Читать книгу Auf der Straße: Eine Saison im Profipeloton - David Millar - Страница 9

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Der Rennfahrer

Es ist etwas sehr Seltsames daran, ein letztes Rennen mit seinen Freunden zu fahren. Keine Ahnung, ob es dafür so etwas wie ein ideales Szenario gibt. Sich vollzukotzen und abgehängt zu werden, klingt gewiss nicht danach, aber andererseits: vielleicht ja doch. Auf jeden Fall passt es gut dazu, wie der ganze Rest verlaufen ist.

Christan Vande Velde, Dave Zabriskie und ich waren 14 Jahre lang zusammen Rennen gefahren, was alles in allem gar nicht so viel ist, für uns aber ein ganzes Leben bedeutete. An diesem 22. September 2013 war es das letzte Mal. Uns wurde ganz schön der Arsch versohlt, aber irgendwie hatten wir trotzdem unseren Spaß, denn ich glaube, unausgesprochen wussten wir, dass wir uns gegenseitig vermissen würden und dass es goldene Zeiten waren, die erlebt zu haben wir uns glücklich schätzen durften.

Wir kamen alle drei zu einem ungünstigen Zeitpunkt in diesen Sport, als Doping weit verbreitet und Ethik etwas war, das wir zwar vom Hörensagen kannten, das aber auf den schattenhaften Straßen des Profiradsports nur selten praktiziert wurde. Wir kamen, sahen und siegten nicht ganz, also dopten wir, siegten etwas mehr, kamen schmerzhaft zu Fall, manche standen wieder auf und versuchten, das ganze Schlamassel, das wir angerichtet hatten, wieder in Ordnung zu bringen. Ein typischer Werdegang, auch wenn die Taten und Konsequenzen für jeden von uns andere waren und es traurigerweise genug Kollateralschäden gab, die unseren Sport noch auf Jahre hinaus verfolgen werden.

Heute wissen wir eine Menge über diese Zeit. Ich habe darüber geschrieben und viele andere auch. Diesmal möchte ich etwas anderes schreiben, ein Buch, das meine Kinder später lesen können und das ihnen zeigt, wie es damals war, was ihr Vater vor all den Jahren eigentlich getrieben hat und welche Art Rennfahrer er war. Darüber hinaus möchte ich meinen Freunden aus dieser Generation etwas geben, das sie daran erinnert, wer wir waren. Es gab mehr als nur das Doping. Wir lebten auf der Straße, weil wir es liebten, Rennen zu fahren.

Willkommen im Loch

Ich hasse den verfluchten Januar. Der Januar ist grundsätzlich ein richtiger Drecksmonat, weil es kein lockeres Einrollen gibt, sondern gleich alle Systeme hochgefahren werden müssen. Im November und Dezember geht es noch recht gemächlich zu, aber letztlich dient das ganze Herumdümpeln eben nur dazu, jetzt wieder auf Hochtouren zu kommen. Und jetzt gerade, Anfang 2014, fühle ich mich beschissen.

Das Triple aus Weihnachten, Neujahr und meinem Geburtstag am 4. Januar ist eine denkbar schlechte Voraussetzung dafür, in Form zu bleiben. Wie oft es mir gelungen ist, diese zehn Tage zu überstehen, ohne einen erheblichen Teil meiner Fitness einzubüßen, kann ich an einer Hand abzählen. Und die paar Male schaffte ich es auch nur, weil ich mich wie ein Einsiedler zurückgezogen und vollkommen von der Welt abgeschottet hatte.

Ich hatte insgeheim gehofft, dass es in diesem Jahr anders liefe; immerhin wäre es das letzte Mal, dass ich mir das antun müsste. Aber von wegen: Letztendlich hatten wir Weihnachten die ganze Familie zu Besuch und an Neujahr dann Freunde. Im Hinblick auf mein Befinden als normales menschliches Wesen war das wunderbar, für den geschwächten Radprofi in mir aber war es Gift. Es gelang mir, mich in dieser Phase immer mal wieder aufs Rad zu setzen, womit ich mich selbst ziemlich beeindruckte. Leider kam mir dabei jeglicher Sinn für feste Abläufe abhanden. Es kostete so viel Willenskraft, mich am Riemen zu reißen, dass ich im Januar, als ich sie wirklich brauchte, keine mehr aufbringen konnte. Das war nicht gut.

Ich glaube, so ergeht es jedem, egal ob Profisportler oder bedauernswertes Opfer der eigenen guten Vorsätze: Sobald die Routine erst mal durchbrochen ist, ist es ein Kampf, wieder hineinzufinden. In mancherlei Hinsicht bin ich genau wie die Leute, die sich vornehmen, mit ihren schlechten Gewohnheiten zu brechen und euphorisch ein Fitnessprogramm aufnehmen, bevor sie nach einem Monat anfangen, die Zügel schleifen zu lassen. Eines Tages wachen sie auf und stellen fest, dass die Euphorie verflogen ist. Der Unterschied ist, dass ich weitermachen muss.

Der Gipfel der Ironie ist, dass die Teamleitung diesmal getan hat, worum ich seit Jahren gebettelt hatte, nämlich das obligatorische Trainingslager vom Januar auf den Februar zu verschieben. Während ich sonst also mit Freuden die Chance wahrgenommen hätte, mein Training daheim zu gestalten, dachte ich jetzt: »NEIN, NEIN, NEIN. Warum JETZT? Alleine kriege ich das nicht mehr hin.«

Der Rennkalender

Wir setzen uns immer irgendwelche Ziele. Nach all den Jahren kommt uns das ganz normal vor – es wird zur Routine bzw. genauer gesagt zu einem Schema.

Das erste und wichtigste Datum ist der Beginn des Wintertrainings. Früher, das heißt vor 1990, war das irgendwann im Januar, dann nach und nach der 1. Januar, in den frühen Neunzigern irgendwann im Dezember, bald darauf der 1. Dezember. Gegen Ende der Neunziger war es irgendwann im November, zur Jahrtausendwende dann der 1. November. Heutzutage machen manche Fahrer überhaupt keine Pause mehr.

Wann wir in den Prozess einsteigen, hängt davon ab, welche Rennen wir bestreiten. Dies wiederum wird entweder vorgegeben oder, sofern wir gewisse Vorrechte genießen, es ergibt sich aus einer Besprechung mit der Teamleitung. Ich genoss viele Jahre dieses Privileg, aber weil ich nun mal so bin, wie ich bin – pflichtschuldig und beflissen –, habe ich mich des Öfteren zu Dingen überreden lassen, die ich vor der »Besprechung« gar nicht in Betracht gezogen hätte.

Weil es mein letztes Jahr ist, bin ich hinsichtlich meiner Wünsche für die neue Saison diesmal standhaft geblieben. Ich habe fünf wesentliche Ziele: Paris–Roubaix, Tour de France, Commonwealth Games, Vuelta a España und die Weltmeisterschaften. Das bedeutet Höchstform in den Monaten April, Juli, August und September. In der Vergangenheit habe ich die Vorbereitung in verschiedene Phasen eingeteilt:

1. November, Phase 1 – ich höre auf, mich gehen zu lassen, Freunde zu treffen und zu reisen, und setze mich wieder aufs Rad, fange mit ein bisschen Krafttraining an, gewöhne mich wieder an die Routine – die Basics also.

Phase 2 beginnt am 1. Dezember: Ab dann folge ich einem klar umrissenen Trainingsplan. Bis dahin bin ich hoffentlich fit genug, um vernünftig trainieren zu können, statt mich auf katalanischen Straßen von Café zu Café zu schleppen und zu jammern, wie sehr mir die Beine wehtun vom Krafttraining, das ich, wie grundsätzlich immer, viel zu ambitioniert angegangen bin.

Der Januar ist Phase 3: keine Patzer mehr, Ausreden sind tabu, nur noch Action. Trainieren. Essen. Schlafen. Essen, trainieren, schlafen. Schlafen trainieren essen, trainieren essen schlafen. So jedenfalls stelle ich mir Phase 3 vor; zu wissen, dass es Phase 3 gibt, ist in Phase 1 und 2 sehr tröstlich.

Sobald wir nach der Wettkampfpause wieder auf dem Rad sitzen, beginnt für uns das neue Jahr; als Radprofis haben wir einen eigenen Kalender. Unsere Sommerferien sind im Oktober. Das neujährliche Frisch-ans-Werk-Gefühl stellt sich im November und Dezember ein. Die einzige Zeit, in der wir mit der normalen Bevölkerung in Einklang sind, ist Weihnachten, dann aber zerbrechen wir uns neurotisch den Kopf darüber, was wir essen und trinken dürfen und was nicht – oder aber wir schlagen ins andere Extrem um und hauen wegen fehlender Selbstkontrolle oder dem Wunsch nach Anpassung über die Stränge, was schreckliche Schuldgefühle und Selbsthass nach sich zieht. Eine normale Neurose ist dagegen ein Kindergeburtstag. Wir sind völlig durch den Wind.

Das Einzige, was unserem Leben so etwas wie Ordnung verleiht, ist der Rennkalender; er ist die Konstante, an der wir uns orientieren. Mit dem Rennkalender ist es ein bisschen wie mit einer Weltkarte: Wenn man in London auf eine Weltkarte schaut, bildet Großbritannien den Mittelpunkt, schaut man hingegen in New York darauf, sind es die USA. Die Karte ist stets die gleiche, verändert sich aber je nach Blickwinkel des Betrachters. Genauso ergeht es einem Radprofi mit dem Kalender. Wir wissen, dass es der gleiche Kalender ist, den jeder sieht, aber für uns ist er leicht nach links verschoben. Den Mittelpunkt unseres Universums bildet der 1. November, dort stellen wir alles auf null und fangen von vorne an. Falls ein gutes Jahr hinter uns liegt, nehmen wir uns vor, unsere Leistungen zu bestätigen oder zu verbessern; war es ein schlechtes Jahr, bekommen wir die Chance, uns zu rehabilitieren. Am 1. November erscheint noch alles möglich.

Das Phänomen wirkt sich auf mein gesamtes Leben aus. Wenn Familie oder Freunde sich in einem Gespräch auf ein vergangenes Jahr beziehen, muss ich erst einmal darüber nachdenken, wie meine damalige Saison gelaufen ist. Anfangs habe ich eine vage, rein emotional bedingte Reaktion dahingehend, ob es eine gute oder schlechte Saison war, dann versuche ich mich der Umstände zu entsinnen, der Rennen und Resultate in jenem Jahr, der einhergehenden Ursachen und Empfindungen. Dann versuche ich dahinterzukommen, was ich mit meiner Familie und meinen Freunden erlebt habe – das ist immer das Schwierigste.

1999 – Ein wechselhaftes Jahr.

Erste Reaktion – Gut, dann schlecht.

Rennen – Étoile de Bessèges 4., Vuelta Valenciana 4., Chiasso 3. im Schnee, mieses Tirreno–Adriatico (wie immer), 2. beim Critérium International, zwei Hundertstel hinter Jens Voigt … sonst keine klaren Erinnerungen an Rennen.

Ursachen – Tolles Wintertraining, leider einen Ziegenbart stehen lassen, Vorfreude auf die neue Saison. Geglaubt, das Dopen habe nach der Festina-Affäre im Vorjahr vielleicht nachgelassen, dann gemerkt, dass die Kollegen weiter dopen und es niemanden juckt; schlecht draufgekommen. Während der Tour de France Trainingslager im Gebirge, wo ich mich volllaufen lasse, vom Dach springe und mir den Knöchel breche. Rest der Saison: keine Rennen.

Familie und Freunde – Im August abhängen in Biarritz mit Stuart O’Grady. Weiter volllaufen lassen.

Januar

Meine ganze Karriere lang bedeutete der Beginn eines neuen Jahres nur eins: Trainingslager. Mein erstes absolvierte ich in Amélie-les-Bains in den Pyrenäen mit Cofidis. Das war 1997, in einem anderen Jahrhundert, einem anderen Jahrtausend sogar, gefühlt jedenfalls vor einer Ewigkeit. Ich kam schlecht vorbereitet dort an, nachdem ich im Dezember zum ersten Mal, seitdem ich 18 Monate vorher von der Schule abgegangen war, wieder in Hongkong gewesen war. Meiner bevorstehenden Feuertaufe im Profizirkus war das natürlich nicht gerade förderlich und die Hauptursache dafür, dass ich in der ersten Jahreshälfte reichlich Lehrgeld zahlte.

In diesen ersten Profijahren verbrachte ich meinen Geburtstag am 4. Januar grundsätzlich damit, nach Nordfrankreich zu reisen. In Sachen Spaßbremse ist das kaum zu toppen, abgesehen vielleicht von dem einen Jahr, als ich mir am Flughafen Charles de Gaulle das Autogramm der französischen Schauspielerin Laetitia Casta holte; definitiv eins der uncoolsten Dinge, die ich je getan habe. Ich rechtfertigte die Aktion als Geburtstagsgeschenk an mich selbst. Das war in den Zeiten der vorgeschriebenen Fitnesstests, die vor der Saison in Laboratorien von Männern in weißen Kitteln vorgenommen wurden. Bei Cofidis wurden diese Tests immer in der Uniklinik von Amiens durchgeführt. Mich schüttelt es heute noch, wenn ich nur daran denke.

Als ich jünger war, fing die Saison erst im März mit Paris–Nizza und Tirreno–Adriatico richtig an, den beiden wichtigsten Etappenrennen des Frühjahrs; es war also halb so wild, wenn man im Januar nicht in Form war. Es blieb reichlich Zeit, um auf Touren zu kommen, und da ich jung war, war das mehr als genug. Zudem war es sicherlich nicht von Nachteil, dass ich damals vor Selbstvertrauen strotzte und es für sinnlos hielt, etwas zu überstürzen. Anders als viele meiner Kollegen, die sich miteinander messen wollten, hatte ich auch wenig Lust darauf, im Trainingslager die Muskeln spielen zu lassen. Ich hatte für solche Dinge kein Verständnis. Es war ja kein richtiges Rennen, was sollte das also?

Die Zeiten haben sich geändert. Der erste wichtige Termin ist inzwischen die Tour Down Under in Australien, die im Januar ausgetragen wird. Es ist ein Rennen der UCI WorldTour, es sind also wertvolle Ranglistenpunkte zu holen. Das Rennen wird seit 1999 veranstaltet, hat aber erst seit kurzem größere Bedeutung erlangt. Anfangs genoss die Tour Down Under den Ruf, eine vergnügliche Woche mit Rennsport und Partys zu sein. Heute ist nur der Rennsport geblieben, aber besonders vergnüglich scheint der auch nicht mehr zu sein. Temperaturen von mehr als 40 Grad und ein hochmotiviertes, ohne Rücksicht auf Verluste fahrendes Peloton sorgen für einen Haufen Stürze und keine Atempausen. Damals, als man dort nur so aus Lust und Laune gefahren ist, erschien es mir abwegig, mitzumachen. Heute, da es zu einer bierernsten Veranstaltung geworden ist, finde ich den Gedanken geradezu grotesk. Soweit es mich betrifft, ist der Januar einfach nicht gemacht für solchen ausgemachten Schwachsinn.

Meine Einstellung zum Januar zeigt mehr denn je, wie alt ich bin. Mit meiner Abneigung gehöre ich indes einer Minderheit an. Mein Teamkollege Dan Martin ist ebenfalls Mitglied in diesem exklusiven Club, was vor allem an der Gehirnwäsche liegt, der ich ihn unterzogen habe. Dan fährt ganz gut damit – niemand käme auf die Idee zu behaupten, er habe eine miese Karriere, weil er so spät mit dem Formaufbau beginnt –, aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Dan und mir: Er ist in der Blüte seiner Jahre. Ich dagegen bin es nicht.

Früher konnte ich mich darauf verlassen, schnell in Form zu kommen. Ich vertraute auf die Fähigkeit meines Körpers, sich rasch an fast jedes Pensum, das ich ihm auferlegte, anpassen zu können. Freilich habe ich das ebenso häufig in den Sand gesetzt, wie ich es hinbekommen habe, aber selbst in extremis brauchte ich nicht lange, um die Suppe, die ich mir eingebrockt hatte, wieder auszulöffeln. Heute dauert alles ein bisschen länger.

Da das Trainingslager dieses Jahr im Februar stattfindet, verbringe ich den Januar in Girona, der Stadt nördlich von Barcelona, in der ich seit ein paar Jahren lebe. Meistens bin ich auf dem Rad unterwegs mit Dan und Tao Geoghegan Hart, einem jungen Kerl aus London. Tao erging es so, wie es mir 19 Jahre vorher ergangen war. Ein 18-jähriger Bursche in seiner ersten Profisaison, direkt aus dem Jugendbereich kommend, mit Träumen, die noch mit dem entsprechenden Ehrgeiz einhergehen. Für Tao ist noch alles möglich: Es ist die herrliche Zeit in der Karriere, in der noch alles vor einem liegt und nichts dagegen spricht, den Gipfel zu erreichen, mag der Berg auch noch so gewaltig erscheinen. Es war erfrischend, mit ihm unterwegs zu sein. Sein Enthusiasmus war das perfekte Gegenstück zu meinem Überdruss: Er erinnerte mich daran, wie es früher einmal war, und das war etwas, was ich zu diesem Zeitpunkt meiner Karriere dringend nötig hatte. Denn man vergisst, dass man einmal jung und voller Träume war.

Tao gehört der neuen Generation an. Er stammt aus Hackney im Londoner Osten, einer Gegend, die nicht gerade dafür bekannt ist, gute Radsportler hervorzubringen. Doch das Radfahren liegt ihm im Blut. Er ist in einer Zeit groß geworden, in der der britische Radsport eine einzige Erfolgsgeschichte war. Er musste nicht gegen das System rebellieren, wie ich es in seinem Alter getan hatte; das System hat ihn gefördert und ihm Chancen eröffnet. Für ihn ist es ganz normal, dass Großbritannien eine der mächtigsten Radsportnationen der Welt ist. Noch vor fünfzehn Jahren wäre das ein absurder Gedanke gewesen.

Taos Kenntnisse des Sports sind geradezu enzyklopädisch. Er hatte in der Schule englische Literatur als Wahlfach (und hat es gemocht!) und ist ein unersättlicher Bücherwurm, der sich am wachsenden Oeuvre an Radsportliteratur gütlich tut. Als wir trainiert haben, hat er alle paar Tage ein neues Radsportbuch angefangen. Ich hatte den Eindruck, dass er es nicht nur aus Neugier oder zum Vergnügen tat, sondern auch, weil er so viel wie möglich über den Sport lernen möchte. Denn obwohl das britische Nationalteam heute eine Macht ist, hat es keine eigentliche Kulturgeschichte, wenn es um den Straßenradsport geht. Ich war der erste Profi, mit dem Tao jenseits seiner Bücher Zeit verbracht hat. Ich war ein Teil der Kultur auf dem Festland, ich konnte ihm die Geschichte aus erster Hand erzählen und von meinen Erfahrungen berichten. Das hat uns beiden gut getan.

Gegen Ende des Monats waren Dan und ich mit den Nerven am Ende: Die beiden Typen, die immer über Trainingslager im Winter gejammert hatten, wünschten sich, bloß die Klappe gehalten zu haben. Wir verloren allmählich den Verstand, es war ein schrecklicher Irrtum gewesen, zu glauben, wir könnten den Januar alleine bewältigen. Wir zählten die Tage, bis wir zu den ersten Rennen auf Mallorca aufbrechen würden, anschließend ginge es ins Trainingslager. Es war erbärmlich.

Glücklicherweise fühlten wir uns beide allmählich ganz gut auf dem Rad. Es ist schon komisch, wenn es passiert, und meistens kommt es aus heiterem Himmel. Mir passierte es am 20. Januar, und es war herrlich. Plötzlich schien alles wieder in Ordnung zu sein. Unsere Form bestimmt unsere Stimmung. Sind wir körperlich fit, schweben wir wie auf einer Wolke, wenn wir nicht auf dem Rad sitzen – zugegebenermaßen einer ziemlich lahmarschigen Wolke, denn je schneller wir auf dem Rad sind, desto langsamer bewegen wir uns abseits davon. Das ist alles Teil des Energiesparprogramms, das sich bei uns mit der Zeit einspielt, gemäß der alten Weisheit: »Stehe nicht, wenn du sitzen kannst, sitze nicht, wenn du liegen kannst.«

Dan erging es genauso. Urplötzlich waren wir beide im Geschäft. Unterdessen hatte Taos welpenhafter Eifer nicht einen Moment nachgelassen: Er lief nun schon im dritten Monat auf vollen Touren. Drecksack.

Die Erleichterung darüber, dass sich das Training auszahlt, macht vieles sehr viel einfacher. Ich höre zum Beispiel auf damit, mir ständig den Kopf über das Wetter zu zerbrechen. Wenn man sich im Training schwertut, ist das nicht zu vermeiden. Das Wetter wird zum Thema Nummer eins.

Als ich vor ein paar Jahren mal einen kleinen Durchhänger hatte, kaufte meine Frau mir etwas, das wie eine Wetterstation von der Sorte aussah, wie man sie eher in der Arktis vermutet. Ich musste das Teil mit Seilen und Haken im Boden verankern, es war größer als ich und hatte eine kleine Windmühle – eine echte Schönheit. Weil ich mit dem Aufbau beschäftigt war, brach ich zwei Stunden später als gewohnt zur Trainingsfahrt auf. Prokrastination in Perfektion. Aber von da an hatte ich das Gefühl, das Wetter zu kontrollieren. Ich fühlte mich wie ein Gott. Zumindest für kurze Zeit; dann wurde mir klar, dass meine Frau mich ausgetrickst hatte: Ich konnte nicht mehr wie früher am Küchenfenster stehen und mir darüber in die Tasche lügen, was draußen vor sich ging.

Ende Januar kehren allmählich alle von ihren Besuchen in der Heimat zurück. Bald darauf geht es wieder mit den Gruppenausfahrten los. Wenn es so weit ist, sind diejenigen, die gerade eine schwierige Phase durchmachen, anhand ihrer Abwesenheit leicht zu erkennen. Wir wohnen alle recht nah beieinander. Ich lebe noch am weitesten entfernt, 15 Kilometer außerhalb der Stadt, aber je nach Gemütslage nehmen wir die äußeren Bedingungen alle ganz unterschiedlich wahr. Wenn wir gut drauf sind, reicht ein kurzer Blick nach draußen, um zu wissen, welche Klamotten wir anziehen müssen. Man macht sich auch keinen Kopf darum, in welche Richtung man losfährt, denn das Training, das wir uns vorgenommen haben, lassen wir uns von keinem Wetter vermiesen. Wenn man hingegen nicht so gut beieinander ist, läuft der Morgen ungefähr so ab:

Du tust dich schwer damit, aus den Federn zu kommen. Irgendwann quälst du dich aus dem Bett. Du schlurfst zur Kaffeemaschine und machst einen Espresso, dann starrst du aus dem Fenster und siehst nur Wolken, nichts als Wolken. Wenn du nur lange und angestrengt genug aus dem Fenster guckst, gelingt es dir, mindestens eine Wolke zu entdecken, die eventuell nach Regen aussehen könnte. Du setzt dich an den Rechner und gibst »Wetter Girona« in die Suchmaschine ein, dann verbringst du zehn Minuten damit, die Vorhersagen verschiedener Wetterdienste zu sichten, bis du eine findest, die ungünstig genug ist, um die anstehende Trainingseinheit guten Gewissens in Frage zu stellen. Nicht ein einziges Mal kommt dir in den Sinn, dein Telefon zu nehmen und den anderen die Nachricht »Rad fahren?« zu schicken, denn das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass einer deiner potenziellen Trainingspartner bester Laune ist und es kaum erwarten kann, rauszukommen. Das kannst du gerade überhaupt nicht gebrauchen.

Zeit, ans Frühstück zu denken, aber du bist noch unentschlossen, willst also kein richtiges Frühstück zu dir nehmen, denn dann müsstest du ja trainieren. Also wird das erst mal aufgeschoben. Noch ein Kaffee und ein noch prüfenderer Blick aus dem Fenster. Diesmal sind in einem fernen Baum Anzeichen von Wind zu erkennen. Wird ja immer schlimmer da draußen.

Als Nächstes überlegst du, bei welchem deiner potenziellen Trainingspartner du darauf zählen kannst, dass er deine Einschätzung teilen wird. Früher war Christian Vande Velde ein erstklassiger Kandidat dafür, auf gar keinen Fall aber Michael Barry, der immer zu allem bereit war; selbst am Ruhetag brachte er es fertig, alles zusammenzutrommeln, wenn auch nur die geringste Aussicht auf eine schöne Ausfahrt bestand. Christian hingegen lassen sich solche Flausen leicht ausreden. Also schickst du ihm eine Nachricht mit der Frage: »Hast du das Wetter gesehen? Sieht nicht gut aus.«

Ein paar Minuten später summt dein Handy, und du erhältst die Antwort: »Hm, ja, schätze, es könnte regnen und Wind aufkommen. Lass mal abwarten.«

Also warten wir. Sobald zehn Uhr vorbei ist, wissen wir, dass wir sämtliche Gruppen aus Girona heraus verpasst haben, zumindest also bleibt uns eine große Ausfahrt erspart, auf die wir nicht scharf sind. Jetzt sind wir die Herren unseres Schicksals. »Herren« ist ein großes Wort; »unbeteiligte Beobachter« wäre wohl passender.

Nachdem die magische Marke von zehn Uhr passiert ist, bleiben uns nur noch zwei Stunden, uns am Riemen zu reißen, denn nach Mittag wird es zunehmend schwieriger, in die Pötte zu kommen. Ja, wenn wir bis Mittag nicht draußen sind, werden die Karten völlig neu gemischt. Schon die Klamotten anzuziehen, ist eine Leistung; rauszukommen, sich tatsächlich aufs Rad zu setzen und in die Pedale zu treten, kommt einem Triumph gleich. Eine zweistündige Ausfahrt nach Mittag ist so viel wert wie vier oder fünf Stunden normales Training, was die erzeugte Selbstzufriedenheit betrifft. Sie hat keinen echten Trainingseffekt, bringt uns aber wieder auf Vordermann, so dass es am nächsten Tag von vorne losgehen kann. Je älter wir werden, desto häufiger erleben wir solche Tage, und auch wenn Tao es im Moment nicht glauben mag, wird auch er irgendwann, in einer weit entfernten Zukunft, solche Tage erleben.

Ich hasse den verfluchten Januar.

Ich bin leicht, ich bin stark

In der Zwischenzeit habe ich natürlich Gewichte gestemmt, wenn auch nicht viele und nicht besonders schwere. Dass ich es locker angehen lassen muss – im Herbst stieß ich mir den Kopf an einem Holzbalken (lange Geschichte) –, hat mir das wahrscheinlich produktivste Krafttraining meiner Karriere beschert. Sonst habe ich es in der ersten Woche grundsätzlich übertrieben. Ich steige frisch ein, was ich mit stark verwechsle, und hebe zu viel und zu oft, was dazu führt, dass ich in den nächsten Tagen kaum laufen kann und jedes Mal, wenn ich mich erhebe, Dinge sage wie: »Aua, meine Beine«, sehr zur Erheiterung meiner Frau.

Ich bin wie eine dämliche Ratte, die nichts dazulernt, wenn man ihr Stromstöße versetzt. Jedes Jahr, wenn ich aus der Winterpause komme, mache ich den gleichen Fehler, wenn nicht in der ersten Einheit, dann in der zweiten oder dritten oder vierten. Stets kommt der Tag, an dem ich mich stärker fühle, als ich es eigentlich bin, und ich reiße mir die Muskeln kaputt. Es gibt ein paar Regeln, an die man sich beim Krafttraining halten muss. Die wichtigste dabei ist: Wenn es sich anfühlt, als würden wir Schaden anrichten, dann richten wir Schaden an. Hör sofort auf oder verringere die Last.

Die Leute fragen mich oft, ob ich Crosstraining mache. Die Antwort lautet nein. Für einen Radfahrer gibt es nichts Besseres, als einfach nur Rad zu fahren. Das Einzige, was wir manchmal nutzen, sind Gewichte. Viele Wiederholungen, spezifisch für die Beine: zum Beispiel dreißig Kniebeugen, eine Minute Pause, das ganze drei Mal. Dann zehn Minuten auf die Rolle, um die Beine zu lockern. Dann wieder ran ans Gerät und wieder 3 x 30 Kniebeugen mit je einer Minute Pause dazwischen. Dann erneut zehn Minuten auf der Rolle. Dann die letzten 3 x 30 Wiederholungen – insgesamt also 270 Kniebeugen. Wenn die Kraft wächst, kommen, mit ähnlicher Last, Beinpressen hinzu.

Der Gedanke dahinter ist, mehr Muskelkraft als Muskelmasse aufzubauen. Die Nervenbahnen werden gestärkt. Das ist entscheidend, denn Gewicht ist unser ärgster Feind: Wir vollführen einen ständigen Drahtseilakt zwischen dem Wunsch, an Kraft zulegen zu wollen, und der Pflicht, leichter werden zu müssen. Die Zauberformel lautet: Ich bin leicht, ich bin stark.

Ein weiterer Nutzen dieser Art Krafttraining ist, dass es – sofern es korrekt durchgeführt wird – eine Weile dauert, die notwendige Kraft und Technik zu entwickeln, so dass zusätzlich die Laktattoleranz trainiert wird. Aufgrund der vielen Wiederholungen greifen wir auf das einzige Energiesystem zurück, dass eine solche Leistung tragen kann: den anaeroben Stoffwechsel. Man kann sich das wie bei einem Sprint vorstellen: Der anaerobe Stoffwechsel ist sehr leistungsfähig, kann aber nur in extremis eingesetzt werden, denn er brennt hell und stirbt schnell; statt Rauch entsteht Laktat, und Laktat bedeutet Schmerzen. Große Schmerzen.

Der Sinn des ganzen Trainings ist, den Körper dazu zu bringen, sich anzupassen und größere Belastungen zu ertragen. Das erreichen wir, indem wir unseren Körper über das Maß dessen hinaus beanspruchen, was angenehm oder normal ist. Damit strapazieren wir den Körper, und zwar oftmals so, dass wir ihm Schaden zufügen. Wenn die Muskeln nach dem Training wehtun, werden diese Schmerzen durch mikroskopisch kleine Risse in den Fasern hervorgerufen, die daher rühren, dass sie nicht kräftig genug sind, die Kontraktionen auszuhalten.

Das ist einer der Gründe, warum unsere Muskeln zittern, wenn wir etwas halten, für das wir nicht kräftig genug sind; das Zittern resultiert daraus, dass die Muskelfasern sich voneinander lösen und manchmal tatsächlich reißen.

Durch angemessene Ruhe und Erholung regeneriert der Körper dann. Das Pfiffige daran ist, dass die Muskelfasern in einer Weise erneuert werden, die sie kräftigt, so dass sie beim nächsten Mal eher in der Lage sind, eine ähnliche Last zu bewältigen. Daher stammt auch der Begriff »Muskelgedächtnis«, wobei es nicht der eigentliche Muskel ist, der die Erinnerung vollbringt, sondern die Nervenbahn zwischen Gehirn und Muskel.

Wenn wir einen neuen Sport erlernen, sind wir anfangs ziemlich mies darin – unsere Technik ist erbärmlich, weil wir die richtigen Bewegungen noch nicht draufhaben und nicht wissen, wann wir welche Muskeln einsetzen müssen oder wie wir sie koordinieren. Je mehr wir üben, desto besser beherrschen wir die Technik, was wiederum zu einem effizienteren Gebrauch der Muskeln führt, weil wir nur diejenigen einsetzen, die nötig sind, und zwar in koordinierter Weise. Haben sich die Nervenbahnen die entsprechenden Muster eingeprägt, bleiben sie eine ganze Weile erhalten. Deswegen ist es uns möglich, in einen Sport, den wir einmal beherrscht haben, selbst nach einer langen Pause recht schnell wieder einzusteigen. Statt erst mal Nervenbahnen zu verdrahten und Zeit damit zu verschwenden, die falschen Muskeln zu reparieren, muss der Körper nur die erforderlichen Muskeln kräftigen.

Fast alle Radprofis haben einen flüssigen Tritt. Selbst der schlechteste von uns hat einen etwas anderen Bewegungsablauf als ein Amateur. Das ist ganz einfach das Ergebnis von Tausenden Kilometern und Stunden im Sattel. Wir haben uns antrainiert, effizient zu sein, was sich in einem flüssigen Tritt äußert. So ist es in allen Sportarten. Die besten Sportler zeichnen sich in der Regel durch eine gewisse Leichtigkeit der Bewegung aus, die ebenso sehr eine Sache der Gene ist wie des Trainings. Ich bin überzeugt davon, dass harte Arbeit einer der Schlüssel zum Erfolg ist, ich weiß aber auch aus eigener Anschauung, dass sämtliche Spitzensportler, die mir untergekommen sind, mit einem genetischen Vorteil zur Welt gekommen sind, den sie anschließend mit viel Fleiß maximiert haben. Ich glaube, dass die meisten erfolgreichen Sportler die Erfahrung gemacht haben, schon von klein auf stets besser gewesen zu sein als andere – das ist die natürliche Veranlagung, die dann geschult werden muss. Und ausgehend von diesem genetischen Vorteil gibt die Fähigkeit, sich quälen zu können, den Ausschlag, wer sich auf allerhöchstem Niveau, wo genetische Ausnahmeerscheinungen auf genetische Ausnahmeerscheinungen treffen, durchsetzt. In gewisser Weise sind an der Spitze jedes Sports alle mehr oder weniger gleichwertig. Es sind Winzigkeiten, die über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Das betrifft nicht nur die Muskeln, sondern auch die Energiebereitstellung. Je mehr wir jedes Energiesystem nutzen, desto effizienter arbeitet es – vom Fettstoffwechsel über den aeroben Stoffwechsel bis zum anaeroben Stoffwechsel, wo Laktatsäure erzeugt wird.

Der anaerobe Stoffwechsel ist derjenige, den wir beim Radfahren am wenigsten nutzen, trotzdem wird er von uns vermutlich im gleichen Maße oder sogar mehr beansprucht als in jedem anderen Sport. Radfahrer leisten bisweilen an einem einzigen Tag so viel, als hätten sie jeden einzelnen olympischen Laufwettbewerb absolviert, den die Stadionleichtathletik zu bieten hat, und dazu zwei Marathonläufe hintereinander. Manchmal machen wir das an 20 Tagen in Folge. Es ist ziemlich hart, dafür zu trainieren. Aber wir versuchen es, weswegen wir schon im November damit beginnen, Gewichte zu stemmen, um die Laktattoleranz zu fördern – oder wie es mein alter Kumpel Matt »Whitey« White ausdrückt: »Du musst den Körper auf Trab halten, Dave.« Ansonsten würden wir drei Monate herumeiern, ohne je in den roten Bereich zu kommen, wodurch der Körper länger bräuchte, sich anzupassen, sobald es wieder mit den Rennen losgeht.

Das Krafttraining beginnt im November. Das verschafft uns ganz nebenbei das schöne Gefühl, etwas Produktives zu tun, denn sich aufs Rad zu setzen, macht in dieser Zeit überhaupt keinen Spaß. In der Pause zwischen den letzten Rennen und dem Wiedereinstieg ins Training haben wir uns von Raketen zu Blindgängern zurückentwickelt. Bei Radsportlern geht das ganz schnell. Es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass wir immer topfit sind und es uns keine Mühe kostet, in den Sattel zu steigen. Stimmt nicht. Wir büßen schnell unsere Form ein. Binnen weniger Wochen werden aus Vollblutrennfahrern abgehalfterte Ackergäule (relativ gesehen, natürlich). Es ist zermürbend. Als ich Jungprofi war, nahm Tony Rominger mich eine Weile unter seine Fittiche. Tony war einer der besten Fahrer seiner Generation und mehrfacher Sieger bei großen Rundfahrten. Kurz nach dem Ende seiner Karriere besuchte ich ihn in Monaco. Er holte mich in Nizza am Flughafen ab, und auf der Fahrt nach Monaco erkundigte ich mich, wie es ihm im Ruhestand ergehe.

»Ach, David, weißt du, es ist okay. Ha! Ich kann essen, was ich will!« Darüber lachte er ausgiebig. Dann hielt er inne und geriet ins Grübeln. »Es gibt andere Dinge, die sind nicht so gut. Wenn ich meine Freunde hier in Monaco anschaue, das sind ehemalige Tennisprofis, Motorsportler, Golfer. Solche Sachen, weißt du, ganz normal hier, ist ja Monaco, nicht wahr?!« Wieder ausgiebiges Gelächter. »Ich sehe bei denen etwas, das ist anders als bei mir. Sie büßen nie ganz ein, was sie mal hatten. Sie bewahren sich etwas von der ›Magie‹, weißt du?! Für einen Schaukampf oder so was. Aber ich? Ich bin im Arsch! Ich werde nie wieder gut sein auf dem Rad.« Er lachte erneut und schloss: »So ist das Leben, David. Im Profiradsport gibt es nichts geschenkt.«

Diese Worte haben mich seitdem verfolgt, weil sie so wahr sind. Unsere Magie liegt einzig in unserer körperlichen Fitness begründet, in der Fähigkeit, extrem austrainiert zu sein. Sobald wir aufhören zu trainieren, ist es mit dem Zauber bald dahin; schon bald sind wir nicht mehr von jeder anderen x-beliebigen Person zu unterscheiden – wir tricksen nicht mit einem Fußball herum, der uns zufällig vor die Füße fällt. Wir spielen keine Runde Golf oder Tennis und lassen dabei etwas von unserem alten Können aufblitzen. Noch setzen wir uns ans Steuer eines Autos und zeigen, warum wir mal zu den Besten der Welt gehörten. Bei uns geht die Magie in dem Moment flöten, in dem wir das Rad an den Nagel hängen, und je eher wir das einsehen, desto besser.

Wenn wir professionell arbeiten, erhalten wir gelegentlich einen Vorgeschmack auf unser bevorstehendes Schicksal. Eine Auszeit von nur zwei oder drei Wochen kann uns enorm zurückwerfen. Zugegebenermaßen können wir das recht schnell wieder aufholen. Ich habe dafür eine einfache Faustregel gelernt: Um die Verluste gutzumachen, brauche ich genauso lange, wie die vorangegangene Auszeit dauerte. Zwei Wochen Auszeit erfordern also zwei Wochen Arbeit, um die Pause wieder aufzuholen. Natürlich erfordert das ein konsequentes, erstklassiges Training – harte, oft monotone Arbeit, um wieder in Bestform zu kommen. Ganz gleich, mit welchen genetischen Gaben wir zur Welt gekommen sind: Das A und O bleibt das Training. Schließlich ist professioneller Radsport letztlich ein Ultra-Ausdauersport: Egal, was uns in die Wiege gelegt worden ist, es erfordert Training bis zum Abwinken, um dieses Potenzial auszuschöpfen.

Im November ist der Gedanke daran, eine große Landesrundfahrt zu bestreiten, für uns ebenso unvorstellbar wie für einen Londoner Büroangestellten. Es ist vorgekommen, dass ich mich im November aufs Rad setzte und vergaß, dass ich nicht mehr der Gleiche war wie im September, und dann 40 Kilometer von zu Hause entfernt auf dem Zahnfleisch kroch, mich mit Schoko-Doughnuts und Cola wie ein verirrter und ausgehungerter Gartenzwerg an einer Tankstelle auf den Bordstein setzte und mich fragte, wie ich nach Hause kommen sollte. Das ist mir mehr als ein Mal passiert.

Zwei Monate nach Ende der Saison sind wir von Selbstzweifeln zerfressen und fragen uns, wie um alles in der Welt wir je wieder bei einer dreiwöchigen Rundfahrt an den Start gehen, geschweige denn sie durchstehen sollen. Oder gar vorne mitfahren. Es sind seltsame Wochen, die keinen Spaß machen, es tut also meistens ganz gut, ins Fitnessstudio zu gehen und so zu tun, als sei man Spitzensportler, wobei ich sagen muss, dass wir hageren Hänflinge bei den drahtigen Fitnesshäschen sicher wenig Eindruck schinden, wenn wir unsere paar hundert Wiederholungen mit kaum Gewicht auf der Hantel absolvieren. Wahrscheinlich sieht das, was wir da treiben, eher nach einer Reha-Maßnahme aus.

Letzten Herbst beschloss ich, mich an meinen alten Trainer Adrie van Deimen zu wenden, denn ich brauchte jemanden, der mich wieder einnordete. Früher war es mir leicht gefallen, in einen konsequenten Trainingsmodus umzuschalten. Das erforderte eine extreme Umstellung, bei der ich mich isolierte und vollkommen zurückzog, um mich in die Person zu verwandeln, die ich sein musste. Heute kriege ich das nicht mehr hin – es verlangt von einem, von Grund auf egoistisch zu sein; man muss vollkommen ichbezogen sein. Alles ist auf Training, Ernährung und Erholung ausgerichtet, und wenn ich alles sage, meine ich damit auch meine Mitmenschen.

Vater von zwei Jungs zu sein, hat mich verändert. Ich verbringe gerne Zeit mit ihnen und möchte meiner Frau zur Seite stehen, wenn ich zu Hause bin. Einen Großteil des Jahres passt sie alleine auf die beiden auf, während ich unterwegs bin und meiner Leidenschaft fröne. Zwar ist es mein Job und ich werde gut dafür bezahlt, ihn zu erledigen, aber es ist eben auch etwas, das ich liebe. Ich fände es nicht fair, dann nach Hause zu kommen und mich weiter nur um mich selbst zu kümmern. Andererseits hat aber auch diese Einstellung ihre Kehrseite: Sie ist respektlos meinen Kollegen gegenüber und verantwortungslos in Bezug auf meine teaminternen Pflichten. Das ist der Hauptgrund dafür, warum dies meine letzte Saison sein soll. Ich kann immer noch Rennen bestreiten – daran hege ich keinen Zweifel –, aber es ist das Training, dem ich nicht mehr gewachsen bin. Und wenn ich nicht richtig trainieren kann, schöpfe ich nicht mein volles Potenzial aus, wofür ich ja eigentlich bezahlt werde.

Davon abgesehen weiß ich aber auch, dass ich die Erwartungen, die in meiner letzten Saison in mich gesetzt werden, erfüllen kann. Ich fungiere inzwischen als Capitaine de Route, und als solcher habe ich andere Aufgaben und Pflichten als ein Kapitän, von dem große Siege erwartet werden. Es gibt nur wenige Fahrer im Profipeloton, die mehr Kilometer auf höchstem Niveau in den Beinen haben als ich. Ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass man auf mich bauen kann, wenn es hart auf hart kommt. Das habe ich meine ganze Karriere hindurch nachgewiesen und ich verlasse mich darauf, dass mein Team mir dahingehend Vertrauen schenkt. Wir haben zusammen genug durchgemacht, um dieses Einvernehmen zu haben.

Im Grunde bin ich immer ein engagierter und ehrgeiziger Mensch gewesen. Das ist der große Unterschied zwischen einem alten Hasen und einem Frischling: Meine Aufgabe ist inzwischen klar umrissen und anerkannt, der Ehrgeiz ist durch Pragmatismus abgelöst worden. Tappe ich in die Falle der Selbstzufriedenheit? Bin ich zu bequem geworden oder sogar satt? Für einen Radprofi ist das keine gute Befindlichkeit.

Die Ziele

Also dann, packen wir’s an. Die Ziele für dieses Jahr. Jedem dieser Ziele liegt eine bestimmte Überlegung zugrunde. Ich halte unerschütterlich an ihnen fest (statt wie sonst für das übliche Zaudern anfällig zu sein, wenn es um meinen Kalender geht). Sie alle sind von persönlicher Bedeutung für mich: In meiner letzten Saison möchte ich so viele Türen schließen wie möglich. Mit Paris–Roubaix habe ich meine gesamte Karriere hindurch auf Kriegsfuß gestanden. Dieses Jahr möchte ich mich voll reinhängen und dieses Kapitel ein für alle Mal abschließen. Trotz dieser persönlichen Mission bin ich mir im Klaren darüber, dass meine Rolle die des loyalen Teamkollegen sein wird. Ich hege keine größenwahnsinnigen Fantasien von Ruhm und Ehre, ich habe nur den Wunsch, mich dieses sprichwörtlichen Teufels im Nacken ein für alle Mal zu entledigen.

Die Tour de France ist mein Rennen, dasjenige, das mich zum Radsport gebracht hat. Gäbe es keine Tour, hätte ich mich nie in diesen Sport verliebt. Meine Beziehung zur Tour geht über die Rundfahrt als solche hinaus. Ich habe Freundschaften geschlossen mit den Leuten, die sie ausrichten. Das geht so weit, dass mich der frühere Direktor Jean-Marie Leblanc und der heutige Boss Christian Prudhomme nicht mehr per Handschlag, sondern mit dem sehr französischen Kuss auf die Wange begrüßen. Wir sind Freunde, teilen eine gemeinsame Geschichte und schätzen einander. Ich habe immer von meinem letzten Mal auf den Champs-Élysées geträumt, wo ich mich im Kreise meiner Familie und Freunde von dem Rennen verabschieden würde, das ich so sehr liebte. Das wird einer der wichtigsten Tage meiner Karriere sein. Und es erscheint mir fast schicksalhaft, dass diese, meine letzte Tour ausgerechnet in Großbritannien startet, noch dazu in Yorkshire, wo mein Vater inzwischen lebt, seit er Hongkong, wo ich meine Jugend verbrachte, verlassen hat. Alles scheint wie gemalt.

Die Commonwealth Games in Glasgow sind ein Geschenk sondergleichen. Dass eins meiner letzten Rennen in der Stadt ausgetragen wird, aus der ein Großteil meiner Familie stammt und wo ich, erst zum zweiten Mal in meiner Karriere, im schottischen Trikot antreten werde, scheint zu schön, um wahr zu sein. Dass die Spiele direkt im Anschluss an die Tour stattfinden, wenn ich naturgemäß in Bestform sein werde, lässt sogar einen Sieg realistisch erscheinen – und wenn nicht, habe ich zumindest die Gelegenheit, den Farben meiner Heimat die Ehre zu erweisen.

Dann kommt die Vuelta a España, die insofern mein Lieblingsrennen im wahrsten Sinne des Wortes ist, dass sie nicht mit solchem emotionalen Ballast verbunden ist wie die Tour de France. Die Vuelta ist das Etappenrennen, wo ich einfach nur Rennfahrer sein darf, ohne die Belastungen und Verpflichtungen der anderen großen Landesrundfahrten. Ich kann Rennen fahren um des Rennenfahrens willen. So habe ich es immer empfunden; ich kann mir keine schönere Art vorstellen, meine Karriere mit meinem Team zu beenden, als aus reinem Spaß an der Freude fahren zu dürfen.

Und schließlich noch die WM als krönender Abschluss im Kreise der Menschen, die ich in der Radsportwelt am längsten kenne, die britische Mannschaft. Dass die WM in meiner Wahlheimat Spanien stattfindet, ist das i-Tüpfelchen. Ich war immer stolz darauf, für das Team Großbritannien antreten zu dürfen, das mir durch dick und dünn zur Seite gestanden hat. Das sind die Leute, bei denen ich mich am meisten zu Hause fühle. Es erscheint stimmig, dass ich mein letztes Rennen als Profi im britischen Trikot bestreiten werde.

»Guter Winter?«

Es ist so schön, endlich wieder in einem Rennen zu sein. Ich kann nur so viel trainieren, bis es mich irgendwann zu langweilen beginnt. Mein erstes Rennrad kaufte ich mir als 15-Jähriger in Hongkong, weil ich Rennen fahren wollte. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, es für etwas anderes zu benutzen. Abseits der Rennen setzte ich mich nur aufs Rad, um zu trainieren und somit im Rennen schneller zu sein. So war das eben.

Als ich älter wurde, habe ich gelernt, dass eine Ausfahrt auf dem Rad eine der wohl schönsten Möglichkeiten ist, Zeit mit Freunden zu verbringen, trotzdem betrachte ich dies als etwas, was von meiner Karriere als Radrennfahrer strikt getrennt ist. Inzwischen existieren in mir zwei ganz unterschiedliche Radfahrerpersönlichkeiten: der Radrennfahrer und der Radtourist. Letzterer hat sich erst mit zunehmender Reife entwickelt und fährt keine Rennen; der andere ist im Wesentlichen immer noch der 15-jährige Bursche, der sein erstes Rad in Hongkong kaufte – nur dass er mittlerweile mehr als tausend Rennen als Profi auf dem geplagten Buckel hat.

Das erste Rennen der Saison bringt einen kompletten Neubeginn mit sich. Wir sind zurück in unserem natürlichen Umfeld, auf der Straße mit unseren Teams, steigen in zumeist mittelmäßigen Hotels ab, machen uns wieder mit den gewohnten Abläufen vertraut. Es ist ein starker Kontrast zur letzten Zusammenkunft des Pelotons im letzten Rennen der Vorsaison, als wir körperlich und mental auf dem letzten Loch pfiffen und nur noch nach Hause wollten, um uns, fern der mittelmäßigen Hotels, zu verkriechen und zu schlafen. Jetzt ist das Peloton frisch und voller Tatendrang, alle scheinen froh und motiviert zu sein. Das ist ein, gelinde gesagt, ungewöhnliches Verhalten.

Es gibt neue Sponsoren, andere Farben und Trikots, neue Gesichter in alten Teams, alte Gesichter in neuen Teams. Alle sind redselig und neugierig. Die Gespräche verlaufen alle ungefähr gleich, mit leichten Variationen, in etwa einem Dutzend verschiedenen Sprachen:

»Guter Winter?«

»Super. Einer meiner besten.«

»Ja, dasselbe bei mir. Gutes Wetter gehabt?«

»Ging so. War im Dezember im Trainingslager, Kilometer bolzen. Bisschen lockerer um Weihnachten rum, richtig rangeklotzt im Januar.«

»Ja, dasselbe bei mir. Welche Rennen machst du?«

»Dies hier, Tirreno, die Klassiker. Das übliche Programm.«

»Ja, dasselbe bei mir.«

Zwei Minuten später begegnest du einem anderen Fahrer, den du halbwegs kennst.

»Hey, Alter! Wie war der Winter?«

»War spitze, hab richtig Kilometer gefressen!«

»Ja, dasselbe bei mir. Gutes Wetter gehabt?«

Und so weiter …

Diese Fragerei beschränkt sich nicht auf das erste Rennen. Oh nein, das kann bis April so weitergehen. Ich nenne es das »Radprofi-Frühsaison-Eisbrechen«. Als Faustregel gilt, dass der Saisonbeginn mit Lüttich–Bastogne–Lüttich endet, dem letzten der Frühjahrsklassiker. Von der Tour de Romandie an ist es also ratsam, nicht mehr über den Winter zu sprechen, sondern darüber, wie der Saisonbeginn gelaufen ist. Das Problem ist, dass das ein zweischneidiges Schwert ist, denn während man Interesse zeigt und Gesprächsbereitschaft signalisiert, läuft man gleichzeitig Gefahr, sein Gegenüber zu verprellen, indem man eine völlige Unkenntnis seiner Resultate offenbart. Denn wenn es einen wirklich interessierte, wüsste man ja, wie es ihm bislang ergangen ist. An sich geht es ja nur darum, das Schweigen zu brechen, aber wenn man es falsch anstellt, hat sich das Thema anschließend für immer erledigt. Ein Beispiel:

»Hey, Alter, wie läuft’s? Hast du die Klassiker gemacht?«

Wenn man die Frage stellen muss, kann das nur bedeuten, dass der Profi, mit dem man sich unterhält, bisher eine Scheißsaison hatte, denn hätte er einen guten Start gehabt, wäre einem das sicher irgendwann mal aufgefallen. Wenn man also fragt und zur Antwort erhält: »Ja, alle«, ist das schon ein bisschen blöd. Das ist die denkbar schlechteste Antwort, die man erwarten kann, aber eben nicht erwartet hat, weil es einen eh nie interessiert hat, also hat man sich auch keine Gedanken über den weiteren Gesprächsverlauf gemacht.

Erfahrungsgemäß verfährt man in so einer Situation am besten, indem man vage bleibt (wobei man sich darüber im Klaren sein sollte, dass solche Situationen zwangsläufig früher oder später auftreten, denn es gibt einfach zu viele ruhige Momente: einschreiben, am Start stehen, die immer selteneren Atempausen im Peloton, wenn ein Schwatz möglich ist und man sich neben einem Kollegen befindet, mit dem man oft genug gefahren ist, um normalen zwischenmenschlichen Umgang zu rechtfertigen…). Es ist ratsam, nicht zu sehr ins Detail zu gehen, sich Spielraum zu lassen und lieber allgemeine Bemerkungen zu machen wie »Alles klar?«, »Das Rennen/Wetter ist ja heute echt super/beschissen.« oder meinen persönlichen Favoriten: »Was gibt’s Neues?« Der ultimative ergebnisoffene Eisbrecher – man muss nichts darüber wissen, was der andere bis dahin getrieben hat.

Ein paar Fragen, die zu vermeiden sind:

»Ist das dein erstes Rennen dieses Jahr?« Es könnte sein 40. Rennen sein, in welchem Fall man ihn daran erinnert, wie unscheinbar seine bisherige Saison gelaufen ist, womit man gleich den völlig falschen Ton angeschlagen hätte.

»Welche Rennen hast du bis jetzt gemacht?« Wie gesagt, kann sein, dass man schon mehrfach zusammen gefahren ist und man es einfach nicht bemerkt hat.

Und dann gibt es noch den schlimmsten aller Fehltritte, den man sich unter gar keinen Umständen leisten darf: »Hast du zugenommen?« Radprofis sind von ihrem Gewicht besessen – müssen sie auch sein, denn es ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Jobs. Falls jemand dick aussieht, darf man ihn niemals darauf hinweisen. Klar, hinter seinem Rücken zerreißt man sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Maul darüber, aber keinesfalls sollte man es ihm ins Gesicht sagen: Das geht gar nicht.

Wenn jemand hingegen fit aussieht, also rank und schlank und braun gebrannt, ist es natürlich vollkommen okay, um nicht zu sagen wünschenswert, es anzusprechen: »Wow, du siehst topfit aus. Hast du dir heute was vorgenommen?« Worauf er fast mit Sicherheit antworten wird: »Danke! Ja, das Training ist ganz gut gelaufen. Mal schauen, wie es heute so läuft, ich fühle mich ganz gut.« Dieses ungezwungene Gehabe ist nichts weiter als der unzureichend verschleierte Versuch, die Tatsache zu verbergen, dass er in Vorbereitung auf eben dieses Rennen wie ein Mönch gelebt hat, und sollte nichts dabei herumkommen, wird er einen Nervenzusammenbruch erleiden, bevor er, von Neurosen geplagt, in ein Loch aus Selbstzweifeln fällt, aus dem er erst in Wochen, wenn nicht gar Monaten wieder herauskriechen wird. Die aufrichtige Antwort hätte gelautet: »Puh, danke, ich habe monatelang geschuftet, um mich auf dieses Rennen vorzubereiten. Würde mich ganz schön umhauen, wenn’s nicht läuft.«

Wenn wir älter werden, lernen wir, besser mit dem Druck umzugehen. Die Last der Erwartungen, innerer wie äußerer, verringert sich. Wenn wir jünger sind, ist alles wichtig, weil Rennen fahren das Allerwichtigste ist in unserem Leben; wir sind zu jung, um zu begreifen, dass es noch etwas anderes gibt. Viele von uns haben bis dahin kaum etwas anderes als Erfolg und Anerkennung kennengelernt, und wer kein Scheitern kennt, weiß auch den Erfolg nicht zu schätzen. Deswegen nehmen wir uns nie die Zeit, uns zu vergegenwärtigen, wo wir stehen und wie es uns ergeht. Alles, was wir erreichen, ist nur ein weiterer Schritt nach oben.

Wenn wir Glück haben (und ich glaube, dass grundsätzlich eine Menge Glück im Spiel ist; es gibt so viele Unwägbarkeiten, die sich unserer Kontrolle entziehen, dass es vermessen wäre zu behaupten, wir wären die einzigen Baumeister unseres Erfolgs), dauert unsere Karriere lang genug, um dieser jugendlichen Engstirnigkeit zu entwachsen. Nur die Zeit gibt uns die Chance, Erfahrungen zu sammeln und zu der Einsicht zu gelangen, dass die Frage, woher wir kommen, ebenso wichtig ist wie die Frage, wohin wir gehen. Und wenn wir älter werden und mehr erleben, lernen wir zu unterscheiden: Was einst über allem stand, kann zu einem anderen Zeitpunkt in unserem Leben zu einer bloßen Fußnote werden und umgekehrt.

So verhält es sich in allen Lebensbereichen, nur dass wir als Radrennfahrer es mehr zu schätzen wissen als die meisten anderen; wir leben buchstäblich auf der Überholspur – das muss so sein, weil uns nur ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung steht, um die genetischen Gaben, mit denen wir gesegnet sind, auszuschöpfen. Uns bleiben vielleicht zehn Jahre, und damit hat sich’s. Etwa vom 18. bis zum 28. Lebensjahr erleben die meisten von uns ihren Aufstieg, dann folgt ein Plateau von unterschiedlicher Länge, und dann, in relativ kurzer Zeit, vielleicht ein bis drei Jahren, machen wir den finalen Niedergang von der Mittelmäßigkeit zum alten Eisen durch. Das ist ein ziemlich intensiver Ritt. Ich glaube, die meisten von uns finden sich erst Jahre später damit ab.

Ich hatte mehr Glück als die meisten anderen, denn ich habe quasi zwei Karrieren erlebt, die sich in drei Akten abspielten: Es begann mit dem klassischen Aufstieg und dem anschließenden Fall, der mir eine zweijährige Sperre bescherte, bevor ich eine zweite Chance erhielt. Man kann wohl sagen, dass ich dramatisches Scheitern am eigenen Leib erlebt habe, und als sich die Chance auf ein Comeback eröffnete, ergriff ich sie im Bewusstsein, mich glücklich schätzen zu können, dass ich sie erhielt, und sie als das anzunehmen und wertzuschätzen, was sie war: eine zweite und letzte Chance, noch einmal von vorne anzufangen und es diesmal besser zu machen. Ich habe also eine etwas andere Auffassung von meinem Beruf als viele meiner Kollegen. Ich weiß, es ist nicht echt, ich weiß, es hat ein Ende, und das hat mir geholfen, mich auf den unausweichlichen Abschied vorzubereiten, der uns allen schließlich bevorsteht.

Das Loch (2)

Das erste Rennen ist ein Schock für alle Systeme. Die anfängliche Freude darüber, wieder mit den Jungs auf der Straße zu sein, wird rasch geschmälert, wenn wir scheinbar mit Warp-Geschwindigkeit dahinrasen und nichts mehr wahrnehmen als das Hinterrad vor uns. Alles schrumpft zu diesem kleinen visuellen Brennpunkt zusammen, alles an der Peripherie ist unscharf und rauscht schemenhaft vorbei. Das ist nicht zu verwechseln mit der sagenumwobenen »Zone«, von der Sportler gern berichten (bzw. dem »Flow«, wie das heutzutage genannt wird). Nein, dies ist das Loch. Ich habe Jungs erlebt, die waren so tief im Loch, dass sie die Kontrolle über ihr Rad verloren und stürzten und dabei nichts verspürten als Erleichterung darüber, dass es vorbei war.

Jeder Radprofi hat in seiner Karriere einen Moment erlebt, in dem er so tief im Loch steckte, dass er einen Sturz herbeisehnte. Ein Platten oder ein mechanisches Problem reicht nicht, denn dann muss man sich wieder ins Feld zurückkämpfen; ein Sturz bedeutet die Chance, das Rennen dranzugeben. Das ist bei uns ein grundsätzliches Problem: Wir steigen nicht aus, wenn wir einen Platten haben oder das Rad auseinanderfällt, denn wir haben ja ein Ersatzrad oder einen Mechaniker im Begleitfahrzeug, der sofort zur Stelle ist, um uns aus der Patsche zu helfen. Ich glaube, kaum jemand versteht wirklich, was das für uns bedeutet: In einer solchen Situation gerettet zu werden, unterscheidet sich grundlegend von der Rettung aus jeder anderen Lage. Zu stürzen, fühlt sich manchmal wie eine Erlösung an.

Daran werden wir in den ersten Rennen auf brutale Weise erinnert. In den vier Monaten zuvor, während unserer Trainingsausfahrten, haben wir verdrängt, wie schmerzhaft es ist, ein Rennen zu fahren, denn im Training haben wir selbst die Kontrolle über das Tempo und die Anstrengung, also darüber, wie sehr es wehtut. Klar, wir quälen uns, aber nur bis zu einem gewissen Punkt; wir gewöhnen uns daran, unsere Anstrengung zu verwalten, was uns daran erinnert, dass die meisten von uns eben doch keine wahren Masochisten sind. Wir mögen die Schmerzen nicht, sie sind nur ein verfluchtes Nebenprodukt, das bei der Ausübung dessen abfällt, was wir lieben, nämlich Rennen fahren.

Es ist diese Fähigkeit, das Leiden zu managen, die uns auszeichnet. Wie oft hört man über große Radsportler Sätze wie: »Er steckt nicht auf«, »er kann sich quälen«, »er wird sich durchbeißen«. Da gibt es ein Grundmotiv. Es geht um die Fähigkeit, rational zu bleiben, auch wenn alles wehtut, denn darauf kommt es an: sich klarmachen, dass letztlich alles irgendwie zu schaffen ist, nicht aufgeben und sich nicht sagen, dass alles verloren wäre. Unter dem Strich ist es der Verzicht auf Selbstmitleid, wenn die Kacke am Dampfen ist.

In diesen ersten Rennen tut alles weh. Der häufigste Satz, den ich mich selbst und andere in den ersten Rennen sagen höre, ist: »Scheiße, ich habe vergessen, wie hart das ist.«

Glücklicherweise bin ich für die Mallorca Challenge vorgesehen. Verglichen mit anderen Rennen ist das geradezu ein Geschenk.

Neben Mallorca gibt es drei gängige Optionen, um ins neue Jahr einzusteigen.

Tour Down Under

Wie gesagt kommt die Tour Down Under für mich nicht in Frage, obwohl es ein tolles Rennen sein soll, das fern des europäischen Winters ein anständiges Training bei schönem Wetter ermöglicht – vorausgesetzt, man ist bereit, vor oder nach der Rundfahrt dort zu bleiben, was ich grundsätzlich wäre, aber nur, wenn ich zwischendurch nicht ein Rennen bestreiten müsste.

Es gibt ein paar Orte auf der Welt, wo ich mir einfach nicht vorstellen kann, Rennen zu fahren. Australien ist einer davon.

Mittelmeer-Rundfahrt

Ein Paradebeispiel für die französische Frühsaison. In den 20 Jahren, in denen ich dabei bin, hat sich absolut nichts geändert. Das Rennen lässt sich rasch zusammenfassen:

1 Kalt, wahrscheinlich windig.

2 Vermutlich wird an allen Ecken und Enden gespart, auf jeden Fall ist alles etwas runtergekommen.

3 Ein Streik. Das können Bauern am Straßenrand sein, vielleicht aber auch Rennfahrer auf der Straße. Effekt in beiden Fällen gleich null.

4 Sehr spezielle Fahrweise. Entweder geht es von Anfang an zur Sache, oder es passiert den ganzen Tag gar nichts. Weiß man nie so genau.

5 Das Abendessen besteht unweigerlich aus Nudeln, die Stunden zuvor zerkocht und mit etwas Butter in der Mikrowelle aufgewärmt werden, Hühnchen von unbekannter Zubereitungsart, grünen Bohnen (gekocht) und zum Nachtisch Apfelkuchen (das Highlight) und Naturjoghurt. Ach ja, und Brot, Unmengen von Brot.

Daniel Mangeas kommentiert an Start und Ziel über die Lautsprecher, wie er es scheinbar seit Mitte der Siebziger bei jedem Rennen in Frankreich macht. Das ist eigentlich das Beste.

Katar-Rundfahrt

Katar ist ein einziges Gemetzel. Ich war nur ein Mal dabei (vielleicht auch öfter; falls ja, habe ich es verdrängt). Ich gebe zu, dass es Spaß gemacht hat, als ich 2008 am Start war, aber es war erschreckend intensiv und sturzlastig. Dafür gab es drei Gründe: Es ist flach, es ist windig und alle Klassikerspezialisten (also die ganzen durchgeknallten Spinner) sind dabei. Sie sind so geil darauf, dass das Rennen quasi schon vor dem Start losgeht. Statt wie es sich gehört entspannt einzurollen, waren die paar Kilometer vom neutralisierten Start bis zum départ réel, zumindest in dem Jahr, als ich dabei war, die brutalsten, die mir je untergekommen sind. Ich kam mir vor wie bei den Junioren – wie damals hatte ich das Gefühl, das Rennen schon vor dem Start verlieren zu können, wenn ich nicht aufpasste. Der offizielle Start wurde zu einem Ziel für sich; die neutrale Zone wurde zu einem Massensprint in Zeitlupe, denn, so wie gehabt in der neutralen Zone, durften wir das Führungsfahrzeug nicht überholen, dessen Job es ist, unser Tempo so zu begrenzen, dass wir zur exakt vorgesehenen Zeit den départ réel erreichen. Nie zuvor hatte ich eine Rennsituation erlebt, wo wir schon vor dem Rennen ein Rennen fuhren.

Dazu kommt die öde Wüstenlandschaft, buchstäblich mitten im Nirgendwo und umgeben von einer brettflachen Todeszone – keine Zuschauer, keine Gebäude, keine Vegetation und, am schlimmsten, keine Mannschaftsbusse; dafür rätselhafte Burgen mitten in der Wüste, scheinbar jeden Tag.

Mallorca Challenge

Verglichen mit den drei anderen Optionen ist die Mallorca Challenge wie ein frühjährliches Stück vom Paradies. Zunächst einmal haben es die genialen Veranstalter als Serie von fünf Eintagesrennen statt als fünftägiges Etappenrennen gestaltet. Das bedeutet, dass wir uns aussuchen können, an welchen Tagen wir an den Start gehen – totaler Luxus.

Ich pickte mir vier der fünf Rennen heraus, oder besser gesagt: »Wir« entschieden uns dafür. Die Teamleitung weiß ganz genau, wie sehr mir die Frühsaison zuwider ist, und erspart mir die Tortur des schwersten Tages. Fabian Wegmann und ich lassen das Rennen sausen, aber weil wir richtige Deppen sind, fahren wir trotzdem mit dem Bus zum Start und radeln dann die 80 Kilometer zurück zum Hotel. (Schließlich haben wir ja nichts anderes vor.) Auf diese Weise quasi bei der Mannschaft zu sein, lindert ein wenig unsere Schuldgefühle darüber, gekniffen zu haben. Sobald wir uns vor dem Start aus dem Staub machen, fühlen wir uns wie ungezogene Schulbuben, die die Schule schwänzen. Ich sage ja, richtige Deppen.

Ryder

Als ich Anfang der Woche am Hotel in Mallorca eintraf, passierte etwas, was ich noch nie erlebt hatte. Ich fühlte mich fehl am Platze. Ein ganz seltsames Gefühl. Als ich an den Teamtrucks, Bussen und Autos vorbeiging, die vor dem Hotel parkten, hatte ich das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Als ich dann das Hotel betrat und die Zimmerliste suchte, bemerkte ich, dass ich zum ersten Mal seit 1997 keine Vorfreude verspürte – selbst wenn ich nicht in Form war und den verfluchten Januar hasste, regte sich stets ein gewisser Funke in mir, wenn ich das erste Teamhotel des Jahres betrat. Jetzt war da schlicht und ergreifend gar nichts, alles kam mir wie eingefahrene Routine vor, was nicht schlimm gewesen wäre, hätte ich mich nicht plötzlich sehr alt gefühlt.

Das wurde noch dadurch verschärft, dass mir, als ich die Zimmerliste gefunden hatte, mit einem Mal bewusst wurde, dass Christian Vande Velde und Dave Zabriskie nicht mehr da waren und zwei andere meiner Freunde, Andreas Klier und Robbie Hunter, nicht mehr in der Spalte »Fahrer« auftauchten, sondern unter »DS« wie »directeurs sportifs«. Ich schaute genauer hin und fuhr mit dem Finger die Liste der Namen herab. Eine Menge sagten mir nichts. Dadurch fühlte ich mich noch älter, so alt, dass ich die Liste noch einmal durchlas, um zu schauen, wer außer mir noch alt war, in der Hoffnung, dass ich zumindest jünger als irgendjemand anders wäre. Es war so weit: Ich war der älteste Fahrer der Mannschaft. Sackzement, gar nicht gut. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, der jüngste Fahrer des Teams gewesen zu sein, und hätte mir niemals vorstellen können, einmal der älteste zu sein.

Ein Name war zum Glück noch da: Ryder Hesjedal. Ryder und ich sind im Laufe der Jahre enge Freunde geworden. Wir kamen erstmals bei der Vuelta 2006 ins Gespräch, als er für Phonak fuhr. Er erzählte mir, dass er zurück in die Staaten wolle, weil er der europäischen Radsportszene überdrüssig sei. Ich erinnere mich, ihm geraten zu haben, am Ball zu bleiben und dass er es bereuen werde, jetzt aufzugeben. Er stieg noch am gleichen Tag aus der Rundfahrt aus, mein flammender Appell hatte ihm offenbar den Rest gegeben. Er ging zurück in die USA und fand zurück zu alter Stärke, und zwar in einem Maße, dass Jonathan Vaughters ihn zusammen mit mir, Christian VdV und Dave Z für die neue Mannschaft Slipstream Sports unter Vertrag nahm.

Ryder stammt von der kanadischen Westküste. Mir war nie klar, dass das was Besonderes war, bis Ryder es aller Welt pausenlos auf die Nase band. Gegen die Westküste kann der Rest von Kanada einpacken – so jedenfalls sieht es Ryder; er spricht kein Französisch und ist stolz darauf, chapeau. Er stammt von Vancouver Island, was ein ziemlich beeindruckendes Fleckchen Erde ist – große Bäume, große Bären und dergleichen. Letzten September verbrachte ich mit Ryder eine Woche auf Vancouver Island und seitdem beginne ich zu verstehen, warum er so ist, wie er ist.

Ryders Spitzname ist »Legend«. Er wurde in leicht sarkastischem Tonfall erdacht, so wie Little John eigentlich ein ziemlich großer Bursche war. Ryder ist zeit seines Lebens so aufgetreten, als sei er eine Legende, lange bevor er sich den Titel erworben hat. In jungen Jahren war er eine große Nummer im Mountainbiking. Am besten macht man sich ein Bild von Ryder, indem man seine Lebensgeschichte in Autos erzählt.

AMC Concord Wagon – 500 Dollar, mit 16 Jahren: Dies war sein erstes Auto. Als ich Ryder besuchte, bekam ich einen Eindruck davon, wo er herkam, und lernte seine Freunde kennen. Es war das erste Mal, dass ich einen Einblick in seine Herkunft erhielt, über die er ansonsten nicht viele Worte verliert. Seine Heimat ist Langford; die Stadt machte in den Achtzigern eine wirtschaftlich harte Zeit durch, hohe Arbeitslosigkeit war die Folge, und die ganze Gegend ging ziemlich den Bach runter. Kein einfacher Ort zum Aufwachsen also. Zwar scheint sich Langford allmählich zu erholen, doch vieles erinnert noch an die schweren Zeiten, besonders deutlich zu erkennen anhand der verfallenden Überreste der Mittelschule, auf die Ryder und seine Freunde gegangen sind. Sie hatten nicht viel, man »schlug sich so durch«, wie Ryder es ausdrückt. Das Radfahren bot ihm den einzigen Ausweg.

Subaru Wagon – 300 Dollar, 17: Ryder musste damals für alles selbst aufkommen. Meistens trat er gegen Kids an, die sich die beste Ausrüstung leisten konnten. Ryder musste sich mit einem billigeren Auto begnügen, um überhaupt Rennen fahren zu können.

Merkur XR4Ti – 2.500 Dollar, 18: Zu diesem Zeitpunkt begann Ryder erstmals dank Prämien und Sponsorengeldern finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. So ziemlich das Erste, was er tat, war, sich ein »schönes« Auto zu kaufen.

Acura Integra (violett/tiefergelegt) – 10.500 Dollar, 19: Er bekommt mit Gary Fisher Mountain Bikes seinen ersten großen Sponsor und tritt in seine Poser-Phase ein. Die Legende beginnt sich herauszubilden. Tieferlegen bedeutet, die Karosserie des Wagens so weit abzusenken, dass er für normale Gegebenheiten meist nicht zu gebrauchen ist. Ein geringer Preis für den mutmaßlichen Mehrwert an Coolness.

Lexus IS 300 (kanariengelb/18-Zoll-Chromfelgen/tiefergelegt) – 50.000 Dollar, 21: Der Poser entdeckt das Pimpen. Es äußert sich darin, 8.000 Dollar für Chromfelgen lockerzumachen und die Karre so tieferzulegen, dass sie kaum noch aus der Ausfahrt kommt. Tatsächlich muss er seine Freunde bitten, erst dann einzusteigen, wenn er aus der Ausfahrt raus ist, weil der Wagen es sonst nicht schafft.

Lincoln Navigator (weiß/24-Zoll-Chromfelgen für 14.000 Dollar) – 100.000 Dollar, 23: Der Höhepunkt der Pimping-Phase. Ryder hat sich zu einem der besten Mountainbiker der Welt entwickelt, dominiert die US-Szene und belegt bei Weltmeisterschaften regelmäßig vordere Plätze. Die Krönung seiner geschmacksfreien Exzesse ist der Einbau von (gefälschten) gepolsterten Gucci-Kopfstützen, die er persönlich in New York abholt.

Chevy Avalanche (getönte Scheiben/24-Zoll-Chrom-Propeller) – 40.000 Dollar + Ford F350 (schwarz/Full-Size-Turbodiesel) – 40.000 Dollar + Chrysler 300C (HEMI-Motor/22-Zoll-Chromfelgen) – 50.000 Dollar, 22: Ryder tauscht den Lincoln gegen zwei Autos und kauft einen 300C für daheim auf Vancouver Island. Er behält die 24-Zoll-Chromfelgen und ergänzt Propeller, was das vielleicht Albernste ist, was er jemals getan hat, allerdings hat er nicht lange was davon, denn er baut mit dem Auto einen beinahe tödlichen Unfall. Er und sein Freund Seamus werden aus dem sich überschlagenden Wagen geschleudert und landen 20 Meter entfernt von dem, was einmal ein Auto war. Er ersetzt den Chevy nicht, verkauft den Ford und lässt den Chrysler am Haus, das er für seine Eltern in Langford gekauft hat. Er wechselt vom Mountainbike aufs Rennrad, die Pimping-Phase geht zu Ende. Er verdient nur noch einen Bruchteil dessen, was er als Mountainbiker verdient hat, und gibt sich mit dem Mindestgehalt zufrieden, um mit US Postal seinen Traum von der Tour de France verwirklichen zu können.

Isuzu Trooper (ausstehende Miete) – 26: Dieses Auto erhält er statt Miete von seinem Freund Nigel, der sein Haus in Victoria bezogen hat. Es ist Ryders zweite Saison in Europa, und der gewohnte Erfolg lässt weiter auf sich warten. Er kehrt in die USA zurück, um auf nationaler Ebene für eine heimische Mannschaft zu fahren, und setzt alles auf eine Karte. Er kauft eine kleine Wohnung auf Maui als letzten Versuch, sich neu zu erfinden.

Opel Monterey (gekauft in Girona, baugleich mit dem Isuzu Trooper) – 3.200 Euro, 29: Mit Slipstream wieder zurück in Europa, hat er es nun geschafft; die Anstrengung, sich neu zu erfinden, hat gefruchtet. In den folgenden Jahren wird Girona in der Saison sein Zuhause sein, also kauft er einen Opel Monterey, der baugleich mit dem getreuen Isuzu Trooper ist, der in Kanada steht, nur von einem anderen Hersteller vertrieben wird. Er hat sogar die gleiche Farbe, eine Art Armeegrün. Das unprotzigste Auto, das man sich vorstellen kann. Wir taufen es »das Teil«.

Mazda 5 (auf Maui von Hertz geleast) – 12.000 Euro, 32: Ryder gewinnt den Giro und kauft jedem seiner Teamkollegen eine Rolex als Dankeschön. Er kehrt zurück nach Maui und kauft von einer Autovermietung einen Mazda 5. Die vier Autos, die er jetzt besitzt, sind zusammen weniger als 30.000 Dollar wert. Wenn die Leute ihn heute »Legend« nennen, geschieht dies ohne die geringste Spur von Sarkasmus.

Ryder hat also einen ziemlich unorthodoxen Aufstieg an die Spitze des Radsports erlebt. Er würde ohne weiteres von sich behaupten, ein genügsamer Mensch zu sein, und selbst als er seine Pimping-Phase durchmachte, ging er stets umsichtig mit seinem Geld um – er mag ein paar alberne Autos gefahren sein, aber er hat auch seinen Eltern ein Haus gekauft und sein Geld konservativ angelegt. Hinter der Fassade steckt ein Kerl, der einen tief verwurzelten, innewohnenden Respekt vor Geld hat. Das ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, wo er herkommt – er weiß nur zu gut, wie es ist, kein Geld zu haben, und das wird er auch nie vergessen.

In mancherlei Hinsicht verkörpert Ryder das, was Radprofis früher ausmachte: Sie kamen nicht aus der Mittelschicht, wie es heute oft der Fall ist, sondern stammten aus ärmlichen Verhältnissen und betrachteten den Radsport als einzigen Ausweg. Er liebt das Radfahren mehr als jeder andere Profi, den ich kenne. Für ihn ist es mehr als nur ein Hobby, das sich zu einer Leidenschaft und dann zu einer Berufung entwickelte; es bedeutete die Chance auf ein Leben, das er sich ansonsten nicht hätte vorstellen können. Vielleicht ist das der Grund, warum er seine Räder so liebt und sie mit an Besessenheit grenzender Hingabe hegt und pflegt. Ich kenne keinen anderen Profi, der so viel Zeit und Geld in seine eigenen Räder investiert.

Das alles macht ihn zu einem der wenigen wirklich interessanten Typen im modernen Radsport. Für ihn ist das Profidasein eher eine Lebensweise als die Wissenschaft, der es in zunehmendem Maße zu ähneln scheint. Selbst wenn er in Topform ist, vor seinen wichtigsten Rennen, denkt er nicht zwei Mal darüber nach, sich während einer Ausfahrt ein Bier zu genehmigen, wenn ihm danach ist. So ist er einfach gestrickt: zielstrebig und engagiert, aber er gestattet sich auch, ganz er selbst zu sein. In der Winterpause schickt er mir Videos von sich auf Maui: bärtig, freier Oberkörper, auf seinem geliebten alten Mountainbike in abgeschnittener Jeans auf dem Weg in die Kneipe, einfach locker weg. So ist Ryder.

Das alles trägt dazu bei, dass er einen wunderbaren Zimmergenossen abgibt. Er geht alles so verdammt gelassen an, dass man meinen könnte, er strenge sich nicht mal an. Aber dem ist ganz und gar nicht so, denn er geht alles, was er anpackt, mit einer Gewissenhaftigkeit an, die diese lockere Surfer-Stoner-Attitüde, die er ausstrahlt, Lügen straft.

Auf der Straße: Eine Saison im Profipeloton

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