Читать книгу LOVE YOUR NEIGHBOUR - David Togni - Страница 10
HEILIGE ORTE
ОглавлениеAn meine Kindheit und die Zeit, die ich mit meiner Familie verbrachte, erinnere ich mich gerne. Da wir so oft umzogen, waren wir Geschwister gleichzeitig enge Spielkameraden und Freunde. Es tat gut, immer auf sie zählen zu können, gerade wenn wieder ein Schulwechsel anstand. Mein Bruder Mario und ich blickten voller Bewunderung zu unserer Schwester Anja auf. Klar, sie war die Älteste, die Große, unser Vorbild.
Mit Mario, der nur ein Jahr älter ist als ich, war Streiche spielen und durchgeknallte Wetten abschließen ganz groß. Einmal bekamen wir jeder ein kleines Bananenpflänzchen geschenkt. Dann galt der Contest: an welcher zuerst eine Banane hängt! Natürlich war es völlig utopisch, dass in der Schweiz eine Bananenstaude wächst und dazu noch eine Frucht trägt, aber die Wette stand. Täglich ging ich zu meinem Pflänzchen, goss es gewissenhaft und wartete ungeduldig darauf, dass sich etwas regte. Nur leider passierte nicht viel. Also beschloss ich, meinem Gewinnerglück ein wenig auf die Sprünge zu helfen: Am Abend stellte ich meinen Wecker auf ein Uhr und legte ihn unter mein Kissen, damit er die anderen nicht weckte. Als es an meinem Ohr rasselte, stand ich mitten in der Nacht leise auf und schlich mich in die Küche. Dann öffnete ich die quietschende Kühlschranktür, angelte die Milchflasche heraus und tastete mich im Dunkeln zu Marios Staude. In der Hoffnung, sie würde dadurch ganz schnell eingehen, goss ich den gesamten Inhalt der Flasche in den Blumentopf. Plötzlich hörte ich hinter mir tapsende Schritte. Als ich mich umdrehte, stand Mario vor mir – mit einer Flasche Sirup! –, munter unterwegs zu meiner Banane … Nach einigen verdutzten Sekunden brachen wir in schallendes Gelächter aus, hielten uns aber schnell die Hände vor die Münder, um die anderen nicht aus dem Schlaf zu reißen. Da hatten wir am nächsten Morgen am Frühstückstisch echt eine Story zu erzählen! Auf jeden Fall war meine Banane dann schneller als Marios – schneller kaputt. Das nächste Mal musste ich also unbedingt Sirup nehmen … Mario hatte für diesmal gewonnen. Glückwunsch!
Meine Eltern, Sabine und Lorenzo, haben uns wirklich eine herrliche Kindheit ermöglicht. Je älter ich werde, desto mehr begreife ich, wie viel die vorigen Generationen gekämpft, gegeben und eingesetzt haben, damit wir heute so leben können, und welches reiche Erbe sie uns mitgegeben haben. Mir ist sehr bewusst, dass ich zu einem großen Teil der bin, der ich bin, weil sie mich mit ihrer Erziehung und ihren Werten geprägt und Opfer gebracht haben.
Mama und Papa stammen beide aus Familien, die echte Lebenskünstler und Kämpfer sind. Als „Ausländerfamilien“ (die Familie meiner Mutter stammt aus Deutschland, die meines Vaters aus Italien) trafen sie in der konservativen Schweiz der 60er- und 70er-Jahre auf viele Vorurteile. Mamas Familie zog ins Wallis, als sie sechs war, pünktlich zur Einschulung also. Doch die erste Schulwoche wurde zu einem ziemlichen Desaster. Hoch konzentriert saß Mama als kleines Schulmädchen auf ihrer Bank und bemühte sich, der Lehrerin zu folgen. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie verstand kein Wort! Irgendwann brach sie verzweifelt in Tränen aus. Nach einer Woche nahm man sie wieder aus der Schule, damit sie im Kindergarten noch ein Jahr Schwyzerdütsch lernen konnte.
Papas Familie hatte sich ebenfalls im Wallis niedergelassen, wo sein Vater quasi aus dem Nichts eine Zinngießerei aufbaute, mit der er extrem schnell sehr erfolgreich wurde. Meine Eltern lernten sich dann im Oberwallis in Brig kennen, als sie gemeinsam die kaufmännische Berufsschule besuchten. Damals war Papa als „der Italiener“ dorfbekannt – mit seinen glänzenden schwarzen Locken, dem adretten Schnauzer, seinen Goldkettchen und dem extravaganten Kleidungsstil. Als er Mama einmal zum Ausgehen abholte, traf sie fast der Schlag: Lorenzo war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet – weißes Hemd, weiße Jacke, weiße Hose, weißer Gürtel und sogar weiße Schuhe – und führte sie in seinem weißen Mercedes aus. Ganz der italienische Macho eben …
An Geld fehlte es Papa wirklich nicht. Schon vor seiner Ausbildung hatte er mit seinem Vater gearbeitet und gelernt, Geschäfte zu machen, wobei er ein glückliches Händchen bewies. Gerne leistete er sich schöne Dinge und stellte, was er besaß, auch zur Schau. Voller Stolz fuhr er seinen Mercedes, in dem sich die Dorfsensation befand: eines der ersten Mobiltelefone der Schweiz, ein NATELport! Es war ein monströses Gerät, eingebaut in einen schwarzen Koffer, das aussah wie ein klassisches Telefon aus den 70er-Jahren, mit Wählknöpfen und verkabeltem Hörer. Nur dass es zusätzlich über einen eigenen Sender und Empfänger verfügte und mit Batterien betrieben wurde. Gerade die Batterien waren riesig und nahmen im Koffer, der fast 25 Kilo wog, den meisten Platz ein. War das Natel im Auto dabei, hatte es seinen angestammten Platz zwischen Fahrerund Beifahrersitz.
Einmal, als Mama mit Papa im Auto mitfuhr, schaltete die Ampel in der Dorfmitte von Brig eben auf Rot. Mit seiner schicken, weißen Karosse hielt Papa ganz vorn an der Ampel, direkt vor dem Fußgängerüberweg. Die Aufmerksamkeit der Passanten war ihm damit sicher. Papa nutzte die Gelegenheit, nahm demonstrativ das Natel in die Hand und telefonierte. Mama wurde puterrot und rutschte voller Scham vom Beifahrersitz in den Fußraum, wo sie ausharrte, bis die Ampel auf Grün umschaltete und Papa endlich wieder anfuhr.
Er liebte es, immer die neusten Dinge zu haben und damit aufzufallen. Zu dieser Zeit, Papa war Anfang 20, hatte er zwei klare Ziele ins Auge gefasst: Sabine zu heiraten und mit 30 mehrfacher Millionär zu sein. Beides sollte wahr werden. Nach dem Motto: „Schlafen ist für Faule“ lebte er ein erfolgreiches, enorm ehrgeiziges Leben als Unternehmer. Zusammen mit seinem Vater baute er unter anderem ein Immobiliengeschäft in Spanien auf und war oft wochenlang weg von der Familie, die mittlerweile aus Mama und uns drei Kindern bestand.
Eines Tages kam die Kehrtwende. Als Papa von einer Geschäftsreise zurückkam, traute Mama ihren Augen kaum: Wo Papa ging und stand, hatte er neuerdings eine Bibel unterm Arm und las darin, wann immer er konnte. Zwar wusste Mama, dass er spirituell auf der Suche war, aber eine Bibel, die er jetzt sogar noch unter sein Kopfkissen legte? Mama war überzeugt, Papa musste ein Stein auf den Kopf gefallen sein. Sie kannte doch ihren Mann! Doch Lorenzo hatte sich tatsächlich um 180 Grad gedreht. Hatte er vorher keinen Kunden ohne einen abgeschlossenen Deal aus einem Gespräch entlassen, so stand das Geschäft für ihn plötzlich nicht mehr an erster Stelle. Brennend für Jesus und seinen neu gefundenen Glauben, ließ er jetzt niemanden mehr gehen, bevor der nicht Jesus kennengelernt hatte. Die Geschäfte liefen dadurch immer schlechter, aber das war ihm egal. Von heute auf morgen setzte mein Vater andere Prioritäten im Leben, er wollte mehr für andere da sein. Vorher war Papa ständig auf Achse gewesen und Mama mit uns Kindern viel allein, doch jetzt verbrachte Papa ganz bewusst immer häufiger Zeit mit der Familie.
Drei Monate nach Papa fand auch Mama zu einer persönlichen Beziehung zu Jesus. Ihren gemeinsamen Glauben und die Liebe, die sie bei Gott erfahren hatten, lebten sie uns ganz praktisch vor. Dazu gehörte, Bedürftige und Obdachlose nicht zu vergessen und dabei großzügig zu sein, wie wir das an Weihnachten immer erlebten. Auch was es bedeutet, Gott wichtiger zu nehmen als alles andere, haben meine Eltern uns immer wieder eindrücklich vermittelt. Eines Tages spürte Papa, dass Gott ihn durch eine sanfte, aber klare innere Stimme dazu aufforderte, das ganze Gold, das er trug, abzulegen und wegzuwerfen. Das traf mitten ins Schwarze. Traurig stellte Papa fest, wie schwer es ihm fiel, sich von seinem Besitz zu trennen. Erst schwankte er, aber schließlich fasste er den Entschluss: Ich möchte allein von Gott abhängig sein. Also nahm er die Halskette ab, den goldenen Siegelring und das Armkettchen und versenkte sie alle zusammen im Thunersee.
In dem Moment spürte er eine riesige Erleichterung. Hatte etwa sein Besitz ihn besessen? Immer wieder erzählte uns Papa von diesem Wendepunkt in seinem Leben und Glauben, als es darum ging, Gott mehr zu vertrauen als allem anderen. Dabei ist Besitz an sich nicht schlecht, das ist nicht der Punkt. Wenn der Stellenwert von einem eigenen Haus, schönen Kleidern oder großen Autos im Leben stimmt, können wir Gott damit ehren und andere werden davon profitieren – dann können sie das Auto mal leihen oder mitfahren. Bei Papa ging es in dem Moment aber darum, sich zu entscheiden, was bei ihm an erster Stelle stand und worauf er seine Identität gründete.
Papa ist ein waschechter Unternehmer und Verkäufer – das hat er von seinem Vater. Auch Mama hat das Kaufmännische im Blut und das haben sie definitiv an uns weitergegeben. Sowohl Anja als auch ich begannen nach der Schule eine Kaufmannslehre. Papas Vater, der Nonno, wie man auf Italienisch sagt, hatte durch den Immobilienhandel in Spanien über die Jahre dort auch ein Hotel aufgebaut – in La Mata an der wunderschönen Südostküste Spaniens, nicht weit von Alicante. Irgendwann wurde es von meinem Vater geführt, so wie er auch viele der anderen Immobiliengeschäfte vor Ort leitete. Wir als Familie verbrachten insgesamt drei herrliche Jahre in La Mata.
Das Hotel von Nonno war unglaublich – seine künstlerische Ader schlug sich überall nieder. Als gelernter Schreiner hatte er viele der außergewöhnlichen Möbel und Kunstwerke in der Anlage selbst geschnitzt. Kam man von außen in den Eingangsbereich hinein, lief man direkt auf einen plätschernden Brunnen mit Fischen, Schildkröten und Palmen zu. Rechts befand sich die Rezeption, die Mama leitete, als wir dort wohnten, und direkt daneben der Eingang zu einem extravaganten Schwimmbad. Nonno hatte die Wände und Decken wie eine Höhle aus Holz geschnitzt und sie dann mit wasserfestem Material verkleidet. Da hingen Tropfsteine von der Decke und man fühlte sich beim Schwimmen wie ein Höhlenforscher in der Südsee. Nonno hatte sich hier wirklich ausgelebt.
Umso erstaunlicher ist das, wenn man um Nonnos Geschichte weiß. Er hat die mit Abstand härteste Story, die ich kenne, genug Stoff, um ein eigenes Buch zu füllen! Im Bergdörfchen Crodo in Norditalien wuchs er in einem kleinen Steinhaus auf. Sein Vater war Tunnelbauer und starb sehr früh an einer Staublunge, die ihm seine Arbeit beschert hatte. Nach seinem Tod, da war Nonno neun, sagte seine Mutter zu ihm: „Ab heute bist du nicht mehr mein Sohn!“, und steckte ihn ins Internat, um mit ihrem Freund zusammenleben zu können. Wenn am Wochenende die Eltern der anderen Kinder kamen, sah Nonno traurig und voller Neid zu, wie sie ihnen Süßigkeiten oder saftige Orangen mitbrachten. Ihn besuchte nie jemand, das machte ihn wütend. Sobald die Eltern wieder weg waren, ging er auf die anderen Kinder los, bis sie ihm ihre Geschenke gaben. Wer Glück hatte, musste nur mit ihm handeln und kam dadurch glimpflich davon. So lernte Nonno früh zwei Dinge: „Der Stärkere gewinnt“ und: „Nimm dein Leben selbst in die Hand, wenn du etwas bekommen willst.“
Nachdem er im Internat eine Schreinerlehre abgeschlossen hatte, begann für ihn ein unruhiges und gefährliches Leben. Mit seinen 16 Jahren war er nun auf sich gestellt und schlug sich durch, teilweise mit Schreinerarbeiten, aber auch mit krummen Geschäften und als gefürchteter Straßenkämpfer. Schließlich arbeitete er als Grenzgänger in verschiedenen Jobs in der Schweiz. Mit seinen zwei rechten Händen wurde alles, was Nonno anfasste, zu Gold. In der Schreinerei, wo er arbeitete, überflügelte er mit seinem irren Tempo und Geschick alle.
Nonno war auch legendär stark: Wenn es auf dem Bau galt, zentnerschwere Zementsäcke zu tragen, warf er sich einen in den Nacken, hievte einen auf jede Schulter und zwei unter die Arme. Wer ihn kannte, wagte es nicht, sich mit ihm anzulegen. Er hatte gelernt, der Stärkere zu sein. Sogar zwei Narben von Kugelschüssen in seinem Bein hat er mir gezeigt, die von brenzligen Situationen in seinem Leben zeugen …
Schließlich siedelte Nonno ganz in die Schweiz um, ins Wallis nach Brig, und gründete dort mit einer jungen Italienerin eine Familie. Auch sie, meine Nonna, war eine Kämpferin; sie war mit acht Jahren Vollwaise geworden und hatte ihre beiden Geschwister allein aufgezogen. Nicht viel später bekamen meine Großeltern Togni Kinder – Lorenzo, meinen Papa, und Paolo, meinen Onkel. Nonno lebte sich dann aus: in verschiedenen Unternehmen, die er erfolgreich aufbaute, dem Ferrari, den er sich mit seiner ersten Million kaufte, mit seinem Hotel in Spanien, aber auch als Lebemann. Bitter war es für meine Großmutter und die Ehe, die schließlich auseinanderbrach. Heute lebt Nonno in Nordspanien; meine Nonna hingegen ist nach Norditalien zurückgezogen.
Immer wenn ich Nonna heute dort besuche, in ihrer kleinen, blitzblanken Wohnung mit weißem Marmorboden, dampft eine Lasagne im Ofen oder wartet ein Tiramisu auf mich. Sie ist unglaublich stolz auf ihre Enkel, gleichzeitig lässt sie keine Gelegenheit aus, sich über mein Aussehen zu beschweren – meine langen Haare, den Vollbart, meine Tattoos und zerschlissenen Jeans. Das alles mag Nonna nicht. Trotzdem zieht sie freudig mit mir durch das winzige italienische Örtchen und stellt mich sämtlichen Leuten vor. Dass sie das schon hundert Mal gemacht hat, wissen meistens nur der Vorgestellte und ich – und wir grinsen uns jedes Mal wissend an.
Nonno und Nonna verdanke ich einen heiligen Ort meiner Kindheit – La Mata. Ein wahres Paradies. Besonders deutlich erinnere ich mich an die Zeit, als wir während der Primarschule dort in Spanien waren, da war ich neun. Wir lebten in einem Apartment im Hotel, ganz nah am Meer. Unsere Wohnung in einem der oberen Stockwerke hatte eine herrliche Dachterrasse. In einem Häuserblock unmittelbar vor dem Aparthotel war eine Dachwohnung als Klassenzimmer für uns Kinder eingerichtet worden. Wir hatten unglaubliches Glück: Eine junge, sehr engagierte Lehrerin aus der Schweiz, Cécile, nahm sich ein Jahr Auszeit von der Schule und kam als Privatlehrerin für uns mit.
Wir schlossen einander gleich ins Herz und liebten es, zu Cécile in den Unterricht zu gehen. Sie musste ja den Stoff für uns alle drei parallel unterbringen, da wir in unterschiedlichen Klassenstufen waren. Oft nahmen wir Themen zusammen durch und natürlich musste Anja, die Älteste, am meisten lernen. In den Pausen flitzten wir schnell in unsere Wohnung und zogen unsere Badehosen an. Cécile wartete schon vor dem Hotel auf uns, auf dem Kopf einen großen Strohhut, unter dem ihre fröhlichen Augen hervorblitzten. Zusammen liefen wir an den Strand und lachten ausgelassen, als wir im heißen Sand, der unsere nackten Füße verbrannte, von einem Bein aufs andere hüpften. Schnell rannten wir aufs Wasser zu und stürzten uns schreiend vor Freude in die herrlichen Fluten der Costa Blanca.
Im Grunde war für uns Kinder die Zeit mit Cécile nie Schule. Immer machte es Spaß und war spannend – was ich von meiner sonstigen Schulerfahrung ganz und gar nicht behaupten kann. Wir alle freuten uns immer auf Céciles fröhlichen Unterricht und kamen auch nie zu spät. Na ja, fast nie – außer ich, mittwochs …
Mittwochs war Straßenmarkt in La Mata. Mein Tag! Ganz früh schlich ich los zum Kanal del Acequión, wo viele bunte Stände die Straße säumten: stapelweise billige Handtaschen, duftende Blumen, kitschige Souvenirs aus Plastik oder Keramik, Kleider und bunte Strandausrüstung, streng riechende Lederwaren und zahlreiche Lebensmittelstände. Schon am Morgen herrschte hier reger Betrieb. Der Markt war ein Magnet für Touristen aus den umliegenden Urlaubsorten. In Scharen schlenderten sie hier durch die Gassen und versorgten sich mit Lebensnotwendigem, bevor am Mittag die unerträgliche Hitze ausbrach. Ich aber hatte nur ein Ziel: den Obststand mit den herrlich bunt arrangierten Bergen von Zitronen, Trauben, Äpfeln, Kirschen, Orangen und riesigen Wassermelonen, unter denen die Bretter ächzten. Schnell kramte ich eine 25-Peseten-Münze aus der Tasche – dieses schöne Geldstück mit goldenem Rand und einem Loch in der Mitte – und setzte als blonder Neunjähriger meinen wirkungsvollsten Hundeblick auf. Dabei hielt ich dem Verkäufer die Münze hin, zeigte mit der anderen Hand unschuldig auf die Melonen und sagte in meinem kindlichen Spanisch: „Ich habe nur das!“
Meine Strategie ging voll auf! Mit erweichtem Herzen gab mir der Verkäufer dann eine Melone – natürlich für einen Bruchteil des marktüblichen Preises. Siegessicher und stolz schleppte ich meine Beute zurück – ich konnte sie kaum tragen! Vor dem Hotel blieb ich kurz stehen, schaute, ob die Luft rein war – kein Papa, kein Nonno, keine Mama – und huschte in die Küche zu meinem Freund Vincent. Vincent war der Hotelkoch, ein großväterlicher Typ mit weißen Haaren und gütigen Augen. Er grinste vielsagend, als er mich sah, und hob vergnügt die Augenbrauen. Auf meine Bitte hin schnitt er die Melone in Stücke, packte sie fein säuberlich in Folie ein und ließ mich verschwörerisch hinten durch den Bedienstetenausgang verschwinden. Dort setzte ich mich dann an die Straße vor den schattigen Kellereingang und verkaufte den gerührten Spanierinnen Melonen – natürlich wieder mit Hundeblick und zu einem Preis pro Stück, der bei Weitem höher war als eine ganze Melone. Danach flitzte ich nach oben in den Klassenraum und tat so, als sei nichts gewesen. So verdiente ich mir mein Taschengeld in Spanien. Tja, früh übt sich, wer ein Kaufmann werden will!
Eine andere Möglichkeit, an Taschengeld zu kommen, bot sich uns in den Ferien, wenn wir im Hotel helfen durften. Einmal mussten Mario und ich wochenlang die Dachterrasse schrubben, die riesig war und mit der wir einfach nicht fertig wurden! Überall Sand und immer wieder neuer Sand. Aber der mit Abstand genialste Job im Hotel war Brunnenputzen. Der plätschernde Blickfang im Hoteleingang musste natürlich ordentlich aussehen. Also traten Mario und ich immer wieder zur Brunnenkosmetik in Aktion. Dazu mussten wir komplett das Wasser ablassen, aber im Optimalfall vorher noch die Goldfische und Schildkröten umsiedeln. Das war jedes Mal eine riesige Gaudi, wie wir hoch konzentriert am Beckenrand standen und versuchten, mit bloßen Händen diese glitschigen Fischlein zu fangen. Ständig flutschten sie uns durch die Finger und platschten zurück ins Wasser. Bald erfüllte schallendes Lachen den Empfangsbereich und wir trieften von Kopf bis Fuß.
Das Hotel, unsere Dachterrasse und der Unterricht mit Cécile, über den Dächern von La Mata und mit der Brandung im Ohr, ist mir wie ein heiliger Ort in Erinnerung. Wenn ich daran denke, habe ich gleich wieder den Geruch in der Nase. Er ist mit Worten kaum zu beschreiben – es ist ein Duft von Frieden, von Harmonie, wie ein Stück Himmel.
Als wir aus Spanien wieder zurück in die Schweiz kamen, zogen wir an den absolut herrlichsten Ort meiner Kindheit – den Bauernhof von Familie Schacher. Insgesamt zehn Jahre lang wohnten wir als Mieter bei ihnen. Bea und Sepp Schacher hatten vier Kinder: Stefan, der Älteste, dann noch Sandra, Patrizia und Rolfi. Rolfi war so alt wie ich und vom ersten Moment an waren wir ganz dicke Freunde. Fast jede freie Minute verbrachten wir zusammen im Stall, bei den Hühnern, Schweinen, Kühen oder Hasen. Schon ganz früh morgens vor der Schule gingen wir zu den Tieren. Auf dem Hof, der im dunstigen Morgengrauen ganz verlassen dalag, regte sich kaum etwas. Mit vereinten Kräften schoben Rolfi und ich die quietschende Tür zum Stall auf, wo uns der vertraute würzig-warme Duft empfing. Leise muhten die dampfenden Rinder, wedelten peitschend ihren Schwanz durch die Luft und schmatzten wiederkäuend vor sich hin. Wir hörten die Melkmaschinen surren, die der Knecht oder auch Sepp schon angeschlossen hatten, und fingen an die Tiere zu füttern. Bald glühten unsere Köpfe vor Leidenschaft.
Oft verloren wir dabei die Zeit völlig aus den Augen. „Schon halb acht! Schnell, Rolfi, ab zum Frühstück!“, rief ich und wie der Blitz rannten wir in unsere Wohnungen, um uns umzuziehen und hastig noch ein Brot zu essen. Mama verdrehte lachend die Augen, wenn ich in die Küche kam: „David, du stinkst nach Mist! Mit so einer Stallfahne kannst du doch nicht in die Klasse gehen!“ Kurz entschlossen steckte sie mich unter die Dusche und machte mit dem strengen Kuhduft kurzen Prozess.
Der Hof von Schachers lag auf einem Hügel etwas außerhalb von Inwil, einem kleinen Bauerndorf in der Nähe von Luzern. Unten im alten Bauernhaus wohnte Familie Schacher, darüber die Großmutter und ganz oben wir. Unsere Wohnung war herrlich lichtdurchflutet und die einzelnen Zimmer mit alten, von Holz eingerahmten Glastüren miteinander verbunden. Nachts hörten wir das Geraschel von Mäusen in den Vorratskammern. Einmal fingen wir die Katzen auf dem Hof und sperrten sie in die Kammern, damit sie die Mäuse fingen. Als wir nach einigen Stunden langsam die Tür wieder öffneten und nach unseren Jägern mit ihrer Beute sehen wollten, saßen da nur zwei verstörte Katzen, die uns mit großen Augen ansahen. Ans Mäusefangen hatten sie im Traum nicht gedacht.
Gegenüber vom Bauernhaus standen große hölzerne Bienenstöcke, um die herum immer ein geschäftig summender Betrieb herrschte. Rechts neben dem Haus gab es einen herrlich angelegten riesigen Garten mit einem kleinen Teich und einer schönen Sitzecke. Viele laue Sommerabende haben unsere Familien dort zusammen verbracht, beim Grillen draußen oder einem Glas Wein für die Großen. Wir Kinder spielten auf der Wiese Karten oder flitzten mit unseren Rädern oder Rollerblades um die Ställe und Garagen – umgeben von Summen, Muhen und dem Duft von frisch gemähtem Gras. Hinter dem Bauernhaus lag meine glückliche Abenteuerwelt – der Stall mit den Kühen und Hasen samt Heuboden, das Hühnergehege, der Schweinestall, die Garagen mit dem Traktor und dahinter die weiten Felder.
Den Tag, an dem ich endlich zum ersten Mal selbst Traktor fahren durfte, erwartete ich voller Ungeduld. Rolfi und ich hockten oft am Feldrand und schauten Sepp sehnsüchtig dabei zu, wie er den großen Schlepper lenkte. Manchmal durften wir auch mitfahren und saßen dann neben Sepp in der heiligen Fahrerkabine. Endlich war er dann da, der schönste Tag überhaupt. Ich war zehn, als Sepp uns verkündete, wir dürften jetzt Traktorfahren lernen. Natürlich schien die Sonne – in meiner Erinnerung war auf dem Bauernhof immer gutes Wetter. Vor Übermut jubelnd stürzten Rolfi und ich in die Fahrerkabine des Treckers. Zuerst durfte natürlich Rolfi, der Bauernsohn. Ich saß nebendran und versuchte meine Beine still zu halten, so kribbelten sie. Endlich war ich dran und wir wechselten. Zuerst nahm mich Sepp auf den Schoß, ich hielt das Lenkrad unter Kontrolle und durfte die Schaltung bedienen, die an einem langen Stab bis neben den Fahrersitz emporragte. Sepp betätigte das Gaspedal und rief mir durch den Motorenlärm zu, wann ich schalten musste. Der Traktor machte einen Ruck, knatterte laut und wir fuhren! Es war ein herrliches Gefühl. Als ich genug Übung hatte mit dem Rhythmus von Schalten, Kuppeln und Gasgeben, durfte ich auch selber ans Gaspedal und konnte (mit Sepp nebendran und natürlich nur auf dem Hofgelände) ganz allein Traktor fahren! Nur zum Kuppeln musste ich immer aufstehen, weil meine Beine noch nicht lang genug waren. An diesem Tag waren Rolfi und ich Helden.
Von jetzt an gehörte es zu unserer wichtigen Mission, jeden Abend das Wasserfass für die Kühe mit dem Traktor zu holen. Wer von uns beiden gerade nicht am Steuer saß, setzte sich auf die Mitfahrerbank und drehte das Radio auf, das in der Kabine angebracht war. Mit den aktuellen Schlagern im Ohr knatterten wir überglücklich über den Hof. Auch wenn Rolfi und ich sonst immer ein Herz und eine Seele waren, kannten wir beide nichts, wenn es darum ging, wer dran war mit dem Wasserfass. Da gab es heftige Streitereien, aber wir vertrugen uns auch ganz schnell wieder. Damals wussten wir ganz genau, wie unsere Zukunft aussehen sollte: Wenn wir groß sind, werden wir Bauern und übernehmen gemeinsam den Hof! Ja, so sollte das ganze Leben weitergehen!
Früh durfte ich auch eigene Tiere halten. Mit neun Jahren besaß ich Zwerghühner, deren Eier ich natürlich verkaufte. Alfred und Beatrice aus der Kirchengemeinde waren meine treuesten Abnehmer. Immer sonntags, wenn meine Eltern das Auto vor der Kirche geparkt hatten, raste ich voller Stolz mit meiner Ware los. Hatte ich Alfred gefunden, streckte ich ihm freudestrahlend meine Hand mit der Eierschachtel hin und nahm glücklich das Geld entgegen.
Einmal an Weihnachten ging dann mein größter Kinderwunsch in Erfüllung: Amy. Bereits um den vierten Advent herum hatte ich den Verdacht, dass es dieses Jahr an Heiligabend so weit sein würde. Durch die Glastür zum Wohnzimmer hatte ich nämlich heimlich beobachtet, wie Papa eine große Holzkiste hereingetragen hatte. Als ich am 24. Dezember dann vor dem Weihnachtsbaum mit den Geschenken stand, wusste ich es ganz sicher. Aus der Holzkiste waren kratzende Geräusche zu hören, etwas wetzte ganz aufgeregt darin hin und her. Als ich sie überglücklich öffnete, war da ein kleines rosa Ding mit einer riesigen grünen Schleife um den Bauch, die beinahe größer war als das Tier selbst: Ich hatte ein Schwein geschenkt bekommen! Endlich, endlich, mein eigenes Schwein! Zu der Zeit war der absolute Lieblingsfilm von uns Kindern Amy und die Wildgänse. Daher war es sofort beschlossene Sache, dass das Schwein Amy heißen sollte. Den Namen ließen wir ihr ins rechte Ohr stanzen und Amy durfte zusammen mit den Schweinen von Familie Schacher im Stall leben. Doch sie war natürlich nicht irgendein Schwein, sondern ein ganz besonderes und hochintelligent noch dazu!
Schweine sind normalerweise sehr scheu – aber meine Amy war handzahm. Wenn ich am Gitter zum Schweinestall stand und nach ihr rief, kam sie aus einer Herde von circa 200 Schweinen auf mich zugelaufen. Sie wusste, was dann geschah – dieses Vorrecht teilte keiner ihrer Stallgenossen: Ich holte die Leine hervor, legte sie ihr an und ging mit meiner Amy spazieren, so wie andere das mit ihrem Pudel machen. In der ganzen Hofumgebung waren wir zwei bekannt wie ein bunter Hund. „Da ist David und sein Schwein“, sagten die Leute lachend, wenn ich mit Amy an ihnen vorbeispazierte.
Leider sind auch die Tage eines Schweins gezählt, besonders auf einem Bauernhof. Nach sechs bis neun Monaten müssen sie geschlachtet werden, weil sie sonst zu groß werden. An dem Tag, als es für Amy so weit war, bekam ich schulfrei. Sensibel, wie Schweine sind, spüren sie es genau, wenn es zum Metzger geht. Auch Amy rannte an diesem Tag zum ersten Mal vor mir weg, als ich sie rief. Mir versetzte es einen Stich in die Brust. Schließlich verluden Sepp und ich Amy und alle anderen Schweine, die geschlachtet werden mussten, in den Transporter und fuhren zum Schlachter. Als wir sie wieder heraustrieben, rief ich Amy noch einmal. Diesmal kam sie zu mir und ich konnte ihr Tschüss sagen. Wehmütig blickte ich ihr hinterher. Ja, Schweine sind geniale Tiere. Wenn ich irgendwann mal ein großes Haus haben sollte, halte ich wieder eine Amy.
Dann gab es da noch meinen Hasen. Es war eine Sie. Einmal schlich ich mich zum Hans, dem Onkel von Sepp, der in einem Haus schräg hinter dem Bauernhaus lebte. Mit meiner Häsin auf dem Arm blickte ich ihn verschmitzt von unten an und bat ihn, meinen Hasen einen Tag lang zu seinem in den Stall zu stecken. Er lachte schallend auf. Natürlich war seiner ein männlicher Hase. Er tat mir den Gefallen und so wurde mein Superhase schwanger, und wie das mit Hasen so ist, hoppelten nach kurzer Zeit richtig viele Hasen durchs Gehege.
Der Bauernhof war meine heile Welt, bis heute ist er in meiner Erinnerung wie ein weiterer heiliger Ort. Dort war alles noch sorglos, ohne Brüche, ganz. Beim besten Willen kann ich mich aus dieser Zeit an nichts Schlechtes erinnern. Alles war perfekt, vielleicht bis auf die Sache, wer mit dem Traktorfahren dran war. Heute kann Rolfi das so viel tun, wie er will, denn vor ein paar Jahren hat er den Hof von seinem Vater übernommen. Ich gönne es ihm von ganzem Herzen.
Doch die sorglose Idylle konnte nicht ewig fortbestehen. An einem Frühsommerabend, ich war zwölf Jahre alt, lag ich oben auf dem Balkon und hörte meine Eltern im Garten mit Schachers reden. An ihrem Tonfall merkte ich, dass es um etwas Wichtiges und auch Trauriges ging. Gespannt hielt ich die Luft an, um besser lauschen zu können, und spähte durch die Brüstung nach unten. Sie sprachen über Geld und meinen Onkel Michael, der gerade mit seiner Frau Evelyne und dem Baby in eine Reihenhaussiedlung im Kanton Thurgau gezogen war. Dort sei ein Haus noch nicht vermietet. In mir machte sich Angst breit. Als meine Eltern Schachers mit erstickter Stimme eröffneten, wir würden wegziehen, traf mich fast der Schlag. Tränen schossen mir in die Augen und ich bebte am ganzen Körper. Das hier war doch mein Leben, meine Zukunft, hier war alles, was mir etwas bedeutete, der Bauernhof, Rolfi und die Tiere! Wie betäubt fiel ich zurück in den Liegestuhl und starrte mit glasigen Augen in den wolkenlosen Himmel. In diesem Moment wusste ich: Jetzt ist meine sorglose Kindheit zu Ende.
Es folgten Wochen, in denen wir als Familie über den Wegzug sprachen, über die Vor- und Nachteile, und in denen wir uns auch darauf freuten, bald ganz nah bei unserem ersten Neffen, dem kleinen Sandro, zu leben. Doch der Schmerz um mein verlorenes Paradies war bei Weitem größer.
An einem milden Augustmorgen packten wir unsere Sachen in einen Umzugswagen und fuhren ein letztes Mal vom Hof. Alle sieben Schachers standen vor dem Bauernhaus und winkten uns hinterher. Mir brach es fast das Herz, den Bauernhof aus der Ferne immer kleiner werden zu sehen. Ich vermisste Inwil schon jetzt ganz schrecklich. Wie sollte ich das nur aushalten? Ich ahnte nicht, dass es wenig später noch viel schlimmer kommen sollte.