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LOVE YOUR NEIGHBOUR – DIE VISION
ОглавлениеEs ist stockdunkel, mitten in der Nacht. Ich liege in meinem Bett und schlafe. Auf einmal spüre ich, dass eine dichte Spannung den Raum erfüllt, die mich total ergreift. Die Luft in meinem Zimmer ist wie elektrisiert. Etwas Großes, Unglaubliches kündigt sich an. Dabei ist alles völlig ruhig, so wie bei der Stille vor dem Sturm, bevor der erste Donner hervorbricht und sich das Gewitter entlädt.
Doch was hier geschieht, ist nicht bedrohlich, im Gegenteil. Ein tiefer Frieden hüllt mich ein wie eine riesige Daunendecke. Gespannt wird meine Aufmerksamkeit auf das gezogen, was von irgendwoher gleich kommen wird. Ich wage kaum zu atmen. Da – unvermittelt geht es los! Wie aus dem Nichts strahlt direkt vor meinen Augen ein Bild auf, dann noch eines, drei, vier, immer mehr, bis viele einzelne Szenen im Dunkeln aufleuchten. Wie auf einer Leinwand ist alles deutlich zu erkennen. Gefesselt betrachte ich ein Bild nach dem anderen. Auf einem sind Klamotten zu sehen: T-Shirts, Sweatshirts, Caps – tolle Mode mit frischem Style.
Eine andere Szene zeigt mir einen jungen Mann, der an einem See sitzt, die Füße lässig im Wasser baumelnd und ein Notebook auf den Knien. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich überrascht, dass ich das bin. Dort am Ufer designe ich Kleider, entwerfe Skizzen und wähle Schnitte und Farben aus. Was hat das zu bedeuten? Schon werden meine Augen zum nächsten Bild gezogen: Dort sitzen Obdachlose mit ihrer zusammengerafften Habe auf einer Decke oder einem Stück Pappe auf der kalten Straße – mit völlig abgetragenen Kleidern und hoffnungslosen, gesenkten Blicken. Die Szene bewegt sich und ich sehe, wie ich auf die Bedürftigen zugehe, mit ihnen spreche und ihnen Kleider schenke. Es sind dieselben Klamotten, die ich zuvor entworfen habe. Die müden Augen der Wohnungslosen strahlen vor Glück. Ganz in der Mitte der vielen Szenen steht in leuchtenden, deutlichen Buchstaben: LOVE YOUR NEIGHBOUR. Ein Blick zurück auf das Bild mit den Kleidern macht mir klar, dass die Shirts und alles andere denselben Schriftzug tragen. Während ich noch völlig gebannt von einem Bild zum anderen schaue und langsam den Zusammenhang begreife, beginnt es plötzlich im Raum zu flackern. Vom linken Rand her bewegt sich eine brennende Fackel ins Bild. Eine Fackel wie bei den Olympischen Spielen, mit einem kurzen, metallenen Schaft und einer kraftvollen, gelbrötlichen Flamme. Es kommt noch eine dazu, dann sind es schon drei, zehn, immer mehr, bis schließlich mein ganzes Zimmer voller Fackeln und flackerndem Licht ist! Fasziniert blicke ich in das riesige Flammenmeer, das wie ein Lauffeuer um sich greift und alles um mich herum hell und warm macht. Auch in mir breitet sich eine wohlige Wärme aus und tiefe Freude durchflutet mich.
Auf einmal fühle ich mich so leicht und unbeschwert. So glücklich wie lange nicht mehr. Hier, mitten in dieser Vision, möchte ich sein und bleiben. Etwas zieht mich mit aller Leidenschaft zu dieser Idee hin: Ich will Klamotten entwerfen. Ich will ein Modelabel gründen und es wird LOVE YOUR NEIGHBOUR heißen, Liebe deinen Nächsten. Wow! Doch eins ist ganz klar: Bei dem, was ich vor mir sehe, geht es um viel mehr als Klamotten! Etwas kann in Brand gesetzt werden, wenn sich das Feuer ausbreitet und viele ergreift. Die Mode ist nur Teil eines Lifestyles, der von einer bedingungslosen Liebe geprägt wird. Yes, hier geht es um radikale, gebende Nächstenliebe. Ich weiß, diese Bewegung wird sich immer weiter ausbreiten. Coole Mode wird ein Trittbrett dafür bieten, Türöffner sein! Glasklar steht es mir vor Augen, alle Bilder zusammen ergeben komplett Sinn. Bäääm – ich bin völlig begeistert!
Als ich schließlich die Augen aufschlage, drehe ich mich benommen zum Nachttisch. Der Blick aufs Handy sagt mir, es ist acht Uhr. Krass, was war das denn? Der nächtliche Traum steht noch völlig real vor mir, die Bilder, das Flackern, die Begeisterung und der Frieden in mir! Tief drinnen weiß ich, das war mehr als ein Traum. Da hat Gott zu mir gesprochen. Mal eben so im Schlaf hat er mir eine Art Businessplan geschenkt. Innerlich beginne ich zu beben, weil ich spüre, Gott hat mir einen Auftrag gegeben und ich muss ihn einfach umsetzen. Das ist meine Chance. Denn wenn ich Gottes Plan für dieses Modelabel nicht verwirkliche, macht es vielleicht irgendwann jemand anderes.
Ohne Frage brenne ich schon jetzt dafür! Der Wunsch, etwas in dieser Welt zu verändern, war über die letzten Wochen immer stärker in mir gewachsen. Die Sehnsucht wurde von Tag zu Tag stärker und drängender. Keinesfalls wollte ich am Ende meines Lebens feststellen, dass ich zu bequem oder zu ängstlich gewesen war, um etwas zu bewirken. Und jetzt war sie wie aus heiterem Himmel da: die Chance, radikal einen Unterschied zu machen. Die Liebe weiterzugeben, die ich selbst von Gott erfahren hatte. Die mich befähigte, die Vision umzusetzen und einen positiven Lifestyle zu prägen, der Menschen mitreißt. Ein Leben zu leben, das Auswirkungen hat und Wellen schlägt. Noch völlig geflasht stehe ich schnell auf und schalte meinen Laptop an.
Um Viertel nach acht sitze ich euphorisch am Mac und recherchiere im Internet. Mir ist es ernst – ich will sofort loslegen, keine Zeit verlieren. Ja, mit T-Shirts werde ich starten. Während ich mich fiebrig durchs Netz klicke, suche ich nach Großhändlern und vergleiche Angebote: Qualität, Schnitt und Preis. Dass es Basic T-Shirts sein sollen, ist für mich keine Frage – schwarz und weiß. Schlicht, klassisch und gut zu kombinieren. Nach wenigen Stunden habe ich bei circa 25 Anbietern aus ganz Europa Mustershirts bestellt.
Verrückt, das alles. Nach dem letzten Klick klappe ich glühend vor Begeisterung das Notebook zu und gehe noch ganz beschwingt in den Keller, um einige Übungen für meinen Rücken zu machen. Empfindlich erinnert mich der Schmerz an die Herausforderungen, die ich gerade durchlebe. Vor anderthalb Jahren habe ich eine große Rückenoperation mit Reha hinter mich gebracht, die den Beginn einer langen Leidenszeit markieren sollte. Seit knapp zwei Jahren gelte ich als 100 Prozent arbeitsunfähig und frage Gott bereits seit Langem, wohin es mit meinem Leben gehen soll. In den letzten Monaten bin ich oft stundenlang durch die Natur rund um Schaffhausen und am Rhein entlangspaziert oder auf meine Waldlichtung gestiegen, wo ich viel Zeit im Gebet verbracht habe. Dabei spürte ich, wie zunehmend eine Kruste von mir abbröckelte, die sich in den schwierigen vergangenen Jahren um mein Herz gelegt hatte. Endlich begann ich mich wieder mehr zu spüren. Das, was mich wirklich ausmachte, was Gott in mich hineingelegt hatte. Ganz tief in mir war eine vertraute Sehnsucht aufgeflammt. Ja, ich kannte sie. Aber zu lange war sie von der Hektik, den Schmerzen und Herausforderungen meines Lebens zugekleistert gewesen. Jetzt wurde sie wieder freigelegt. Die viele Ruhe und die einsamen Spaziergänge wirkten wie ein Blasebalg auf glimmende Kohlen – die Sehnsucht fing neu Feuer: Ich wollte einen Unterschied machen in dieser Welt. Mit und für Gott wollte ich Großes wagen.
Im Lauf der vergangenen Wochen waren meine Gedanken immer mehr gebündelt und wie auf einen Brennpunkt hin fokussiert worden. Dass der Traum gerade zu diesem Zeitpunkt kam, ist sicher kein Zufall. Meine Sinne waren hellhörig und vorbereitet. Und da lag die Vision eines Nachts genau auf mich zugeschnitten vor mir und wartete nur darauf, umgesetzt zu werden. Was für ein Geschenk!
An diesem Morgen im Mai 2013 wurde ein Schalter in mir umgelegt. Ganz praktisch Nächstenliebe zu leben, war längst Teil meines Lebens. Das war nicht neu. Doch der Traum von LOVE YOUR NEIGHBOUR zeigte mir, wie dieser Lifestyle multipliziert werden konnte. Yes, ich brenne dafür, dass Liebesradikalität, krasse Großzügigkeit und bedingungslose Annahme zu einem Lebensstil werden, zu einer immer größeren Bewegung anwachsen, die zunehmend mehr Menschen erfasst und unsere Welt wärmer und heller macht. Und das mit Style und Mode! Das hat mein Herz im Traum verstanden.
Sehr viel mehr weiß ich im Moment nicht. Wie, was, wann, wo, mit wem, Budgetplanung, Businessziele …? Keine Ahnung. Der Typ, der sich zwei Jahre lang hinsetzt und eine Strategie ausarbeitet, bin ich nicht. O Mann, da würde ich vorher anstauben und fünf andere Dinge starten. Nein, ich glaube und vertraue darauf, dass, wenn Gott so klar gesprochen hat, er auch weiterhin zeigen wird, wohin die Reise geht. Schritt für Schritt. An mir ist es, einfach nur zu vertrauen. Der Plan aus dem Traum reicht mir vorerst.
Ganz ohne Finanzen geht es natürlich nicht. Von meinem Gesparten nehme ich 3800 Franken als Startkapital. Für die Modebranche ist das ein Witz, das ist mir völlig klar. Mit 16 hatte ich schon einmal einen Online-Fashion-Store gestartet mit Surfer- und Skatermode – als Projekt meiner Abschlussarbeit an der Schule. Immerhin hatte ich hierfür 20 000 Franken Startkapital – ohne Zinsen geliehen von einer Frau, die das Unternehmerische in mir fördern wollte. Mein kleines Lager hatte ich im Keller unseres Hauses eingerichtet, doch nach einiger Zeit hörte ich wieder damit auf. So lukrativ war es nicht, aber eine super erste Erfahrung in der Branche.
Nun holt mich meine Leidenschaft für Mode wieder ein. Nur diesmal ist es grundlegend anders; diesmal ist eine himmlische Vision der Auftakt, keine schnöde Abschlussarbeit.
Während ich also auf die bestellten Mustershirts warte, stürze ich mich in die Designs. Ein fertiges Logo habe ich im Traum nicht gesehen, aber es ist klar, dass LOVE YOUR NEIGHBOUR auf die Shirts muss. So setze ich mich an den Tisch, nehme Bleistift und Block zur Hand und lege los. Frei aus mir heraus zeichne ich eine Skizze nach der anderen. Dann experimentiere ich am Computer mit Schriftarten herum, die für ein Logo infrage kommen. Nach kurzer Zeit schon bin ich voll im Flow – eine Idee nach der anderen schießt hervor und ich bringe sie zu Papier. Mich juckt es im Kopf und in den Fingerspitzen. In vollen Zügen genieße ich es, dass ich eine so herrliche Aufgabe umsetzen kann. Wie elektrisiert arbeite ich weiter. Ein Faible für Fashion habe ich schon, seit ich denken kann. Diese Faszination hat mich auch zu einigen Modeljobs gebracht, sodass ich auch die Welt der Shootings kenne. Jetzt selbst Mode zu entwerfen, das ist einfach ein Traum!
Nachdem einige Skizzen und Schriftzüge vor mir liegen, die mich überzeugen, frage ich Leon, einen guten Freund und tollen Künstler, ob er die groben Entwürfe mit mir umsetzt. So schicken wir unsere Ideen hitzig hin und her, Leon gestaltet sie weiter, schickt sie zurück, wir optimieren, er zeichnet ins Reine. Unsere Köpfe rauchen durch die Telefonleitungen und vor den Bildschirmen. Schließlich sitzt es. Zufrieden sehen wir, wie sich aus den Ideen das erste Design für LOVE YOUR NEIGHBOUR herausgeschält hat: ein Anker, um den herum sich der Schriftzug auf einem Banner windet. Tief dankbar und einfach nur glücklich lehne ich mich in den Stuhl zurück und lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Wow, die Vision nimmt Gestalt an.
Dass Obdachlose so deutlich Teil des „Businessplans“ sind, überrascht mich überhaupt nicht. Seit meiner Kindheit versetzt es mir einen Stich ins Herz, wenn ich in der Fußgängerzone Bedürftige auf der Erde hocken sehe, die resigniert oder vom Leben entmutigt mit hängenden Schultern auf den Asphalt blicken. Menschen, die sich abends nicht in ein warmes Bett kuscheln können, umgeben von Wänden und einem Dach, die Sicherheit und Schutz vor Regen bieten. Sondern die umherirren, oft jede Nacht an einem anderen Ort schlafen und heimatlos sind. Sicherlich bewegt mich das auch, weil ich mit meiner Familie und auch später so oft umgezogen bin, dass ich mich selbst entwurzelt und ohne richtige Heimat fühle.
Ein extrem einschneidendes Erlebnis hatte ich, als wir wieder einmal wegzogen und ich mit meinen Geschwistern zum letzten Mal vom Schulgebäude weglief. Wir waren traurig, alles hinter uns zu lassen und erneut ins Ungewisse zu starten. Da riefen uns ein paar Kinder nach: „Da gehen sie wieder, die Zigeuner!“ Tief getroffen versuchte ich mich taub zu stellen. Doch in mir brannte es wie Feuer. Einfach so unbegründet beschimpft zu werden? Was wussten diese Kinder schon von uns? Davon, dass es an der Arbeit meines Vaters lag, dass wir oft umzogen, und es für uns ganz und gar nicht leicht war? Wir hinterließen jedes Mal Freunde, vertraute Wege, lieb gewordene Menschen, unsere eingerichteten Wohnungen und Kinderzimmer. Und jedes Mal blieb auch ein Teil unseres Herzens dort. Zu Unrecht so verurteilt zu werden, hinterließ tiefe Spuren in meiner Seele. Nie mehr wollte ich einem Menschen mit einem vorschnellen Urteil begegnen, bevor ich ihn und seine Geschichte nicht wirklich kannte. Der Satz von Mutter Teresa wurde mir zum Leitstern: „If you judge people, you have no time to love them.“ Das habe ich mir sogar auf meinem linken Unterarm tätowieren lassen. Das könnte man natürlich auch wieder verurteilen … Ja, wer Menschen verurteilt, hat keine Zeit, sie zu lieben. Er hält sich mit Äußerlichkeiten auf. Doch ich wollte lieben. Gerade Obdachlose und Bedürftige, denen man allzu schnell mit Vorurteilen begegnete.
Ein anderes Schlüsselereignis mit Obdachlosen brannte sich mir auch schon früh ein: Jedes Jahr an Heiligabend backten meine Eltern mit uns drei Kindern – Anja, Mario und mir – Kekse. Die verpackten wir dann schön in glitzernde Weihnachtstüten und banden liebevoll eine Schleife drum herum. Bevor wir als Familie gemütlich und heimelig Weihnachten feierten und es die heiß ersehnte Bescherung gab, fuhren wir nach Luzern in die Stadt. Dann liefen wir in der eisigen Dezemberkälte durch die mit Lichterketten geschmückten Straßen, zu überdachten Haltestellen und in den fast ausgestorbenen, dumpf hallenden Bahnhof. Die Stadt war fast menschenleer, alle Geschäfte hatten bereits geschlossen und nur vereinzelt sah man noch Leute auf dem Weg zur Familienfeier.
Aber wir suchten die Menschen, die auf der Straße bleiben würden, den ganzen 24. Dezember lang, auch den 25. und 26. Weil sie kein Zuhause hatten, keine Familie, mit der sie feiern konnten. Als Kind konnte ich mir das fast nicht vorstellen, der Gegensatz war so krass – umso mehr an Weihnachten. Wir gingen zu Obdachlosen, die in einem Schlafsack in der Kälte oder in einem etwas geschützten Winkel kauerten, und überreichten ihnen eine knisternde Tüte mit Keksen: „Fröhliche und gesegnete Weihnachten!“, wünschten wir ihnen mit strahlenden Kindergesichtern. Viele Obdachlose waren tief gerührt. Wir sagten ihnen, dass Jesus in die Welt gekommen sei, um Liebe und Frieden unter die Menschen zu bringen. Und wünschten ihnen alles Gute.
Ein Obdachloser hatte es sich bei der bibbernden Kälte in einer Telefonzelle eingerichtet. Als meine Schwester Anja zaghaft die Zellentür öffnete und dem Mann eine Kekstüte mit den Worten „Frohe Weihnachten!“ überreichte, kam er wenige Augenblicke später aus der Kabine herausgerannt, stürmte hinter Anja her, umarmte sie fest und rief mit glasigen Augen: „Du bist ein Engel!“ Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich an diesen weinenden Mann mit ungepflegtem Haar und verhärmtem Gesicht denke, wie er Anja ‒ und mit ihr ein Stück Himmel ‒ in die Arme schließt. Und bis heute schaue ich hin zu den Obdachlosen und Bedürftigen auf der Straße, schenke ihnen neue Socken oder Geld, bete für sie, gehe mit ihnen einkaufen oder essen. Dafür schlägt mein Herz.
Was mich an der Vision von LOVE YOUR NEIGHBOUR so begeistert, ist, dass es dabei um so viel mehr geht als um einen Businessplan, der erfolgreich sein kann oder nicht. Um mehr als ein Modelabel, das einen Trend setzt und Menschen gut aussehen lässt. Es geht um einen Lifestyle, der andere im Blick hat, und um eine Bewegung, bei der LOVE YOUR NEIGHBOUR „draufsteht“, aber auch „drin ist“ – wo Nächstenliebe praktisch gelebt wird. Jesus fordert uns auf, dass wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst. Ich brenne dafür, dass immer mehr Menschen davon angesteckt werden, diese Liebe, wo auch immer sie unterwegs sind, zu leben. Dass sie an ihrer Arbeit gegenüber den Kollegen und Kunden wohlwollend und wertschätzend sind, in der Fußgängerzone oder Straßenbahn Menschen ein warmes Lächeln schenken oder Hilfe anbieten, in ihrer Familie dankbar und nachgiebig sind, an der Uni oder in der Schule ein offenes Ohr für andere haben, beim Trinkgeldgeben oder gegenüber Bedürftigen unerhört großzügig sind. Dass sie eben im Alltag nicht nur von sich selbst und den eigenen Projekten eingenommen sind oder den eigenen Sorgen nachhängen. Sondern dass diese liebende Aufmerksamkeit für andere ein Lifestyle wird, wie coole Fashion einer sein kann. Von dieser Kultur sollen viele erfasst werden, damit eine Lawine der Nächstenliebe ins Rollen kommt.
Bereits einige Wochen nach der Vision stapelten sich in unserem Hausflur die Pakete. Gespannt öffnete ich einen Karton nach dem anderen – es waren die Mustershirts. Hektisch vor Vorfreude zog ich sie heraus und drapierte sie alle nebeneinander auf dem Holzfußboden in meinem Zimmer bis in den Flur hinaus. Langsam schritt ich die Shirt-Meile auf und ab, befühlte die Textilien, verglich die Schnitte. Hm, das hatte ich mir anders vorgestellt. Keines der Shirts überzeugte mich so richtig, besonders die schnöden Formen enttäuschten mich alle. Trotzdem machte ich mit allen Textilien noch Waschproben und prüfte die Qualität. Aber ich musste ernüchtert feststellen, es war kaum etwas dabei, das mir gefiel und meinem Anspruch an Qualität entsprach.
Kurz darauf reiste ich nach London zu einem City-Trip. Immer mal wieder mache ich Kurzreisen in Städte wie Amsterdam, London, Paris, New York, Berlin oder Madrid, um mich von der vibrierenden Stadt und der hippen Mode dort inspirieren zu lassen. Dabei ist es für mich längst selbstverständlich geworden, dass ich morgens mit Obdachlosen frühstücken gehe oder ihnen etwas Warmes zu trinken hole. Das ist einfach zu einem Lebensstil geworden – mit offenen Augen für Bedürftige durch die Städte zu gehen und mich in meinem Programm unterbrechen zu lassen.
Auf diesem Trip in London, als ich durch die Shopping-Straßen lief, machte ich einen genialen Fund: In einem der Stores entdeckte ich die perfekten Shirts für LOVE YOUR NEIGHBOUR! Die, die es bei all meinen Mustersendungen nicht gegeben hatte: super Schnitte, toller Stoff und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Also packte ich die Gelegenheit beim Schopf, kaufte spontan zwei megagroße Koffer, dann 400 dieser T-Shirts und nahm sie mit in die Schweiz. Dort machte ich mich auf die Suche nach einer Druckerei und fand schließlich eine in Zürich, die Menschen mit Behinderung beschäftigte. Hier ließ ich die erste Kollektion – und einige weitere – drucken.
Inzwischen war ich von Feuerthalen bei Schaffhausen in das Weindörfchen Jenins im Bündnerland umgezogen. Meine Freundin Elena, mit der ich zu dem Zeitpunkt seit eineinhalb Jahren zusammen war, hatte sich für ein Tourismusstudium in Chur entschieden. Da wir keine Wochenendbeziehung wollten, hatten wir beschlossen, dass ich mitkomme. Schließlich konnte ich genauso gut in der abgeschiedenen ländlichen Stille LOVE YOUR NEIGHBOUR weiterentwickeln und die viele Natur und die Berge würden mir guttun. So mietete ich eine schöne Wohnung im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses, Elena dagegen wohnte im 20 Minuten entfernten Chur.
Eine unwiderstehliche Sehnsucht aus meiner Kindheit hatte mich aufs Land gezogen. Als ich realisierte, dass das Fenster meines Zimmers zur Kuhweide hin lag, jubelte ich innerlich. Das vertraute Muhen und die dumpf klingenden Kuhglocken zu hören, machte mich glücklich und erinnerte mich an herrliche Zeiten von früher. Wenn ich auf der anderen Seite der Wohnung auf die große Terrasse hinaustrat, erstreckten sich direkt vor mir die ausgedehnten Weinberge der „Bündner Herrschaft“ – des größten Weinbaugebiets im Bündnerland – umgeben von hohen, kantigen Bergen. Ein atemberaubender Anblick!
Da Elena von ihrem ersten Semester stark in Anspruch genommen wurde, hatte ich sehr viel Zeit für mich, weg von allem Betrieb und der extrem aufreibenden Zeit der vergangenen Jahre. Stundenlang spazierte ich allein durch die weitläufigen Weinberge oder am glitzernden Seeufer entlang und redete mit Gott. Manchmal stieg ich auf einen einsamen Berg und blickte in die Weite, ließ meine Gedanken schweifen und dachte über LOVE YOUR NEIGHBOUR nach und was alles möglich war. Zusammen mit Gott träumte ich den Traum weiter.
Wenige Wochen nachdem ich ins Bündnerland umgezogen war, kam der große Moment. Gespannt wie ein Flitzebogen setzte ich mich an einem sonnigen Septembermorgen ins Auto und fuhr nach Zürich zur Textildruckerei. Stolz und überglücklich nahm ich höchstpersönlich die fertigen Shirts in Empfang – meine erste Kollektion! Sofort öffnete ich einen Koffer und holte ein Exemplar heraus. Wow! Megagenial! Der weiße Anker auf dem schwarzen Stoff sah einfach tipptopp aus. Dann wühlte ich durch den anderen Koffer, in dem die weißen Shirts waren. Auch davon war ich einfach nur begeistert. Strahlend schob ich die Gepäckstücke ins Auto, setzte mich ans Steuer und fuhr wie im Traum zurück in die Berge – die ganzen eineinhalb Stunden mit dem breitesten Grinsen im Gesicht überhaupt. Direkt aus den Koffern heraus verkaufte ich die erste frisch gedruckte Kollektion von LOVE YOUR NEIGHBOUR. Viele Freunde und Bekannte fanden die Sachen total cool, kauften ein und machten kräftig Werbung. Langsam lösten sich erste Steinchen und brachten die Lawine ins Rollen.
Zuerst bot ich die Kleider einzeln über Facebook an. Dazu fotografierte ich die Shirts, stellte sie ein und postete: „Willst du dieses Shirt haben? Schreibe uns!“ Nebenher richtete ich mit ein paar Profis zusammen langsam einen Onlineshop ein und baute die Produkte aus – mehr Designs, Accessoires, Sweatshirts etc. Jede einzelne Bestellung, die einging, ließ mich vor Freude fast platzen. Es ging einfach los, eigentlich ohne klares Konzept oder Struktur. Es war eine Herzenssache und ich war so happy dabei! Am 1. November 2013, ein halbes Jahr nach dem Traum, ging dann die Website von LOVE YOUR NEIGHBOUR offiziell online. Ein weiterer Meilenstein.
Es ist nachts um drei. Mir laufen die Tränen übers Gesicht, meine Finger zittern vor Erschöpfung. Ruhige Musik läuft in meinem nur mit einer Kerze erhellten Zimmer. Völlig übermüdet lasse ich mich aufs Sofa fallen und schließe die Augen. Gerade habe ich das letzte Päckchen fertig gemacht, das morgen in die Post muss. Mir ist ungeheuer wichtig, dass jede Bestellung von „LYN“ rechtzeitig rausgeht und ich die angegebene Lieferzeit einhalte. Müde öffne ich meine Augen und blicke auf den Stapel Pakete und Versandtaschen, die vor mir auf dem Boden liegen. Die Bestellungen häufen sich; innerhalb von nur wenigen Wochen nach der ersten Kollektion wollen immer mehr Menschen ein LOVE YOUR NEIGHBOUR-Shirt.
Mein Blick wandert zu meinem gekachelten Tisch, auf dem die Kerze flackert. Da stehen ein nostalgisches schwarzes Telefon und eine alte Schreibmaschine. An der rechten Tischkante liegen ein Siegel mit Segelschiffmotiv und rotes Wachs. Bestellungen mit nur einem T-Shirt, die ich in einer Versandtasche verschicke, erhalten auf der Rückseite immer noch ein edles Gepräge. Dazu träufele ich mithilfe der Kerze das Siegelwachs auf die Umschläge und drücke den Stempel ein. Jedes versandfertige Paket bekommt schließlich noch ein LOVE YOUR NEIGHBOUR-Logo und ich fotografiere es auf diesem Stillleben-Tisch. Jedes einzelne. Dann markiere ich das Bild für die Leute, die bestellt haben, bei Facebook und poste: „Du kannst dich freuen, morgen kommt dein Paket!“ So kurble ich die Vorfreude auf ein wunderbares, ganz besonderes T-Shirt an. Gleichzeitig sorge ich auf diese Weise für eine größere Reichweite und mache LOVE YOUR NEIGHBOUR über die Kunden bekannter.
Doch da ich alles allein bewältige, bin ich bei der wachsenden Nachfrage bald am Anschlag. Jede Bestellung erfordert etliche einzelne Handgriffe, so vieles – wie das Siegel, das Fotografieren und Posten –, das Zeit kostet, sodass ich oft bis spät in die Nacht hinein arbeite und packe. Jedem Paket widme ich mich mit voller Konzentration. Mir liegt sehr daran, jeden einzelnen Kunden durch meine Sorgfalt wertzuschätzen. Jedes Paket segne ich mit dem Wunsch, dass der Empfänger sich der Botschaft von LOVE YOUR NEIGHBOUR bewusst wird und sie in seinem Leben umsetzt.
Mein Blick wandert wieder zu dem Berg fertiger Sendungen. Trotz aller Erschöpfung erfüllt mich zutiefst, was ich mache. Zum ersten Mal in meinem Leben tue ich etwas, bei dem es mir nicht darum geht, was dabei für mich herauskommt oder wie viel ich dabei verdiene. Nein, ich lebe tatsächlich meinen Traum! Jetzt gerade und in Echtzeit! Innerlich jubelnd spüre ich, dass ich genau dort bin, wo ich sein will. Nirgendwo anders. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchflutet mich, das ich bisher von keinem noch so erfolgreichen Job kenne. Tief dankbar schleppe ich mich mit letzter Kraft ins Bett und falle sofort in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Tag fahre ich mit meinen paar Dutzend Päckchen und Versandtaschen zur Post in Landquart. Schon manchmal habe ich mich gefragt, was das wohl mit den Postangestellten macht, wenn sie das Logo von LOVE YOUR NEIGHBOUR immer wieder sehen. Als ich heute am Schalter stehe, schaut die freundliche Dame erst neugierig die Pakete an, dann mich und fragt schließlich zögernd: „Was ist das eigentlich, das Loveyourneighbour?“ Freudestrahlend erzähle ich ihr von der Vision und dass Hunderte schon davon angesteckt worden sind. Begeistert gibt die Postdame zurück: „Wow, das finde ich genial. Man merkt, Sie leben das richtig. Sie strahlen so viel positive Energie aus.“ Schließlich bittet sie mich um den Kontakt, um selbst ein Shirt zu bestellen.
Als ich wieder im Auto sitze, laufen mir die Tränen übers Gesicht. Dankbarkeit und Freude erfüllen mich, dass Gott mir diese Vision anvertraut hat, dass sie Wellen schlägt und er immer wieder Menschen dadurch berührt. Zu Hause angekommen, gehe ich an meinen Gebetsort auf dem Berg und danke Gott für alles, was passiert und was ich gerade erleben darf. Ich will demjenigen das Lob weiterreichen, der das alles ins Leben gerufen hat.
Die Postdame gab später zwei Bestellungen auf. Das Postamt in Landquart und diese so wertvollen, kleinen Anfänge von LOVE YOUR NEIGHBOUR sind ganz kostbare Erinnerungen für mich. Ich liebte es, dorthin zu gehen und auch mal kleine Geschenke zu verteilen. Man spürte richtig, wie sich in der Post eine liebevolle Atmosphäre ausbreitete.
Genau darum geht es im Kern, dass wir immer mehr Leute anstecken mit diesem wunderbaren Nächstenliebe-Virus. LOVE YOUR NEIGHBOUR will einen Lifestyle der wertschätzenden Mitmenschlichkeit prägen und das in allem, was wir jeden Tag tun. Wie Mode zu tragen wird es zu einer alltäglichen Haltung, egal wo ich bin. Ganz selbstverständlich schaue ich nicht weg, sondern frage den Obdachlosen vor dem Supermarkt, was ich ihm mitbringen kann. Oder blicke der Reinigungskraft oder dem Busfahrer in die Augen und bedanke mich für das, was sie täglich tun. Inzwischen habe ich so viele Geschichten erhalten von Menschen, die mir schreiben oder posten, was sie mit LYN erleben. Mit den 28 000 Followern auf Facebook und stetig steigender Tendenz ist LOVE YOUR NEIGHBOUR in zweieinhalb Jahren zu einer riesigen Community angewachsen. Leute ermutigen sich dort gegenseitig mit ihren Storys, was es auslöst, wenn sie Liebe praktisch leben. Eine Frau schrieb, dass sie immer wieder auf das Shirt und die Message angesprochen wird und es plötzlich ganz leicht ist, von ihrem Glauben zu erzählen. Früher sei das für sie immer ein schrecklicher Krampf gewesen. Tatsächlich höre ich das von vielen Menschen. Dann gibt es Leute, die vorher Obdachlose regelrecht gehasst haben, die sie heute zum Essen einladen. Andere lassen sie bei sich übernachten und duschen. Eine Frau schrieb: „Immer, wenn ich das Shirt anhabe, bin ich so großzügig!“ Was für ein schöner Nebeneffekt!
Einmal kam ein junger Mann auf einem Event in der Schweiz zu mir. Mit Tränen in den Augen umarmte er mich fest: „Du bist doch der David?“ „Nein, ich bin Max“, blödelte ich. Als wir meine Quatscheinlage aufgelöst und herzlich gelacht hatten, wurde er ganz ernst und erzählte: „Drei Jahre lang hatte ich Depressionen. An dem Tag, als ich das Paket mit der LOVE YOUR NEIGHBOUR-Bestellung aufgemacht habe und den Pullover anzog, waren die Depressionen verschwunden. Von einem Moment auf den anderen. Es ist absolut verrückt!“ Überwältigt dachte ich: Ja, so ist Gott! Er erhört Gebete. Dankbar nahm ich den jungen Mann in den Arm.
Die vielen Leute, die auf Facebook posten, was sie erleben und was passiert (und die vielen, die es nicht posten und trotzdem tun), sind für mich die Fackeln aus der Vision, die immer mehr werden, immer mehr Licht und Wärme in ihrem Umfeld und ihren Städten verbreiten. Es sind die vielen kleinen Dinge, die wir mit großer Liebe tun, die Veränderung bewirken. Eine zweite Weisheit meines großen Vorbilds Mutter Teresa, das mich total beeindruckt. Zutiefst bin ich davon überzeugt, dass es auf den Einzelnen ankommt und die kleinen, nicht aufsehenerregenden Dinge – aber die Haltung dahinter. Das habe ich auch im Statement zur Vision von LOVE YOUR NEIGHBOUR formuliert: „Liebe oder Hass – du machst den Unterschied. Ich träume von einer Welt, in der jeder seine wahre Identität finden darf. Von einer Welt, in der sich jeder so lieben kann, wie er erschaffen wurde. Diese Liebe wird dein Umfeld, deine Stadt, dein Land und schließlich die ganze Welt verändern. Sei dabei, wenn wir die Welt verändern – denn DU bist genial.“
Von Anfang an war die praktische Liebe auch Teil des Labels und der Unternehmenskultur – wir bezeichnen uns als Social Fashion Label. In der ersten Zeit gaben wir jedes zehnte produzierte T-Shirt an Obdachlose, nach einer Weile schon jedes fünfte und zehn Prozent vom Erlös gingen an Projekte, die Bedürftige in unserer Nachbarschaft unterstützen. Inzwischen produzieren wir weit mehr als T-Shirts – auch Sweater, Caps, Accessoires und Taschen. Gerade sind wir dabei, eine Stiftung zu gründen. Zwölf Prozent vom Gesamtumsatz fließen dann hier rein – und davon werden weiterhin Bedürftige unterstützt.
Wenn ich heute auf City-Trips gehe, habe ich immer einen Koffer mit T-Shirts, Mützen oder anderen Produkten dabei, die ich Bedürftigen auf der Straße schenke. Dabei ist mir wichtig, dass ich immer neue Kleider verschenke. Keine gebrauchten Sachen, aber auch keine alten Kleider. Wenn ich etwas gebe, soll es das Beste sein. Das ist mein Prinzip. Immer wieder überwältigt es mich zu erleben, was da passiert, wie Herzen berührt werden und sich öffnen! Ich bin überzeugt davon, dass Jesus auf jedem Herzen sitzt. Wenn man einen Menschen liebt – wenn man großzügig ist, ihm Wertschätzung schenkt oder ihm aus heiterem Himmel für etwas dankt –, öffnet sich das Herz und Jesus, also die Liebe, plumpst hinein. So simpel. Ja, es ist so simpel bei Gott. Weil ich so unendlich geliebt bin von Gott, kann ich andere lieben. Dann kann ich getrost aufhören, Menschen bekehren zu wollen. Das geht sowieso nicht. Gott sei Dank brauche ich niemanden zu überzeugen. Denn mein Auftrag und der von allen Christen ist es einfach nur, Menschen zu lieben. Wir sind Träger von Gottes Liebe. Durch die T-Shirts wird diese Botschaft doppelt transportiert. Im Verschenken und mit der Message.
Einmal als ich wieder in London war, lief ich zur Underground-Station. Dort am Eingang saß ein Obdachloser mit einem Hut vor sich. Als ich mich zu ihm hockte, fragte ich ihn, ob er ein neues T-Shirt möchte mit einer Botschaft drauf. Sein Gesicht hellte sich auf: „Yes, sure!“ Wir kamen ins Gespräch und ich erfuhr, dass er Peter hieß. Schließlich erklärte ich ihm, dass ich Klamotten mache und was es mit LOVE YOUR NEIGHBOUR auf sich hat. Dann begann er mir von seinem Leben zu erzählen. Mit erstaunlich emotionsloser Stimme berichtete er von all den harten Umständen und Schicksalsschlägen, die er erlitten hatte. Schweigend saß ich neben ihm und hörte ihm erschüttert zu. Meinen Arm hatte ich um seine Schulter gelegt. Nachdem er fertig war, blickte ich ihm in die Augen und sagte ihm, dass Gott ihn unendlich liebt und ihm alles geschenkt hat. Verwundert schaute er mich an, während ich redete. Seine feuchten Augen verrieten mir: Jesus war gerade in sein Herz geplumpst. „Darf ich für dich beten, Peter?“, fragte ich. Er stimmte zu und ich betete. Schließlich entschied sich Peter, sein Leben Gott anzuvertrauen, diesem Gott, der ihm so viel geschenkt hatte.
Am nächsten Tag war ich wieder in dieser Gegend unterwegs. Als ich die belebte Straße entlanglief, hörte ich plötzlich jemanden rufen: „David, David – how are you?“ Es war Peter. Fröhlich rannte er mir entgegen und umarmte mich fest. Tiefe Freude durchflutete mich. Ihn wiederzusehen und hier in dieser riesigen Metropole ein bekanntes Gesicht zu treffen, dessen Geschichte ich sogar kannte, war wunderbar. So zogen wir zusammen los zu einem China-Imbiss und kauften uns etwas zu essen. „Kann ich noch etwas für dich tun? Brauchst du noch etwas?“, fragte ich ihn, als wir satt wieder vor die Tür traten. „Oder kann ich noch einmal für dich beten?“ Seine Antwort haute mich total um: „Nein, David. Ich weiß jetzt, dass der Himmel über mir offen ist. Jetzt bete ich für dich.“ Da stand ich, mitten auf der Straße im hektischen London, und Tränen liefen mir übers Gesicht, während Peter für mich betete.
Neben Wundern und bewegenden Begegnungen mit Menschen passierten auch Wunder mit dem Modelabel selbst. Kurz nachdem die erste Kollektion raus war, bekam LOVE YOUR NEIGHBOUR mächtig Aufwind durch eine Aktion, die ich mir kaum hätte erträumen können. Aus Spaß machte ich bei einem Wettbewerb mit, den mir Tete, ein Freund meines Bruders, empfohlen hatte. Bei diesem Contest ging es darum, dass ausgewählte junge Schweizer Modemacher während der Fashion Days in Zürich eine Plattform erhielten, um sich und ihre Kollektion vorzustellen. Von der Jury erhielt ich eine völlig begeisterte Rückmeldung: „So ein cooles Konzept haben wir noch nie gesehen, wir spüren, das ist etwas anderes!“ Bääääm! Und so gewann ich den Wettbewerb und durfte mit drei anderen Jungdesignern am Züricher Flughafen beim Suisse Design Markt ein Wochenende lang ausstellen. Das war so ein Geschenk, ich war überwältigt!
In der Woche vor dem Design Markt schrieb mich eine junge Frau, die ich gar nicht kannte, über Facebook an und bot mir ihre Hilfe am Ausstellungsstand an. Sie hieß Jael und wollte am Sonntagnachmittag, nach dem Gottesdienst, beim Verkauf helfen. Als ich nach dem Mittagessen zum Stand zurückschlenderte, erwartete mich da eine fröhliche, charmante Frau, die eifrig verkaufte – Jael. Mit den anderen Ausstellern hatte sie sich schon bekannt gemacht und half mir dann den ganzen Tag lang. Wir hatten tolle Gespräche in den Pausen und ich war fasziniert von ihrem Helferherz. Wie sie ganz praktisch Nächstenliebe lebt, passte zum Spirit von LYN.
Nach den Fashion Days bekam ich zunehmend Bestellungen aus dem Ausland. Die Shirts waren in alle Welt mitgenommen worden und zogen nun ihre Kreise. Auch die sozialen Netzwerke taten das Ihre dazu, dass LOVE YOUR NEIGHBOUR immer bekannter wurde. Da die Botschaft und der Name des Labels identisch sind, läuft die Werbung beim Shirt ja direkt mit.
Ein finanzielles Wunder erlebte ich mit meinen 3 800 Franken Startkapital. Das war das Geld, das ich von meinem Gesparten so loseisen konnte, dass ich selbst noch etwas zum Leben hatte. Das fühlte sich an wie Lossegeln aus dem sicheren Hafen, ohne dass das Ziel oder die andere Küste in Sicht waren. Aber das Risiko wollte ich eingehen. Wer nicht lossegelt, kommt auch nirgends an. Am Anfang von LYN hatte ich Gott gefragt, wie lange ich ohne Einkommen aus dem Label auskommen würde, denn bis heute verdiene ich selbst nichts daran. Deutlich hörte ich, wie Gott mir sagte: bis Februar 2015 – das waren also knapp zwei Jahre. Darauf lebte ich vertrauensvoll zu, auch wenn mir manchmal mulmig zumute war. Im Grunde wusste ich ja auch nicht, was nach Februar 2015 kommen würde. Das hatte Gott mir nicht gesagt. Monat für Monat sah ich, wie mein Gespartes zusammenschmolz. Gelegentlich erhielt ich noch Aufträge aus meiner früheren Arbeit in der Finanzbranche, durch die ich hier und da etwas nebenbei verdiente. Doch irgendwann wurde es knapp. Schließlich verkaufte ich meine geliebte Breitling-Uhr und meinen Audi R8, auf die ich lange gespart hatte. Doch das Geld wurde trotzdem immer weniger.
Durch einen „Zufall“ traf ich wenige Wochen vor Ablauf meiner „Frist“ einen ehemaligen Kollegen aus meiner Finanzzeit. Beiläufig fragte er: „Sag mal, David, hast du noch Kontakte? Mein Team und ich sind seit Längerem nicht mehr glücklich in unserer Branche. Kannst du uns nicht als gut eingespielte Mannschaft empfehlen?“ Kurzerhand rief ich meinen früheren Chef an und vermittelte das komplette Team von zehn Mann. Alle zusammen packten sie ihre Sachen und wechselten Schlag auf Schlag. Durch die Vermittlung erhielt ich jeweils einen Anteil vom Gewinn, den das Team erwirtschaftete. So hatte ich punktgenau seit dem 1. März 2015 ein monatliches Passiveinkommen. Und konnte mich erst mal voll und ganz auf LOVE YOUR NEIGHBOUR konzentrieren. Mittlerweile läuft dieser Deal nicht mehr und so bin ich immer wieder abhängig, was die Zukunft bringen wird. Doch erst kürzlich ging wieder eine anonyme Spende über 10 000 Franken auf mein Konto ein. Unglaublich, oder?
Es flasht mich ständig zu sehen, was Gott macht, wie er das Label und mich versorgt und welche Wunder geschehen. Auch dass Gott sich ausgerechnet mich dazu ausgesucht hat, haut mich immer wieder um. In meinem Leben habe ich so viel Negatives erlebt, ich bin durch viele verletzende Erfahrungen mit Menschen und Untreue in Beziehungen gegangen, habe extreme körperliche Schmerzen und existenzielle Verluste erlitten. Ja, ich hätte allen Grund, bitter und verurteilend zu sein, und es hätte auch nicht viel gefehlt, dass ich abgestumpft wäre und den Kopf in den Sand gesteckt hätte. Aber das wäre zu einfach gewesen. Tatsächlich haben all die negativen Dinge das Gegenteil bewirkt: Sie haben mich stärker und fester werden lassen in meinen Überzeugungen und auch die Liebe in mir hat Gott wachsen lassen.
Krisen können in Bitterkeit führen oder stärker machen. Das Geheimnis dahinter (und hinter so vielen anderen wichtigen Dingen im Leben) ist, welche Entscheidung ich treffe. In diesen Erfahrungen habe ich für mich den Entschluss gefasst, dass ich immer, wenn sich zwei Wege vor mir auftun, den schweren nehmen will. Denn ich vertraue darauf und habe es erlebt, dass ich an den Herausforderungen wachse, dass sie meinen Charakter positiv formen. Wenn ich dazu bereit bin. Das ist absolut kein Spaß, aber am Ende ist es besser. Vor allem für die Menschen in meinem Umfeld ist es ein Segen, weil ich geschliffen wurde. Schon lange geht es in meinem Leben nicht mehr um mich. Gott sei Dank. And that's the point.
Doch an diesen Punkt zu kommen, hat mich viel gekostet. Den Weg dorthin hätte ich mir im Leben nicht selbst ausgesucht. Oft war er extrem hart und steinig oder überstieg meine Kraft …