Читать книгу Mit der Kraft zu lieben - David V Tulman - Страница 4
ОглавлениеVorwort
Manche Menschenleben scheinen alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Wir hören oder lesen erstaunt, wie vielfältig und abenteuerlich solche exemplarischen Lebensläufe das in einem umfassen, was uns sonst nur auf viele Biografien verteilt begegnet. Als würde ein Maler versuchen, in einem Bild alle seine Möglichkeiten darzustellen und je länger wir das Bild betrachten, desto mehr Details und überraschende Perspektiven entdecken wir in seiner Komposition.
In dieser Weise komponiert erscheint einem auch das Leben des David Victor ben Morenuraw Eliahu Tulman. Von einem winzigen ungarischen Dörfchen in die Zentren der Welt, von extremster Armut in große Paläste, von religiöser Enge zu einem weltumfassenden humanistischen Verständnis – ein Denk- und Lebensweg von fast monumentaler Größe, der einen manchmal betreten auf sich selbst blicken lässt.
Unter vielen Motiven kann man versuchen, dieses Leben zu ordnen und zu verstehen – eines der wichtigsten ist die Radikalität des Glaubens. Im Geiste der orthodoxen Lehren des östlichen Rabbinats erzogen, in kompromissloser Strenge auf ein Leben mit den heiligen Schriften und den Ritualen des Judentums vorbereitet, wurde die Glaubensbereitschaft des Kindes nicht erstickt, sondern zu einer Überzeugung geformt, die den erwachsenen Mann später stets begleitete. Trotz der weltanschaulichen Entscheidungen für die kommunistische Räterepublik, für den Dialog mit den anderen Religionen, für einen offenen und manchmal provokativen Lebensstil war David Victor Tulman vor allem eines: ein gläubiger Jude.
Und seine Entwicklung zeigt, dass starker Glaube, Ernsthaftigkeit im Religiösen und Spirituellen durchaus vereinbar sind mit Entwicklungsfähigkeit und einem offenen Blick in die Welt, ja manchmal sogar gerade Voraussetzung dafür sein können. Wir alle, denen die Welt des “Stetls” ins Melancholisch-Pittoreske entrückt zu sein scheint, haben Grund, uns auf die Lehren eines solchen Lebens einzulassen. Gegenwärtige Debatten über die Wertfundamente moderner Gesellschaften zeichnen nämlich oft ein verkürztes Bild: es scheint, als hätten wir nur die Wahl zwischen einerseits einem “Mullah-Regime” wie es Fundamentalisten aller Richtungen und Religionen zur Bewältigung der Verwerfungen von Modernisierungsprozessen anstreben, einer streng weltanschaulich-religiös ausgerichteten Gemeinschaft also, und andererseits der libertären Konsumgesellschaft, die zwar ein angenehmes “Laissez-faire” zulässt, ihre Mitglieder aber immer lebens- und sozialunfähiger macht. Was jedoch bei Tulman im Persönlichen deutlich wird, ist vielleicht auch gesamtgesellschaftlich plausibel: die Energien des Glaubens und die Hoffnung auf grundsätzliche ordnende Prinzipien der Welt können ausgerichtet werden in den Koordinaten einer toleranten und entwicklungsfähigen Gemeinschaft aller Menschen.
Denn “Mit der Kraft zu lieben” ist auch ein gewaltiger Appell für Toleranz und gegenseitige Anerkennung. Dieses Verständnis und seine Grundlagen, die in einem umfassenderen Verständnis auch der geistigen und mystischen Dimensionen des Lebens liegen, war ein besonderes Anliegen Tulmans. Besonders an die Deutschen war seine Botschaft gerichtet, nicht als Anklage oder um den vielen (notwendigen) Darstellungen der NS-Verbrechen noch eine weitere hinzuzufügen, sondern weil er den nachfolgenden deutschen Generationen einen Weg aus der dunklen Vergangenheit mit ihren Engstirnigkeiten und Überheblichkeiten, aber auch mit den Selbstanklagen und Hypermoralisierungen der Nachkriegszeit zu zeigen versuchte. Daher wollte er seine Arbeit unbedingt in deutscher Sprache veröffentlichen.
“Auf dem Weg zur Verbrüderung der Religionen” steht auf dem Grabstein von David Victor Tulman geschrieben, der auf dem Ölberg in Jerusalem begraben liegt. Dass hier schon einer auf diesem Weg weit vorangekommen war, kann allen Menschen Mut machen.
Bernd Villhauer