beiden Rennen in etwa gleich oft dabei. Obwohl Tirreno für jeden vernünftigen Menschen die naheliegende Wahl wäre, war mir Paris–Nizza immer ein bisschen lieber. Aus irgendeinem Grund löst Tirreno eine allergische Reaktion bei mir aus. Vier Mal bin ich schon am zweiten Tag ausgestiegen – ein Mal bin ich gar nicht erst an den Start gegangen –, und Auslöser war jeweils, dass ich eine rätselhafte Atemwegsreaktion entwickelte, die mir sämtliche Symptome einer Bronchitis bescherte. Das passiert mir nur in Italien. Im Laufe meiner Karriere habe ich mir angewöhnt, Antihistaminika und Ventolin einzuwerfen, bevor ich dorthin fahre, aber selbst das hat nicht immer geholfen. Die Schrecken von Paris–Nizza haben für mich daher einen größeren Reiz als das Risiko, mich bei Tirreno–Adriatico in ein hustendes und röchelndes Häufchen Elend zu verwandeln.
Warum um alles in der Welt entschied ich mich in meiner letzten Saison also für Tirreno–Adriatico? Nun, das hatte vor allem mit dem Film zu tun. Im Winter hatten Finlay und ich bei der UCI wegen der Nutzung von Onboard-Kameras angefragt – im Wesentlichen ging es darum, bei den Rennen eine eigene Motorradkamera dabeizuhaben, die mir folgte und Bilder einfing, wie sie noch nie zu sehen waren. Onboard-Kameras waren bis dahin noch nie offiziell bei einem UCI-Rennen auf höchstem Niveau verwendet worden, wir waren die Ersten, die grünes Licht erhielten, und ebneten den Weg für den flächendeckenden Einsatz dieser Technik. Wir waren also so etwas wie das Testprojekt der UCI, und Tirreno–Adriatico war die geplante Bühne. Zwei Hürden waren noch zu nehmen, bevor die Dreharbeiten beginnen konnten: Zum einen brauchten wir die Genehmigung der Veranstalter, in ihren Rennen filmen zu dürfen; zum anderen, überraschenderweise, die Erlaubnis meiner Mannschaft.