Читать книгу Mit der Kraft zu lieben - David V Tulman - Страница 5

Оглавление

Das erste Buch

Bei Vater und Mutter

Meiner Eltern Liebe war immer mit mir bei meinem lan- gen Wandern. Die Strenge meines Vaters und die Innigkeit meiner Mutter haben mich geformt, behütet und durch die Schrecken der Welt geführt. Sie gaben mir die Kraft, immer neu das Licht hinter der Dunkelheit zu suchen und so zu immer neuen Erkenntnissen zu gelangen. Sie gaben mir die Kraft zu lieben. Ich danke ihnen mit meiner ganzen Seele dafür.

Ein alter hebräischer Text sagt: “Liebe alles, was um dich ist, denn es ist so geschaffen wie du selbst”, das heißt, liebe die Menschen, die um dich sind, liebe die Tiere, liebe die Pflanzen und liebe die Erde. Sind wir nicht alle aus ihrem Staub erschaffen?

Kurtakeszi

Ja, etwas entsinnt sich in mir an alles, was in meinem Elternhaus geschah. Schon ab meinem fünften Lebensjahr wird es ganz deutlich.

Es war in Kurtakeszi, im ersten Dörfchen meiner Erinnerungen, die nun zu lebendigen Bildern unseres Lebens werden. Kurtakeszi war mein “lichtiges Dörfchen”!

Im März 1906 war es, als ich eben meine fünf Jahre erreicht hatte. Unsere Familie wohnte in diesem kleinen Dorf zwischen der Donau und dem Fluss Sajó im Kaiserreich Österreich-Ungarn. Seither haben sich Grenzen und Namen mancher Ortschaften hier geändert, was mir melancholische Gedanken kommen lässt.

Meine Eltern stammten aus Russland, sie waren vor den dortigen Pogromen bis nach Ungarn geflohen und hatten auch hier schon manchen Ort wechseln müssen, denn wir waren Juden und mein Vater sogar ein Rabbiner. Vor den Menschen war er ein sehr armer Rabbiner, aber ich bin sicher, so es einen Gott gibt, war er vor Ihm reich und prachtvoll in seiner großen Andacht. Und wenn Gott Liebe verteilt, so waren meine Eltern fürstlich beschenkt; so fühlte ich es. Unser kleines Haus auf Erden hatte ein dickes und dichtes Strohdach und war von außen wie von innen ganz weiß getüncht, aber seine Deckenbalken und Fensterrahmen waren von der Zeit und dem Rauch fast schwarz geworden, und unsere Füße liefen auf dem festgestampften Lehm der Erde. In unserem kleinen Haus war es aber warm, war es heimelig von Liebe.

Der “kleine David”, das war ich, saß schon am Tisch seines Vaters von morgens früh bis abends spät und studierte die heiligen Schriften, natürlich in Hebräisch, welches ich schon fließend lesen und sprechen konnte. Woran ich mich nicht entsinnen kann, ist, das Alphabet gelernt zu haben, mir war, als hätte ich es immer gekannt.

Als Sohn eines chassidischen Rabbiners wurden meine Haare an den Schläfen nicht geschnitten: das waren die “Päis”, geformt als zwei lange Ringellocken. Sonst hatte ich blonde Haare, blaue Augen, schon breite Schultern für mein Alter und der Rücken blieb mir gerade, trotz des frühen vertieften Studiums. Alles geschah ja bei uns “im Dienste für Gott”! So war es in unsere Seelen eingeschrieben und das gab sehr viel Kraft.

Nun kam Vater, der Rabbiner, von seiner Wanderung durch die weit zerstreute Gemeinde zurück. Er war ein großer, schöner Mann und Träger eines prachtvollen Bartes. Meine Schwestern und ich waren der Meinung, dass Vaters Bart von seinem Munde wie ein Strom der Gottesweisheit floss. Mit Würde trug er einen kräftigen Stock mit sich, wir Kinder dachten: “So wie Moses”. Sein schwarzer Kaftan und sein großer Hut mit breiter Krempe ließen ihn noch imposanter erscheinen. Ja, unter dem Hut trug Vater noch “die kleine Kalotte”, um niemals barhäuptig zu sein, denn es steht geschrieben: “Der Hohe Priester entblößt nicht sein Haupt.” Die schwarze Farbe unserer Kleidung, das wusste ich schon damals, ist das Zeichen, dass wir Juden noch immer um die Zerstörung der zwei gewaltigen Tempel des Königs Salomon und des Königs Herodes in Jerusalem trauern. Dies ist nun schon zweitausend Jahre her, aber wir vergessen es nie.

Vaters Erscheinung bewegte mich immer mit Verehrung und Bewunderung, denn diese ganze jüdische Vergangenheit war in ihm lebendig, und ich, ich sehnte mich, alles von ihm zu lernen.

Vater sagte: “Es muss so tief in dich hinein dringen, dass Gott selbst sagt: Du bist ein Jude.” So erklärte Vater mir das Lernen der heiligen Schriften.

Jetzt aber fragte seine klare Stimme mich:

“Nun, David, wo bist du angelangt?”

Ich drückte meinen Finger so stark auf die Linie im heiligen Buch, dass mein ganzer Eifer in ihn hinein rutschte.

“Hier Vater!” Da geschah etwas sehr Unbegreifliches, ja Erschreckendes, es fiel nämlich vom Himmel auf mein Buch eine kleine Silbermünze.

“Du hast mit Fleiß Gott gedient – und siehe, David, Er belohnt dich dafür”. Es wurde mir heiß und kalt in abwechselnden Schauern. Meine Freude, Gott zu dienen, mir seine Liebe zu erwerben, sollte zu diesem Silberstück zusammenschmelzen? Mein ganzes Wesen schüttelte sich, als wollte es diesen Gedanken abwerfen: Nein, niemals rühre ich dieses Geld an! Ich hasste es. Ich wollte es vom Tisch stoßen. Aber glücklicherweise, meine Augen sind sehr flink, hatte ich bemerkt, dass es Vater war, der wie ein Zauberer die Münze vom Deckenbalken herunterfallen ließ. Ja, ich hatte es gut gesehen und gefühlt. Es war nicht Gott gewesen!

Wie konnte ich aber dies behaupten? Und wie konnte ich es vor Vater sagen, dass ich alles bemerkt hatte und dass ich die Münze nicht haben wollte? In meiner Verzweiflung brach ich schließlich in einen Tränenstrom aus.

“Papa! Papa, ich will kein Geld haben. Gott hat mich viel besser lieb!” Darauf wurde es still. Ich musste auch schnell meine Nase putzen, damit es nicht auf das heilige Buch rann, derweil schien es mir, ging mein Schluchzen bis zum Allmächtigen hinauf. Ja, und Er nickte mir gütig zu und sagte:

“Du hast Recht, David!”

Vaters Hand legte sich sanft auf mein Haar, seine starke Liebe glitt in mich hinein, bis in das Allertiefste meiner Seele. Wie war ich glücklich! Meine Augen voller Tränen schauten zu Vater auf und unsere Blicke begegneten sich, ja begegneten sich in jener Welt, wo man Gottes Liebe sucht, in dieser stillen, gewaltigen Welt, wo man Ihm begegnen kann.

“Nimm die Münze, David, sie war für dich bestimmt und mache dir eine Freude damit”. Vater nickte mir gütig und froh zu. Ich wischte sorgsam die Tränentropfen vom offenen Buch, die Welt wurde hell, sogar sehr leuchtend schön! Unsere Welt!

Vater nahm wieder seinen Platz an unserem gemeinsamen Studiertisch ein.

So war es in Kurtakeszi, meinem “lichtigen Dörfchen”. Unsere Mutter saß draußen vor der Tür unter dem Himmel des Allmächtigen und arbeitete, wie immer, für uns alle. Plötzlich wusste ich, was zu tun sei, rannte zu ihr, um ihr die Münze in die Hände zu legen.

“Mamme, behalte du sie! Wenn noch mehr herunterfallen, können wir Schuhe zum Winter kaufen!” Aber niemals ist wieder ein Geldstück vom Himmel gefallen. Doch der große Reichtum der heiligen Schriften, er fiel tief in meine Kinderseele hinein. Dieser Reichtum wurde zu meinem unverlierbaren Schatz und Schutz während des langen Wanderns durch die Wüsten der Welt.

Unser Leben

Wenn es Winter war, sahen die etwa hundert verstreuten Häuschen von Kurtakeszi aus, als hätten sie große Kapuzen von di-ckem Schnee über ihre Gesichter gezogen; man konnte kaum mehr aus den Fenstern sehen und der Wind draußen heulte, manchmal waren es auch die Hunde, die heulten, und Vater gab ihnen dann ein Stück von unserem Brot. Aber im Sommer wurde alles wieder tüchtig grün und herrliche Blumen gab es überall; die waren ebenso kräftig und lustig wie die Bauern.

Wie möchte ich doch gut beschreiben, wie alles hier war, begann doch meine Lebensreise hier, in meinem süßen Dörfchen. Eine wirkliche Straße begann erst vor der Kirche, es stand rechts das Haus des Geistlichen und die christliche Schule. Dann kam das christliche Wirtshaus mit seinem kleinen Bazar und genau gegenüber war der kleine jüdische Bazar mit seiner Herberge. Wir waren vielleicht fünfundzwanzig jüdische Familien im Dorf und unser Synagögchen war nur durch einen sehr großen Hof von der jüdischen Herberge getrennt. Dann kam unser Haus, und wenn ich an Vaters Studiertisch saß, suchten meine Augen oft die Sonne in diesem riesigen Hof.

Da man zur Synagoge am Sabbat zu Fuß gehen muss, war ganz logischerweise das jüdische Leben um sie herum gruppiert. Nur unsere Schule stand hinter der Kirche auf einem kleinen Hügelchen, recht einsam. Vater gefiel das, er sagte: “Zum Lernen muss man Ruhe haben.”

Denn auf dieser einzigen Straße hielten die Bauern mit ihren Gespannen an, gerade zwischen den beiden Wirtshäusern, tranken einen guten Schluck Wein, erzählten sich Schwänke und alle Neuigkeiten und man lachte laut von Herzen darüber. Sie waren nicht bösartig, aber wenn ich vorüberging, versuchten sie mich zu erwischen, um an meinen Päis zu ziehen, das amüsierte sie sehr, aber mich beschämte es zutiefst und dann riefen sie “Kleiner Jud! Kleiner Jud!” hinter mir her.

Und eines Tages geschah es, dass Vater mich bei der Hand nahm und sagte: “David, du bist nun ein großer Junge geworden, es ist an der Zeit, zur Schule zu gehen, damit du das weltliche Wissen erlernst!” Und der Weg führte natürlich zwischen der christlichen und der jüdischen Herberge vorbei. Eigenartig war, dass ich nicht versuchte, mich auf der jüdischen Seite der Straße zu halten, da, wo auch unser Bazar war. Nein! Ich ging immer genau in der Mitte, besser gesagt, ich rannte.

In der Schule fand ich andere jüdische Jungen, aber sie trugen kein Päis wie ich, was mir bei ihnen zu einem gewissen Respekt verhalf, worauf ich sehr stolz war. Die größeren Jungen flüsterten untereinander: “Wir müssen aufpassen, die Christen lieben uns nicht, sie beschuldigen uns wegen dem Gekreuzigten!”

Wer war dieser gekreuzigte Jesus? Was bedeutete das Kreuz mit der traurigen Figur darauf genagelt? Das war eine Welt, von der ich noch nichts wusste. Vater zu befragen, schien mir unmöglich. Also rannte ich schnell auf der Straße, mein Herz klopfte laut und lange Zeit glaubte ich, dass “Jude sein” hieß: “Angst haben”. Aber ich wollte so ein Jude wie Vater werden und keine Angst haben! Und das war nicht leicht! Die Ungarn waren lustige Leute und wollten sich immer über mich amüsieren.

Es war Frühling! Die Sonne schien hell und seltsam, alle ihre Strahlen liefen genau zur Mutter, als wenn das Licht vom Himmel nur für sie herunterkommen wollte. Wenn es Engel auf Erden gibt, so war Mutter einer von ihnen. Sie war das Licht und die Zärtlichkeit in unserem Hause. Sie war unser Glück! Wir fanden sie alle sehr schön, trotzdem sie als die Frau des chassidischen Rabbiners ihre blonden Haare geopfert hatte um vorschriftsgemäß eine Perücke und ein Kopftuch zu tragen. Ja, dies alles um die Liebe nicht mit äußerlicher Schönheit anzureizen.

“Liebe ist ein Gottesgeschenk”, sagte Vater. So saß Mutter in ihrem schwarzen Kleid im hellen Licht vor der Tür und stopfte unsere schon oft gestopften Strümpfe. Wie konnte ich ihr nur sagen, dass ich Hunger hätte? Früh die aufregende Schule und dann bis spät in der Nacht neben dem Vater den Talmud studieren, das höhlt den Magen aus und er war es auch, der mich zur Mutter führte.

“Mamme, gibt es heute Mittagessen?” Mutter lächelte.

“Närrchen, warte bis zum Abend, da hast du noch mehr von den heiligen Geboten gelernt und dann hast du die Mahlzeit wirklich verdient! Da wird dir aber alles sehr gut schmecken.” Eine Mahlzeit am Tag ist eine ökonomische Formel, die Mutter oft anwenden musste. Aber Mamme konnte über diese Dinge scherzen, so, als wenn sie leicht und unwichtig wären.

Und wenn Vater sie aus seinem ehrenvollen Bart mal fragte: “Channe Fegele, was bekommen wir heute?” antwortete Mamme: “Diesmal gibt es etwas ganz Feines, nämlich frische, kleine Zwiebeln mit Brot!”

Und Vater sagte dann: “Gott sei’s gedankt! Und zum Abend?”

“Das wird eine Überraschung, ihr bekommt sogar frisches Brot mit gerösteten Zwiebeln dazu.”

“Hast du vielleicht noch etwas versteckt?”

“Ja, ihr bekommt auch eine Tasse Tee!” Aber manchmal gab es sogar ein Glas Milch. Erst wenn kein Brot und keine Zwiebeln mehr im Hause waren, wurden Mutters Augen wie ein Himmel, den dunkle Wolken verstecken wollen, und dann sagte sie: “Heute müssen wir Zufriedenheit essen.”

Aber unsere Gesundheit war ausgezeichnet gut. Und wenn unsere Mahlzeiten auch sehr einfach waren, wir empfingen sie von des Schöpfers Hand. Vater saß würdevoll und ruhig am Tisch mit seinem schönen Bart, er brach das Brot, wir machten zusammen die vorgeschriebenen Segenssprüche und dankten Gott für seine Güte.

So war unser Leben und ich glaubte auch lange Zeit, dass “Jude sein” hieß “Hunger haben”.

Der Sonnenschein

Trotz Vaters Abwesenheit hatte ich mich in die Lamentationen des Propheten Jeremias so vertieft, dass alle Unglücke in meine eigene Seele flossen. Ich fühlte mich: zerbrochen, verlassen, überwältigt von den Ungerechtigkeiten der Welt und auch denen meines eigenen Schicksals, es wollte mein Herz schier zerbrechen, ich musste wirklich aus diesen Leiden herauskommen.

Und draußen im Hof lockte die Sonne! War ich nicht ein Kind? Die Lust zu spielen überfiel mich. Der Ball meiner Schwester Karoline rief auch und er schürte meine Hoffnung, im Hofe vielleicht ihre hübsche Freundin Myriam zu finden, für welche ich zarte Gefühle hegte, und dann könnten wir ja zusammen mit dem Ball an der Synagogenwand spielen. Begeistert rannte ich hinaus. Leider war nur Karoline dort, was mich sehr ernüchterte. Sie trug eine große, dicke Katze in den Armen.

“David, schau, welch ein schönes Fell sie hat!” Träumerisch bemerkte sie: “Welch gutes Fleisch das ...”

Karoline war drei Jahre älter und für alle Hausangelegenheiten folgte ich ihren Anweisungen. Sie sagte: “Geh, David! Vater ist nicht da! Hol das rituelle Messer! Du wirst den richtigen Segen sagen und wir werden die Katze schlachten! Überlege gut, wir werden Fleisch zum Sabbat haben!” Ich war ganz verwirrt von dieser Idee. Um Zeit zu gewinnen, glitten meine Hände an meinem Päis herunter, so wie ein ehrwürdiger Rabbiner seinen Bart streicht.

“Karoline, in der Thora steht nichts darüber, dass wir Katzenfleisch essen dürfen, auch nicht, dass eine Katze wiederkäut oder gespaltene Füße hätte wie eine Kuh. Dann dürfte man sie vielleicht essen, aber die Katzen fressen ja Mäuse und da bin ich ganz sicher, dass wir Juden keine Mäuse essen dürfen!”

Karolines Redeschwall floss aber, von ihrer Idee begeistert, immer weiter und so intensiv auf mich los, dass ich im Begriff war, das rituelle Messer zu holen, denn die Bilder einer guten Fleischsuppe tauchten in mir auf.

Wäre Vater nicht gekommen ...

In dieser Zeit tadelte er mich noch sanft: “Ein zukünftiger Talmudist wie du, der die heiligen Schriften studiert, dich mit einem Ball in der Hand zu finden! David, wer Gott dient, darf sich nicht dem Spiele hingeben!” Stolz aufgerichtet schritt ich an Karoline vorbei, der die Katze entlaufen war. Nie wieder haben meine Hände einen Ball gesucht: “Wer Gott dient, darf sich nicht dem Spiele hingeben!”

Doch der kleine David schaute manchmal sehnsüchtig zum Sonnenschein hinaus, der auf der Wand der Synagoge mit den Schatten der Baumblätter wie mit vielen kleinen Bällen spielte. Ob Myriam wohl auch draußen war?

Aber wenn ich jetzt andere Kinder mit einem Ball in der Hand sah, ging ich hochnäsig an ihnen vorbei und dachte: “Wie könnt ihr euch mit mir vergleichen!”

Hoffnung und Verantwortung

Als ich von finsteren Tagen noch nichts wusste, das war in Kurtakeszi. “Finstere Tage” waren es nicht, wenn man nichts aß oder wenn man nicht wusste, wo man schlafen konnte. Meine finsteren Tage waren, wenn Vater mich schlug. Darum ist Kurtakeszi mein “lichtiges Dörfchen”.

Damals neben Vater sitzend, habe ich die Basis meines Wissens erarbeitet in wirklicher Liebe des Lernens; so “leben” in mir die Thora, die Rachi-Kommentare, die Mischna und manches mehr. Ich war selig, dies alles zu meinem Eigen zu machen.

Nun erlaubte Vater mir, an jedem Sonnabendnachmittag den jüdischen Dorfkindern aus der Thora vorzulesen. Wir waren alle sehr vertieft, sie lauschten mir und wir erlebten zusammen, was die heiligen Worte uns sagen wollten. Vater hörte mit zu und verbesserte mich von Zeit zu Zeit. Er ging dabei auf und ab und hatte für jedes Kind ein aufmunterndes Wort. Manchmal gab es sogar einen Apfel, in Stücke geteilt, damit es für alle reichen sollte.

Wir Kinder fühlten in uns gute Kräfte erwachen. Was waren das für “lichtige Stunden”! In dieser glücklichen Epoche gab es eines Tages ein denkwürdiges Ereignis: Ein “reicher” jüdischer Herr kam aus einer fernen Stadt, nur um Vaters Gottesdienst zu hören; seine große Familie begleitete ihn und unser Synagögchen war buchstäblich überfüllt. Vaters Rede begeisterte diesen Herrn, ich konnte es gut bemerken. Verzeihung, ich habe aber mehr diesen Herrn als Vaters Rede bewundert, seinen herrlichen Gebetsschal, den er wie ein frommer Jude über den Kopf legte, um die Welt draußen zu vergessen. Doch sein Gesicht mit dem fein zurechtgeschnittenen Bart war gar nicht vorschriftsgemäß (und mir kam es so vor, als ob seine Gedanken noch immer in der Welt “draußen” geblieben waren). Und dann – durfte ein Jude überhaupt “reich” sein?! Aber dieser Herr sah trotzdem sehr klug aus und schien viel nachzudenken. Über was wohl? Seine so schön angezogenen Kinder kamen auch aus dieser Welt, die ich nicht kannte, und der große Hut seiner Frau schien mir gewiss nicht gottgefällig zu sein.

Als alles vorbei war und wir aus der Synagoge herausgingen, da stellte Vater mich dem Herrn vor: “Mein kleiner Sohn David, er studiert schon fleißig.” Von dem Herrn freundlich befragt, antwortete der “kleine David” prompt auf alle Fragen und legte manche Kommentare stolz dazu.

Der kluge Herr schien alles gut zu verstehen und zeigte, wie erstaunt er über meine Antworten war. Das gab mir Mut und ich erlaubte mir zu fragen, ob seine Kinder zu meinem Thora-Vorlesen am Nachmittag kommen könnten. Und wirklich, sie kamen! Und der Herr selbst kam auch.

Wie war ich glücklich, auch meine Vortragskunst zu beweisen! Hingerissen vom Eifer wollte ich, dass alle Kinder mit mir zusammen von diesen heiligen Worten belebt sein sollten, sie sollten zittern und aufatmen und die Worte nicht mehr vergessen. Ich fand selbst, dass ich etwas übertrieb, doch glücklicherweise war Vater da und seine Anwesenheit beruhigte mich. Zum Schluss gelang es mir, die Zemirot, die ich von Vater gehört hatte, mit ihnen allen zusammen zu singen.

Als alles beendet war, rief mich der Herr zu sich:

“David, wie alt bist du?”

“Ich habe soeben mein sechstes Lebensjahr begonnen.” Ein sehr zweifelnder Blick ging zu Vater. Vater aber bestätigte meine Worte. Der Herr nickte mehrmals mit dem Kopf und schaute mich ernsthaft an. Darauf legte er ruhig und fest eine Weile seine Hand auf meine Schulter. Danach verabschiedete er sich von Vater.

Mir war, als ob diese Familie meine Gedanken mit in ihre Welt genommen hätte. Vater musste mir beim Studium sagen:

“David, pass auf! Deine Gedanken sind nicht bei der Sache!”

Einige Zeit darauf kam der Postbote mit einem eingeschriebenen Paket: “Wohnt hier ein David Tulman?”

Mutter eilte zu Vater.

“Nein, nein, nicht Sie, Herr Rabbiner, ein David Tulman”. Ich musste selbst unter Vaters Aufsicht unterschreiben, natürlich auf hebräisch.

Der Postbote murmelte: “Wer kann denn das lesen?”, und ich sagte ihm: “Ich!”

Das erste Paket meines Lebens. Es war mir erlaubt, es selbst zu öffnen, was gar nicht leicht war. Meine Schwestern standen dabei, und auch Mutter lächelte froh dazu. Es kam endlich ein superber, dunkelblauer Matrosenanzug mit langer Hose und großem Kragen heraus, ganz so, wie es damals Mode war. Und dann kam sehr viel Papier und immer noch und noch weißes Seidenpapier, aber endlich, ganz tief in der Mitte, sehr beschützt lag etwas ... es war eine kleine Thora! Eine wirkliche Thora-Rolle auf Pergament geschrieben, eine wahrhaftige heilige, handgeschriebene Thora für mich.

Zitternd rief ich Vater: “Papa, Papa, schau – eine wirkliche Thora!”

Seine Augen wurden ernst, dann sah ich aber, wie er lächelte und sagte: “David, küsse sie!”

Nie wieder habe ich um Essen gefragt, aber um die Erlaubnis, die Thora in meinen Armen tragen zu dürfen, sie dicht gegen mein Herz zu drücken, das dann vor Freude tanzte. Es war wie ein Traum.

Für Vater wie für mich war Kurtakeszi das Dörfchen der Hoffnungen! Vater hoffte, in mir einen reinen, frommen Rabbiner für Gott zu erziehen. Ich habe es ihm mit meinem Wandel nicht leicht gemacht! Doch Vater hat mich sehr geliebt und mein späteres Suchen zutiefst verstanden.

Doch jetzt geschah es, dass meine Schwestern, nachdem ich aus “meiner eigenen Thora” vorgelesen hatte, mich in freudiger Bewunderung und Liebe umarmten und küssten.

Da ertönte Vaters laute Stimme: “Was soll das, diese Kindereien! David hat jetzt seine eigene Thora, es ist ihm nicht mehr erlaubt, sich mit Mädchen herumzuküssen!”

Da fiel die ganze Verantwortung, eine Thora zu behüten, auf meine jungen Schultern und bis in meine Seele hinein. Ich fühlte den festen Druck, als die Hand des reichen Herrn sich auf meine Schulter gelegt hatte.

“Du sollst deine Thora in Ehren als das Heiligste bewahren”, schien diese Hand gesagt zu haben. Aber diese Hand hatte auch Vertrauen zu mir gehabt.

Bis zu Mutters Todestag haben wir Geschwister uns nicht mehr umarmt und geküsst. Die unschuldige Wärme der Kindheit und dann auch der Kontakt auf unseren Lebenswegen gingen so früh verloren.

Ein großer Ernst war in meine Seele eingezogen: Die Verantwortung für die Thora.

Die Herbstmanöver

Ein Sommer voller Honigduft war vorbei, als die Herbstmanöver der österreichisch-ungarischen Armee das Leben unseres Dörfchens völlig durcheinander brachten.

Am Morgen wurde ich wach vom Lärm der Pferdehufe, dann klirrten unsere Fensterscheiben, das kam vom Vorbeifahren der schweren Artillerie, damals schon moderne Waffengattungen.

War es Angst oder Neugier? Ich fühlte mich zur Türschwelle hingerissen. Aber dann sah ich, wie Groß und Klein, Alt und Jung dem Militär nachliefen, die Kinder mit roten Gesichtern, die Frauen ließen ihre Röcke gefährlich hoch um die Taille tanzen, die Männer wollten glauben machen, dass sie etwas verstünden und brüsteten sich damit, ... und ich, ich schaute sie lange an und dachte mir: “Ein Gottesmensch rennt niemandem nach!” und meine Würde wuchs, wenn auch meine Füße eine ganz andere Meinung hatten.

Vater saß ruhig an seinem Studiertisch, wie immer in die großen Bücher vertieft. Da kam glücklicherweise seine Stimme zu mir: “David, das ist für Gassenjungen, die laufen dem Militär nach. Bleib brav zu Hause, komm setz dich zu mir! Wir werden den Auszug der Söhne Israels aus Ägypten zusammen lesen. Unser jüdisches Leben ist in den heiligen Schriften! Unser Gott will es so.”

Und wir lasen: Als das Volk Israel von seinem Sklavenlos durch Moses befreit, in die Wüste wanderte und endlich das Rote Meer erreichte, da stand es plötzlich verzweifelt am Ufer, denn es gab keinen Weg durch das Wasser und das Heer des Pharao kam herangeritten, um alle zu vernichten. Da schrie das Volk zu Moses und zu Gott: “Was hast du uns angetan? Warum hast du uns aus Ägypten geführt? Ist es nicht besser, zu dienen als in der Wüste zu sterben?”

Vater erklärte mir: “Die Israeliten hatten damals ihr Sklavenlos noch nicht abgeschüttelt, und darum mussten sie dann vierzig Jahre durch die Wüste wandern, damit ihre Gedanken wirklich die Gedanken freier Menschen wurden.”

Moses aber sprach: “Der Allmächtige wird für euch streiten!” Und so war es! Er spaltete das Rote Meer, um dem Volk Israel Durchlass zu gewähren! In Seinem Zorn aber ertränkte Gott in den sich schließenden Fluten die stolze Armee des Pharao.

“David, durch den Willen und die Taten des Allmächtigen bekamen wir unsere Freiheit und bekommen wir unsere Kraft und wir geben Ihm unsere Liebe. Glaubst du, dass dieses Militär hier für uns streiten würde? Ihre Trompeten schallen nicht zur Befreiung unseres Landes! Nein, nein ... bleib bei mir und vertiefe dich in Gottes Wort, so wirst du stark werden, David, um einstmals für unser Volk zu kämpfen, um dich gegen die Ungerechtigkeiten der Menschen zu erheben.”

Mit meinen sechs Jahren sah ich noch einen langen Weg der “Kräftigung” vor mir liegen und ich fühlte, neben Vater war mein Platz!

Am Abend kam Rachel gelaufen, ganz aufgeregt und verzweifelt. “Frau Tulman, Frau Rabbiner, die Offiziere sind alle in unserer Herberge! Es ist kein Platz mehr frei. Wir müssen sie gut bedienen, verstehen Sie? Die Arbeit wächst mir über den Kopf. Bitte, bitte Frau Rabbiner, helfen Sie mir beim Bedienen. Die Offiziere werden sich anständig benehmen. Frau Tulman, Sie riskieren nichts. Wir werden Sie auch gut bezahlen!

In den Bewegungen von Mutters Händen fühlte ich all ihre Bedenken. Mutter antwortete ruhig: “Glauben Sie, es wäre mein Platz?”

“Frau Rabbiner, Ihre Kinder gehen mit abgetragenen Kleidern und laufen barfuß. Sie sind eine respektvolle Frau, niemand wird Ihnen nahe kommen! Ist es eine Sünde, seinem Nächsten zu helfen? Wir sind doch Nachbarn.” Meine Barfüße betrachtend, fand ich sie wirklich nicht sehr würdevoll.

“Ich werde meinen Mann fragen.”

“Schau Elie, unsere Kinder haben keine Schuhe mehr, David hat kein warmes Höschen, der Winter wird kommen! Karoline und Frieda sind die einzigen Mädchen im Dorf, die keine Ohrringe haben, und sie sind die Kinder des Rabbiners. Nicht einmal zu Ehren des Sabbats haben wir ein Stückchen Fleisch, geschweige denn ein Glas Wein auf dem Tisch. Wenn ich einer jüdischen Frau helfe, was kann es dich stören?”

Wie ein Ungewitter grollte die Stimme Vaters: “Du willst, dass ich meine Frau in der Schenke diese Krieger bedienen lasse? Diese Männer, die nichts anderes wissen, als ihre Säbel zu meistern? Meine Frau? Ich, der Rabbiner, der Sohn, der Enkel und der Urenkel ...” Vater schien seinen Stammbaum bis zu Moses aufzuzählen.

Ich war durchwühlt von Angst und Ehrfurcht. Es schien, als hielte Moses selbst Gericht.

Mamme aber antwortete darauf mit fester Gelassenheit: “Wenn Gott dich mit so vielen würdigen Ahnen beschenkt hat, sei es bedankt, doch können sie eine Weise finden, um uns aus dieser Armseligkeit zu führen? Lass mir die Sorge, unsere Kinder zu kleiden.”

Mit ruhigen Schritten verließ sie das Haus. Mutters Mut bewundernd dachte ich, sie brauche jetzt den Schutz ihres Sohnes zwischen all diesen Männern mit großen Säbeln! Ich eilte ihr nach.

“David, geh heim! Dein Platz ist neben deinem Vater.”

“Nein, Mamme! Ich bleibe bei dir, ich werde dich vor all diesen bösen Männern beschützen!”

Wie kann ich nur beschreiben, was ich sah, als die Tür des Wirtshauses sich öffnete: Viele, viele Kerzen flackerten. An langen, weiß gedeckten Tischen, gehüllt in Tabakrauch, saßen lauter Könige. Sie hatten goldene Kordeln auf ihrer Brust, goldene Knöpfe, Epauletten und Hosennähte. Für mich sahen sie alle wie Kaiser Franz-Josef aus, von dem ein Bild an der Wand hing. Viele trugen wie er stolze Schnurrbärte, bei denen man die Spitzen sogar zwischen Daumen und Zeigefinger rollen konnte. Sie waren beängstigend schön! Es roch um sie herum nach Leder, nach Pferden und nach Wein.

Meine Courage schmolz. Ich rutschte hinter Mutters Rockfalten, um unbemerkt mit ihr in die Küche zu gelangen. Mein Versteck war nicht gut; zwei große Arme eines Riesen streckten sich aus und erwischten mich bei meinem Päis.

“Kuckt mal, was ich da erwischt habe, ein kleiner Jud!” Er hob mich hoch in die Luft, dass alle mich sahen und lachte dazu.

“In deinen langen Locken wird es aber vor Läusen wimmeln!”

Ich war entsetzt und hilflos, das Weinen wollte mir kommen, aber ich schrie empört mit meiner kräftigen Stimme von der Höhe herunter: “Meine Päis sind ein Gottesgesetz! In Gottes Gesetzen gibt es keine Läuse! Aber ihr, die ihr alle ausseht wie Könige, ihr werdet sicher welche unter euren Käppis haben!” So, ich hatte meine Meinung gesagt. Sie fingen alle laut an zu lachen, es schallte wie eine Flut durch den Saal. Der König dieser Könige hob seine Hand und es wurde still.

“Komm mal her, kleiner Jud!”

– Und ich wurde vor ihm auf den Tisch gestellt.

“Du hast aber Courage! Bravo! Hier hast du meinen Kopf, für jede Laus, die du findest, bekommst du eine Silberkrone!”

Amüsiert trugen einige Offiziere noch mehr Kerzen herbei, um diese Szene genau zu beleuchten, und der König dieser Könige beugte sein Haupt vor mir. Den Schrecken und die Angst, die ich da bekam, kann ich gar nicht beschreiben.

“Ich kann nichts finden, ich habe nie eine Laus gesehen!”

Die Augen des Königs schauten mich listig an. Sie schienen zu sagen: “Meinst du, dass ein verlauster Jude sie nicht kennt?”

Aber seine Worte klangen anders: “Wenn du mal Soldat bist, wirst du sie kennenlernen. Los, such’ gut!”

Meine Hände gingen wirklich auf seinem Kopf suchen und am Rande seiner beginnenden Glatze fand ich eine Schuppe.

“Na, da hast du schon etwas gefunden.”

“Es gibt noch mehr davon.” Wieder hallte das Lachen laut. Aber jetzt wuchs mein Eifer.

Da sagte der König wörtlich: “Wenn man dir den Kopf Kaiser Franz-Josephs geben würde, könntest du Baron Rothschild werden. Der Kleine wird mich ruinieren, die Reihe ist an euch meine Herren!” Ich wurde von Kopf zu Kopf gereicht, man aß und trank derweil, und ein jeder amüsierte sich mit seiner “Entlausung”. Sie haben mich vieles gefragt und ich habe mit Courage geantwortet. Ich glaube, es hat mir schon damals nicht an Humor gefehlt. Nur zu essen habe ich nichts angenommen. So erhielt ich jedesmal eine Silberkrone. Wie war es leicht, unter Königen reich zu werden! So bin ich trotz meiner “Barfüße” über die langen Tische der Könige hingeschritten.

Das Mahl wurde dann beendet. Meine Augen suchten Mutter. Sie stand jetzt an der Küchenschwelle und hatte natürlich alles beobachtet.

Ich schrie begeistert zu ihr hinüber: “Mamme, jetzt haben wir genügend Geld, um Fleisch zu kaufen. Ich werde nie wieder eine Katze zum Sabbat schlachten wollen!”

Mutter behielt ihr seltsam trauriges Lächeln und verschwand in der Küche. Alle meine Freude stürzte plötzlich in sich zusammen, ich wusste nicht warum. Vielleicht hatte dieses Spiel etwas Erniedrigendes, weil wir Juden waren? Meine Taschen waren gefüllt mit Silbermünzen und ich überlegte ernsthaft, ob ich sie nicht alle zurückgeben sollte? Aber niemand kümmerte sich mehr um mich. Was sich dann begab, weiß ich nicht, aber ich denke, dass in einer Anwandlung von Sentimentalität für den kleinen Jungen, der kein Katzenfleisch mehr am Sabbat essen wollte, Geld gesammelt wurde.

Der General ließ Mutter rufen.

“Kommen Sie ruhig, Sie brauchen sich nicht zu fürchten!”

Vor Mutters Augen legte er einen kleinen Berg von “Goldstücken” auf den Tisch. Mutters Lippen zitterten. Sie rührte das Geld nicht an.

“Nehmen Sie! Nehmen Sie ruhig, gute Frau, wir geben es von Herzen. Ihr Sohn hat uns alle großartig amüsiert. Wenn er weiter mit so viel Eifer Läuse auf den Köpfen sucht, wird er einmal ein großer Philosoph oder Bankier werden.”

Sein Lachen schallte wieder durch den Saal.

Im Offizierskorps waren die Söhne der ungarischen Aristokraten und Großgrundbesitzer, sie kannten keinen Hass gegen Juden; wir waren ihnen nur eine seltsame, fremde Erscheinung. Ihr Benehmen uns gegenüber war freundlich und altruistisch.

Mutter nahm dann ihr Tüchlein aus der Tasche und legte die Geldstücke hinein. Doch schon hatte sich die Stimmung geändert, man klatschte in die Hände und rief nach Wein und Zigeunermusik. Mamme kam zu mir, nahm fest meine Hand in die ihre, verbeugte sich leicht und wir traten hinaus in die Stille der Nacht.

Eine Versuchung

Draußen im Hof, unter dem freien Himmel, entfaltete Mutter ihr Tüchlein und wir schauten fast erschrocken die noch im Dunkel leuchtenden Goldstücke an. Wir zählten zusammen bis zwanzig.

Dann flüsterte Mutter: “Was wird Vater sagen? Was wird Vater dazu sagen?” Und sie wiederholte es wieder und wieder.

“Mamme, meine Tasche ist auch voll mit Silberstücken!”

Mutter drückte mir liebevoll die Hand. Wir dachten an Vater und wagten kaum, unsere Haustüre aufzumachen. Daheim, welch ein Kontrast: Stille im Zimmer. Frieda und Karoline schliefen schon. Nur eine Kerze brannte auf Vaters Tisch; vertieft in seine Bücher wandte er nicht einmal den Kopf nach uns. Mutter holte einen Stuhl und setzte sich neben Vater. Sie zählte die zwanzig Goldstücke auf den Tisch und sagte dann ganz leise: “David, komm, leg auch dein Geld dazu.”

Da erfasste mich eine Versuchung, nämlich der Gedanke, in der Tiefe meiner Tasche eine Münze zu vergessen. Ich wurde rot vor Scham, aber opferte dann auch diese letzte auf dem Tisch des Hauses. Als ich sie aus der Tasche holte, wurde es mir merklich leichter.

Dann kam eine Stille. Ich kannte das schon, so wie vor einem Gewitter, bevor Blitz und Donner kommen. Vater, ohne ein Wort zu sagen, strich alles Geld von seinem Tisch. Unwürdig fielen die Münzen auf die Erde. Dann erhob er sich und ging auf und ab. Sein riesiger Schatten begleitete ihn an der Wand und beide waren überwältigend, fürchterlich. Ich erschrak vor Vaters Größe und meiner Kleinheit. Mir war, als schritte Vater über alles Geld hinweg.

Da donnerte plötzlich seine Stimme gegen mich:

“Was stehst du da?! Geh schlafen!”

Ganz klein und gebeugt bin ich ins Bett geschlichen, welches ich damals noch mit Mutter teilen durfte. Es zitterte in mir und weinend kam das Abendgebet heraus.

“Lauter!” schrie Vater. “Ich höre nichts! Du stiehlst die Worte! Gott hat das Recht auf ganze Gebete!”

Meine Freude, mein Eifer, meine Erwartungen und Hoffnungen, alles stürzte zusammen. Ich erinnerte mich der Versuchung. Sie kam für ein einziges Stückchen Geld und Vater verachtete sie alle. Mein Weinen wurde sehr bitterlich. Wäre ich doch fast ein Sünder geworden! Nach so viel Courage, Aufregungen und Arbeit war nichts geblieben und Vaters Schatten an der Wand schien auch meine letzten Hoffnungen zu vertreiben.

Aber Mutter sammelte unsere Reichtümer vom Boden. Sie formte auf dem Esstisch kleine Türmchen von Silber und Gold und sie sprach mit fester Stimme: “Ein Paar Schuhe für David, Schuhe für Frieda und Karoline, für David ein Höschen, zwei warme Röcke für die Mädchen und ...! Elie, was willst du von dem Kinde? Er war so mutig und lieb!” Und Mutter erzählte mit ihrem Humor die “Offiziersentlausung”. Da beruhigten sich Vaters Schritte. Nach einer Weile hörte ich ihn sogar lachen. Welche Seligkeit! Ich fühlte meine kleine Seele wieder von Vater geliebt. Als es aber zur Goldgeldzählung kam, donnerte Vaters Stimme fürchterlich: “Dies Geld werde ich niemals anrühren! Wir sind keine Bettler! Wenn wir auch arm vor den Augen der Menschen sind. Unser Vermögen ist nicht das Geld! Unser Reichtum ist nicht sichtbar! Unser ist die Liebe zu Ihm.”

Mutter wickelte die Goldstücke wieder in ihr Tüchlein.

“So wird es den Mädchen gehören, wenn sie einmal heiraten”, sagte Mutter mit zitternder Stimme.

“Wer heiratet heute ein armes jüdisches Mädchen?”

Dieser Schatz wurde dann unter unserem Strohsack versteckt, um auf jene Zeit zu warten.

Vater setzte sich wieder an seinen Studiertisch und begann mit leisen, psalmodistischen Melodien weiter zu lesen und die Wogen unserer Seelen beruhigten sich. Aber eine Ahnung kam von weitem zu mir: “Der kleine David von Kurtakeszi wird einstmals vor das Gericht Gottes gerufen werden, um mit bitteren Tränen Ihm das Nachtgebet laut zu sagen und alle seine Versuchungen einzugestehen. Wird Gott mir dann verzeihen?

Ja, Gott wird mir verzeihen!”

Und so bin ich eingeschlafen.

In Seinem großen Licht

Beim Sonnenaufgang verließ das Militär mit Trommeln und Trompeten unser Dörfchen. Es wurde hernach ganz still. Ich aber hatte am besten alle diese Könige gesehen und ich war ihnen nicht nachgerannt! Ich war stolz auf mich selbst. Aber die Angst und der Schrecken, den ihr Anblick mir machten, das war auch nicht vergessen.

Warum machten diese prachtvollen Männer Krieg? Sagt man beim Begegnen nicht immer “Schalom”, das heißt “Frieden”? Ich erschrak. Die Christen sagen das nicht. Nein, sie sagen das nicht! Warum? Da bin ich schnell zu Vater gelaufen.

“Papa, warum machen die Menschen Krieg? Warum machen sie Sünden mit so viel Pracht?”

Vater hatte geantwortet: “David, darum lernen wir ja aus den heiligen Schriften, um klug zu werden.”

Und dann sagte Vater: “Pass auf, David, dass du niemals glaubst, du seiest schon klug! Klug ist nur der Allmächtige! Du musst dein ganzes Leben lang lernen!”

“Aber Papa, du bist doch klug!?” Da bekam ich eine fürchterliche Ohrfeige. Die erste meines Lebens! Sie brennt mir noch heute im Gesicht. Diese Ohrfeige habe ich nie vergessen! Sie hat mir geholfen, die Menschen zu verstehen: solche, die glauben sie seien klug, und solche, die lernen. Es gibt aber auch solche, die nicht einmal nachdenken.

Aus diesen Erkenntnissen holte mich Mutters Stimme:

“Davidel, komm, wir werden Schuhe kaufen.”

Auch meine Schwestern bekamen die ihren. Wir zeigten sie einander in der Küche und jeder fand die seinen am schönsten. Vor allem waren “wachsende Füße” vorgesehen und wir fühlten uns von ihnen in ferne Zeiten getragen. Rachel, die auch im Dorfbazar arbeitete, gelang es, Mutter zu überreden, dass die Frau des Rabbiners auch mit richtigen Schuhen zur Synagoge kommen müsse. Es waren die letzten, die Mutter sich kaufte. Sie lagen wochentags mit Papier ausgestopft in einer Schachtel und durften nur am Sabbat zur Synagoge gehen.

Von Geld wurde in Kurtakeszi nicht mehr gesprochen. Aber ich ahnte, wie gut es sei, immer in Gottes Licht zu stehen: dann könnte sich keine Versuchung heranschleichen, man würde alles sehen. Alles! Auch, warum die Menschen Krieg machen!

“Pass auf, David, dass du niemals glaubst, du seiest schon klug! Klug ist nur der Allmächtige! Du musst dein ganzes Leben lang lernen!”

Der Auszug aus Kurtakeszi

Langsam fingen wir an, in unsere Schuhe hineinzuwachsen, als eines Tages Vaters und Mutters Geheimnis offenbar wurde: Wir ziehen um! Ein großer Wagen mit zwei Pferden kam vorgefahren, um all unsere Habe zu transportieren. Ich verglich unser Unternehmen mit dem Auszug aus Ägypten. Später habe ich wohl an die zwanzig Auszüge miterlebt. Wenn ich sie auch nicht alle niederschreiben werde.

Das Wichtigste und Schwerste waren natürlich Vaters 300 Bücher, die zuunterst geladen wurden, darauf unsere beiden Thora-Rollen, gut geschützt und verpackt. Erst dann halfen wir Mutter mit den schon sehr gebrechlichen Möbeln: Ein zerbrochenes Bett und noch ein zerbrochenes Bett, die Kinderbettchen, eine große Schüssel, ein Stuhl, da wackelte das eine Bein, ein kleines Säckchen Mehl, ein kleines Säckchen Bohnen. Wie schwierig war es, das Geschirr gut getrennt zu halten, damit das für Fleischgerichte und das für Milchgerichte sich nicht berührten und vor allem, dass die weißen Teller und die Töpfe für Pessach sich nicht mit den anderen vermengten.

Wie schön war es, wenn Mutter für unser “Osterfest der Befreiung aus Ägypten” den Tisch ganz weiß deckte. Dann erzählte Vater, wie wir damals in der Wüste nur Mehl mit Wasser auf heißen Steinen backten und kein Brot mit Hefe mehr aßen. Jede Ostern, wenn wir unsere “Matze” aßen, kamen alle diese Erinnerungen und Vater konnte das so wunderbar erzählen; wir erlebten es wirklich mit.

Aber jetzt hätte ich fast vergessen, mit Mutter und den Schwestern hoch oben auf unsere Strohsäcke zu klettern. Mutter machte mir Zeichen auf ihren Busen, dass dort unser Schatz jetzt ruhte und ich sollte nichts den Schwestern davon sagen, es sollte eine Überraschung werden, wenn sie heirateten. Als alles verstaut war, ging Vater zur Türschwelle zurück, küsste die Mezusa mit ihrem “heiligen Spruch” im Inneren und plötzlich verstand ich: es war der Abschied und Vater segnete das Haus für die kommenden Bewohner. Er ließ für sie die Mezusa am Türpfosten. Auf dem Pergament in ihrem Innern steht: “Höre, Israel, dein Gott ist der einzige Gott ... Liebe Gott mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft!”

Dann stieg Vater neben den Kutscher auf unseren Wagen. Der junge Bauer mit seiner stolzen Hahnenfeder am Hut war schon ungeduldig geworden, derweil seine Pferde sicherlich fühlten, wie schwer der Wagen nun war. Er nahm gewichtig seine große Peitsche, knallte damit laut in der Luft und schlug dann auf die Pferde. Die bewegten sich aber nicht. Sie trotzten seiner Aufregung. Da wurde er wütend, fluchte einen Strom ungarischer Flüche und schlug fest zu. Da nahm Vater ihm die Peitsche aus der Hand und legte sie in den Wagen.

“Schlage nicht deine Pferde! Sie sind Gottes Geschöpfe! Sie verdienen dir dein Brot!” Drauf sprach Vater sanft und eindringlich zu den Pferden. Da spitzten sich ihre Ohren und sie hoben ihre Köpfe. Sie setzten ihre Hufe fest auf die Erde und zogen an. Der Kutscher schaute erstaunt zu Vater und schwieg. Am Wegrand standen einige jüdische Familien und die hübsche kleine Myriam, meine erste Liebe, mit ihrem Vater, unserem Schullehrer. Sie winkten uns nach. Mutter weinte und ich weinte auch.

“Wenn du groß bist, kannst du zurück kommen und dir Myriam zur Hochzeit holen”, sagte Mutter.

Aber es öffnete sich nun eine so große Welt, dass ich Myriam ganz vergaß. Erst sehr viel später trafen wir uns einmal und lachten sehr fröhlich miteinander.

Am Dorfrand kam die Heiligennische, wo der Kutscher sich bekreuzigte. Ein letzter Hund bellte uns nach. Ja, es war wirklich der Auszug aus Kurtakeszi, meinem “lichtigen Dörfchen”.

Die Landstraße

Auf unseren Strohsäcken, in der Musik des rollenden Wagens geschaukelt, überkam mich der Schlaf. In dieser besonderen Nacht, nach so vielen Aufregungen, hörte ich die Stimme des Ewigen zu mir sprechen, sie glich erstaunlich der von Vater. “David, mein Sohn, du schläfst? Schämst du dich nicht, in Schlaf zu versinken, derweil der Sternenhimmel über dir schwebt! Der Mensch, welcher nicht seinen Blick zum Firmament erhebt, der weiß nicht, wie klein er ist und er vergisst den Schöpfer.”

Aus tiefem Traum erwachend sah ich Vater auf dem Kutschersitz, die Zügel in der Hand. Mit klarer Stimme sang er die Psalmen und die Pferde trabten freudig zu diesen Melodien. Mein Blick richtete sich zum Firmament und es war, als ginge unsere Reise bis zu den Sternen hinauf. Früh habe ich den “wandernden Juden” erlebt, in der Welt ein Heim und eine Heimat suchend.

Im Königreich Österreich-Ungarn waren Staat und Religion verbunden und alle größeren Rabbinerposten wurden von Staatsangehörigen besetzt. Den Flüchtlingen aus Russland und Polen blieben nur kleine Dörfchen übrig, welche sich auf ihre eigenen Kosten einen Rabbiner engagierten und nur eine mehr oder weniger improvisierte Synagoge besaßen.

Vater, als russischer Flüchtling, durfte nur auf diese Posten rechnen. Außerdem suchte er unter ihnen noch die kleinsten Gemeinden, in der Hoffnung, viel Freizeit für sein Studium zu finden. Er ist auch nie ungarischer Staatsbürger geworden, ich glaube, weil er Russland geliebt hatte.

Zutiefst in Vater lebte aber ein Traum. Es war die Sehnsucht seiner Seele, einstmals in Jerusalem zu ruhen. Dort war seine Heimat, dort träumte er, einstmals den Messias zu erwarten. Vater dachte viel über die Messianischen Zeiten nach und darüber, wie wir “den Weg zurück zu Gottes Paradies” finden.

Das Rauschen des Flusses Sajó kam zu uns auf den Wagen und ich stellte fest, wie schnell man aus dem Paradies auf die Erde gerufen wird. Vaters Gesicht war sehr ernst geworden. Es gab hier keine Brücke, der Kutscher musste den Fährmann wecken. Wir Kinder hatten noch nie ein so reißendes, schwarzes Wasser gesehen, was in der Nacht fürchterlich war. Als endlich unser Wagen auf die Fähre rollte, gab es einen Schock, alles wurde durchgerüttelt und ein Kochtopf flog ins schwarze Wasser. Welch ein Schreck, die Fähre hatte schon das Ufer verlassen. Vater sagte traurig: “Channe Fegele, verzeih, wäre es nicht so finster, holte ich dir deinen Topf schon wieder heraus.”

Gott verzeih mir, das glaubte ich nicht, ein Rabbiner mit einem langen Bart soll tauchen und schwimmen können, das war unglaublich! Dazu in einem so wilden Wasser? Aber Vater war ein ausgezeichneter Schwimmer. Er hatte, selbst schwimmend, auf der Flucht von Russland, Mutter, die ein Kind erwartete, in einem winzigen Boot über die Donau gezogen. Aber das wusste ich damals noch nicht.

Die Reise dauerte wohl mehrere Tage und Nächte. Der Kutscher bat Vater oft zu singen. “Die Pferde ziehen dann besser”, sagte er und versuchte sich auch darin, unter Vaters Anleitung. So schliefen und erwachten wir mehrmals unter dem Firmament und brachen am Tage das Brot am Wegrand.

Auf einem steinigen Stolperweg kam dann ein neues Ereignis: Wir verloren ein Rad und der Wagen kippte gefährlich. Der Kutscher fluchte verzweifelt: “Jesus Maria! Wo nimmt man hier Männer her, den Wagen zu heben?”

Vater betrachtete ruhig die Achse, sie war nicht gebrochen und das Rad war auch heil. Er sagte leise: “Gott sei’s gedankt. Komm, nimm das Rad, wir werden es wieder einsetzen!” Wir Kinder waren natürlich mit Mutter längst vom Wagen heruntergekrochen, und da hob Vater alleine den Wagen an. Mir war, als wäre Samson selbst am Werke. Wie war es möglich, dass Gott in diese Hände, die nur die Seiten der heiligen Schriften wendeten, so viel Kraft gelegt hatte?

Unser Wagen rollte wieder, von Gesang begleitet, und ich sang mit. Aber eine Frage plagte mich jetzt sehr, sie ließ mich nicht mehr los. Ich musste mir eine Antwort holen, glitt vorsichtig hinter den Kutschersitz und flüsterte in Vaters Ohr: “Papa, du bist so stark wie Samson. Hast du Misstrauen gegen Frauen?”

Langsam drehte Vater sich um und sah mich erstaunt an.

“Nein, David, ich habe kein Misstrauen gegenüber Frauen. Misstrauen soll ein Mann nur vor sich selbst hegen. Ein Mann soll lernen, seine Kräfte zu beherrschen, er soll sie nicht von einer Frau beherrschen lassen! Unsere Schaffenskraft ist die heiligste Gabe Gottes.”

Still glitt ich zurück auf meinen Strohsack und musste sehr lange darüber nachdenken. Manche Dummheiten und Gefahren blieben mir erspart.

Doch es ist nötig, auf einer Reise von Zeit zu Zeit anzuhalten. Mutter bat darum, vom Wagen steigen zu dürfen. Wir verteilten uns im Walde, und als es wieder ans Aufsteigen ging, da fassten “die starken Hände Samsons” Mutter bei der Taille, so wie die Tänzer in Ungarn es mit ihren Tänzerinnen tun, und hoben in einem einzigen Schwung Mutter hoch hinauf auf unser Hab und Gut. Es war das erste Mal, dass Vaters Hände in meiner Gegenwart Mutter berührten. Als sein Gesicht Mutters Gesicht nahe war, überwältigte mich das Gefühl, dass Vater und Mutter zueinander passten! Mir klopfte das Herz vor Freude, es sah so lustig aus!

Auf dieser Reise lernte ich einen Vater kennen, den ich nie gekannt hatte.

Sajó-Kesznyetem

Im Morgengrauen, auf den Strohsäcken schaukelnd, sahen unsere Augen von oben auf unser neues Dörfchen Sajó-Kesznyetem: wenige Häuser mit einer Kirche in der Mitte und nicht weit von ihr ein jüdisches Lebensmittelgeschäftchen mit einem langen Hof dahinter und dort im Hof sollte unsere Wohnung sein; wir bemerkten bald, dass sie nur ein einziges Zimmer und eine Küche hatte. Im großen Durcheinander der abgeladenen Dinge fragte ich erstaunt: “Papa, wo ist hier die Synagoge?”

“Hier gibt es keine Synagoge.”

“Aber Papa, warum sind wir denn hergekommen?”

Vater antwortete ernst: “Für drei Juden.”

“Papa, warum bist du von Kurtakeszi fortgegangen, dort war es doch viel schöner!?”

“Wenn du nicht fähig bist, dir ein Buch zum Lernen zu holen, so schweig!”

In der Unordnung vorsichtig einen Weg suchend, erreichte ich eine Ecke zum Hinhocken und Überlegen. Aber die Gedanken wurden doch wieder laut: “Papa, ist es richtig, dass ein großer Rabbiner wie du dreißig Juden für drei verlässt?”

“Komm her! Hast du vergessen, was im Buch des Exodus steht: ‘Dort, wo du auch weilest und meinen Namen nennest, werde ich kommen und dich segnen.’ Du willst, dass ich mich nicht um drei Familien bemühen soll? Das wäre den Dienst an Gott verweigern.”

Eine Ohrfeige setzte den Punkt auf Vaters Rede. Die Schwestern waren vor Angst aus dem Zimmer gelaufen.

“Zum Zeichen deiner Reue setze dich nieder und studiere!”

Es wurde still, alles geschah ohne Lärm und fand seinen Platz. Die Mittagszeit ging vorüber, Mutter hatte nichts auf dem Esstisch bereitet. Wahrscheinlich hatte sie nichts mehr, um es darauf zu legen. Am Abend war es ebenso. Wir gingen ohne ein Wort still schlafen. Am nächsten Tag wirbelten die hebräischen Buchstaben wie kleine Insekten vor meinen Augen, ich konnte sie kaum mehr unterscheiden. In Gedanken versunken schaute uns Mutter lange an.

So oft ich das Wort “Mutter” niederschreibe, ist es meinem Herzen zum Weinen zumute. Mutter war von einer niemals verzagenden Liebe. Wenn sie ihre Hände auf meinen Kopf legte oder was immer sie tat und sagte, da war eine Mischung von Traurigkeit, Lächeln und Güte. Ich fühlte, Mutter litt. Vorsichtig glitt ich zu Frieda und Karoline, wir sahen uns an mit heißen Köpfen, kalten Händen und Fieber vor Hunger. Es ging auch dieser Tag vorüber. Vater hatte seine Bücher eingeordnet und las. Wir konnten von ihm keine Hilfe erwarten; noch dazu fastete Vater sehr leicht. Am nächsten Morgen wagte ich zu fragen: “Mamme, in der Scheune im Hof gibt es viele Maiskolben, die sind zum Trocknen aufgehängt und viele davon sind auf die Erde heruntergefallen!” Mamme verstand mich.

“Geh, David, wenn Gott unser Leben gefällig ist, wird Er erlauben, uns einige Kolben ‘auszuleihen’. Geh, hol so viele du tragen kannst!” Ich rannte. Die Kerne waren wie Goldkugeln! Ich nahm ‘so viele ich tragen konnte’.

Mutter sammelte Holz zusammen und bald brannte ein Feuer. Nun war das Warten schwer, der Mais musste lange gekocht und später auch lange gekaut werden, aber es war ein Festmahl!

“David, hast du den Segen vor dem Essen gemacht?”, fragte Vater. Ich war so erschrocken, dass ich nicht weiter kauen konnte und sagte mit rotem Gesicht: “Ja.”

Karoline flüsterte: “Es ist nicht wahr! Ich werde es Vater sagen.” Mit vollem Mund holte ich schnell den Segen nach und Vater verzieh mir – wohl ebenso wie der Allmächtige.

Am nächsten Morgen kam der Hausbesitzer sich nach uns erkundigen. Wir hörten ihn im Zimmer mit Vater sprechen:

“Herr Rabbiner, Herr Rabbiner” sagte er immerzu, als wolle er sich selbst damit beehren.

“Mamme, willst du nicht mit ihm reden?”

“Was soll ich ihm sagen, David?”

“Es war ja kein geliehener Mais, ich habe ihn doch einfach genommen.”

“Gut, gut, du hast Recht, wir haben einen Vorschuss genommen; ich werde es bei ihm abarbeiten.”

Mit Mutter kam immer alles in Ordnung.

Als der Herr gegangen war, rief Vater Mutter zu sich in das Zimmer. Wir Kinder stellten uns erregt an die Tür und lauschten. Da war die Stimme von Vater so traurig und still, dass es mir bitter weh tat.

“Also, Channe Fegele, drei Gulden die Woche, etwas Mehl und Kartoffeln. Du kannst dir Hühner halten und von dem Mais in der Scheune darfst du sie füttern. Hühner legen Eier, aus Eiern kommen Küken, aus Küken werden Hühner, die erneut Eier legen ... Wenn das so weiter geht, werden wir reiche Leute werden. Bist du zufrieden?”

“Ja, es wird schon gut sein”, sagte Mutter still. Wir bekamen keine Hühner, aber aßen morgens und abends ihren Mais.

Fragen und Zweifel

In Sajó-Kesznyetem war der katholische Geistliche gleichzeitig auch der Schullehrer und die Schule lag dicht neben der Kirche. Vater nahm mich eines Morgens bei der Hand und wir gingen zu ihm; mit der Bedingung, alles nachzuholen, wurde ich endlich angenommen. Mein Eifer brachte mich schnell auf den ersten Platz. Ein Talmudist muss doch zeigen, dass er lernen kann. Aber dies schien dem Herren Lehrer nicht zu gefallen.

Es gab hier auch noch eine andere Schwierigkeit. Mutter hatte meine besten Kleider herausgesucht, damit ich mich nicht unter den Christenkindern schämen brauchte. So wurde ich eine Sensation mit meinem Kaftan, großen Hut und weißen Strümpfen und ich musste lange Zeit meine Päis verteidigen. Wir Kinder waren zwei Welten, die sich begegneten, doch wir wollten uns kennenlernen.

“Warum bist du am Sonnabend nicht in der Schule? Warum kommst du nicht zum Katechismus? Warum kommt deine Familie nicht in die Kirche?”

“Weil ich zu Hause alle Tage mit meinem Vater die heiligen Schriften studiere und am Sonntag auch.”

Eines Sonntags hatte der Geistliche in der Kirche gesagt:

“Die Juden haben unseren Herrn Jesus Christus an das Kreuz genagelt!”

Die Schulkameraden wiederholten es mir. Es erfasste mich eine Mischung aus Empörung, Schreck und Hilflosigkeit; ich war ganz allein der Beschuldigte. Seit diesem Tag gingen die Kinder nicht mehr mit mir spielen, sprachen auch nicht mehr mit mir. Ich wurde mehr und mehr mit bösen Blicken angeschaut.

“Papa, ich will nicht mehr zur Schule gehen.”

“Und warum, David?”

“Der Herr Lehrer hat in der Kirche gesagt, dass die Juden den Jesus Christus an das Kreuz genagelt haben und seitdem sprechen die Kinder nicht mehr mit mir.”

Vater schaute von seinem Buch auf, mir schien, als würde er plötzlich groß und stark, seine Augen schauten weit, weit hinaus, als wenn er einen Feind kommen sähe. “David, schaue ihm in die Augen, diesem Lehrer, du wirst erleben, er wird die seinen niederschlagen. Nicht du sollst dich schämen, sondern er!” Wie gerne wäre ich auch so groß und stark geworden wie Vater. Ich versuchte, von meinem ersten Platz in der Klasse Vaters Vorschrift auszuführen. Tatsächlich, nach einem Moment des “Kampfes der Blicke” wich der Herr Lehrer meinen Augen aus! Aber ich zitterte.

Im Geheimen beobachtete ich nun das Hineingehen und das Hinausgehen aus der Kirche. Wie kamen sie doch so feierlich mit ihren schönen, buntgestickten Kleidern und so ernst, fast als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Beim Herauskommen gingen die Männer gleich ins Wirtshaus nebenan, kamen mit lustigem Lachen heraus zu den Frauen und Mädchen, fassten sie mit ihren Händen an. Die Mädchen kreischten und freuten sich. Vor Scham rannte ich heim. Durfte ich mir überhaupt so etwas anschauen?

Aber wenn sie alle in ihrem Heiligtum waren, kam eine selten wunderbare Musik dort heraus. Wie konnte ich Vater erzählen, dass diese Musik mich sehr tief ergriff, als spräche der Allmächtige auf diese Weise zu den Seelen. War es ein Harmonium? Eine Orgel? Ich hatte dergleichen Instrumente nie gehört. Mit durchwühlter Seele saß ich bis spät in die Nächte hinein neben Vater, in unseren heiligen Schriften nach Antwort suchend. Waren diese Christen nicht erstaunlich unrein? Aßen das Fleisch vom Schwein, was uns streng verboten ist, aßen sogar sein Blut, worin doch die Seele lebt! Auch kochten sie das Fleisch vom Kalb in der Milch seiner eigenen Mutter und dachten darüber gar nicht nach, es schien ihnen keine Sünde zu sein. Und war es nicht ein Götzendienst, den traurigen Mann am Kreuz um Hilfe anzubeten? Was konnte der schon helfen? Warum sollten wir ihn angenagelt haben? Außerdem musste er eine sehr reiche Mutter haben, sie wurde zu manchen Feiertagen mit ihrer Krone durch das Dorf getragen.

Wie war unsere Mutter doch dunkel und arm angezogen, und ich bemerkte, dass sie oft für Stunden das Haus verließ und dies ängstigte mich sehr. Eines Tages ließ ich mein offenes Buch auf dem Tisch liegen, um Mutter unbemerkt zu folgen. Unsere Barfüße liefen durch den sanften Staub der Erde, der sie zu streicheln schien. Wie war es gut draußen im warmen Sonnenlicht! Plötzlich verschwand Mutter in einem christlichen Hause. Mit dem Mut, sie zu beschützen, folgte ich und sah, dass Mutter mit ihren Händen die Wäsche der Unreinen wusch.

“David, was machst du da? Du sollst doch bei Vater bleiben.”

“Ich komme dich beschützen!”

“Du brauchst mich nicht beschützen. Die Bauersfrauen haben mich gern. Aber es soll für Vater ein Geheimnis bleiben, dass ich draußen arbeite.”

“Ist es erlaubt, Mamme, dass du die Kleider der Christen anrührst?”

“Hast du etwas darüber gelesen?”

“Nein, aber sie beten den Gekreuzigten an und seine Mutter. Es gibt auch einen Vater, eine ganze Familie! Und was werden sie machen, wenn noch mehr Kinder dazukommen? Es gibt doch nur einen Gott! Also sind sie Götzendiener.”

“Lass sie nur auf diese ihre Bilder schauen, David, bis eines Tages der Allmächtige selbst zu ihnen sprechen wird. Vielleicht fühlen sie Ihn schon hinter diesen Bildern, wie Er alles überwacht. Auf ihren Kleidern ist nur der Staub der Erde, und der Staub der Erde ist von Gott geschaffen. Weißt du, Davidel, Jude sein ist sehr schwer. Wir haben keine Bilder, ‘Vor-Bilder’ zwischen dem Allmächtigen und uns selbst. Wir beten gleich zu Ihm. Darum müssen wir Ihn wirklich fühlen. Er ist ja überall!”

Wie wurde alles so still und sanft neben Mamme. Wie konnte ich sie alleine lassen? Mutter erlaubte mir dann, im Brunnen das Wasser zum Spülen der Wäsche zu holen.

Als wir abends heimkamen, stand Vater mit seinem Wanderstock in der Türe. “David, du lässt dein Buch aufgeschlagen und schleichst wie ein Dieb aus dem Haus. Welche Schande! Was wird aus dir werden? Jetzt sind es deine neugierigen Füße, die sich beschmutzen, später wird es dein ganzer Körper sein!”

Vater hob den Stock. Im Gefühl meiner Unschuld und Mutters Geheimnis hütend, kam kein Laut aus meinem Munde.

“Elie, du wirst ihn töten! Hast du dafür Kinder gezeugt?”

Und da geschah es: Mit der Kraft ihrer sanften Güte nahm Mutter den Stock aus Vaters Hand. Da überfiel mich ein großer Zweifel, ob nicht Mutters sanfte Güte sogar noch schwerer zu erreichen sei als ein prachtvoller Bart der Weisheit? War Mutter nicht stärker gewesen als Vaters Zorn? Trotzdem fühlte ich, dass auch Vater mich liebte. Auf seine Art.

Die Tage vergingen mit dem Studium der Propheten. Ich habe mit Jesaja angefangen. Ach, das war so traurig, mir kamen immer die Tränen, vor allem wenn Vater das Hebräische auf Jiddisch übersetze. Ich musste diese Sprache auch lernen. Vater erklärte: “Sie ist für alle Tage die Sprache des Volkes und wenn du einmal in die Welt gehst, kannst du dich überall mit den Juden so verständigen.”

Mir taten aber die Juden sehr leid, die der Prophet für ihre Sünden sehr strafte, ihnen Schmerzen und Kummer weissagend. Ich fürchtete immer, was am nächsten Tag alles kommen würde ... Derweil wurde Mutter im Dörfchen bekannt. Sie befreundete sich mit den christlichen Frauen, die im Geheimen, so dass Vater es nicht merken sollte, gekommen waren, uns anzuschauen. Karoline und Frieda lernten bei Mutter Stricken, Häkeln und Sticken. Ich war für die Frauen eine Kuriosität mit meinem schwarzen Mäntelchen, Hut und weißen Strümpfen und natürlich meinen Seitenlocken! Sie haben mich aber alle lieb gewonnen. Lieb gewonnen? Das wäre vielleicht zu viel gesagt, denn ich ließ mich von niemandem anrühren, und überhaupt, wenn eine es gewagt hätte, meine Päis anzurühren, wären sie für mich entheiligt gewesen. Aber die freundlichen Frauen brachten immer ein paar Eier, Gemüse oder Milch mit und das schätzte ich sehr.

Ein Wägelchen

Ach, es war auch lustig in diesem Dörfchen. Es wurde mein Amt, “mit gutem Gewissen” den Mais aus der Scheune zu holen. Das war immer so eine kleine Pause vom Studium. Dort gab es viele große Mäuse. Sie waren ganz rund und vollgefressen und so träge, dass man sie einfach mit den Händen fangen konnte. Natürlich musste man ihnen zeigen, dass man nichts Böses vorhatte. Ich fand sie sehr lustig mit ihren großen runden Augen und kleinen Pfötchen.

Beim Maisholen sah ich eines Tages ein vergessenes Spielwägelchen im Hof. Es kam mir die Idee, Mäuse davor zu spannen. Von den aufgehängten Maisgirlanden gab es manche kleine Strippenstückchen, die ich zusammensuchte, und so spannte ich etwa acht oder zehn Mäuse vor den Wagen. Sie mussten Steinchen und Maiskolben ziehen. Wenn es auch nicht geradeaus ging, sie “zogen” und das Wägelchen rollte!

Ich war so verspielt, dass ich gar nicht merkte, wie unser Hausbesitzer zuguckte.

“Na, David, wohin geht die Reise?”

“Nach Kurtakeszi!”

Da tönte Vaters Stimme von der Haustüre. “Komm herein und wasch dir die Hände!”

Mit fürchterlicher Angst machte ich die Mäuse los, die es natürlich auch mit der Angst bekamen. “Jetzt kommt der Stock!” dachte ich. Irrtum! Hatte Vater vielleicht auch über mein Gespann gelächelt?

Es gab nur eine Moralpredigt: “Du weißt, dass es verboten ist, Tieren weh zu tun. Du weißt auch, dass du studieren sollst. Wenn du einmal groß bist, darfst du Kurtakeszi besuchen.” Vater nahm Platz am Studiertisch und schaute wieder in sein Buch. Ich ging meine Hände waschen. Diesen Mittag gab es keinen Mais am Tisch, aber ich träumte davon, Kurtakeszi einmal wiederzusehen.

Jakob und seine Söhne

Welch sonniger Freitagmorgen, als zwei Pferdegespanne, über und über vollgeladen mit lauter frommen Juden, vor unserem Haus hielten. Und was für Juden! Nur herrliche Hüte, Päis, kurze und lange Bärte, schöne Levitenröcke und strahlend frohe Gesichter!

Es klang wie eine Musik: “Chalom alechem! Chalom alechem!” Ich rannte zu Vater, um dieses Gotteswunder zu melden.

“Papa, Papa, Jakob mit seinen zwölf Söhnen ist gekommen!” Jakob war der Oberrabbiner von Szerencz, den ganz Ungarn als Wunderrabbi und Weisen verehrte. Sogar die Christen schätzten ihn. Er war mit seinen Talmudstudenten gekommen, um Vater kennenzulernen.

Kaum eingetreten, brachten die Studenten für Mutter alles, was man sich nur denken konnte, um einen herrlichen Sabbat zu feiern. Es gab großes Aufsehen im ganzen Dorf. Unser Hausbesitzer schwoll vor Stolz. Man brachte Tische, Stühle und Strohsäcke herbei, derweil der Oberrabbiner und Vater schon wie alte Freunde beisammen saßen, alle Studenten um sie herum, und auch ich durfte mit dabei sein.

Schon damals besaß ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis, ich konnte sogar Texte auswendig lernen, deren Sinn ich noch nicht verstand. Es hat sich so diese fröhliche und tiefe Unterhaltung zwischen dem Rabbi und Vater in mir tief eingeprägt. Sie sprachen über die “Kabbala” und verstanden einander sehr gut. Vater nannte die Kraft der Kabbala das ewige Licht, das unsichtbare Licht, das durch alles Sichtbare hindurchgleitet. “So spricht der Ewige”, sagte er. Dann erzählten der Rabbi und Vater von der Lebenskraft, dem Samen des Lebendigen im Mann und in der Frau. Sie fanden beide, dass viel Kraft in diesem Samen schläft, eine wundersam heilige Kraft.

“Eine Musik aus Licht”, sagte Vater, “diese Musik ist unser Geschenk an die Messianischen Zeiten!”

Der Rabbi nickte dazu ... lange Zeit. Ich glaube der Ribeuno-Schel-Eulam hat zu uns gelächelt.

Dann sprach Vater: “Dieses Licht ist Kraft! Dieses Licht bringt Wissen und Weisheit! Das Licht verlässt uns, wenn wir sterben. Es geht dann zurück zum Ewigen.”

Und Vater fügte hinzu: “Es bringt ihm unsere Musik.”

Da sah ich mich, den kleinen David, wieder vor Gott gerufen, um Ihm alles zu sagen, was ich im Leben getan habe, und ich schaute im Kreis umher, ob es den anderen Studenten auch so ging? Mir schien, sie waren auch von dieser Musik ergriffen und es war ganz still und schon tief in der Nacht. Es floss wie Balsam in mein Herz, Vater so verehrt zu sehen. Wie war dies Leben im Dienste des Allmächtigen doch glücklich! Auch Mutter strahlte vor inniger Freude.

Diesen Sabbat hatte es ein Festmahl gegeben, um Geist und Körper zu stärken. Es fehlte nichts! Meine Vorstellungen für ein späteres Leben als Talmudist und Kabbalist waren beflügelt.

Dann kam aber viel zu schnell der Sonntagmorgen heran. Wenn wir auch fast die beiden Nächte gänzlich durchwacht hatten, hätte es noch lange so weitergehen können. Aber “Jakob mit seinen Söhnen” verließ uns so, wie sie gekommen waren – mit einem frohen Abschied. Vater und ich begleiteten die Gäste bis zum Rande des Dorfes, dann begannen die Pferde zu traben und die Wagen wurden in der Ferne immer kleiner, bis sie am Horizont verschwanden. In mir war aber eine neue Kraft erwacht: die stolze Verehrung Vaters. Steht es nicht geschrieben: “Ehre deine Eltern, auf dass du lange lebest”? Der Sohn meines Vaters zu sein, war überwältigend. Wie hatte Gott das nur gemacht?

Der freie Mensch

Das Osterfest kam heran. Vater sagte zu mir: “David, du bist nun alt genug, um unsere schwere Aufgabe in der Welt zu verstehen. Eine schwere Aufgabe! Pessach ist ein geschichtliches Ereignis im Leben des Volkes Israel. Wir wurden damals für unsere Aufgabe vorbereitet: Pessach ist das Fest, welches die Befreiung feiert, nicht alleine die unsrige, nein, die Befreiung der Menschen, aller Menschen. ‘Auf dass der Mensch sich nicht knechten lasse vom Menschen. Auf dass der Mensch nicht den Menschen knechte‘. Dazu waren vierzig Jahre des Wanderns unseres Volkes durch Hunger und Durst, durch steinige Wüsten nötig, ja, nötig, David! Auf dass wir uns der Liebe und Kraft des Schöpfers bewusst wurden, seine Gesetze verstehen lernten und so auch befreit von Götzendienst leben konnten! Zur Freude des Schöpfers mit all unserer Liebe und Lebenskraft zu leben! Zu seiner Freude und der unsrigen sind wir geschaffen! Für dieses Zeugnis, ja, für dieses Zeugnis starben viele unserer Besten! Beschimpft, verleumdet, gemartert und als Fakkeln lebendig verbrannt! Für dieses Zeugnis, für diesen Gott: Ein gütiger Gott, ein Gott der Liebe. Vergiss es nie, David, die Schaffenskraft des Allmächtigen ist die Liebe! Auch die unsrige.”

Vater hatte mir dies alles gut erklärt, aber solch ein freier Mensch zu werden, und auch die anderen Menschen frei zu lassen, das ist eine schwere Sache, das hatte ich auch verstanden. Der freie Mensch, der steht vor Gott, Ihm Rechenschaft zu geben, ja, von unseren Dummheiten zu lernen und sie zu fühlen. So erzieht Gott den Menschen zu Verständnis und Gehorsam und Gewissen. So erhält der Mensch sein “Geh-wissen”, “um zu wissen, wie man geht”, hatte Vater gesagt.

Derweil ich meine Seele auf die Befreiung vorbereitete, um als Jude das Vorbild dieser Befreiung zu sein, derweil strahlte unsere Mutter schon beim Arbeiten. Alle jüdischen Frauen des Dorfes waren zu ihr gekommen, um unter ihrer Leitung das Pessach-Fest zu bereiten. Unser Hausbesitzer betrachtete dieses geschäftige Treiben mit viel Genugtuung. Mit Wasser, Seife und frischem Kalk wurde das ganze Haus wie neu. Die speziellen Ostergeschirre blitzten schon vor Sauberkeit. Der Backofen wurde peinlichst gesäubert und Vater sprach den Segen der Reinigung. Dann wurde das Brot der Wüste, die Matze, gebacken, so wie damals beim Auszug aus Ägypten, es wurde Mehl mit Wasser vermengt und der Teig auf die heißen Steine gestrichen. Dies alles, damit wir an Leib und Seele die Befreiung, die vierzig Jahre des Wanderns durch die Wüsten, wahrhaftig neu erleben sollen. Ein schweres Erinnern. Bis endlich Moses das verheißene Land dem Volke Israel zeigen durfte.

“Papa, die Christen feiern aber auch Ostern und sind doch Götzendiener. Sie haben Jesus, Maria und Joseph. Ich bin einmal heimlich in die Kirche gegangen, es gibt noch viele andere Bilder dort. Man soll doch keine Bilder anbeten!?”

“David, die Christen sind noch nicht mit uns vierzig Jahre durch die Wüsten gewandert, darum ist ihr Osterfest anders. Sie machen sich alles viel leichter.”

“Aber ist das Gott gefällig?”

“Das weiß Gott. Er hat viel Geduld mit seinen Kindern. Wir müssen alle noch viel von Ihm lernen. Die Christen sagen, Gott hätte ihnen seinen Sohn geschickt, damit Er ihnen alles besser erkläre, und so glauben sie, dass sie alles am besten wissen.”

“Aber Papa, wir sind doch alle die Kinder von Gott, Er hat uns doch alle geschaffen?”

“Du hast Recht, David, aber das haben die Christen noch nicht an Leib und Seele gefühlt. Sie sagen auch, Jesus hätte ihre Sünden auf sich genommen. Wollen sie sie nicht selber tragen, verantworten und verstehen lernen? So haben sie viele Frevel gegen uns Juden begangen. Wir stören sie. Sie wollen, dass wir an ihren Jesus glauben wie an einen Gott.”

Ich war ganz aufgeregt, als der Sederabend begann. Seder heißt “Ordnung”, denn unser Erinnern soll ordnungsgemäß erlebt werden. Aber trotz der schweren Erinnerungen ist unsere Befreiung ein sehr großes Fest. Wir saßen an weiß gedeckten Tischen mit dem Hausbesitzer und allen jüdischen Familien. Vater in seinem weißen Talar leitete die Zeremonie und war für mich Moses, der sein Volk vom Pharao befreit. Die Vergangenheit wurde lebendig. Ich fühlte, dass in Gottes Kraft das ganze Volk Israel ruht, um beschützt, bestraft und geliebt zu sein.

Endlich wurde das Festmahl gereicht: Wir aßen zuerst kleine Stückchen Matze mit lauter Erinnerungen darin und darauf. Man trank die vier vorgeschriebenen Gläschen gesegneten Weines und kaute viele bittere Kräuter, dann krachte die frische Matze in großen Stücken unter den Zähnen, eine lang von mir ersehnte Musik.

“Nun, David, guter Hunger zeugt von gutem Gewissen. Vergiss nicht, wenn die Christen dich einmal wegen der Bereitung der Matze beschuldigen ...”

“Wieso, Papa?”

“Es ist eine böswillige Geschichte verbreitet worden, dass die Juden für ihr Osterbrot das Blut eines Christenkindes benötigen, um es hineinzumischen.”

“Welche Lüge, Papa! Ich habe zugesehen; es ist nur Wasser und Mehl darin.”

“Du hast gut aufgepasst. Aber leider wurden derartige Geschichten oft verbreitet, um das Volk gegen uns aufzubringen, uns zu vertreiben und sogar zu töten. Deine Großeltern hätten fast ihr Leben so verloren.”

Vater schwieg und versank in Gedanken und sagte dann leise:

“Das geht nun schon zweitausend Jahre so.”

“Papa, wie können die Menschen aber solchen Worten glauben?”

“David, es scheint, als ginge die gesamte Menschheit in einem gewaltig langen Zug durch die Schöpfung Gottes hindurch. Alle Menschen sind Wandernde. Alle, denn ein jeder muss endlich selbst durch die Wüsten gehen, um am eigenen Leibe Gottes Güte und Gesetze zu fühlen, sein Geh-Wissen zu erhalten. Es scheint, dass einige Juden diesem langen Zuge vorausgehen sollen, sie dürfen aber keinen Stein vom Wege rollen. Denn der ganze Zug der Menschheit muss durch Sand und Steine wandern. Auf dass ihr Hochmut falle! Da werden die Menschen auf uns böse, denn sie möchten auf gefälligen, schönen Wegen wandern, und manch einer leitet sie auf dergleichen Umwege und spielt den Weisen und sogar den Götzen zum Anbeten. Es ist eine traurige Eigenschaft, dass mancher Mensch sich freut, wenn man ihn anbetet. Es gibt nur einen Weg, nur einen! Den schwersten Weg! Auf dass der Mensch dem Lichte Gottes den Durchgang durch seinen eigenen Leib gewähre. Also seine Seele sich erleuchte!”

Es war, als wenn Vaters Augen den gewaltig langen Zug der Menschheit wandern sähen. Er sagte ganz leise:

“Geduld. Geduld. Es wandern Millionen! Aber- und Abermillionen!”

An diesem Pessach-Abend erzählte man sich bis spät in die Nacht hinein Geschichten und alle baten um die Geschichte der Großeltern.

Also begann Vater: “Es war in Russland. Mein Großvater war das Haupt einer friedlichen Gemeinde. Seine Wohnung und die Synagoge lagen in einem großen Hof, von einer festen Schutzmauer umgeben. Es geschah, dass tote Tiere in den Hof geworfen wurden, manche wollten sich von dem bösen Geist ihrer Krankheit befreien und ihn dem Rabbiner schicken.

Als die Osterzeit kam, wurde im Haus der Großeltern alles zum Feste bereitet: An langen, schön gedeckten Tischen saßen schon viele Menschen. Es brannten die Kerzen und der Seder begann, als Großmutter aufsprang, hinauseilte und mit bleichem, entsetztem Gesicht zurückkam.

‘Ein großes Unglück bereitet sich vor! Man hat ein totes Kind in unseren Hof geworfen!’ Eine schreckliche Stille folgte.

‘Geh, hebe das Kind auf und hole es herein’, ordnete Großvater an. Stellt euch vor, Großmutter in ihrem weißen Festkleid, in den Armen den Leichnam eines kleinen Jungen von etwa neun Jahren. Sie betrachtete das ärmlich angezogene Kind und weinte, dass ihre Tränen auf sein bleiches Gesicht fielen, so bleich, als ob wirklich alles Blut aus seinem Körper geflossen sei.

Großvater legte seinen Gebetsschal über den Kopf und betete tief innerlich, darauf sagte er:

‘Dass die Angst unsere Gedanken nicht verdunkle! Wir sind in Gottes Hand. Kleidet das Kind wie zum Pessach-Fest, kämmt seine Haare, als hätte es Päis, bedeckt sein Haupt mit dem weißen Käppchen und darüber einen Gebetsschal. Dieser Talit wird es vor bösen Blicken schützen! Setzt es zu meiner Seite an den Tisch, vorgebeugt, wie ein betender Jude. Lasst unsere Erinnerungen weitergehen!’

Die Gebete und Gesänge begannen wieder. Bald hörte man Pferde galoppieren und eine Menschenmenge schrie draußen:

‘Die Kosaken, die Kosaken kommen!’

Diese schlugen fest ans Tor: ‘Aufmachen!’ Man kennt in Russland jene rauhen Männer zu Pferde im Dienste der herrschenden Klassen.

‘Aufmachen!’ Großvater selbst stand auf und öffnete das Tor.

‘Wo ist das Kind, das ihr getötet habt, um sein Blut in euer Brot zu backen?’ schrien sie.

‘Kommt herein und seht’, antwortete Großvater, setzte sich an seinen Platz, den Seder weiterleitend, als wäre nichts geschehen. Die Kosaken haben Schränke, Betten, Bücher und Geschirr zerstört, alles zerschlagen und zerrissen; gefunden haben sie aber nichts. Sie haben eine große Verwüstung hinterlassen.

In der Stille danach ertönten die Gebete weiter. Nochmals kamen sie zurück. Das Tor stand offen. Eine Menschenmenge mit Knüppeln und Beilen hatte unruhig draußen gewartet, um zum Plündern einzudringen. Sie wagten es aber nicht, denn die Gebete machten ihnen Angst. Das Suchen der Kosaken blieb abermals ohne Resultat. Sie schlugen das Tor verärgert zu und ritten davon. Großvater erhob sich, bat einige Frauen, ihn zu begleiten, um Matze unter dem Volk zu verteilen. Er öffnete wiederum das Tor und bat, wer wolle, möge hereinkommen. Verschämt kamen einige Knüppel- und Sensenträger herein und gingen durch die Verwüstung. Unsere Gebete begleiteten sie und sie wagten nichts zu berühren und fanden auch kein getötetes Kind. Es waren Momente, wo Tod und Leben sich begegneten. Die Feuer vor dem Tor wurden zu Asche, das Volk trat den Heimweg an. Es wurde still. Das Kind saß wie ein betender Jude am Tisch. Großvater bat es zu waschen, in ein weißes Leinentuch zu hüllen und aufzubahren, Kerzen anzuzünden und neben ihm zu wachen.

Hatte es so sein sollen? In diesem Jahr fiel das Datum des christlichen Osterfestes zusammen mit dem unsrigen.

Wie immer ging das Volk nach dem Sonntagsgottesdienst ins Wirtshaus, man trank, man trank viel, die Zungen lösten sich. Der Vater des Kindes hatte für viel Geld den Leichnam verkauft. Wer hatte ihn über die Mauer zum Rabbiner geworfen? Das kam nicht heraus.

Aber wie ein Feuer mit dem Wind läuft, kam die Nachricht zu der Mutter. Bitter weinend klopfte sie, begleitet von manchen Frauen, verzweifelt an das Tor der Großeltern.

‘Gebt mir mein Kind, mein Kind. Gebt mir mein Kind zurück!’ Vor dem in allen Ehren aufgebahrten Leichnam verbeugte und bekreuzigte sich die Menge. Sie hoben die Bahre mit dem Kind auf ihre Schultern und verließen scheu das Haus.”

“Dies ist eine schreckliche Geschichte, Herr Rabbiner”, wandte unser Hausherr ein, “die aber im heutigen Ungarn nicht mehr möglich wäre.” Wir fragten uns das aber alle.

Da klopfte es an der Tür.

“Geh, David, öffne dem Propheten Eliahu die Türe. Er kommt am Pessach als Gast zu allen Juden, um sie zu segnen. Geh, öffne ihm die Tür!”

Drei Bauern mit verstörten Gesichtern traten ehrfürchtig herein. Der Älteste wandte sich an Vater: “Herr Rabbiner, wir haben eine Frage an Sie zu richten.”

“Setzen Sie sich zu uns, so ich die Antwort kenne, werde ich sie Euch geben.”

Der Mann befreite sich von einer ihn quälenden Last: “Herr Rabbiner, ihr Juden, habt ihr wirklich das Blut eines Christenkindes nötig, um es in euer Osterbrot zu mengen?”

Vater schaute sie traurig an. “Ist es euch Christen verboten, das alte Testament zu lesen, unsere Thora, von der auch Jesus sprach? Darin steht geschrieben: ‘Du sollst nicht töten und du sollst kein Blut essen.’ Dies sind unsere strengsten Gesetze! Darum wird auch das Fleisch, welches wir essen, von seinem Blut befreit. Für uns lebt im Blut die Seele und die Seele soll zurück zum Schöpfer der Welt gehen! David, reich ihnen von unserer Matze. Wenn euer Geistlicher euch die Kommunion gibt, ist die Hostie in seiner Hand die Erinnerung an dieses Brot. Jesus war ein Jude, er feierte das Osterfest so, wie wir es heute noch feiern. Wir Juden feiern an Ostern unsere Befreiung aus Ägypten, und danach kam das vierzigjährige Wandern durch die Wüsten, wo wir Gottes Gebote empfangen durften.”

“Man sagte mir, dass euer Geistlicher ein wenig geizig sei; die Hostie, die er euch gibt, ist viel kleiner als unser Osterbrot”, sagte Vater lächelnd. Da lachten auch die Bauern verschämt in sich hinein.

“Aber jetzt habe ich eine Frage. Wir haben doch bisher in Freundschaft miteinander gelebt. Wer war es, der euch diese Geschichte erzählte?”

“Herr Rabbiner, es war der Geistliche selbst, der es in der Kirche gesagt hat. Im Katechismus hat er auch so zu den Kindern gesprochen. Er weiß ja vieles, was wir nicht wissen. Wir sind aber doch zu Ihnen gekommen, um die Wahrheit zu hören.”

“Ich danke euch.” Ehrfürchtig rückwärts schreitend, die Mütze in der Hand, verließen sie das Haus.

So endete unser Pessach-Fest in Sajó-Kesznyetem. Vater erhob sich: “Mein Sohn soll nicht mehr in die Lehre eines solchen Mannes gehen!”

Bald verließen wir auch das Dorf Sajó-Kesznyetem. Die Bäuerinnen eilten herbei, die Arme voller Geschenke für Mutter.

Vater sagte: “Das Volk ist unschuldig!” und segnete sie.

Wieder bellten die Hunde unserem Wagen nach. Am anderen Ende des Dorfes hörte ich die Glocke der Kirche läuten. Irgendwie fühlte ich mich selig, wieder eine Reise machen zu dürfen.

Vater schaute ernst aus. “David, ein Mann, der zu Gott betet, kann nicht gänzlich schlecht sein. Vielleicht wollte er nur allein über Sajó-Kesznyetem herrschen. Wir haben ihn gestört.”

Die schnaufende Kraft

Unser Wagen hielt bald an einem Bahnhof. Es kam für mich die erschütternde Begegnung mit einer Lokomotive. Mit wachen Sinnen fühlte ich das Wunder dieser Erfindung. Die große Macht dieser Maschine war für mich die erste Begegnung mit der Epoche, in welcher ich lebte.

Immer am Anfang und am Ende meiner späteren Reisen habe ich mit Bewunderung, fast mit Liebe die schnaufende Kraft der Lokomotive geehrt, oft auch mit Lokomotivführern geplaudert. Sie gehört zu den Träumen und Realitäten meines Lebens.

Nun verschwanden alle unsere Kisten und Kasten in dieser Erfindung, außer den Strohsäcken, die blieben zurück. Es erfasste mich ein großer Schreck, aber Mutter nahm schnell meine Hand, lächelte und zeigte auf ihr Mieder. Dort war jetzt das Versteck unseres Geheimnisses. Vater war gleich auf einen freien Platz zugegangen, setzte sich neben den Bauer auf die Holzbank, holte ein Buch aus der Tasche und las. Diese Umgebung schien sein Interesse nicht zu wecken, aber das meine. Ich stellte fest, dass die Leute, hatten sie einmal einen Platz gefunden, begannen, ihren Proviant hervorzuholen und lauter für uns verbotene Dinge zu essen. Sie legten sogar Speck und Blutwurst aufs Brot, tranken Wein dazu und aßen hinterher Käse. Fleisch und Milch zu mengen ist uns auch verboten. Mein schon aufgeregter Magen wollte sich fast umdrehen. Dann fingen sie an zu rauchen oder zu schnarchen, derweil Gottes Schöpfung an ihnen vorbei eilte, was sie nicht zu interessieren schien. Das Rütteln der rollenden Wagen, den Kopf in Mutters Schoß, bin ich, in dieser Musik, dann doch eingeschlafen.

“Wach auf, David! Wir sind angekommen”, rief Karoline.

Mir war, als wäre ich viel weiter als nach Petrozseny gereist.

Petrozseny

Petrozseny ist eine Stadt dicht an der rumänischen Grenze. Ihr Bahnhof war, nach meinem Ermessen, unserer Lokomotive würdig; seltsamerweise standen auf ihm eine solche Menge Juden, dass es meine Vorstellung übertraf. Alle trugen schöne Kaftane und große, hohe Hüte, und diese Menge strömte auf Vater los! Es war aufregend, aber es gefiel mir sehr. Auch würdig gekleidete Christen standen um eine prachtvoll gestickte Fahne und gingen in Richtung Vater. Einer dieser Herrschaften begrüßte mit einer langen Rede den neuen “Herrn Oberrabbiner von Petrozseny” und wir wurden mit der Fahne aus dem Bahnhof geleitet.

Auf dem großen Platz stand eine neugierige Menschenmenge, um sich den neuen Oberrabbiner zu beschauen, und Vater segnete das Volk. Seltsame Wagen, große und kleine, standen am Rande des Platzes, alle nur so gemacht, um nichts anderes als Menschen hineinzusetzen. Einer von ihnen war für unsere Familie. Seine beiden Pferde trabten dann durch lange Straßen, lauter Geschäfte rechts und links. Was wird hier mit meinen Päis geschehen? Bevor ich eine Antwort fand, hielt unser Wagen vor einer prächtigen Synagoge. Mir war wie im Traum. Neben ihr war unsere Wohnung. Unsere Wohnung! Ach, wie war hier alles überwältigend schön! Ich kann mich noch heute der Herrlichkeiten und Konfitürengläser erinnern, die auf dem Küchentisch für uns bereit standen. Es gab für jeden ein Zimmer! Für Vater gab es noch einen richtigen Hamidrasch, um seine Studenten zu unterrichten, und einen Salon, wenn andere Rabbiner oder Gäste ihn besuchten. Mein Staunen fand kein Ende. Dies war die Welt des reichen Herrn, der uns mit seinen Kindern in Kurtakeszy besucht hatte. Ich war sicher, es konnte nicht anders sein.

Mutters Augen wurden hier ein sanft leuchtender Himmel – und lustig wurde Mutter auch. Alle Tage gab es zu essen! Zu Ehren des Sabbat gab es Fleisch und Wein. Wir bekamen auch neue Kleider und fühlten uns so wohl darin. Vaters Zeit war sehr angefüllt mit Unterricht, Vorträgen, dem Gottesdienst und der Beantwortung von Fragen und Briefen. Man kam von weit her, um Vater zu sehen und zu hören.

Auch mein Leben wurde angefüllt. Am Tag die weltliche Schule, wo sich seltsamerweise niemand um meine Päis kümmerte, denn es gab manche, die sie trugen. Am Abend ging ich mit viel älteren Kameraden zum Talmudstudium zu Vater. Dieses Leben war herrlich. Ich wollte einmal wie Vater eine angesehene Persönlichkeit werden. Mein glänzendes Schulzeugnis verriet mein Ziel: alle Fächer ausgezeichnet. Nur im Singen ungenügend, weil ich keine Noten lesen konnte. Ich liebte es sehr zu singen und verlor sehr schnell diese Unwissenheit. Aber dies alles zusammen wurde etwas zu viel und eines Morgens hatte ich verschlafen. Karoline kam mit mir zu spät zur Schule, das Tor war verschlossen. Karoline fand eine großartige Lösung: Wir werden inzwischen an den Rand der Erde gehen, uns dort hinsetzen und mit den Beinen so lange baumeln, bis es Zeit wird, nach Hause zu kommen, so als ob alles in Ordnung wäre. Am Erdrand mit den Beinen baumeln – das reizte mich. Auf der ersten Landstraße sahen wir schon gleich in der Ferne hinter den Bäumen den Rand der Erde.

“Dort ist er”, rief Karoline begeistert. Aber der Rand kam nicht zu uns und wir nicht zu ihm. Aber wir sahen die Sonne am Rand heruntergleiten. Es wurde Nacht. Glücklicherweise war es Sommer und wir legten uns am Wegrand zum Schlafen nieder, aber so, dass wir morgens gleich wussten, wo die Sonne am Rand heruntergegangen war, dort musste ja der “richtige Rand” sein! In der Frühe hätten wir uns fast gezankt, denn Karoline behauptete, wir hätten uns im Schlaf gedreht, und ich sagte, die Sonne sei nicht am selben Rand zurückgekommen. Auf alle Fälle liefen wir mit neuen Kräften in Richtung Sonnenaufgang. Wir liefen und liefen und wussten immer weniger, wo der Rand zu finden sei. Es wurde Mittag, es wurde wieder Nacht. Ich hörte Vaters Stimme: “Wer nicht seinen Blick zum Firmament erhebt, der weiß nicht, wie klein er ist”, und ich setzte hinzu: “und seine Beine tun ihm weh!” Zwei Gendarme fanden uns schließlich gänzlich erschöpft im Straßengraben. Sie sprachen rumänisch. Die Sprache vom Ende der Welt?

Glücklicherweise war es Mutter, die uns die Tür öffnete.

“Mutter!”

Vater kam auch, mit schwarzen Augen, die uns durchbohrten. Ein Wunder geschah: Nicht ich bekam die Züchtigung von Vaters Hand, nein, diesmal war es Karoline. “Du bist die Ältere und du hast die Dummheiten deines kleinen Bruders zu verhüten!” Tief beschämt und erschöpft kroch der kleine dumme David ins Bett. Wie gerne hätte ich die Züchtigung bekommen. Aber es war etwas viel Schlimmeres geschehen: Ich hatte Mutter schluchzen, ja weinen gemacht; ich hatte Mutter ganz vergessen, um einer Dummheit halber! Mutter hatte uns angeschaut, als wenn wir vom Himmel zurück in ihre Arme gefallen wären, und hatte dabei bitterlich geweint.

Gott wollte es so

Wir genossen das Leben einer bürgerlichen Familie. Wir drei Kinder saßen in unsere Schularbeiten vertieft vor einer Tasse Tee und einem von Mutter selbst gebackenen Kuchen. Wir fühlten uns behütet und eingeordnet in das Leben, welches uns umgab, als eines Tages Vater unerwartet, mit einer furchterregenden Ausstrahlung hereinkam. Er blieb an der Tür stehen, unbeweglich. Seine Blicke glitten durch den Frieden unseres Heimes, unseres Lebens hier. Lange blieb Vater so stehen, bis auch der Friede zu ihm kam. Dann sagte er klar und ruhig: “Channe Fegele, wir wollen unsere Sachen packen.”

Nie werde ich Mutters Blick vergessen. Leise, als hätte sie keine Kraft mehr, fragte Mutter: “Elie, was ist geschehen?”

Wir Kinder zitterten vor Angst.

Vater antwortete nur: “Gott wollte es so.”

Und Mutter flüsterte: “Also gehen wir packen.”

Erst sehr viel später erfuhr ich, es war in der “Neologischen Gemeinde” bekannt geworden, dass der Oberrabbiner Elias Tulman kein ungarischer Staatsbürger war. Die orthodoxe Gemeinde hatte Vater trotzdem erwählt, weil er eine starke Persönlichkeit war, ein ausgezeichneter Redner und Gelehrter, man sagte auch Kabbalist. Dazu hatte war er noch eine imposant Erscheinung. Aber die Neologen hatten sich von ihm gestört gefühlt. Offizielle Posten waren nur für ungarische Staatsbürger. Gesetz ist Gesetz. Gott wollte es so. Vater wollte es im Tiefsten seiner Seele vielleicht auch. Er wurde nie ungarischer Staatsbürger. Er blieb der Russe, der Mensch “weiter Dimensionen”. Auch reizte ihn nicht, der “angesehene Mann” zu sein. Vater fühlte, was im Menschen das Unsterbliche ist.

Vater liebt mich!

Die Reise ging nach Hejó-Czaba, ein Vorort von Miskolc. Vater hatte hier in Eile den Posten des Kantors angenommen. Seine Baritonstimme war schön und seine Kenntnisse erlaubten es ihm. Doch bald fühlte sich der Rabbiner neben ihm erdrückt und das wollte Vater verhüten. So war unseres Bleibens hier nicht von langer Zeit, doch genug für ein unvergessliches Ereignis.

Wir lernten in der Schule Geschichte, in der die Bravour der ungarischen Husaren besungen wurde, was in uns Kindern die Kriegslust erweckte. Wir verteilten untereinander die verschiedenen Rollen. Es wurde eine sehr hübsche Krankenschwester gewählt, was in mir einen heimlichen Wunsch nach Verwundung weckte. Leider musste ich den zu vertreibenden Feind spielen (warum ich diese Rolle bekam, hat mich später grübeln lassen). Die Horde der schreienden Sieger rannte also hinter mir her. Auf der Flucht fiel ich über ein Brett, aus dem ein verrosteter Nagel herausstand, der in meiner Hand abbrach. Im Kriegsgeschrei der Verfolger war keine Zeit, das zu beachten; es blutete auch leider nicht genug, um in die erhoffte Krankenpflege zu kommen. Einige Tage später schwoll meine Hand an und Mutter legte mir als altbewährtes Mittel rohe Zwiebeln darauf. Es schien aber nicht wirksam. Die Nachbarsfrauen schauten auch mit besorgten Gesichtern auf mein Geschwür und legten zu Mutters Zwiebeln noch ihre Kräuter dazu. So trug ich einen ganzen Gemüsegarten um meine Hand gebunden. Aber das Geschwür schwoll und schwoll. Die Schulkinder wollten nun auch meine Kriegsverletzung bewundern und unsere Krankenschwester versuchte ihre Heilkunst an mir.

“Halt gut still, David, es wird weh tun, ich werde allen Eiter herausdrücken!” Heroisch hielt ich still. Aber nichts kam heraus! Im Gegenteil, die Schmerzen gingen hinein, ich fühlte sie überall, im Arm, im Kopf, es war als ob mein Herz im ganzen Körper klopfte. Es wurde unerträglich.

Vater bemerkte den riesigen Verband und meine schlechte Aufmerksamkeit. Ich musste erzählen. Als ich zur Heilungsmethode der Krankenschwester kam, erhielt ich einige sehr tüchtige Ohrfeigen.

“Du hast dich nicht mit Mädchen zum Spielen einzulassen und aus dem Krieg ein Spiel zu machen, ist eine Sünde! Gott hat dich gestraft.” Und Vater las weiter in seinem Buch.

Von Stunde zu Stunde wuchs jetzt die Geschwulst, sie bekam die Form eines großen Apfels in meiner Hand und der Arm rötete sich. Niemand kam auf die Idee, einen Arzt zu befragen. Aber ich brauchte nicht zur Schule zu gehen. Ich war vom Fieber geschüttelt, doch Vaters Antwort war: “Es ist Gottes Strafe für dich!” Ich las zitternd in den heiligen Schriften, meine Sünden büßend. So wurde es Sonntag Nachmittag. Es kamen Familien der Umgegend, um Vater über dieses und jenes zu befragen. Alle hatten sie ein gutes Wort für mich, der ich mit meinem großen Verband wohl recht jämmerlich aussah.

Es kam auch der alte, gütige Tempeldiener zu mir. Er bestand darauf, sich meine Hand anzusehen. Als die ganzen “Heilswissenschaften” heruntergenommen waren, rief er aufgeregt Vater: “Wollen Sie ihren Sohn töten? Er hat eine schwere Blutvergiftung. Vielleicht können Sie ihn noch retten, wenn Sie sofort, aber sofort die Straßenbahn zum Krankenhaus nehmen. Ja, am Sabbat die Bahn nehmen! Es geht darum, ein Leben zu retten!” Er war außer sich vor Aufregung.

Es war das erste Mal, dass Vater wirklich meine Hand betrachtete. Alle Leute schauten mich erregt an und Vater sprach: “Wir fahren!” Jetzt brach ich zusammen. Alles verschwamm um mich her. War ich schon ein Sterbender? Dass Vater gegen die Gesetze des heiligen Sabbat handeln wollte? Am Sabbat fahren! Mutter eilte, Vaters Hut zu holen, warf ein Tuch über ihre Schultern, holte Geld für die Bahn. Auch Mutter? Sie rührte am Sabbat Geld an? War ich wirklich sterbend?

Vaters feste Hand fasste die meine, die gesunde. Wie ein Wunder floss seine Kraft in mich hinein.

“Papa, ich sterbe noch nicht. Papa, ich will laufen. Sogar schnell laufen. Du sollst keine Sünde wegen mir begehen! Papa, ich hab dich lieb, lass uns bitte laufen!” So liefen wir die etwa sechs Kilometer zum Krankenhaus.

“Mein Bußweg”, aber an Vaters Hand. Und hätten seine gütigen Augen nicht zu mir hinuntergeschaut, ich wäre bis zum Allmächtigen gegangen. Wir kamen zu spät an. Das große Tor war geschlossen, die Konsultation beendet. Vater klingelte Sturm. Eine Nonne schaute durch ein Schiebefensterchen heraus. Was sie sprachen, weiß ich nicht. Das Tor öffnete sich. Ich erinnere mich an den Weg durch weiße Gänge und Zimmer. Wieder wurde meine Hand entblättert. Dann kamen eilende Schritte herbei, es kamen noch Ärzte. “Die Hand muss abgenommen werden, wahrscheinlich auch der Arm” hörte ich sie sagen. Es war mir sehr recht, dann würde es nicht mehr wehtun.

Da ertönte Vaters Stimme stark und klar, aber in der Tiefe zitterte sie: “Mein Sohn wird Rabbiner! Er braucht seine rechte Hand, um die Tephilin auf seine linke Hand zu binden. Die Tephilin enthalten heilige Schriften. So beten wir Juden zu Gott, mit unseren beiden Händen. Sie dürfen sie ihm nicht nehmen!”

“Aber guter Herr, sprechen wir jetzt nicht von Gebeten, es ist höchste Zeit, es geht um das Leben ihres Sohnes.”

“Betet ihr denn nicht zu Gott? Warum leben, wenn man nicht beten darf. Warum leben, wenn man Ihm nicht dienen darf!” Das Zittern in Vater wurde gewaltig, es schüttelte seinen Körper und Tränen brachen aus seinen Augen. Vater liebte mich!

Die Oberschwester in ihrem großen, schwarzen Kleid der Nonnen eilte durch den Saal. Sie sprach mit jemandem, der nicht im Raum war. Ihre Stimme war fest und eindringlich: “Herr Professor, es geht um das Leben eines Kindes. Im Namen Jesu Christi und des einzigen jüdischen Gottes, sie müssen sofort kommen!” Mein Kopf wurde schwer. Vater betete. Die Oberschwester hob mich auf ihren Schoß, strich über meine Stirn und meine Haare. Ich schrak zusammen, denn mein Kopf fiel auf ihre Brust, wo das kalte Kreuz des Jesus hing.

Was wird jetzt geschehen? Etwas Fürchterliches. Wenn Vater mich so sieht, er wird ...

Da geschah es. Vater wandte sich um und sagte ruhig: “Sie ist von Gott gesandt, David, küsse ihr die Hände”.

Ob mein Kopf dann in ihre Hände fiel, ich weiß es nicht.

Erwachend fand ich mich in einem großen hellen Saal mit vielen aufgereihten weißen Betten. In jedem lag ein Mensch, so wie ich. Waren dies alles Bestrafte? Oder Gerettete? Vater, die Oberschwester und ein Unbekannter schauten mich freundlich an. Waren meine Sünden vergeben?

“Also, du heißt David, so wie der große König, der Sänger, der Harfenspieler und Dichter. Du kannst dem Herrn Professor danken, dass du mit deinen beiden Händen zu Gott beten darfst”, sagte die Oberschwester. Nur meine Augen konnten Dank sagen. Mir war als sei ich vom Jüngsten Gericht zurückgekommen.

Erst jetzt rief man Mutter herein. Mutter schwebte durch den Saal. Ihr glückliches Lächeln hat mich dann wieder gesund gemacht. Ein schwerer Bußweg an Vaters Hand lag hinter mir, aber nun wusste ich: Vater liebte mich wirklich!

Wenige Zeit später verließen wir Hejó-Czaba, um nach Bakony-Tamasi zu gehen.

Bakony-Tamasi

Wieder einmal auf Reisen, “geschaukelte Tage” auf einem Wagen und Zeit zu reiferen Überlegungen: Warum hatte gerade ich den fliehenden Feind spielen müssen und alle Kinder rannten hinter mir her? Hatten sie vielleicht geschrien: “Büdos Zsidó” – “verstunkener Jude”? Nein, ich entsann mich nicht. Aber die hübsche Krankenschwester – musste man mit den stillen Wünschen genauso aufpassen wie mit den lauten? Wenn Gott sie erfüllt? Aber eines war mir nun gewiss: Vater liebte mich!

Wir näherten uns dem großen Wald von Bakony, wo es Wölfe, Wildschweine, Hirsche und Füchse gab, man sagte auch Bären. Und bald kamen das Rauschen der Bäume und die Rufe der Vögel. Mir war, als sprächen hier nur die Tiere und nicht mehr die Menschen.

Bakony-Tamasi liegt in einem der Täler dieses riesigen Waldes. Vaters Gemeinde bestand aus etwa fünfundzwanzig jüdischen Familien in Bakony-Tamasi und den im Umkreis liegenden Dörfchen, wo jeweils noch zwei oder drei jüdische Familien lebten. Zweimal wöchentlich besuchte Vater diese Dörfchen seiner Gemeinde und ich durfte ihn begleiten. Ein solcher Rundweg war fast dreißig Kilometer lang. Wir zählten die Kilometersteine und Vater setzte sich von Zeit zu Zeit auf einen nieder und hörte meine auswendige Rezitation des Wochenabschnittes der Thora an. Beim Wandern sangen wir zusammen Psalmen und jiddische Volksweisen. Ich trug auf meiner Schulter einen festen Stock, an dem ein Tuch angeknüpft war, worin wir Kartoffeln, Gemüse, Mehl und auch mal Eier, Geschenke für Vater, nach Hause brachten.

Unser Heim war am Ende einer sehr langen Häuserflucht von lauter aneinander gebauten kleinen Wohnungen. Alle waren von einem einzigen langen Strohdach bedeckt. Gegenüber gab es die Ställe für Ochsen, Kühe, Gänse und Hühner. Auch Pferde gab es, man hörte sie in der Nacht in ihren Träumen grunzen und seufzen. Ein Dorf für Tiere dachte ich. Trotzdem gab es eine Schule für Kinder hier, mit sogar zwei Lehrern: dem katholischen und dem protestantischen Geistlichen. Wir kamen gerade vor der Prüfungszeit an, so musste ich in acht Tagen alles nacharbeiten. In der Prüfungskommission saßen einige Großbauern, und mit strengen Gesichtern wurde der Neuankömmling von ihnen geprüft.

Erste Frage: Wie heißt die Hauptstadt von Ungarn?

Ich antwortete und fügte noch hinzu: “Ich weiß auch die Hauptstadt von Russland.” Erstaunen, aber man musste doch den Geistlichen fragen, ob es stimmte.

Zweite Frage: Wieviel ist zehn mal vier?

Ich antwortete: “Zehn mal vierzig ist vierhundert”. Bewunderung. Ich wurde beglückwünscht und angenommen. Bekam vom katholischen Geistlichen ein Heiligenbild geschenkt, vom protestantischen etwas Obst zur Belohnung und ... vom Vater bekam ich zu Hause zwei tüchtige Ohrfeigen, als ich ihm den Hergang der Prüfung erzählte.

“Hast du vergessen, es steht geschrieben: ‘Man gebe Antwort auf das, was gefragt ist!’ Du hast hochmütig und eingebildet gehandelt.” War ich doch gerade erst sieben Jahre alt, musste aber Vater recht geben. Hochmütig und eingebildet ... ja, ja ...

Es kamen jetzt sehr heiße Sommertage und immer heißere. Es regnete seit langem nicht mehr und sogar im Wald schien die Luft zu tanzen. Aber Vater gab seine Besuche nicht auf. Wir waren froh, dass unser Weg durch den Schatten des Waldes führte. Dort beobachteten wir die Tiere und die Tiere beobachteten uns. Es war sehr friedlich, als wenn die Tiere die Menschen verstehen könnten. Wir wurden sehr still und lauschten. Es war, als ob man alles umher berühren könnte, berühren ohne Hände, eine wirkliche Verbundenheit. Dieses Gefühl kam mir oft in diesem großen Wald an Vaters Hand (sonst hätte ich wohl Angst gehabt). Vater fühlte auch diese Verbundenheit.

“Siehst du, David, alles dies wandert, ja, alles wandert. Alle Menschen, alle Tiere, auch die Bäume wandern und die Steine. Das ist unser aller Weg, der Weg der Seelen zu den Messianischen Zeiten. Die Seelen tragen so den Staub der Erde mit sich zum Licht.”

“Papa, ich habe Durst.”

“Warte bis wir zu Hause sind, David.”

Ich zählte noch zwölf Kilometersteine. Und der Stock auf meiner Schulter, mit dem Sack daran, wurde immer schwerer. Vater merkte es. “David, gib ihn mir auch zu tragen.”

Ich liebte es nicht, Vater mit dem Sack zu sehen, das passte nicht zu ihm. Und schnell erbat ich ihn mir zurück. Das war ein Spielchen, das wir öfter auf den langen Wegen spielten und Vater sagte einmal: “Der Allmächtige wird dich belohnen für die Ehre, die du deinem Vater erweist.”

“Papa, schau! Dort auf der Lichtung gibt es einen Brunnen.” Auch Vater dürstete und wir gingen hin. Es war einer dieser alten ungarischen Ziehbrunnen, man erkennt sie von weitem: Auf einem großen Pfosten liegt ein riesiger Balken, von dem eine Seite hoch in die Luft ragt und den Eimer trägt, auf der anderen Seite sind schwere Steine angebunden. Ich bat um die Erlaubnis, selbst das Wasser herauszuholen. Der große Eimer glitt erst einmal so tief hinunter, dass mir bange wurde, etwa zehn oder zwölf Meter schätzten wir, und der große Eimer war gefüllt fast so schwer wie ich selbst. Beinahe hätte ich es nicht geschafft, aber endlich kam er doch an den Brunnenrand. Ein herrlich kristallklares Wasser. Auf dem Boden des Eimers aber saß eine Riesenkröte. Alles drehte sich mir im Magen.

“David, sprich den Segen über das Wasser und trink”, befahl Vater. “Ich werde auch trinken.”

Die großen dunklen Augen der Kröte und die meinen haben sich angeschaut, ich glaube von Seele zu Seele. Ich hatte keinen Ekel mehr und keine Angst. Ihre Augen schauten voller Güte zu mir herauf, aber auch mit viel Traurigkeit, sie schienen mir zu sagen “trink, trink, David”. Und ich trank. Auch Vater trank. Wir gingen dann still zu unserer Straße zurück. Plötzlich sagte Vater: “David, geh zurück und schau, was die Kröte macht!” Sie war nicht aus dem Eimer gesprungen, nein, sie schwamm tot an der Oberfläche, den Bauch zum Himmel gewandt. “David, gieß das Wasser und die Kröte auf die Erde, alles kommt vom Staube der Erde und geht zur Erde zurück, nur die Seele wird frei und schwebt ins Licht.”

Und Vater erzählte von der Seelenbefreiung und Wanderung, von ihrem Aufstieg, langsam, langsam, Stufe für Stufe, zu Gottes immer hellerem Licht. So wandert der Staub, getragen von der Seele. So wandert alles Geschaffene, Stufe um Stufe in immer helleres Licht. Das ist der lange Weg zu den Messianischen Zeiten: den Zeiten der Erleuchtung.

“Es hat so sein sollen, dass wir hier vorbeikamen, dass uns dürstete, dass du, das unschuldige Kind, den Segen sprachst und trankst. Du hast die Seele der Kröte befreit, du hast dich nicht mehr vor ihrer Form geekelt. Lass uns hier unser Abendgebet verrichten. Stell dich zu mir David, wir werden mit unserer Seelenkraft ein Gehege um uns bilden, auf dass wir beim stillen Gebet geschützt sind.” Vater zeichnete mit seinem Stock einen großen Kreis um uns herum.

“David, erbitte dir Seelenkraft! Seelenkraft ist das Licht. Das Licht trägt mit sich den Staub und Gottes Liebe für sein Geschöpf.” Und wir beteten. Ich hatte mein stilles Gebet schon längst beendet, aber Vater noch nicht. Er stand, die Arme hoch empor zu Himmel gehoben. Wie stand Vater doch groß und prächtig da, als habe Gott ihm Schaffenskraft verliehen.

Da kam vom Brunnen her eine Riesenschlange gekrochen, sie züngelte und schlich auf uns zu. Es war die erste Schlange in meinem Leben. Ich kannte sie nur aus der Bibel, als sie zu Eva von bösen Sachen sprach. Und es steht geschrieben: “Der Mensch und die Schlange sind ewige Feinde.” Im stillen Gebet darf man niemand stören. Würde die Schlange in Vaters Schutzkreis kommen? Nein, sie blieb wirklich am Rande. Wir waren alle drei unbeweglich, nur Vater betete. Man hörte von weitem über die Straße einen Wagen kommen. Die Schlange machte plötzlich einen Bogen um uns herum und eilte über die Straße. Die vier Pferde des Wagens scheuten und rasten dann wie wild über die Schlange hinweg. Es war die Rettung! Der Kutscher hatte Mühe, die Pferde zu beruhigen, sie hatten weißen Schaum im Maul und auf den Flanken. Der Wagen drehte um und kam zu uns zurück. Es war der Bürgermeister von Bakony-Tamasi. Er drehte mich nach links, er drehte mich nach rechts und fragte, ob die Schlange uns nicht gebissen habe? Vater, der eben sein Gebet beendete, verstand sofort die Situation und sagte still: “Gottes Geist weilt in diesem Tale.”

Der Kutscher zerschlug mit seinem Peitschenkolben den Kopf der Schlange und sagte: “Solange die Sonne nicht untergeht, leben diese Biester noch. Sie ist eine giftige Schlange. Sie haben viel, viel Glück gehabt! Herr Rabbiner, steigen Sie mit ihrem Sohn zu mir in den Wagen. Sie sagten soeben ‘Gottes Geist weilt in diesem Tale’, ich möchte mit Ihnen darüber sprechen”, sagte der Bürgermeister. Vater weigerte sich erst, stieg dann aber doch vorne zum Kutscher auf den Bock. Wie war ich glücklich, nach so vielen Schrecken nicht mehr laufen zu müssen. Aber der Bürgermeister wechselte seinen Platz mit dem Kutscher, nahm selbst die Zügel in die Hand, um mit Vater zu sprechen.

“Herr Rabbiner, alles verdorrt auf den Feldern, eine Hungersnot wird kommen! Was können wir tun?”

“Die Menschen sind sündig!”

“Alle Menschen, Herr Rabbiner?”

“Alle, ohne Ausnahme.”

“Auch ihr Juden?”

“Auch wir Juden, ja, auch wir Juden!”

“Unsere Geistlichen haben um Regen gebetet, aber ihr? Die Juden kennen die Erde nicht, ihr lebt nicht vom Acker und vom Schweiß der Bauern. Was tut ihr?”

“Wir beten auch um Regen, wir Juden fühlen auch das Leid der Erde.”

“Sie sagten soeben, dass Gottes Geist im Tale sei. Wenn Sie ihn fühlen oder sehen können, warum bitten Sie Ihn nicht um Regen? Ihr Juden liebt uns nicht. Das ist der Grund!” Er schlug erregt auf die Pferde los.

Nach einer Stille sagte mein Vater: “Sonnabend wird es regnen. Aber vergessen Sie nicht, wir lästern damit Gott! Es wird ein Regen ohne Segen sein! Wenn Gott strafen will, müssen wir es verstehen lernen!”

“Ein Regen ohne Segen?”

“Ja, ein Regen ohne Segen! Der Mensch soll sich nicht Gottes Strafe entziehen. Der Mensch soll lernen.” Dann sprachen sie nicht mehr miteinander, man hörte nur das Traben der vier Pferde. Bald waren wir in Bakony-Tamasi. Das Dorf lief zusammen, sich die mächtige Schlange zu betrachten. Der Kutscher hatte sie hinten am Wagen angebunden. Ihr Leib bewegte sich noch immer. Ein Grausen überfiel alle. Es war der Abend des Donnerstag.

Der Regen des Unheils

In der Nacht hatte ich nicht geschlafen und sah am Morgen des Freitag die große Kerze auf Vaters Tisch, wie sie sein ernstes Lesen und Denken beleuchtete, glücklich, ihm Licht zu spenden, sich selbst verzehrend. War Mutter nicht auch solch ein Licht für uns alle? Sie war schon aufgestanden und putzte das Haus für den Sabbat.

Na, was war da schon zu putzen? Aber Mutter bereitete uns immer aus Nichts ein Fest: So es Eier und Mehl gab, backte sie die beiden Zopfbrote mit einem leisen Kuchengeschmack, auf den ich die ganze Woche hoffte. Vor Sonnenuntergang saßen wir dann in frischen Kleidern am Tisch, Mutter zündete die beiden Kerzen zum Empfang “der Braut”, des heiligen Sabbat an. Vater sprach den Segen über Brot und Wein und es war, als strahle Mutters Licht im ganzen Hause.

Der Kutscher des Bürgermeisters verbreitete inzwischen: “Der jüdische Gott wird es am Sabbat regnen lassen! Aber ein Regen ohne Segen!”

Die Bauern schauten uns von weitem misstrauisch an. Sonnabend vormittag sprach der Vater in der Synagoge von den Gesetzen in Gottes Schöpfung. Der Mensch solle versuchen, sie zu verstehen, um ihnen folgsam zu sein. Der Mensch solle sich nicht gegen Gottes Gesetze und Willen erheben. Darauf legte Vater seinen großen Gebetsschal über den Kopf und alle beteten.

Wenn Vater betete, war es, als ob er von einer fernen Musik, die nur er hörte, leise, leise gewiegt wurde. Das machte mir immer einen tiefen Eindruck. Niemand wiegte sich so wie Vater. Nach dem Gottesdienst kamen wir in eine unerträgliche Hitze hinaus. Ich dachte an die Bauern und die Tiere auf den Feldern. “Im Schweiße deines Angesichtes”, ich fügte hinzu “und aller deiner Glieder” – das hatte ich beim Wandern erlebt – “sollst du dein Brot verdienen”.

Als unsere kleine Familie am Mittagstisch saß, wurde es plötzlich finster. Schwarze Wolken rasten am Himmel auf Bakony-Tamasi zu, getrieben vom Sturm, der nun das Dorf erreichte. Draußen schrien Mensch und Tier vor Entsetzen. Das Vieh brach aus den Ställen aus. Mütter riefen nach ihren Kindern. Alles, was nicht fest am Boden stand, wirbelte zum schwarzen Himmel. Was dann geschah, werde ich nie vergessen: Es donnerte furchtbar und der Blitz schlug in unser Haus ein. Wie tausend Riesenschlangen zischte es und alles zitterte. Ein Bauer zertrümmerte mit der Faust unsere Fensterscheibe und schrie: “Heraus, heraus. Das ganze Dach steht in Flammen!”

“Nichts wird angerührt!” befahl Vater. “Wir dürfen am Sabbat nur das Leben und die Thora retten!”

Er wickelte die Thora in seinen Talit und befahl mir, das Gleiche zu tun, und wir eilten mit Mutter und den Schwestern hinaus. Inmitten des großen Hofes blieb Vater stehen, wandte sein Gesicht zu den Flammen und betete. Brennendes Stroh flog durch die Luft, es knisterte und zischte, es blitzte und donnerte. Es war wie in der Hölle! Der große Wachhund hatte seine Kette zerrissen und raste auf Vater los, dicht vor ihm aber legte er sich winselnd auf den Bauch. Er kroch heran und leckte Vaters Hände, dann legte er sich zu seinen Füßen nieder. Es war, als wolle er Vater und die Thora schützen.

Die Flammen sprangen von Haus zu Haus. Das große Strohdach verbrannte gänzlich. Eine Bäuerin legte ihren Säugling in Mutters Arm und eilte fort, zu retten, was zu retten war. Auch im Wald begann die Feuersbrunst zu wüten. Mit aufgerissenen Augen, voller Ruß und Schweiß, rannte der Bürgermeister zu Vater. Was würde geschehen? Er war ein kräftiger Mann, würde er Vater schlagen wollen? Vater stand “Gesicht zu Gesicht” vor dem Allmächtigen im Gebet.

“Herr Rabbiner, nie wieder werde ich Gott lästern! Euer Gott ist unerbittlich.”

Da schien es mir, als fielen Tränen aus Vaters geschlossenen Augen hinab. Waren es erste Regentropfen? Sie wurden zum Wolkenbruch! Sie wurden zur Sintflut! Und sie löschten allen Brand.

Hilfe

Mit dem Ende der Sintflut fiel auch langsam der Abend über Bakony-Tamasi. Unter freiem Himmel standen noch vier Wände unseres Hauses. Zwei Betten, Tisch und Stühle glitten wie Kähne durchs Zimmer, überall schwamm verbranntes Holz und Stroh. Erste Sterne überblinkten die Nässe. Der Sabbat war beendet. Vater holte seinen Stuhl, wischte ihn ab und setzte sich an den Tisch, wir taten das Gleiche.

“David, bei welchem Gebet brachen wir ab?”

Ich wusste es genau und stimmte an.

Aus dem Hof tönte bitteres Weinen und Schreien. Da brach auch aus Mutter ihr Leid. Ihre Tränen flossen gleich einer zweiten Sintflut. Sie hatte die Gesetze befolgt, nichts Weltliches zu retten. Wir Kinder küssten ihre Hände und unsere Liebe schaute zu ihr auf. Da leuchtete ihr Lächeln durch die Tränen.

Mutter flüsterte: “Gott hat euch geschützt, preisen wir Ihn. Der Allmächtige wird uns weiterhelfen.”

Und wir stimmten aufs Neue die Gebete des Sabbat an.

Die Füße im Wasser, in nassen Kleidern, fröstelnd und zitternd saßen wir da, aber wir waren gerettet. Da trat der Bürgermeister herein. Vater und ich hielten noch die Thora im Arm. Erschüttert betrachtete er dieses Bild, leise den Kopf wiegend, wie um besser zu verstehen. Als unser Gesang beendet war, sprach er: “Herr Rabbiner, jenseits auf dem Hügel, auf der anderen Seite des Dorfes, hat das Feuer nicht gewütet. Ich besitze dort ein Haus, in welchem niemand wohnt. Es hat drei Zimmer, Küche und Backofen und einen kleinen Garten darum herum. Ich stelle es Ihnen zur Verfügung. Tun Sie mir den Gefallen und nehmen Sie es an. Ihre Frau und Ihre Kinder werden sich dort besser fühlen. Hier können Sie nicht bleiben.”

Vater nickte dankend. Noch in der Nacht kam der Bürgermeister mit einem Wagen, bestand darauf, dass Vater nur die Thora betreute und fasste selbst mit an. Alles war schwarz und nass, aber seltsamerweise waren Vaters Bücher im Schrank trocken geblieben.

In unserem neuen Heim fanden wir trockenes, sauberes Stroh. Noch in dieser Nacht weihte Vater das erste Zimmer als Synagoge ein. Das zweite, mit dem Studiertisch und den Büchern, war für Vater und Mutter. Zum Backofen sagte er: “Dort werden wir Matze backen.” Das kleine dritte Zimmer bekamen die Schwestern mit der Bemerkung: “Sollte ein armer Mann ins Dorf kommen, so müsst ihr es zeitweilig abtreten.” Ich durfte in der Küche schlafen, die einen Ausgang zum Garten hatte. Gottes Zorn beruhigte sich.

Heute noch fröstelt es mich und ich zittere, wenn ich bedenke, dass eigentlich die Worte der Thora so tief in alle Seelen der Menschen eindringen müssten, auf dass sie es werden, die unsere Handlungen leiten, so wie bei Vater. Aber das ist noch ein sehr langer Weg.

Vater sagte: “Alles wandert.”

Lajos

Nach dieser Sintflut vertrank mancher Bauer das Geld der Versicherungsämter in der Schenke und die erhitzten Gemüter meinten, der Brand sei von den Juden heraufbeschworen worden. Anderen lief der Schweiß vom Gesicht, während sie Haus und Ställe neu deckten. Mutter wusch, stopfte und besserte Wäsche aus für die Bauern. Ich durfte dann am Abend frische Milch holen. Auf diesen Wegen umschwebten mich Versuchungen! Die Bauersfrauen schienen sich einen Spaß daraus zu machen, mir Speck und Schinken anzubieten. Doch ich blieb stoisch! Einer ihrer Verführungssprüche war: “Was zum Munde hineingeht, ist keine Sünde, nur was aus ihm herauskommt.” An die Vielzahl der ungarischen Flüche denkend, schien mir dieser Spruch wichtig zu sein. Nach guter Überlegung meinte ich aber, man müsse auf beide Richtungen aufpassen.

So ordnete sich langsam wieder das Leben, bis uns ein Brief von Lajos erreichte. Wer war Lajos? Wir hatten nie von Lajos gehört. Dieser Lajos schrieb: “Ich heirate, kommt bitte alle zu meiner Hochzeit!”

Wir Kinder setzten uns am Abend um Mutter herum. Sie erzählte: “Als wir aus Russland flohen und viele Nächte zu Fuß durch Wald und Feld eilten, um nicht in die Hände der Kosaken zu geraten, da fanden wir in einer Nacht am Ufer des großen Dnjepr einen kleinen Kahn. Wir mussten das Wasser herausschöpfen, damit er mich tragen konnte. ‘Du bist mein teuerstes Gut’, sagte Vater, setzte mich in den Kahn und schwamm selbst nebenher. Als wir ans andere Ufer kletterten, stand noch der Mond am Himmel. Er zeigte uns einen kleinen Weg zwischen großen, großen Kornfeldern. Dort, bei Sonnenaufgang, schickte uns der Allmächtige, mitten in den Feldern, euer erstes Brüderchen. Wir haben es in Vaters weißes Hemd eingewickelt und an unseren Herzen gewärmt. Er aber sagte uns: ‘Habt mich lieb! Vergesst mich nicht, ich werde wiederkommen, wenn ihr ein warmes Bett habt!’ Und so war es.

Nach vielen Wochen des Wanderns kamen wir nach Ungarn. Dort gründete Vater in einem kleinen Dorf eine neue jüdische Gemeinde. Wir fanden ein zerfallenes Haus, das wir aufbauten, und die Gemeinde schenkte uns zwei Federbetten zum Winter. Und da kam Lajos wieder zu uns auf die Welt. Lajos war ein sehr stiller, lieber Junge, der Vater niemals beim Studium störte. Denn damals begann Vater sein Kabbala-Studium. Er schob unsere Betten für neun lange Jahre auseinander. Lajos wuchs heran, er war ganz mein Junge und erst als er elf Jahre alt war, bekam er sein erstes Schwesterchen, das war Karoline. Dann kam bald unsere Frieda und zuletzt Davidel. Vater wurde bald von größeren Gemeinden gebeten, dort Rabbiner zu sein. Aber er wollte nur in Dörfern bleiben, um viel Freizeit für sein Studium zu behalten. David wurde in Nagisimonyi geboren; wir waren nun eine große Familie geworden und wir waren sehr arm. Für Lajos kam die Zeit seiner Bar-Mitzwa (Volljährigkeit) und Vater beschloss, ihn mit seinen dreizehn Jahren in eine Talmudschule zu schicken, um dort Rabbiner zu werden. Zuerst bekamen wir oft Briefe und dann immer seltener und seltener. Nun ist mein Lajos ein großer Mann geworden und heiratet. Vater hat beschlossen: wir gehen alle zu seiner Hochzeit!” Mutter strahlte.

Der stolze Wagen des Bürgermeisters brachte uns zur Bahn.

Es kam der unvergessliche Moment, als wir beiden Brüder uns betrachteten. Lajos war fast so groß wie Vater, trug einen kleinen Bart. Die Augen strahlten nicht wie die Vaters, sie waren traurig und sein Rücken leicht gebeugt. Seine Erscheinung erfüllte mich nicht mit Bewunderung, wohl aber seine Braut, die ich sehr schön fand. Ich sagte:

“Du hast aber gut ausgesucht, Lajos!” Worauf er still lächelte. Als ich aber fragte: “Hast du auch schon mit fünf Jahren die Mischna mit Vater studiert so wie ich?”, gab er keine Antwort und schaute in die Ferne. Vater befahl mir zu schweigen. Lajos war es nicht vergönnt gewesen, neben Vater zu studieren; es war damals die Zeit, als Vater sich gänzlich in die Kabbala vertieft hatte.

Die Vermählung war ganz orthodox. Wir Kinder spielten derweil im Hof, natürlich auch Hochzeit. Man bestimmte mich zum Bräutigam und die kleine Nichte der Braut war meine Auserwählte. Als die Großen dann zu uns hinüberkamen, belustigt zuschauend, da donnerte Vaters Stimme: “David, schämst du dich nicht, mit kleinen Mädchen solche Spiele zu spielen?”

Ich war gekränkt und antwortete couragiert: “Warum darf Lajos das und ich nicht?”

Hätte das laute Lachen der Anwesenden mich nicht gerettet, wäre dies der Anlass zu einer tüchtigen Tracht Prügel gewesen.

Der Altersunterschied zu Lajos hatte mich nicht beeindruckt. Seine Hochzeit blieb die einzige Begegnung zwischen uns Brüdern, bis zu Vaters Beerdigung. Aber seine traurigen Augen haben mich später manchmal angeschaut, und ich lernte meinen “stillen Bruder” auf den langen Wegen, Rabbiner zu werden, lieben und verstehen.

Die Hühnchen

War es zu Lajos’ Hochzeit die herrlich gebratene Hühnerkeule auf meinem Teller, die mir keine Ruhe gab? Warum sollten wir nicht, wie alle Menschen, auch das Recht haben, wenigstens einmal in der Woche, zu Ehren des Sabbat, Fleisch zu essen? Es kam mir eine Idee, um nicht länger diese Ungerechtigkeit zu dulden: Bei Sonnenuntergang, wenn die Mutterhennen ihre kleinen Küken zum Schlafengehen rufen und über den Weg mit ihren Kindern heim eilen, mir ein kleines einzufangen. Ich bin dann schnell damit nach Hause gelaufen. Mutter war entsetzt!

“Mamme, es ist ein verirrtes Hühnchen, ich habe es von der Straße gerettet. Darf ich es großziehen? Es wird uns Eier legen, Kinder auf die Welt bringen. Wir werden wie alle Menschen Hühner haben.” Mutter nickte.

Es sind langsam aus dem einen Hühnchen etwa siebzehn “Verirrte” und “Gerettete” geworden. War ich ein Lügner?

Meine Weltanschauung der Gerechtigkeit hielt allen Zweifeln stand. Ich wollte sie selbst vor Gott verantworten. Die Küken schliefen mit mir in der Küche, bekamen Tellerchen mit Wasser und Brot wie wir. Mutter half bald, eine kleine Leiter zu machen, weil die Hühnchen jetzt schon eine gewisse Höhe zum Schlafen suchten. Eines Tages schlich eine Katze herein; es gab großes Geschrei. Vater kam aus seinem Studierzimmer.

“Was ist hier geschehen?”

“David hat Hühnchen bekommen, er will sie großziehen”, sagte Mutter.

“Und wo ist die Henne?”

“Papa, es sind Waisenkinder, ich will die Henne sein!”

“Soll’s sein, wenn du dein Studium nicht vernachlässigst”, sagte Vater.

Glücklich rannte ich, in der Hand irgendeine heilige Schrift, mit meinen Hühnchen im Garten herum. Wenn ich wie eine Henne rief, rannten sie mir nach wie einer Mutter. Beim Essen standen sie um mich herum, pickten von der Hand und auch aus meinem Munde! Ach, wie waren sie alle süß! Bauern, die vorbeigingen und sahen, wie ich mich mit den Hühnchen abgab, lächelten. Am Abend rief ich sie zum Schlafen und wir rannten in die Küche. Am Morgen sprangen sie auf mein Bett, meinen Strohsack und machten Krawall, sie wollten nämlich essen. Jedesmal, wenn ich Vater auf seinen Wegen in die umliegenden Dörfer begleitete, habe ich für meine Hühnchen Kukurutz, das ist Mais, erbeten. Nie hätte ich so etwas für mich selbst gewagt, aber für meine Kinder hatte ich viel Courage. Sogar Vater fragte lächelnd: “Gibt es etwas für Davids Hühnchen?” Man sagte schon: “David wird noch ein Großgrundbesitzer werden.” Die Bauern zogen ein bisschen an meinen Päis und ich erhielt Hühnerfutter. Der Sack auf meinem Rücken war mir niemals zu schwer. Zuhause angekommen, rannten sie uns entgegen, einige versuchten schon ihre Flügel. Vater hatte auch seine Freude daran, denn ich habe trotz allem mein Studium nicht vernachlässigt.

Eines Tages erkrankte ein Kleines. Erschüttert hob ich es auf und rief alle Hühnchen zusammen. Sie waren gar nicht gerührt von diesem Unglück, und in der Gleichgültigkeit seiner Geschwister starb das Hühnchen in meinen Händen. Mir war, als nehme Gott seine Seele und seine Wärme zu sich zurück. Ich weinte so sehr. Mutter half mir, es, eingewickelt in ein weißes Läppchen, in eine Schachtel zu legen. Ich erklärte meinen Schwestern, es sei so Sitte bei uns.

“Aber David,” sagten sie zu mir, “das Hühnchen ist doch nicht bei den Juden geboren!”

Es wurde am Zaun unseres Gartens begraben. Als ich es in das Grübchen legte, stand Mutter neben mir mit Tränen in den Augen ... Wer weiß, an was sie sich erinnerte. Von dünnen Hölzern gemacht, stellte ich ein Kreuz auf das Grab.

“Was machst du denn da?”, fragte Mutter.

“Es ist ja bei den Christen geboren, da gebührt ihm das Kreuz.”

“Wenn Vater das sehen wird?”

“Mamme, es ist nur Gerechtigkeit.”

Doch Vater bemerkte von alledem nichts.

Die Hühnchen wuchsen, meine Schwestern standen mir beim Namengeben bei: Die weiblichen bekamen die Namen der Stammmütter, die männlichen die der Stammväter. Einen nannten wir ‘König David’. Er war sehr schön und grüßte schon singend den Morgen.

Die Schule begann diesmal ohne mich. Vater meinte, dass mein weltliches Wissen ausreichend für einen frommen Juden sei.

“Soweit die Wissenschaften Gott dienen, wirst du sie langsam im Talmud finden. Es ist besser, dass du sie dort lernst als in einer weltlichen Schule mit christlichen Anschauungen.”

So wurde ich mehr und mehr in Vaters Studierzimmer gerufen. Die Hühnchen wurden zu Hühnern. Zum Austausch für Mutters Arbeit baute uns der Nachbar im Garten ein richtiges Hühnerhaus. Er sagte: “Einige deiner Hühnchen, David, sind von der selben Rasse wie die unsrigen.”

Ich wurde rot vor Schreck und Scham. Er schien sich aber gar nicht darüber zu wundern, stellte ruhig in die Mitte des Hauses eine stolze, breite Hühnerleiter.

“David, unten ist der Platz für die Gänse.”

Gerechtigkeit

Es erwachten nun meine Großgrundbesitzerideen: Welches ungarische Haus kennt nicht die berühmten Stopfgänse!

“Schmalz für den Winter”, sagten die Frauen.

Ich hörte von diesen Stopfgänsen sogar in der Synagoge sprechen, derweil Vater sehr ernsthaft aus der Thora las und Mutter leise in ihr Gebetbuch hinein lächelte. Ach, wie liebte ich Mutter! Darum stahl ich mich manchmal aus der Männerseite unseres Synagögchens zu der Frauenseite hinüber und Mutter flüsterte: “Schnell, David, geh zurück!” Aber sie freute sich doch über mein Wagnis.

Die Frauen erzählten sich einmal von fünf oder sechs Gänsen, die sie schlachteten, so gab es Fett für den ganzen Winter. Bei uns gab es diesen Abend Bohnensuppe mit kalten Kartoffeln. Fleisch und Fett im Winter zu essen schien mir Ausdruck der Gerechtigkeit der Welt und ich hoffte auf Gottes Hilfe.

Es kam nun Jossele, ein zwölfjähriger Junge zu Vater, seine Bar-Mitzwa vorzubereiten. Er brachte jedesmal etwas Gänseschmalz als Geschenk für Mutter mit. War dies schon ein erstes Zeichen, dass der Allmächtige meine Wünsche verstand?

Endlich kam auch der Moment, es war ein Sabbat, an welchem die Bar-Mitzwa gefeiert wurde, und Jossele musste sein Können beim Lesen der Thora zeigen, um als Mann in der Gemeinde wirken zu dürfen. Seine Eltern luden alle Juden des Dorfes zum Feste ein, auch einige christliche Großgrundbesitzer saßen am selben Tisch mit Vater und dem Bürgermeister zusammen. Viele Neugierige kamen um zu sehen, wie man bei den Juden feierte. Es gab Tee mit Branntwein und viel Kuchen! Vater trank nur Tee.

Alle Leute baten jetzt Jossele, den neuen Mann, er möge seine Geige holen, um das berühmte ‘Kol Niedere’ zu spielen. Er war von allen Aufregungen so überwältigt, dass der zarte Jossele zitterte, es kam aus seiner Geige nur Krächzen wie Katzenjammer heraus. Dicke Tränen rollten über sein Gesicht.

Vater stand auf und rief ihn zu sich: “Jossele, du hast eine sanfte, gute Seele, nimm dir viel Zeit für deine Geige. Man muss seiner Violine das Singen beibringen, auf dass sie singe, so wie deine Seele singen möchte! Du kannst einmal ein Meister werden, du hast eine singende Seele und alle Menschen werden dem Gesang deiner Geige lauschen. Dann wirst du dich erinnern, wie der Herr Rabbiner zu deiner Bar-Mitzwa auf deiner Geige gespielt hat, und du wirst dann meine Worte verstanden haben. Komm, gib mir die Geige.”

Wir hielten den Atem an, nie hatte Vater Violine gespielt. Wir wussten nur, dass sein Leben vor der Flucht aus Russland ein ganz anderes gewesen war.

Das ‘Kol Niedere’ ertönte sanft und schön. Alles lauschte, still befriedigt. Dann aber wählte Vater das Lied ‘Szol-a-Kakasmar’, was in ungarischem und in jiddischem Text von allen Männern mitgesungen wurde, sogar draußen auf der Straße. Beflügelt schmetterte auch mein Sopran in den Chor. Begeisterung. Lauter Beifall. Alles klatschte: “David muss das Lied alleine mit der Violine singen!”

Nach dieser Ehrung gab Vater mir das Zeichen aufzuhören.

“Nicht du sollst heute glänzen!”

Er legte die Geige in die Hände Josseles zurück.

“Sie ist ein gutes Instrument, du kannst deinen Eltern Dank sagen. Schöne Klänge werden aus ihr kommen. Lege sie liebevoll an deine Seele, Jossele, dann wird sie singen. Und du ein Meister werden.”

Vater konnte sehr gütig sprechen.

Der Bürgermeister wurde aufgeschlossen: “Herr Rabbiner, welch gottbegnadete Familie haben Sie, Ihr David hat ja Gold in der Kehle! Sind bei Ihnen Dach und Haus in gutem Zustand? Brauchen Sie noch etwas?”

Vom Erfolg angespornt war ich es, der sofort antwortete:“Herr Bürgermeister, wir haben schon ein Hühnerhaus und unten gibt es Platz für Stopfgänse.”

“Habt ihr auch schon Hühner, David?”

“Ja, ich habe 18 Stück. Aber es gibt noch Platz für Gänse!”

Er lachte und trank einen tüchtigen Schluck Branntwein.

Am Sonntagmorgen in der Frühe kam ein Wagen vorgefahren. Vater und ich saßen längst beim Studium. Mutter war es, die öffnete. ‘König David’ schrie Krawall, es gab Aufruhr im Hühnerhaus. Der Bürgermeister trat ein. “David, ich habe dir zwei Gänse in dein Hühnerhaus gebracht, mit einem Sack Kukurutz, damit kannst du sie fett machen.” Er reichte fröhlich Vater die Hand und dann Mutter. Mutter machte einen Schritt zurück.

“Herr Bürgermeister, ich reiche niemals einem Manne die Hand, es ist bei uns nicht Sitte.”

Mutter sagte es mit viel Liebenswürdigkeit und einem kleinen schelmischen Lächeln. Er lachte laut.

“Frau Rabbiner, das müssen wir auch bei uns einführen, dann brauchte manches Mädchen nicht so früh unter die Haube!”

Er war lustig, zog aus der Westentasche seinen Tabaksbeutel, schob eine gute Menge des groben Krautes in einen Mundwinkel und sagte: “So, jetzt kann ich zur Kirche gehen, mir unseren Geistlichen anhören.”

Still ging er hinaus, fast sorgenvoll, und drehte sich nochmals um: “Wenn David auch ein kleines Schweinchen aufziehen will, dann bringe ich ihm eines.”

Sogar auf Vaters Gesicht spielte Lustigkeit, dann seufzte er und sagte: “Ribeuno-Schel-Eulam, Schöpfer der Welt, könnten nicht alle Menschen in Freundschaft am Tisch beisammen sitzen?”

Er aber schien Vater zu antworten: “Geduld, Geduld.”

Und Vater seufzte abermals.

Ich war überzeugt von Gottes Gerechtigkeit, man musste Ihn ja nur darum bitten! Er hatte mir schon geantwortet: Fleisch und Fett für den Winter! Dass Gott aber die Gerechtigkeit und die Verteilung der Schätze der Welt anders sah als ich, das musste ich erst langsam von Ihm lernen.

Die Geige

“Papa, wie kommt es, dass du Geige spielen kannst?”

“Das war ein Geschenk meines Bruders, der Musik studierte. Er hat mir seine Geige anvertraut und auch meine Hände auf sein Klavier gelegt; so haben wir zusammen Tage und Nächte musiziert, zur Freude unserer Mutter, aber auch der Kameraden und uns selbst.”

“Papa, was ist ein Klavier?”

“Der König David spielte eine Harfe zu seinen Gesängen. Er trug sie zum Sonnenuntergang, wenn der Wind erwachte, auf die Terrasse seines Schlosses in Jerusalem. Dort also spielte der Wind leise in ihren Saiten und David lauschte dieser Musik des Schöpfers. Darauf sang der König wohl die schönsten Liebeslieder der Welt, die Psalmen zu Ehren des Allmächtigen. Später glaubte man, dass eine Riesenharfe größere Musik erzeugen würde und man erfand das Klavier. Man spielte viele Saiten darauf, so viele, dass das Klavier zu schwer war, im Wind zu singen. Nur eine komplizierte Technik erlaubt, alle diese Saiten zu berühren. Nun wollte ein jeder Klavier spielen. Aber Menschen, die nicht des Schöpfers Musik erlauschen, sie können nur Lärm erzeugen.”

“Papa, ist es auch ein Klavier, das am Sonntag in der Kirche erklingt?” Ich zitterte. Vaters dunkelblau leuchtende Augen schauten mir bis in mein Innerstes. Dann antwortete er freundlich: “David, in der Kirche hier spielt nur ein kleines Harmonium. In großen Kirchen ertönt die Orgel. Die Menschen haben nach immer größerer Harmonie und Kraft in der Musik gesucht, sie haben viele Flöten, große und kleine, zusammengefügt zu dem größten Instrument von Menschenhand, das ist die Orgel.”

“Aber Papa, wer bläst denn in alle diese Flöten hinein? Sind denn alle Christen in der Kirche Musiker?”

“Nein, David, nein, das wäre ja schön; es bläst nur ein Blasebalg – so wie der Schmied ihn braucht, um sein Feuer zu schüren – in alle diese Flöten. Es ist ein einziger Musiker, der die Gewalt dieses Instruments anfachen muss. Aber es gibt Begnadete, die es können. Doch eine einzige Hirtenflöte klingt oft lieblicher zu Gott als die Gewalt der Orgel.

Die Musik ist eine der wunderbarsten Sprachen unserer Seele. Ist die Seele lustig, so tanzt es in der Musik, weint die Seele, so schluchzt es durch sie hin. Es klingen Licht und Finsternis aus der Musik, sie spricht auch vom Leben und sie spricht vom Tod. Sie ist eine der wunderbarsten Sprachen unserer Seele zu Gott.

Es gibt auch Orchester, wo viele Musiker mit vielen Instrumenten mit der Kraft eines ganzen Volkes zum Allmächtigen sprechen. Klingt aus solch einem Orchester einmal ein einziges Instrument in seiner Einsamkeit allein, das ist ein ‘Gebet’. So steht der Kantor in der Synagoge in seiner Einsamkeit allein vor Gott, um alle Seelen mit zu ihm zu tragen.”

“Papa, wie kann der Kantor die Seelen anderer mit sich tragen?” Vater lächelte, was er selten tat.

“Davidel, unsere Augen können die Seelen nicht sehen, wie unsere Hände sie nicht fassen und tragen können, aber die Seelen können in der Musik tanzen, denn sie sind aus Licht. Die Seelen sind nur winzige Funken von Gottes Licht. Gottes Licht aber hat die Kraft, den Staub der Erde aufzuheben. Dieser kleine Funken Licht in uns selbst, unsere Seele, hat die Kraft, viel zu tragen, zu heben und sogar zum Tanze mitzunehmen. Wenn es warm in der Seele wird und sie liebt, dann kann sie viel aufheben.”

Wenn ich auch noch ein Kind war, ich hatte den Sinn von Vaters Worten verstanden, suchte seine Hände und küsste sie.

Der erste Stein

Es kamen von Zeit zu Zeit Kameraden aus der Schule mich besuchen. “Warum kommst du nicht mehr mit uns lernen?”

Gerne wäre ich gegangen, doch Vater hatte bestimmt, ich solle das weltliche Wissen nicht mit christlichen Anschauungen lernen. Wie konnte ich ihnen das erklären?

“Alle meine Zeit brauche ich für die heiligen Schriften”, antwortete ich.

“Und den heiligen Katechismus? Lernst du den nicht?”

“Das ist zu vieles zusammen.” Verdrossen gingen sie fort. Bald darauf schrie Peter, der Sohn unseres Nachbarn, mir aus vollem Halse nach: “Verstunkener Jude!”

Eine große Traurigkeit überfiel mich. War ich stark genug, den großen Jungen zu schlagen? Ja! Meine Seele sagte laut “Ja!” Aber meine Hand wollte sich nicht heben und ich ging still weiter. War es nicht Mutter, die bei den christlichen Nachbarn bis tief in die Nacht hinein waschend und stopfend unser Brot verdiente? Wir waren fünf am Tisch. Mutter arbeitete mehr und mehr. Von seinen drei Gulden wöchentlich legte Vater zehn Prozent für Arme oder heilige Zwecke in eine Büchse.

“Sind wir nicht die Ärmsten der Armen?” hatte Mutter einmal gesagt und Vater antwortete: “Gott will es so. Zehn Prozent sind nicht für uns!”

Eines Abends beim Milchholen lief mir eine Gruppe Schulkameraden nach und ich hörte sie hinter mir schreien:

“Da ist der Jude! Da ist er! Der Jude!”

Ich wollte mit ihnen sprechen und drehte mich um. Da flog mir ein Stein an die Stirn. Das Blut rann schnell in die Augen, aber ich hatte gesehen, wer den Stein warf. Aufrecht, aber doch ein wenig schwankend, ging ich sehr langsam heim. Ich war “Jude” geworden. Sie liefen mir nicht nach. Mutter wusch mit zitternden Händen die Wunde und meine Kleider.

“Mamme, es war der Nachbarsohn.” Zu Vater sagte ich, ich wäre auf einen Stein gefallen. Diesmal beschaute er die Wunde.

“Bis zur Zeit, wo du mit Tephilin beten darfst, wird sie geheilt sein.”

Die Narbe ist geblieben, aber die Hoffnung, einmal die heiligen Gebetssprüche auf meiner Stirn zu tragen, war mir Balsam, denn dies bedeutete, die heiligen Gebote wirklich im Inneren zu tragen und danach zu leben, also ein “frommer” Jude zu sein. Meine Wunde tat nicht mehr weh, aber mein ganzes Inneres.

Am Morgen kam die Nachbarin mit Butter und Eiern für mich, setzte sich lange an mein Bett, nickte eine ganze Weile mit dem Kopf und sagte: “Ich habe aber Peter tüchtige Ohrfeigen gegeben! Der Geistliche hat im Katechismus zu den Kindern gesagt, dass die Juden den Heiland getötet haben, da wollte Peter in seiner Wut einen Juden töten. Er ist aber sonst kein schlechter Junge, mein Peter!”

Mutter stopfte eben Peters Hemd. Die gute Frau war sehr gerührt und rang die Hände: “Pop-Neni (Tante Geistliche), seien Sie nicht böse, kommen Sie bitte weiter zu uns herüber. Wenn Sie den Gendarmen nichts erzählen wollen, wird der gute Heiland Sie sicher dafür segnen.”

“Gut, gut”, sagte Mutter.

So verstrichen einige Wochen. Vater ging manchmal erregt im Zimmer auf und ab. Diesen Abend schien er sehr vertieft; ich profitierte davon und schlich mich leise hinaus, denn wir drei Geschwister wollten zur Sandgrube gehen, wo man so herrlich herunterrutschen konnte. Die Sonne stand noch am Himmel. Viele Kinder liefen auf dem gleichen Weg entlang und wir sahen den Herrn Lehrer, der auch der Dorfgeistliche war, mit einigen Großgrundbesitzern, ihre Büchsen geschultert, zur Grube zum Zielschießen gehen; die große Scheibe wurde am anderen Ende etwa dreissig Meter entfernt aufgestellt und die Herren begannen ihre Künste zu prüfen. Wir sahen jedesmal eine kleine Flamme aus dem Gewehr aufleuchten. Es war aufregend und so wir vergaßen zu rutschen. Plötzlich verlor die Zielscheibe ihr Gleichgewicht. Der katholische Geistliche rief mir zu: “David, stell sie wieder auf!”

Ich fühlte mich sehr geehrt und rannte eilends los. Kaum hatte ich meine Arbeit verrichtet, da ertönte ein Schuss. Verwirrt hörte ich aufgeregte Rufe. Karoline und Frieda rannten herbei, mich vom Platz reißend. Da kamen auch die Herren, um zu sehen, ob mir nichts fehle? Höhnisch sagte der Geistliche: “Sehen Sie, meine Herren, es ist ihm nichts geschehen, seine Seitenlocken werden keine Feuersbrunst ins Dorf tragen. Sie haben noch nicht Feuer gefangen.”

Plötzlich verstand ich und schrie: “Der Gott, der den Blitz und das Feuer ins Dorf geschickt hat, der Gott wird auch den Blitz zum Herrn Lehrer schicken! Amen!”

Karoline erzählte daheim erregt die Geschehnisse. Vater erhob sich sehr langsam und schwer, ging zum Schrank, wo sein Stock stand, holte ihn heraus und ein erstes Mal fühlte mein Rücken seine sehr harten Schläge. Vater sagte kein Wort. Ich weinte nicht. Ich lief nicht fort. Ich verstand “die Gefahr” draußen. Ich verstand, dass Vaters Liebe mich schlug. Ich verstand, dass ich ein Jude war. Dann gab Vater mir den Stock in die Hand. Ich durfte ihn zurück in den Schrank stellen.

Die Zadekeste

Wie fröhlich war es, wenn unser ‘König David’ und ich zusammen den Sonnenaufgang begrüßten. Er schmetterte laut sein Aufwecklied, ich betrachtete, wie das feurige Licht in den Himmel floss und dachte, das ist die unhörbare Musik, von der Vater sprach. Meine Lieblinge schüttelten derweil ihre Federn und kamen, mir die Maiskörnerchen vom Mund zu picken; dies war unsere Begrüßung, wir hatten uns wirklich gern. Aber der Kukurutzsack des Bürgermeisters wurde leer. Vater ging im Herbstregen seltener in die umliegenden Dörfer “zu seinen Juden”, wie er sagte. Es fehlte Futter und meine nun großen Gänse hatten sehr großen Appetit. Bald fing der erste Schnee zu fallen an und plötzlich hörte ich die Worte der Frauen wieder: “Fett und Fleisch für den Winter.” Ich erschrak. Ich erschrak sehr.

Und es geschah tatsächlich, dass auf unseren Tisch zu Ehren des heiligen Sabbat Fett und Fleisch kamen, dass es in der großen Suppenschüssel Geflügelbrühe gab. Langsam wurde es stiller und stiller in meinem Hühnerhaus. Eines Tages begrüßte auch ‘König David’ den Morgen und mich nicht mehr. Die Sonne stieg ohne Freude zum Himmel hinauf. Statt “Gottes unhörbarer Musik” tönte es in meinen Ohren “Fett und Fleisch für den ganzen Winter” und ich weinte, weinte bitterlich.

Rachel, die letzte, wollte nicht mehr alleine im Hühnerhaus bleiben, sie lief mir nach in die Küche; sie legte sich wie schutzsuchend zu Vaters Füßen und blieb dort liegen, derweil Vater studierte. Es wurde ihr Platz. Sie lief hinter Vater her, wenn er im Zimmer auf und ab ging. Vater duldete Rachel sogar auf seinen Knien und streichelte sie. Jeder gab ihr von seinem Teller etwas, so wurde sie eine große Henne und eines Tages legte Rachel uns ein Ei! Es wurde allerseits bewundert und sie schien sehr glücklich darüber zu sein. Rachel folgte Vater jetzt auch bis zur Synagoge. Da geschah es eines Tages, dass Vater, vertieft im Morgengebet, sie nicht beachtete und ihr auf den Fuß trat. Rachel schrie laut auf, lief aber dann dennoch hinkend hinter ihm her zum Studierzimmer zurück. Vater war gerührt und sagte mit freundlicher Stimme leise vor sich hin: “Zadekeste”. Das heißt etwa: “gütige Weise”.

Der Winter wurde härter und kälter, Vater musste fast gänzlich unsere Wanderungen einstellen, der Schnee lag zu hoch. Eines Freitagmorgens kam ein junger Sakrifikateur zu Vater, um Rat zu erbitten. Vater schickte mich hinaus und ich half Mutter in der Küche, unsere Gänsefedern schleißen. Dies wurde der Tag, an dem Rachel unsere Welt verließ, der heilige Sabbat, an dem sie ihre irdische Güte an uns verteilte. Es wurde der Tag, an dem ich keinen Bissen herunterschlucken konnte. Vom Jenseits blickte Rachel zu mir hernieder, mit viel stiller Güte, derweil ich fastete. Gott ließ unsere ‘Zadekeste’ auf meine Großgrundbesitzerwünsche und Ideen der Gerechtigkeit antworten.

Die Arten des Hungers

“Papa, warum ist das Messer des Sakrifikateurs von beiden Seiten so aufs Feinste geschliffen?”

“Damit den Tieren kein Leid geschehe, dass ihre Seele ohne Schmerzen in Gottes Licht gleite. Sie sind seine Geschöpfe.”

“Warum hat der Sakrifikateur Rachels Seele zum Allmächtigen geschickt und nicht du?”

“Wenn du ein Tier gerne hast, ist deine Hand nicht ruhig. Ich durfte es nicht, meine Hand hätte gezögert und ich hätte Rachel weh getan.”

“Papa, wir haben alle Rachel gern gehabt, warum durfte sie nicht bei uns bleiben und im Frühling Kinder haben? Sie legte doch schon Eier?”

“David, es ist nicht unseres Bleibens hier in Bakony-Tamasi! Du wirst keinen Garten und kein Hühnerhaus mehr haben. Wir hätten Rachel nicht mitnehmen können. Aber ihre kleine Seele, die wird immer mit uns gehen!”

“Ja, Papa, das habe ich gefühlt! Aber ich glaube, viele Menschen haben die Tiere nicht gerne, sie lassen sie nur arbeiten, schlagen sie und essen sie auf.”

“Das sind schwere Gedanken, David. Mir scheint, es kommt daher, weil viele Menschen nur den Hunger ihres Magens fühlen und sie glauben, nur er sei zu stillen. Der wahrhaftige Hunger des Menschen kommt viel tiefer aus unserer Seele, das ist der Hunger nach Liebe. Und nur der Mensch, der geliebt hat, dessen Hunger ist gestillt! Das wissen nur wenige Menschen, David.”

Und so endete meine Hühnergeschichte.

Der Friedhof

Es wurde Frühling. Aber unser Garten mit seinem ersten Grün lockte mich nicht mehr hinaus. Die Stille im Hühnerhaus trug meine Gedanken zu weit in jene Welt, wo, wie es scheint, die Seelen weilen. Vater war sorgenvoll. Er fühlte, dass unsere Anwesenheit den katholischen Geistlichen tief erregte und die Freundschaft des Bürgermeisters, in dessen Haus wir wohnten, ihm auch nicht gefiel. Diese Art Dinge bewirkten in Vater eine Traurigkeit, aber niemals Angst, denn Vater fühlte sich, wo er auch war, im Dienste Gottes. Als die Bauern am Sonntag aus der Kirche kamen und die Großgrundbesitzer in ihren Kaleschen heimfuhren, drang durch die ersten warmen Sonnenstrahlen plötzlich Geschrei und Jammern zu uns. Jüdische Frauen und Kinder eilten herbei, um sich bei uns in der Synagoge zu verbergen, derweil ihre Männer im Haus blieben, Hab und Gut zu verteidigen. Die Bauern seien mit wütendem Geschrei aus der Kirche gekommen, durch das Dorf gelaufen und dann zum Friedhof gerannt, hätten begonnen, Grabsteine zu zerschlagen, umzuwerfen und seien dabei, sie zu beschmutzen.

Vater sprang auf.

“Jetzt hat er, dieser Pfaffe, mich aufgerufen! Er hat das Heer seiner armen Bauern, die an ihn glauben sollen, gegen uns geschickt. Gegen mich, den Rabbiner! Gegen mich, den Juden! Gegen seinen Feind: mein Volk!”

Die Gestalt Vaters wurde unheimlich groß, in seinen Augen leuchtete es wie Flammen.

“David, gib mir meinen Stock und komm!”

Meine Beine mussten rennen, um Vaters Schritten zu folgen. Bald hörten wir vom Friedhof Lachen und Kreischen. Unser Weg lief abwärts, wir konnten das ganze Spektakel übersehen. Die nackten Hinterteile der Burschen erweckten das Beifallskreischen der Mädchen, derweil die umgeworfenen Grabsteine besudelt wurden. Ältere Bauern und Frauen hielten etwas Abstand, aber sie lachten befreit und belustigt.

Mein Vater trat, wie vom Himmel gefallen, genau in ihre Mitte. Es wurde plötzlich still. Man wich zurück. Das Lachen verstummte.

“Ja, da bin ich! Der Rabbiner! Der Jude! Und ich sage euch: Euer Jesus war auch ein Jude. Jesus würde sich euer schämen. Jesus, der Jude, hat von Liebe gesprochen! Sind eure Seelen so verführt, dass ihr an den Toten Ungerechtigkeiten begeht? Hier bin ich! Ein Lebendiger! Hat Jesus euch gelehrt, ohne Scham zu sein? Hat Jesus, der Jude, gelehrt, über Unreinheit und Schamlosigkeit zu lachen?”

Ein junger Mann warf einen Stein, der dicht neben mir auf ein Grab fiel. Da hob Vater seinen Stock, fürchterlich groß erschien er, und schritt auf den jungen Mann zu.

“Sieh, ich bin da! Der Rabbiner! Ich bin allein. Allein gegen euch alle. Aber Gott ist mit mir! Und auch der Jude Jesus!”

Und sie wichen zurück, zogen ihre Hosen hinauf und glitten verschüchtert vom Friedhof. Einige Bauern murmelten: “Es ist eine Schande, was geschah.” Eine Frau schrie: “Die Gendarme kommen. Die Gendarme, die schwarzen Raben!”

“Holt Schaufeln und Eimer aus dem Friedhofshaus, um eure Schande abzuwaschen!”, sagte Vater. “Helft mir, die Steine aufzurichten!”

Und die Bauern kamen. Die Gendarme, die das Volk ‘schwarze Raben’ nannte, erschienen, mit ihren stolzen Federn am Hut.

“Was geht hier vor?” fragte einer erstaunt.

Vater antwortete: “Es ist etwas vorgefallen, aber wir werden es reparieren. Sie können weitergehen, wir machen zusammen Ordnung.”

Vaters Worte erstaunten das Volk: Keine Klage, keine Beschuldigung?! Still beschämt wurde weiter Ordnung gemacht. Darauf gingen alle gedrückt nach Hause. Vater und ich blieben allein auf dem Friedhof zurück. Vater schaute zum Himmel als wenn er in weiter Ferne zu Gott sprechen würde, dann stimmte er das ‘El mole rah’amin’ an, das Gebet für die Toten.

Dann holte ich Vaters Stock und wir gingen hinunter zum Bach, uns gänzlich zu waschen und dreimal unterzutauchen.

An diesem Sonntag blieben die Schenken leer, trotz der lockenden Sonne. Daheim angekommen, küssten die jüdischen Frauen und Kinder Vater die Hände und wanderten dann auch zu ihren Häusern zurück. Vater trat still in die Synagoge, öffnete den Schrein der Thora, warf sich, das Gesicht zu Boden, auf die Erde und weinte bitterlich. Nicht wegen der Geschehnisse in Bakony-Tamasi, nein! Ihn schüttelte aus den Tiefen der Vergangenheit alles Leid des Volkes Israel, die kindische Verführbarkeit der Christenwelt. Mir war, als ob der Messias selbst in Vater schluchzte.

Es dauerte lange, bis er zur Ruhe kam.

Der Abschied

Es folgten stille Tage im Haus, wie auch im Dorf. Man sprach in Bakony-Tamasi nicht vom Friedhof, man flüsterte nur. Nach langer Abwesenheit erfuhr der Bürgermeister entsetzt die Geschehnisse. Er klopfte noch spät am Abend an unsere Tür, trat mit weit aufgerissenen Augen ein und eilte zu Vater: “Herr Rabbiner, Herr Rabbiner, ich war nicht da. Ich hörte erst jetzt von den Geschehnissen.” Darauf wandte er sich um und verschwand in der Nacht. Vater sagte: “Channe Fegele, in diese Gemeinde gehört ein kleiner, schüchterner Rabbiner, der in dem katholischen Geistlichen keine Eifersucht erregt. Der Bürgermeister wird die Juden schützen. Ich schrieb an mehrere Gemeinden um einen Austausch; wir werden Bakony-Tamasi verlassen.”

Ein kleiner, junger Rabbiner kam von Oroszwár, einem Dorf neben Pozsony, mit einem Brief: Vater könne sofort im Austausch den Posten eines Kantors antreten.

“David, geh zum Bürgermeister und mach mir einen Termin bei ihm.” Nicht Vater ging zum Bürgermeister, aber der Bürgermeister kam sofort mit mir zurück.

“Herr Rabbiner, ich habe mir erlaubt, sogleich mit ihrem Sohn zusammen eine gute Nachricht zu bringen. Ich erhielt soeben als Antwort auf mein Ersuchen bei seiner Heiligkeit, dem Bischof, dies Schreiben.”

Und er las: “Ich wünsche Religionsfrieden und enthebe den Geistlichen von Bakony-Tamasi seiner Funktion.”

Diesmal strahlten die Augen des Bürgermeisters froh. Vater war aufgestanden, reichte ihm die Hand. Ich erschrak. Die beiden großen Männer umarmten sich wie zwei Brüder. Es wurde mir warm im Herzen. Sie waren beide in einer anderen Welt, wo man sich nicht hasst und steinigt. Niemals mehr habe ich gesehen, dass Vater einen Mann umarmte. Dann sprach Vater traurig: “David, hole den neuen jungen Rabbiner herein.”

“Er ist in der Synagoge, Papa, und betet.”

“Herr Bürgermeister, Ihr Haus hat eine Synagoge beherbergt, möge Gottes Güte mit Ihnen und den Ihren sein.”

Dann gingen sie zusammen zur Synagoge.

“Hier ist schon Ihr neuer Rabbiner im Gebet. Wir wollen ihn nicht stören, er tauschte mit mir seinen Platz.”

Zwei seltsam verschiedene Freunde schauten einander an in einer stillen Traurigkeit und verabschiedeten sich.

Die Nachricht unserer Abreise hatte sich schnell verbreitet. Zu uns kam noch schnell manche Bäuerin gelaufen und steckte, wie heimlich, ein Geschenk für Mutter in den Wagen: ein Säckchen Bohnen, Mehl, Erbsen, einen Topf mit Butter. Sie alle hatten Mutter sehr geschätzt, ja geliebt, denn Mutter hatte nicht nur die Kleider, sondern auch die Seelen darin ausgebessert.

Als Vater zum Kutscher heraufstieg, bekreuzigte sich ein “ganz kleines Völkchen”, das herbeigelaufen war, und sie neigten die Köpfe, als würden sie einen Segen von Vater erwarten.

“Möge der Friede hier einziehen, Friede ist Gott gefällig”, sagte Vater und segnete sie. Die Pferde zogen schon an, da rannte im letzten Moment Peters Mutter herbei.

“Halt, halt! David, hier nimm sie! Sie ist meine Größte, sie ist meine Schönste! Sie ist die, die die meisten Eier legt. Du wirst wieder viele Hühnchen bekommen, die du so geliebt hast.”

Und der Wagen führte uns aus den Mysterien des großen Waldes Bakony in eine neue Welt.

Oroszwár

Reisen bedeutete aufregende Abwechslung, vor allem war Vater dann aufgeschlossen.

So gab ich meinen Schwestern die große Henne von Peters Mutter und rutschte hinter den Kutschbock.

“Papa, wohin fahren wir jetzt?”

“In ein geheiligtes Dorf, David, mit einer langen Geschichte, der Geschichte der spanischen ‘sephardischen’ Juden: Es wollte die Königin Isabella von Spanien vor etwa fünfhundert Jahren unsere Religion vernichten, damit die katholische Religion allein in der ganzen Welt die einzig gültige sein sollte. Die Juden Spaniens waren zu jener Zeit zu einem geistigen und weltlichen Wohlstand gelangt. Aber jetzt stellte man sie vor die Wahl, getötet zu werden oder sich katholisch taufen zu lassen. Manche ließen sich taufen, aber nicht in ihren Seelen. Andere starben in den Flammen ‘Adonai echad’ singend. Man verbrannte sie sogar zur Belustigung bei Festlichkeiten als lebendige Fackeln! Höllische Schrecken, ja, zu dergleichen waren die Christen fähig. Einigen von uns gelang es zu flüchten. Seitdem wandern die spanischen Juden durch die Welt, eine neue Heimat suchend.

David, wir sind von allen Völkern der Erde nur geduldet, seit man uns aus Israel vetrieb, und von Zeit zu Zeit werden wir aufs Neue wieder vertrieben. Wenn es in einem Lande schlecht geht, sagt man, die Juden sind Schuld daran! Aber in Ungarn hat die alte Krönungsstadt Poszony, nicht weit von Wien entfernt, zusammen mit sieben umliegenden Dörfern den spanischen Juden Asyl gewährt. Oroszwár ist eines dieser sieben für uns geheiligten Dörfer. Du wirst dort auch noch alte spanische Gebräuche kennenlernen.”

Mir war, als führe unser Wagen schon in das geheiligte Land. Dies Gefühl blieb auch beim Umsteigen in den Zug und den elf Kilometern (neben einem kleinen Wagen her) zu Fuß nach Oroszwár. Die Bewohner betrachteten unseren Einzug mit Verständnis, sie waren an Juden gewöhnt. Einige grüßten Vater:

“Schalom Rabbi.” Vater sagte dann: “Hier bin ich der Kantor, wir haben so den Austausch mit Bakony-Tamasi abgemacht.”

Der sehr alte Tempeldiener zeigte Mutter unser neues Heimchen und Vater und mir mit Andacht und Freude die alte Synagoge, deren Tor er mit einem großen Schlüssel öffnete.

“Papa, schau! Was ist hier geschehen, die Synagoge ist in die Erde versunken!”

“Ja, ja”, nickte der Tempeldiener, “das kommt vom Gewicht der Zeit. Der Großvater meines Urgroßvaters ist noch in diese Synagoge einige Stufen hinaufgegangen!”

“Aber Papa, zum Beten soll man doch hinauf zu Gott gehen und nicht hinunter!” Ich fühlte mich sehr weise.

“Du bist ein Narr, David, nicht deine Füße tragen die Gebete zu Gott. Das Licht der Seele kann aus allen Tiefen zu Ihm aufsteigen!” Und Vater betrachtete in stiller Andacht und Liebe diese alten, versinkenden Steine und versank selbst in ein tiefes Gebet. Als Vater endete, war in mir immer noch das “Ab” und “Auf” ein Problem.

“Aber Papa, warum ‘versenkt’ sich der Mensch in sein Gebet?”

“Weil der Mensch aus seinem Hochmut erst einmal zu seiner Seele herniedersteigen muss, damit dann das Licht der Seele emporsteigen kann. David, in dieser Synagoge sind die Gebete aus den Tiefen der Seelen zu dem Allmächtigen gestiegen.”

Der Tempeldiener, der Vaters Worten lauschte, sagte ganz begeistert: “Ja, Herr Rabbiner, so war es! Aber jetzt gibt es nur noch wenige Familien hier und nicht alle kommen zur Synagoge.” Traurig schaute er zu den großen Bäumen auf, in deren Schatten die versinkende Synagoge zu schlafen schien.

Unser Heimchen, nicht ohne Lieblichkeit, war schon von Mutter und den Schwestern eingerichtet. Es lag zwischen der Wohnung des Rabbiners und des Tempeldieners in einer langen Häuserflucht. Seltsam, hier stiegen wir einige Stufen herauf in unsere Wohnung. Ich habe später gelacht, Gott möge mir verzeihen, wenn Vater ‘verklärt’ aus der Synagoge kam und Ab und Auf, Auf und Ab der Eingänge verwechselte und stolperte.

Alles schlief schon, als wir uns endlich auf die Strohsäcke legten. Für Vater und Mutter gab es zwei mit Holzschnitzerei schön verzierte Alkoven zum Schlafen.

Schon beim ersten Sonnenstrahl machten wir mit dem täglichen Leben hier Bekanntschaft. Der noch junge Rabbiner hatte schon unzählige Kinderchen. Mal übertönte sein Beten ihr Geschrei, aber meist waren sie die Lautesten, bis auf die Momente, wo die Posaune der Räbbetzen erschallte, deren Hand wohl ebenso kräftig wie ihre Stimme war, was dann mit Tränen und Wehgeschrei endete. Vater flüchtete oft in die Synagoge und ich blieb allein bei meinen Büchern zurück. Wir aßen fast nichts, aber unsere Gesundheit war sehr gut.

Mutter sagte: “Ein heiliges Dorf, hier müssen wir von Licht und Liebe leben.”

Vater bekam Zahnschmerzen.

“Guter Gott, warum ich, der ich weder Kuchen noch Pralinen esse?” Er war süß in seinen Schmerzen, schaute Mutter wie ein Liebhaber an, und sie legte ihm vorsichtig Kamillenteekompressen auf die Wange. Endlich musste der Zahn doch mit einer großen Zange gezogen werden. Alle standen um Vater herum. Vater war heroisch und sagte kein Wort, bis das Blut in seinen schönen Bart floss. Es wurde beschlossen, zu Vaters Genesung die große Henne zu opfern, die wir heimlich im Haus versteckt hielten. Wie war ich froh, sie den Schwestern anvertraut zu haben!

Aber das Wichtigste, das ich hier in Oroszwár erlebte, war, wenn der Kantor, also Vater, die Seelen seiner Gemeinde mit hinauf zum Allmächtigen nahm. Die alte Synagoge erwachte bei Vaters Gesang. Und sie füllte sich wieder mit mehr und mehr Seelen. Der alte Tempeldiener strahlte vor Freude.

Vater sagte zu mir: “David, hier ist es, als ob viele Seelen aus der Vergangenheit mit mir zusammen aufwärts steigen.”

Und wie liebte ich Vater, wenn er sang! Damals wusste meine Seele noch nicht, dass sie mit der selben Kraft begabt war.

Aber nun kam ein geschichtliches Ereignis! Eines Morgens eilte sehr gewichtig und aufgeregt der junge Rabbiner zu Vater.

“Die ‘geschichtliche Delegation’ der jüdischen Gemeinde von Oroszwár wird diesen Sonntag unter meiner Leitung die vorgeschriebene Stopfgans als Dankgeschenk der Fürstin im Schloss darbringen!”

Vater bemerkte: “Hat man keine bessere Danksagung finden können?”

“Nein, Herr Tulman, so ist die Tradition! Ich habe die Begrüßungsrede zu halten und ich segne die Fürstin. Danach stimmen Sie die Nationalhymne an. Aber alles muss sehr eindrucksvoll werden!”

Es folgten aufregende Vorbereitungen in der Gemeinde. Vor allem wurde die prachtvollste Gans gewählt. Ich durfte sogar, meiner Sopranstimme wegen, als letzter den Aufmarsch beendigen. Mutter kaufte schwarze Schuhcreme, um alle Altersfalten unserer Schuhe zu verbergen und steckte kleine Kartonstücke in die Löcher. Der Erfolg war ‘glänzend’!

Der bewusste Sonntag kam heran. Die auserwählte Gans thronte reich geschmückt mit den Nationalfarben auf dem traditionellen riesigen Silbertablett. Sie sah sehr stolz aus, war aber so schwer, dass sie kaum auf ihren Beinen stehen konnte. Alles hatte sich in der Synagoge versammelt, um den Abmarsch zu bewundern. Dann ging es los. Der Tempeldiener trug die Nationalfahne voraus. Dann kamen die vier Gemeindevorsteher mit dem silbernen Tablett auf ihren Schultern. Dann der Rabbiner, gleich hinter der Gans, dann der Kantor und einige Notabilitäten der Gemeinde und ich am Schluss. Es war so vorgesehen, dass unser Aufmarsch durch ganz Oroszwár ging, aber erst nach Beendigung der Gottesdienste in den Kirchen, zur Freude der in ihren bunten Sonntagstrachten Spalier stehenden Christen. Wo wir auch vorbeikamen, entblößten die Männer ehrfürchtig ihr Haupt und die Frauen neigten die Köpfe. Was war denn da los? Endlich verstand ich. Die Ehrenbezeugungen galten der Nationalfahne, nicht der Gans!

Zwei prachtvolle Lakaien öffneten uns das große Parktor. Erstaunlich geschnittene Bäume und Hecken sah man dort, danach erschienen riesige Wiesen und Blumenbeete, dann Teiche mit aufsprudelnden Wassern, die auf unbekleidete Figuren herunterfielen. Durften wir solche Dinge anschauen?

In der Ferne erschien dann das Schloss. Mit so vielen Fenstern, ich hatte dergleichen noch nie gesehen. Eine breite, eine sehr breite Treppe führte hinauf und im Innern gab es noch viel mehr weiße Marmortreppen. Sie hatten soviele Teppiche, dass sie auch die Wände damit behängen mussten! Gewaltige Gemälde von goldgekleideten Personen schauten ernst und würdig auf alle ihre Reichtümer hernieder. Es glitzerte auf allen Möbeln und Wänden von Gold. Ob der Tempel des König Salomon in Jerusalem ebenso prächtig war?

Plötzlich erschütterte mich der Gedanke: “Ein Tempel ist aber für Gott!” Durfte man solch eine Pracht für Menschen machen? War dies alles nicht sündhaft wie ein Götzendienst?

Vier Lakaien öffneten den Thronsaal. Die Fürstin und ihr Gemahl, der Graf Lonay, sie saßen wirklich, wie Götzen geschmückt, auf ihren Thronsesseln. Man musste sogar zu ihnen einige Stufen hinaufgehen. Ein Schauer lief mir den Rücken herunter. Aber die Fürstin erhob sich, ehe wir zu ihr hinaufgehen mussten, und kam recht freundlich zu uns herunter. Ich bemerkte, dass unser Rabbiner zitterte. Er vergaß den Beginn seiner Begrüßungsrede und stammelte mehr oder weniger unverständliche Worte.

“Möchten Sie vielleicht lieber deutsch sprechen?”, fragte die Fürstin sehr nett, aber das wurde noch unverständlicher.

Die Fürstin nickte und lächelte hoheitsvoll, als habe sie alles sehr gut verstanden und reichte ihm die Hand zum Kuss. Genau in diesem Moment sagte unsere große, stolze Gans mit einem großen Klecks auf ihr Silbertablett “Amen” dazu. Allgemeines Erschrecken und Stille. Aber die Fürstin lachte. Sie holte ihr Taschentuch, um es zu verbergen. Sie macht es genau wie die kleinen Mädchen in der Schule, dachte ich. Um sie aus dieser Situation zu retten, stimmte ich laut die Nationalhymne an. Es war wirklich die Rettung! Graf Lonay und alle Männer klappten ihre Hacken zusammen und standen stramm. Diesmal verstand ich sofort, dass die Ehrenbezeugung der Hymne und nicht der Gans galt.

Die Fürstin trat zu Vater: “Herr Oberrabbiner, darf ich um Ihren Segen bitten?”, und beugte ihr Haupt vor Vater.

“Gott behüte Ihr frommes Herz, Hoheit, zum Segen des Volkes.” Und sie küsste Vater die Hände. Zu mir gewandt sagte sie:

“Du hast eine sehr schöne Stimme mein Junge, wirst du einmal Kantor werden?”

Beglückt nickte ich, aber mein Mund sagte: “Nein, Frau Fürstin, Rabbiner.”

“So werde ich eine alte Dame sein, wenn du die Delegation leitest.” Dann steckte sie mir ein Goldstück in die Tasche.

Dass ich später Kantor, Rabbiner und Opernsänger werden würde, wusste ich damals noch nicht. Im Moment war ich glücklich, dass die Fürstin Vaters Ausstrahlung gefühlt hatte und “Herr Oberrabbiner” zu ihm sagte. Nur, all die Teppiche, das Gold, die Marmortreppen und Gemälde, war das nicht Götzendienst? Ich wusste damals auch noch nicht, wie ich mich später einmal gegen diesen Mammon erheben würde.

Der Milchweg

Vater brauchte eigentlich einen großen Raum für seine Ausstrahlung. Eine große Synagoge, eine große Gemeinde, wo er niemanden erdrückte, denn das wollte er nicht.

Aber seine Seele schien nach Ruhe zu suchen, nach einem allerkleinsten Posten, wo er zugleich Rabbiner und Kantor sein konnte, um in seiner Freizeit Gesicht zu Gesicht vor dem Allmächtigen zu stehen und vielleicht sogar mit Ihm über unsere Welt nachzudenken. Ich verstand schon, Vater versuchte diese Welt zu verstehen. Zudem ernährte der Posten eines Kantors in Oroszwár keine Familie und so verließ uns Vater eines Tages. Es vergingen Wochen ohne Nachricht.

Mutter sagte: “Vater wird uns schreiben, wenn er einen Posten gefunden hat und das Reisegeld für uns schicken.” Uns blieben nur noch drei Gulden und mein Goldstück.

“Gottes Hilfe wird kommen”, trösteten wir uns gegenseitig. Aber Gottes Hilfe ließ auf sich warten. Am Abend saßen wir im Finstern, um Kerzen zu sparen, damit für den Sabbat noch Licht im Hause sei. Und so leuchteten dann am Sabbat noch zwei letzte Kerzen in den silbernen Kandelabern ‘einstmaliger Zeiten.’

Ich war nun das männliche Haupt der Familie und leitete die Gebete und Gesänge. In Vaters Anwesenheit durfte ich keine Improvisationen singen, aber jetzt ließ ich meiner Lust freien Lauf. Die Schwestern zählten die Ohrfeigen, die ich von meinem Vater bekommen hätte. Es wurde sogar lustig bei uns, so dass die Nachbarn unter den Fenstern zuhörten, und ich versuchte mit gleicher Inbrunst wie Vater zu singen, es sollte ‘seine Atmosphäre’ im Haus bleiben! Am Sonntag sagte Mutter still: “Der Tempeldiener fragt, ob wir Nachricht von Vater haben? Bald kommt der neue Kantor und die Wohnung wird gebraucht.”

“Wir werden unsere großen Strohsäcke unter die großen Bäume bei der Synagoge legen”, versuchten wir die Mutter zu trösten. In der Nacht hörte ich Weinen, und wenn Mutter weinte, kam das Weinen auch zu mir. Sogar die Schwestern schliefen nicht. Mutter umschloss uns alle drei mit ihren Armen und wir blieben so eine lange Zeit zusammen auf ihrem Bett sitzen. Dann versuchten wir zu schlafen. Bei den Schwestern ging es schnell, aber meine Mutter atmete unruhig, stand auf, zündete ein Streichholz an und schaute nach Frieda und Karoline.

“Sie haben heute zum Abend Tränen getrunken”, sagte sie leise. Im Finstern suchte Mutter auch mein Gesicht und als ihre Hände über meine Augen glitten, küsste ich sie.

“Du schläfst nicht, David?”

“Nein, ich kann nicht.”

“David, was werden wir machen? Niemand wird uns hier etwas borgen. Der Rabbiner hat nicht verstanden, warum die Fürstin zu Vater ‘Herr Oberrabbiner’ sagte und dann von Vater den Segen erbat. Hier kamen die vertriebenen Juden aus Spanien her und sie bekamen Asylrecht. Wir sind in Russland, Polen oder Deutschland geborene Juden, da ist manchmal etwas Fremdes zwischen uns. Man kann es fühlen und das tut sehr weh. Sie nennen uns dann ‘die Aschkenasen’ und wir sagen zu ihnen ‘die Sepharden’. Dann ist es, als ob wir nicht mehr zusammengehören. Und niemand hilft. Soll ich vielleicht meine Schuhe verkaufen? Sie sind noch fast neu.”

“Aber Mamme, du darfst nicht so etwas denken!”

“Also, was wird werden?” Da brauchte ich Vaters Worte: “Gott wird helfen!” Mutter seufzte tief: “Ach Gott, ach Gott”, und es klang fast vorwurfsvoll.

Seit drei Tagen war kein Krümel Brot mehr im Hause. Wir machten Tee, aus der Kamille, die Mutter am Wege pflückte. Unsere letzten Sabbatkerzen waren verloschen. Lange Fastentage lagen vielleicht noch vor uns.

Am Sonntag, ganz in der Früh, kam eine Nachbarsbäuerin zu Mutter: “Frau Rabbiner, würden Sie so freundlich sein, auf unser Viehzeug aufzupassen? Das ganze Dorf geht zur Kirchweih nebenan. Die Tiere brauchen nur Aufsicht, das Futter für den ganzen Tag haben sie vor sich stehen.”

Zugleich kam eine zweite Bäuerin mit derselben Bitte. Und Mutter sagte “Ja”. Sie waren sehr froh darüber und versicherten Mutter, sie habe keine Arbeit, für genügend Futter sei gesorgt.

Nach einiger Überlegung fand ich es sogar gerecht, dass Menschen hungern und nicht die Tiere!

Aber erst spät am Abend kam das ganze Völkchen angeheitert von der Kirchweih heim. Man hatte sich in den Wirtshäusern getroffen, Onkel und Tanten besucht, mit Freunden geschwatzt und alles mit gutem ungarischem Wein begossen. Mutter war gerade dabei, die Schweine zu beruhigen, die jetzt neues Futter verlangten und sich beißen wollten. Traurig und müde kam Mutter zurück. Sie hatte es nicht erlaubt, dass wir sie begleiten. Aber jetzt saßen wir wieder zusammen auf ihrem Bett.

“Niemand braucht es wissen, dass wir nichts zu essen haben. Nicht der Rabbiner, nicht der Tempeldiener. Wir müssen auf Vaters Brief warten!”

So saßen wir in der Dunkelheit.

“Hast du fleißig gelernt, David?”

“Mamme, nicht viel, die Buchstaben laufen alle durcheinander und dann muss ich aufhören.”

“Ja! Beim Sticken ist es ebenso, wir können nicht mehr genau sehen, wohin die Nadel stechen muss”, sagten Frieda und Karoline. Mutter nickte.

“Ja, ja, so ist es, wenn man hungert.”

“Schlafen Sie schon, Frau Rabbiner? So früh ist alles schon dunkel bei Ihnen?” rief es von draußen. Es waren die Bäuerinnen. Sie brachten Mehl, Eier und einen Topf frisch gemolkener Milch. Mutter kam mit vollen Armen zurück. Gott hatte geholfen! Bis nun das Feuer brannte, Mehl und Eier zu kleinen Nudelklößchen wurden, diese Zeit war sehr anstrengend, der Magen machte lauter Knoten vor Freude.

In der Früh trug ich der Bäuerin den Topf zurück, da überfiel mich ihre Neugier, sie wollte alles wissen.

“Warum kommt dein Vater nicht zurück? Von was lebt ihr überhaupt?” Ich antwortete mit rotem Gesicht: “Wir hungern!” Sie schüttelte den Kopf.

“Wir sind nicht reich, aber es ist immer noch ein Stückchen Schwein im Haus. Aber das wollt ihr Juden ja nicht essen, habt ihr Angst, dass wir euch vergiften?”

Aber sie beruhigte sich dann.

“Also, wenn ich dir jetzt ein Stück Schinken für deine Mutter herunterschneide, nimmst du es mit?”

“Nein, Frau Nachbarin.”

“Ach, ich werde selbst zu deiner Mutter gehen und sie fragen.” Und wir gingen. Mutter putzte eben den alten Ofen. Freundlich schimpfte die Bäuerin: “Warum gibt es diese eigenartigen Verschiedenheiten der Religionen?” Sie würde gerne helfen, wisse aber nicht wie. “Jetzt, wo Ihr Ofen so schön sauber ist, was werden Sie nun kochen, Frau Rabbiner?”

Mutter schwieg. Die gute Frau fing wirklich an zu verstehen.

“Jesus, Maria! Aber Jesus, Maria! Sie haben ja einfach gar nichts im Hause! Kein Brot, keine Kartoffeln, kein ...”

Sie schüttelte den Kopf und eilte hinaus. Nicht lange darauf kamen mehrere Bäuerinnen angelaufen und trugen die Arme voll mit koscheren Sachen. Die guten Frauen zogen mich liebevoll an meinen Päis. Eine sagte: “Komm jeden Abend herüber, wenn ich gemolken habe, und du kannst einen großen Topf mitbringen.”

Gott hatte wirklich geholfen! Der christliche Gott? Der Jesus, fragte es in mir? Ich fühlte mich verwirrt, verbesserte aber: “Gott, der einzige Gott. Der Gott aller Menschen!”

Aber meine Gedanken rutschten doch zu dem Jesus. Gewiss verstand dieser etwas von Hunger. Er sah ja selbst so mager auf seinem Kreuz aus. Und Vater hatte auf dem Friedhof gesagt: “Jesus war ein Jude.”

Plötzlich hörte ich, als spräche es auf der Thora: “Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott. Der unsichtbare Gott ist der Gott aller Menschen.” Ich erschrak.

Auf alle Fälle durfte ich morgen Abend wieder Milch holen gehen. Aber auf diesen Milchwegen murmelte es immer in mir: “Jesus, Maria. Jesus, Maria!”

Mutter half nun den Bäuerinnen beim Kleiderausbessern. Frieda und Karoline stickten ihnen Monogramme für die Aussteuer der Töchter. Es hätte noch das Paradies hier werden können. Bei guter Überlegung fand ich, es musste doch beruhigend für die Christen sein, ihre Götter jeden Sonntag in der Kirche so ganz nah vor Augen zu haben. Wenn Jesus ein Jude war, so musste ja bestimmt seine Mutter es auch sein. Für den Vater ist man nicht so sicher wie für die Mutter, hatte Vater einmal gesagt. Darum bekamen die Kinder in alter Zeit immer den Namen der Mutter. Aber es gab hier doch auch einen Vater von Jesus, man hörte nur selten seinen Namen sagen und auch Bildnisse gab es wenige von ihm. Joseph hieß er, das ist ein jüdischer Name! Warum lieben sich also die Christen und die Juden nicht? Alles kam doch von ein und derselben jüdischen Familie her?

Dies waren meine Probleme auf dem Milchweg. Sie schienen mir ebenso groß, wie der Unterschied zwischen der Milchstraße am Himmel und meinem Milchweg auf Erden.

Mit der Kraft zu lieben

Подняться наверх