Читать книгу HELL WALKS - Der Höllentrip - David Dunwoody - Страница 6

Kapitel 2

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Indem Quebra zwei Schritte nach vorn machte, zwang er die Gruppe zum Auseinandergehen und riss dabei sein Sturmgewehr hoch. »Mills!«, brüllte er und gab zwei Schüsse ab.

Caitlin zuckte zusammen und Duckie hielt sich die Ohren zu. Frank drehte sich um und folgte Quebras Schusslinie zu einem Parkhaus neben der Ruine eines Krankenhauses auf der anderen Straßenseite. Es dauerte einen Augenblick, doch dann erkannte er einen Schatten, der auf dem Dach des Gebäudes kauerte. Von der Straße aus und im frühmorgendlichen Licht tat sich Frank schwer damit, die Gestalt als Mills zu identifizieren, aber er verließ sich auf Quebra, zumal es ihn auch nicht im Geringsten überraschte.

Sie waren Mills weniger als einen Monat zuvor begegnet, nicht lange nach Autumn und Caitlin. Die Frau hatte ihnen erzählt, sie habe einmal für die Seuchenschutzbehörde gearbeitet, und in einem Bunker vor Kansas City lagere ein regelrechter Schatz an Impfstoffen, Antibiotika sowie anderer medizinischer Versorgungsgüter. Die Gruppe hatte ihr geglaubt und war deshalb hier. Sie hatten sich darauf eingelassen, weil es unmöglich und in niemandes Urteilsvermögen, einen böswilligen Grund dafür geben konnte, so etwas fälschlicherweise zu behaupten. Warum sonst sollte man sich nach Illinois und damit zu einem Höllengänger wagen, sich also einer Großstadt nähern, die sehr wahrscheinlich weiterhin ein Ziel der Little Ones war? Warum eine Geschichte von Arzneimitteln erfinden, wenn dabei weder Obdach noch materielle Bereicherung in Aussicht stand? Ein solches Unterfangen war selbstmörderisch. Sechs Menschen durch ein solches Fegefeuer schicken und kurz vor dem Ziel zugeben, es sei nur ein Märchen gewesen.

Was das anging, hatten sie Mills schlecht gekannt. Falls es irgendwie hilfreich gewesen war, dann als kalte, harte und eindrückliche Lehre über menschliche Monster. Mills hatte sie belogen, weil sie verrückt war und sich, um es mit ihren eigenen Worten zu sagen, gelangweilt habe.

Als sie ihnen schließlich reinen Wein eingeschenkt hatte, dastehend auf einem verheerten Freeway am Stadtrand von Kansas City, war sie ganz sachlich geblieben. Nicht einmal niederträchtig gelächelt hatte sie, sondern einfach nur gemeint: »Vielleicht hätte ich euch gleich sagen sollen, dass ich in Wirklichkeit niemals für den Seuchenschutz gearbeitet habe.«

Mills war mittleren Alters und sah … na ja ... normal aus. Frank glaubte, sie auf so eine Art und Weise einzuschätzen, verrate ein gewisses Vorurteil, dem er selbst aufsaß, doch feststand: Er hatte sie für eine normale Person gehalten, die unmöglich psychopathisch sein konnte, sie alle hatten das getan. Dahinter steckte mehr als der Wunsch, ihre Aussagen glauben zu wollen, nämlich die Annahme, dass eine weiße Frau über vierzig einfach keine gemeingefährliche Irre sein konnte.

Tja, Lektion gelernt.

Es war ja auch nicht so, dass jemand von ihnen an einer Krankheit gelitten hätte, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Das sagenumwobene Lager des Seuchenschutzes zu erreichen war nicht wirklich dringend notwendig für sie. Bei Franks Leiden handelte es sich um eine genetisch bedingte Bindegewebsschwäche, und einige in der Gruppe wussten noch nicht einmal davon. Was die übrigen Mitglieder betraf, so wirkten sie zumindest gesund. Es bedurfte ja auch einer aktiven Gruppe, um so weit kommen zu können. Sie hatten ein gutes stabiles Verhältnis zueinander, und auch wenn sich ihre höchsten Ziele darauf beliefen, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben, schöpften sie Sinn aus einer Welt, in der nichts mehr Sinn ergab.

Aber Mills war einfach nur gelangweilt gewesen und hatte sie deshalb betrogen. Sie hatte ihnen gesagt, sie wundere sich darüber, dass sie ihr tatsächlich so verflucht weit bis nach Kansas City gefolgt seien, und dann hatte sie versucht, Chia mit einem spitzen Stein zu erschlagen, als er ihr zu nahe gekommen war.

Quebra hatte sein AR-15 genommen und ihr den Griff auf den Schädel geschlagen. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte Mills feststellen müssen, dass sie mit einem Seil aus seinem Rucksack gefesselt worden war.

Chia war derjenige gewesen, der sie schließlich angesprochen hatte. »Wir haben darüber diskutiert«, so seine Worte, simpel wie jene, die auch Mills selbst gebraucht hatte. »Wir lassen dich hier so zurück. Du darfst weiterleben, weil wir uns nicht auf deine Stufe stellen wollen, bleibst aber gefesselt. Und …« Seine Züge waren düsterer geworden, wie sich Frank entsann, und seine Falten tiefer. Chia hatte das alles nur schwerlich über die Lippen bringen können, es aber letztlich doch geschafft. »Wer auch immer dich findet, wird schnell erkennen, was du bist. Nie wieder sollst du jemandem so schaden, wie du uns geschadet hast.«

Mills hatte ihn begriffsstutzig angesehen und gefragt: »Was meinst du damit? Habt ihr mich etwa gebrandmarkt?« Dann war sie unruhig geworden. Die Vorstellung, gezeichnet worden zu sein, musste ihre Sinne geschärft haben, weshalb ihr nun auch aufgefallen war, dass ihr Rücken brannte. Auf dieser Welt litten die Menschen ständig in irgendeiner Weise körperlich, doch sie hatte einen neuen Schmerz empfunden und sich im Knien aufgerichtet, ihre zusammengebundenen Hände verrenkt und dabei mit den Zehen Halbkreise im Sand hinterlassend. »Was habt ihr getan? WELCHES WORT IST ES?«

Es war kein Brandmal, Quebra hatte ihr mit seinem Messer das Wort »LÜGNERIN« ins Kreuz geritzt.

Dann hatte er sich neben sie gekniet und ihr dieselbe Klinge ins weiche Fleisch hinter dem Wangenknochen gedrückt, woraufhin sie sofort still geworden war. »Du wolltest mit uns spielen«, hatte er gesagt. »Jetzt spielen wir mit dir.«

So war sie alleingelassen worden, und die Gruppe hatte sich weit entfernen müssen, bis Mills’ Schwall von Flüchen verklungen waren.

Das Ganze hatte sich erst vor ein paar Tagen zugetragen. Frank war sogar schon dazu übergegangen, sie zu vergessen, Quebra offensichtlich nicht. Er hatte sich eine doppelt so lange Nachtwache auferlegt, bisweilen von der Dämmerung bis zum Morgengrauen dagesessen, ohne von jemandem abgelöst zu werden, und außerdem noch Autumn im Gebrauch verschiedener Schusswaffen unterwiesen, die er mit sich führte. Obwohl der Mann zuverlässig mit seinem kleinen Arsenal umzugehen wusste, hatte er Chia, Frank und nun auch Autumn das Schießen beigebracht. Dodgers Bitten hingegen, es auch lernen zu dürfen, wurden von ihm stets ignoriert.

Er selbst war nicht lange nach Autumn und Caitlin beziehungsweise kurz vor Mills zur Gruppe gestoßen. Es schien solche Wellen zu geben, dass mehrere Personen jeweils zur gleichen Zeit starben oder in Erscheinung traten. Im vergangenen Monat hatte sich das Karussell allerdings besonders schnell gedreht, und so würde es voraussichtlich noch eine ganze Weile weitergehen.

Auf dem Parkdeck streckte Mills ihre Arme gerade frei in die Luft, bevor sie sich wieder hinter der Betonbrüstung des Dachs versteckte.

Quebras Doppelschuss war eine Warnung gewesen, doch nun folgte er ihren Bewegungen aufmerksam. Er wandte sich zu Chia und fragte ihn: »Was denkst du, Boss?«

»Sie wird uns nicht in Ruhe lassen«, meinte Autumn hinter ihm.

»Wer ist sie denn überhaupt? Und was hat sie getan?«, wollte O’Brien wissen.

»Sie bedeutet Ärger«, antwortete Chia leise. »Nichts als Ärger, und wir haben ihr trotzdem ihre Chance gegeben.«

»Sie ist diejenige, der wir auf den Leim gegangen und der wir hierher gefolgt sind«, erklärte Frank O’Brien. »Es stimmt, wir hätten euch beide gar nicht gefunden, wenn das nicht passiert wäre, aber sie ist verrückt, und damit meine ich wirklich geistesgestört. Ihretwegen kommen wir noch alle ums Leben.«

Quebra nickte beipflichtend. Frank wusste, er hatte Mills eigentlich sofort töten wollen, sich aber dann doch Chia und dessen Verständnis von Nachsicht gefügt. Damit war es jetzt allerdings vorbei.

»Glaubst du, sie ist allein?«, fragte Frank den Soldaten. »Und immer noch unbewaffnet?«

»Hoffen wir es«, entgegnete Quebra. Er kniff die Augen zusammen. »Da oben ist sie auf jeden Fall nicht mehr.« Er begann, seinen Blick durch das Visier am Parkhaus entlang schweifen zu lassen. »Das Miststück wollte uns nur wissen lassen, das es sich noch dort draußen herumtreibt. Hätte sie damals einfach umlegen sollen. Fuck.«

Frank fühlte sich jetzt unwohl und empfand genauso. Alles würde sich fortan darum drehen, dass Mills ihnen nachstellte, solange sie die Sache mit ihr nicht klärten. Sie einfach so auf dem Freeway unschädlich zu machen wäre wirklich besser gewesen. Frank hätte zwar nicht den Schneid dazu besessen – hatte er auch jetzt noch nicht –, doch andererseits … so konnte es nicht weitergehen, wenn sie in jedem Schatten jedes Gebäudes mit dem Schreckgespenst Mills rechnen mussten. Das Angstgefühl in Franks zusammengezogenem Magen verwandelte sich nun in Wut. Er schaute hinüber zu Chia, um zu sehen, ob sich der alte Mann im Herzen genauso umbesonnen hatte, entdeckte aber nur Kummer.

»Mach dir keine Vorwürfe«, schob Frank schnell hinterher.

»Kann ja sonst niemandem die Schuld dafür geben«, murrte Chia.

»Also«, hob Dodger an, während er das Parkhaus im Auge behielt. »Ich schlage vor, wir suchen uns einen höheren Fluchtpunkt.« Entweder taten sie dies oder sie mussten verschwinden, doch man schien wortlos darin übereinzukommen, in der Stadt zu bleiben und dieses Problem zu beheben, bevor sie aufbrachen. Wie zur Bestätigung nickte Chia.

»Ich werde das Gebäude an der Westseite des Krankenhauses auskundschaften«, beschloss Quebra. Er streifte seinen nicht gerade leichten Rucksack ab und wühlte darin herum. Nachdem er zwei Pistolen herausgefischt hatte, gab er sie Chia beziehungsweise Frank.

Diesem bereitete das Gewicht der Waffe Unbehagen, und er blickte verhalten zu Autumn. »Willst du zufällig Ausguck spielen?«

»Heute nicht«, entgegnete sie. Frank verzog sein Gesicht und steckte sich die Pistole in den Hosenbund.

Dann drehte er sich wieder zu dem Little One um, dessen beeindruckender Anblick abermals wegen menschlichen Theaters in Vergessenheit geraten war. Er lag nach wie vor im selben Krater aus Asphalt, mit geschlossenem Auge, doch sie mussten von ihm fort, ob er tot war oder nicht. Frank fand es ironisch, auch wenn er nicht ganz sicher war, ob der Begriff in diesem Zusammenhang wirklich passend war, dass ein erlogener Arzneimittelbestand sie zu diesem gefallenen Ungeheuer geführt hatte, das eine grässliche, unheilbare Krankheit in sich barg. Diese war dem Planeten Erde fremd, eine bakterielle Infektion von irgendeinem fernen Stern, aus einer anderen Dimension oder woher auch immer diese Riesen ursprünglich stammten. Sie äußerte sich zunächst in roten Läsionen groß wie Untertassen. Die Haut wurde erst straff, hart und tat weh. Dann brach sie auf, sodass blutende Löcher klafften und letztendlich, falls das Opfer lange genug durchhielt, wie Frank zu Ohren gekommen war, zu erbärmlich trockenen Scharten wurden, woraufhin bald der Tod einsetzte. Er hatte Infizierte im ersten und zweiten Stadium gesehen, aber noch keine im Endstadium, jenem Schweizer-Käse-Grauen. Diese, so hieß es, verloren letztendlich ihren Verstand. Wem ginge es nicht so?

Die Gruppe ließ sich im Schatten zwischen den ausgeweideten Autos nieder. Auf den Gehsteig umzuziehen und die Karosserien als Deckung vor Mills zu verwenden würde gleichzeitig bedeuten, dem Little One näherzukommen. Während er dabei zusah, wie Quebra die Straße hinunterschlich und schließlich verschwand, fragte Frank: »Warum steigen wir nicht in eins der Autos?« Er zeigte auf einen langen Chevy-Familienbus, der ein paar Fahrzeuge weiter in der Schlange stand. »Da würden wir alle hineinpassen.«

»Sieh nach«, erwiderte Chia. Er wirkte geknickt und haderte immer noch mit sich selbst wegen der Entscheidung, Mills am Leben zu lassen. Frank klopfte ihm im Vorbeigehen aufmunternd auf die Schulter.

Der Wagen war leer, weder verdreckt noch vermüllt, und die Seitentür ließ sich mit ein wenig Mühe öffnen, wobei sie allerdings metallisch ächzte. Frank ließ die anderen zuerst einsteigen.

Alle Fensterscheiben fehlten natürlich, und unter der Haube befand sich bestimmt auch nichts mehr, aber das tat nichts zur Sache, wenn Benzin nur noch in der Erinnerung existierte, und drinnen war es gefühlt kälter als draußen. Caitlin zitterte, während sie sich an ihre Schwester schmiegte. »Ich halte dich warm«, sagte Autumn. »Unsere Körper sind noch erhitzt genug. Kennt jemand vielleicht ein paar gute Witze?«

Dodger neigte den Kopf zu der Seite, wo der Little One lag. »Ha.« Dann deutete er in die Gegenrichtung, wo er die irre Lügnerin wähnte, und ließ ein »Hee« folgen.

»Stell dir vor, wir seien deine Wähler, wie wär’s?«, schlug Chia vor. »Muntere uns doch ein bisschen auf, Dodger.«

Der jüngere Mann schwieg und schmollte. Er war nie zu irgendetwas gewählt worden. Seine eigene Familie hatte ihn ins kalte Wasser springen lassen. Chias Scherz war möglicherweise boshafter rübergekommen als beabsichtigt, doch darum schien sich niemand zu kümmern, denn Dodger hielt endlich mal den Rand.

»Seid ihr alle Freunde?«, fragte Duckie. Er war auch still gewesen; solange, dass sie ihn fast schon vergessen hatten.

Frank, der hinterm Steuer neben Chia saß, drehte sich nach ihm um. »Ich denke, das kann man mehr oder weniger so sagen. Denn heutzutage braucht man Freunde.«

»Dr. O... « Duckie schien sich selbst zurückzupfeifen und ballte seine Hände dabei zu Fäusten. »Miss O’Brien ist meine beste Freundin.«

Die Erwähnte lächelte. »Ich versuche weiterhin, ihm beizubringen, dass er die Förmlichkeiten bleibenlässt. Er weiß, er darf mich Mary nennen, wenn er möchte.«

»Erst wenn du mich Greg nennst«, gab Duckie zurück.

»Aber ich dachte, Duckie gefällt dir besser.«

»Tut es auch.« Er lächelte; ihm fehlten recht viele Zähne. Frank tastete die Lücken in seinem eigenen Gebiss mit der Zunge ab. Es waren zum Glück bis jetzt nur wenige, aber vermutlich dauerte es nicht mehr lange, bis er Beeren mümmeln musste, um sich zu ernähren.

»Wie lange seid ihr alle denn schon unterwegs?«, fragte O’Brien.

Chia setzte sich gerade hin und dachte nach. »Also, ich glaube, es ist erst vier oder fünf Wochen her, dass die Mädchen und Dodger dazugekommen sind.« Er klopfte Frank auf den Arm. »Wir zwei schlagen uns allerdings schon vier Jahre durch.«

Es waren eher dreieinhalb, doch Frank wies ihn nicht darauf hin. Ebenso gut konnte es auch schon ein Jahrzehnt sein. Zahlen waren unerheblich, wenn man sich in guter Gesellschaft befand.

Frank zeigte mit einem Daumen auf Chia, der durch die zerbrochene Windschutzscheibe Ausschau hielt, während er selbst erzählte: »Wir haben uns direkt nach dem Zusammenbruch kennengelernt. Als die Regierung zerfiel und alles im Chaos versank.«

»Ich war damals mit meiner Frau und meinem Jungen unterwegs«, fügte Chia mit geübter Distanziertheit hinzu. »Josie und Bryan. Leben beide nicht mehr.«

Duckie sah verwirrt aus, als er das hörte. Er suchte O’Briens Blick, die ihm verständnisvoll zunickte, und dann fiel schließlich der Groschen bei ihm. Dodger in der Mitte zwischen ihnen starrte währenddessen angeödet aus dem Fenster.

»Wir trafen Quebra …Das ist jetzt über ein Jahr her, nicht wahr? Ihn und Kotz.« Chia schaute Frank an, der halb mit den Achseln zuckte und halb nickte. Der Alte fuhr fort: »Kotz … das arme Schwein. Er tappte in eine alte Biberfalle und verlor seinen Fuß, danach wurde er dann krank. Wir haben nie erfahren, ob die Falle noch aus der Zeit vor dem Zusammenbruch stammte und aus hehren Gründen aufgestellt worden war oder von irgendwelchen Verrückten.«

Quebra hatte seinem Soldatenkameraden daraufhin den Gnadenschuss versetzt.

Frank wusste noch, dass er selbst außerstande gewesen war, es mit anzusehen, wohingegen sich Chia dazu gezwungen hatte. Seiner Erklärung zufolge habe er lernen müssen, brutal zu sein. Der alte Mann brauchte, wie es schien, immer noch Unterricht darin, doch das störte Frank keinen Deut.

»Mittlerweile wissen wir also, dass Mary Lehrerin und Duckie ihr Schüler gewesen war«, rekapitulierte Frank. »Du warst ebenfalls Schülerin Caitlin. Autumn, was hast du vor alledem getrieben? Ich meine beruflich.« Den Nachsatz hängte er an, um nicht zu aufdringlich zu wirken.

»Ich war Kassiererin.« Mehr sagte sie nicht, was allerdings auch durchaus angemessen bei der Frage war, wie Frank fand.

»Fehlst nur noch du, Dodge«, fuhr er fort.

»Bin auch noch zur Schule gegangen«, antwortete Dodger, »und meinem werten Herrn Vater im Büro zur Hand gegangen. Für den Senator habe ich hin und wieder auch ein bisschen PC-Kram erledigt, ich galt nämlich als Computerwunderkind.« Frank hätte gern gewusst, ob Dodger über irgendwelche Interna bezüglich des Höllengängers und der Little Ones verfügte. Da der Mann jedoch nicht weiter darauf einging, widmete sich Frank nun seinem Freund.

»Chia hier ist ein Tausendsassa, so etwas wie ein Schweizer Armeemesser.«

»Das ist nur beschönigend für rastloser Rentner« Der Alte grinste zurückhaltend. »Ich habe immer gesagt, dass ich bis zu meinem Tod arbeiten möchte, und na ja, bin wohl auf dem besten Weg dorthin, nicht wahr? Das Leben an sich ist schließlich heute schon eine Plackerei.«

»Wie steht es mit dir, Frank?«, meinte Autumn. Er dachte, sie sei verärgert, weil er sie in Verlegenheit gebracht hatte, aber sie machte einen aufrichtig neugierigen Eindruck.

»Ich schrieb Texte für eine Werbeagentur«, gab er an. »Anzeigen in Zeitschriften größtenteils und überwiegend für Nahrungsmittel. Aufregend, ich weiß, ich war so begeistert davon, wie ihr jetzt alle ausseht, aber ich habe damit anständiges Geld verdient.«

»Hattest du eine Familie?«, bohrte Autumn weiter nach.

Er studierte ihre Züge, soweit dies in dem dunklen Bus möglich war. Versuchte sie vielleicht doch, ihm eins auszuwischen, damit er sich merkte, dass er nicht herumschnüffeln durfte, wenn es um sie und ihre Schwester ging? Er konnte es nicht genau sagen, doch niemand durfte dadurch Genugtuung erhalten, dass er dichtmachte, niemand sollte Franks Tragödie für etwas anderes halten als exakt das, was sie gewesen war.

»Ich lebte geschieden – eine Ehe ohne Kinder –, traf mich aber gerade regelmäßig mit einer Frau, als alles zur Hölle ging. Sie wurde überfahren. Die Unruhe im Volk, die wir alle miterlebt und ignoriert hatten, war zu Krieg ausgeartet, und … Ich kann nicht einmal nachvollziehen, wie man es als Krieg bezeichnen konnte, doch das tat man. Schätze, im Grunde genommen dauert er sogar weiter an, nur lassen sich anscheinend keine eindeutigen Parteien bestimmen, nicht seit die Regierung hinfällig geworden ist. Es handelt sich lediglich um Menschen, die aufgeben.

Wie dem auch sei: Auf den Straßen herrschte Panik. Es gab einen zwielichtigen Bericht, dem zufolge einer der Little Ones unterwegs zu uns war. Wir überquerten gerade eine Straße, sie stolperte, und ein Lastwagen rollte einfach über sie hinweg. Das war’ s.«

In einiger Entfernung donnerte es. Als die Insassen des Familienbusses durch die fensterlosen Rahmen hinausschauten, um zu bestimmen, aus welcher Richtung das Geräusch kam, blickte Frank in die aufsteigende Sonne und spürte plötzlich einen dumpfen Schmerz in der Brust. Daraus ergab sich eine Anspannung, die auf seine Gelenke abstrahlte. Shit. Komm schon, Mann, ist doch nur Regen, du musst dich nicht aufregen. Ihn beschlich stets das Gefühl, Feuchtigkeit und Niederschlag würden sein Leiden noch verschlimmern, doch kein Arzt hatte ihm das je bestätigen können. Es war reine Kopfsache, er musste sich nur beruhigen und von der Sonne wegschauen ...

***

Damals, bevor alles in die Binsen gegangen und das Träumen zur Bedeutungslosigkeit verkommen war, hatte Frank im Schlaf aberwitzige Dinge erlebt. Die meisten hatte er aufgeschrieben und war dem Wachtraum aufgesessen, eines Tages Schriftsteller zu werden – ein richtiger Autor –, der Werbebranche den Rücken zu kehren und aus seinem umfangreichen, zerfledderten Traumtagebuch Romane zu stricken. Doch dazu war es nie gekommen. Was den Traum von heute Morgen betraf, so hatte er nicht einmal mehr Stift und Papier, um die Details festhalten zu können, doch Frank würde sie behalten, und zwar für immer, weil ihn dieser Traum fast das Leben gekostet hätte.

***

Er stand auf einem gepflasterten Weg am Fuß eines Hügels. Es war der Ausläufer eines Gebirges, und der Weg führte genau dort hinein, aber die sorgsam ausgelegten Steine wichen bald unbefestigten Serpentinen, und der Berg selbst verschwand in der Höhe wie ein Turm im Nebel, wobei Frank nur eines in den Sinn kam: Höllengänger! Höllengänger heute, ein regloser, künstlicher Berg im – nein, eigentlich auf dem Ostteil von Chicago, der am Michigansee lag.

Trotzdem machte er sich auf den Weg nach oben, hastig sogar, um das Pflaster hinter sich zu lassen und den Pfad zu betreten. Als er die Füße darauf setzte, erschien plötzlich eine Frau vor ihm.

Er nahm zumindest an, es sei eine Frau. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, ein beachtlicher Anblick: lang, schlank und offenbar umschlungen von rötlich braunen Ranken. Ihre Haut war hellgrau und sah aus, als fühle sie sich kalt an. Die Ranken wuchsen an den Hüften zu Bündeln zusammen, die ihr Gesäß einrahmten, sich dann wieder voneinander lösten und wie Wasser an ihren langen, geschmeidigen Beinen hinunterflossen. Ihr Hinterkopf wurde in ähnlicher Weise von adrig anmutendem Pflanzenmaterial umschlossen, obwohl es hier und dort von Dornen gespickt war. Es war eine Frau, eine Graue Frau, und als sie sprach, wusste er, dass sich ihre Lippen nicht bewegten.

Wer bist du?, fragte sie. Ihre Stimme hatte etwas Vorwurfsvolles an sich, so wie jene einer Lehrerin, die auf einen Jungen gestoßen war, der im Schulflur herumgammelte.

Herumgammeln, dachte Frank. »So würde ich mich niemals ausdrücken.« Dann wurde ihm bewusst, dass er laut gesprochen hatte.

Bei den nächsten Worten spürte er, dass sich ihr Mund bewegte. Sie wollte wissen: »Woher kommst du?«

Weil ihm nichts Besseres einfiel, antwortete Frank: »Aus Connecticut – ursprünglich.«

Die Frau begann, langsam auf dem Pfad weiterzugehen. Die Ranken an ihren Beinen wiegten sich dabei geräuschvoll wie ein Perlenvorhang. Frank nahm irgendwie verzögert wahr, dass er ihr folgte. Irgendwann fiel ihm auf, dass sie barfuß ging, aber der natürliche Grund mit seiner unebenen Beschaffenheit und all den Steinchen tat ihr offenbar nicht weh. Als er die Graue Frau erneut ins Auge fasste, dauerte es nicht lange, bis Nebelschwaden um ihr Kleid herum waberten. Sie stiegen immer weiter auf und Frank kamen plötzlich Bedenken.

»Sollen wir das wirklich tun?«, meinte er zögernd.

»Du musst nicht«, lautete ihre Antwort.

Frank folgte ihr weiter.

Schon war der Nebel stickiger Dunst und jagte Frank Platzangst ein; er fühlte sich wie bei seinen richtig schlimmen Anfällen. Der Letzte war zum Glück schon lange her, aber er entsann sich noch der Enge, die er um Lunge und Herz empfunden hatte, sowie der Befürchtung, er müsse gleich sterben ... seine nachgiebigen Arterien würden platzen und ihn in seinem eigenen Blut ertränken. Jene Erinnerung lenkte seinen Blick wieder auf die Ranken, welche die Graue Frau umgarnten, eine Person, die mindestens acht Fuß groß war. Es handelte sich zweifelsohne um eine Riesin, doch sie wollte Frank nichts Böses. Er entspannte sich und zwang sich, durch den Nebel hinter ihr herzugehen. Sollte er sie aus den Augen verlieren, besaß er keinen Orientierungspunkt mehr und würde bestimmt von diesem Berg stürzen.

Der Dunst nahm einen ätherischen Glanz an, als Sonnenstrahlen einfielen. Endlich begann er, sich zu lichten. Er sah nun, dass sie sich auf einer zerklüfteten, hervorstechenden Stelle ungefähr auf halbem Wege den Berg hinauf befanden. Frank machte den Hals lang und versuchte, einen Blick zum Gipfel zu erhaschen, doch auf dieser Höhe war alles mit dichten Wolken verhangen.

»Gräme dich nicht darum«, riet ihm die Graue Frau. Sie trat von der Kante der Felszunge auf eine schwankende Seilbrücke, die scheinbar wie aus dem Nichts erschienen war. Frank folgte ihr abermals. Die Stricke waren zerfranst und straff gespannt, während die Holzsprossen anscheinend mit nichts an ihnen befestigt waren, sondern einfach nur auf einem Bett aus Knoten lagen. Dennoch bot jede von ihnen Frank einen festen Tritt.

»Weshalb bin ich hier?«, sprach er in Richtung des Rückens der dahinschreitenden Grauen Frau. Die Brücke beschrieb eine fließende Rechtsbiegung, die völlig unmöglich war, stieg danach an, und führte die Zwei zu einem anderen Gebirge.

»Jetzt ist es nicht mehr weit« war alles, was die Frau entgegnete.

Sie erreichten das andere Ende der Brücke auf dem neuen Berg. Vor ihnen tat sich eine Öffnung wie zu einer Höhle auf. Ohne sich Frank zuzuwenden, stieg die Graue Frau auf das Felsband vor dem Eingang und trat dann zur Seite, um Frank vorausgehen zu lassen.

Er betrat die Höhle. Als er sie passierte, machte er keinerlei Anstalten, ihr Gesicht erkennen zu wollen, weil es als vereinbart galt, dass er lediglich ihren Rücken sah, egal, aus welchem Winkel er sich ihr näherte.

Die Innenwände der Höhle bestanden aus rotem Gestein, und eine unsichtbare Lichtquelle spendete warme Helligkeit. Frank durchschritt einen schmalen Tunnel, der sich zu guter Letzt in einen Raum ausweitete.

Dessen Wände waren in unzählige Fächer unterteilt, gehauen aus dem Felsen selbst, und darin befanden sich enorm dicke Bücher. Ein Band sah älter und verschnörkelter aus als der andere, jeder ließ Franks Hände winzig wirken, als er sich anschickte, sich danach auszustrecken und sie ein Stück weit herauszuziehen. Er zierte sich beinahe davor, sie zu berühren, weil ihr Inhalt, egal welche Wahrheit die goldverzierten Einbände auch bargen, bestimmt wehtun würde.

Dann sah er einen Wälzer mit einem Einband aus funkelndem Metall. Auf dem Buchdeckel war ein liegender Drache eingeprägt. Dieses Mal konnte sich Frank nicht zurückhalten. Er nahm es aus dem Regal, aus einer Nische, in der es vermutlich über Jahrtausende hinweg gesteckt hatte, womöglich genauso lange, wie die Graue Frau schon auf jenem Bergpfad gewandelt war, und als er es in den Händen hielt, stellte er fest, dass es verschwindend wenig wog. Er legte die Finger vorsichtig an die Kante des Buchdeckels und klappte es auf.

Die erste Seite war schwarz und glatt, ein faseriges Papier, dicker als gewohnt. Frank wollte zur Kante unten rechts greifen und die Seite umschlagen.

Alles Weitere geschah plötzlich ganz schlagartig: Das Papier riss, knitterte und zerknüllte ganz von selbst, von der Mitte aus aufgetrennt in vier Fetzen, die sich auffalteten und sich in die vier Mandibeln eines schreienden Little Ones verwandelten – jene gespreizten Kneifer, die einen Stadtbus auseinanderbrechen konnten –, woraufhin das Buch auf einmal nach Frank schnappte.

Er ließ es los, sobald er das Grauen erkannte, doch irgendwie gelang es dem Band, ihn weiter zu bedrängen, indem er der Schwerkraft trotzte, und aus dem gezackten, roten Loch in der Mitte drang plötzlich zwischen den zuckenden Kiefern ein Schrei; der Schrei des Riesen in seiner ganzen abstoßenden Herrlichkeit. Er schrie den Menschen an.

»Frank! Frank!« Es war absurderweise seine eigene Stimme, die er hörte, und obendrein aus seinem eigenen Mund. Hier war sonst niemand, der ihn wecken konnte.

Wecken? Dies war letzten Endes nur ein Traum gewesen. »WACH AUF, FRANK!«, brüllte er sich selbst an, während der Einband des Folianten wie Schwingen flatterte und die Mandibeln noch immer nach seinen Wangen schnappten.

»WACH AUF, FRANK!«, dröhnte Chia und klatschte ihm wieder und wieder ins Gesicht. Seine ungleichmäßig geschnittenen Fingernägel kratzten dabei an dessen Wangen.

Frank schoss im Fahrersitz des ausgeweideten Familienbusses hoch und hustete. Seine Lungenflügel brannten und er schlug mit einer Faust aufs Lenkrad. »Verdammt! Ich bin ...«

»Wir müssen los!«, rief Chia und lehnte sich über seinen Freund, um die Tür zu öffnen. Als Frank hinausschaute, sah er, dass die anderen bereits da waren … und liefen.

»Mills!«, bellte er.

»Es ist nicht Mills, verflucht!«, blaffte Chia. Er schubste Frank aus dem Van, der draußen gnädigerweise sofort Fuß fasste und sich schwankend in Bewegung setzte.

Gott, taten seine Knie weh, und seine Knöchel auch. Er humpelte von dem Fahrzeug fort, und als er sich umdrehte, um sicherzugehen, dass Chia ihm folgte, war da ...

Dort. GLEICH DORT, TATSÄCHLICH DIREKT VOR IHNEN.

Ich habe doch geahnt, dass er nur schläft.

Der Little One erhob sich in diesem Moment hoch in die Luft, wobei Schutt von seinen knochigen Schultern fiel, und während er seinen seltsamen Schnabel schüttelte, ertönte ein knarrendes Geräusch. Dann blickte er auf sie hinab, riss sein Maul, das aus vier Zinken bestand, auf und kreischte.

Franks Ohren fiepten unsäglich, und er rechnete augenblicklich damit, dass sein Herz explodierte, doch Chia hatte bereits seinen Arm gepackt, und halleluja, war der alte Mann flott zu Fuß. Frank schaute nach vorn, wo die anderen gerade die Straße hinunterliefen: Autumn, Caitlin, Dodger, Duckie und O’Brien. Kein Quebra ... er war wohl immer noch auf Erkundungstour, aber mittlerweile wusste er wohl, was passiert war.

Dies erinnerte Frank endlich daran, dass er eine Waffe hatte, und er machte sich von Chia los, um sie aus seiner Hose ziehen zu können. Er starrte das Ding verwirrt an. Die Erde bebte, sodass er einen Sekundenbruchteil lang nichts unter seinen Füßen spürte.

Dann drehte er sich um; der Little One näherte sich und gab abermals Laut.

Chia rief Franks Namen und er lief los, so schnell es seine elenden Knochen zuließen. Dass er das Schlusslicht der Gruppe bildete, lag nahe, denn er war die verwundete Antilope. Das Monster würde ihn zuerst dahinraffen, und vielleicht war das sogar gut, wenn die anderen dadurch verschont bleiben würden. Frank ließ sich all das mit einer weit entfernt klingenden Stimme durch den Kopf gehen, während er hinkend folgte. Allerdings hätte er Chia die Pistole geben sollen, falls dies wirklich sein Ende bedeutete. Gute Munition an den Little Wichser zu vergeuden ergab nämlich keinen Sinn.

Er ist überhaupt nicht klein; gut erkannt, Caitlin.

Hätte er Luft zum Atmen bekommen, hätte Frank laut gelacht. Wieder erzitterte der Boden und warf ihn beinahe nieder. Chia schlug ihm auf den Arm. »Frank! Was tust du da, Frank?«

»Meine Knie«, japste er, und dann sagte er: »Krieg keine Luft.«

Abrupt und ohne Zögern blieb Chia stehen, zog seine eigene Pistole und feuerte eine Salve auf die Kreatur.

Das darauffolgende Brüllen konnte nichts weiter als ein Ausdruck von Verärgerung sein, denn die Untiere waren praktisch kugelsicher – ausgenommen ihre Rachen –, sogar die Augen, die sich nicht brechen, ja nicht einmal durch gezielte Energiestrahlen blenden ließen. Chia hatte den Riesen also nur wütend gemacht, und genau das teilte ihm Frank nun erstickt röchelnd mit.

»Als wäre er das nicht sowieso!«, empörte sich der Alte, doch sein Blick drückte Zustimmung aus. Der Rest der Gruppe lief noch ein paar hundert Yards weiter neben dem Krankenhaus her, doch Caitlin und Autumn waren stehengeblieben. Sie rangen anscheinend gerade miteinander. Er erkannte nicht, wer von ihnen zu ihm und Chia zurückkehren wollte und wer sich dem widersetzte. Er hätte zwar ins Blaue tippen können, doch für Verbitterung gab es keinen Grund, denn er war sowieso ein toter Mann und Chia jetzt vielleicht auch.

Franks Zähne vibrierten, und er hörte ein vernichtendes Knirschen, als der Little One den Van zertrat. Er drehte sich wieder zu ihm um. »Chia, Mann, nun lauf schon.«

»Um Gottes willen, nein! Bist du irre?« Der Alte rüttelte so kräftig an Franks Schulter, dass dieser dachte, sein Arm werde gleich abfallen. »Es ist noch nicht aus, los Bewegung

In diesem Moment schien der Little One Frank genau anzuschauen, denn sein emotionsloses, rotes Vogelauge wurde mitten in der Drehung starr. Irgendwo in dieser Kugel, einem Meer aus Karmin, machte Frank eine scharfe, kleine Pupille aus. Diese verschwand rasch wieder, und der offene Schnabel des Monsters sauste auf ihn herab. Genauso wie damals in dem einen Traum, dachte Frank und gab sich zufrieden damit, dass dies sein letzter Gedanke sein würde.

Erneut ertönte ein Donnergrollen, dieses Mal viel näher; ein ratterndes Maschinengewehr spottete seiner, doch der Little One avancierte mit seinem Gebrüll, mühelos zum Sieger dieses Wettstreits, als faserige Fetzen aus seinem offenen Schlund flogen.

Quebra! Er vergeudete kostbare Munition, um Frank zu retten. Zeichen und Wunder … Frank lief wieder los. Der Little One machte einen Satz nach vorn, so dicht an Chia und Frank vorbei, die beide durch die Urgewalt seiner Schritte niedergeworfen wurden, während er auf der Suche nach dem Schützen mit dem AR-15 eine Reihe von Fahrzeugen plättete.

Frank drückte sich vom Straßenbelag hoch, richtete sich auf und streckte dann seinen Schussarm aus, um auf den Rücken des Riesen zu feuern, doch Chia schlug die Pistole hastig herunter. »Quebra lockt ihn von uns weg! Lass ihn!«

Der Little One ignorierte tatsächlich sogar Autumn und Caitlin, die sich nunmehr darauf geeinigt hatten, die Flucht zu ergreifen, und am zerstörten Eingang des Krankenhauses angelangt waren. Die anderen mussten schon drinnen sein. Frank hoffte, niemand sei zu Brei in den Asphalt gestampft worden. Die Krater, welche der Little One hinterließ, waren so breit wie Kleinbusse, und zerquetschte Leiber würde man darin nicht einmal erkennen können.

Während das Beben noch andauerte, hatten Franks Knochenschmerzen nachgelassen. Der Little One war nun hinter dem Krankenhaus. Quebra hatte gesagt, er würde das Gebäude direkt nebenan auskundschaften, folglich musste er auf dem Dach sein. Dass er den Rachen des Monsters aus dieser Entfernung hatte treffen können, konnte er kaum glauben. Vielleicht war sein Gewehr modifiziert, aber Frank kannte sich mit Waffen nicht wirklich aus; gut möglich, dass Quebra ganz einfach ein richtiger Held war. So oder so: Jetzt war er der Gelackmeierte.

Frank sah die Silhouette des Soldaten nun auf dem Dach und konnte die andauernden Schüsse hören. Der Little One würde ihn wegklatschen wie ein Insekt. Frank hatte nicht bezeugt, wie Quebras Waffenbruder Kotz den Gnadentod gestorben war, und sich auch geweigert, bei der notwendigen Amputation des Fußes des Verletzten zu helfen. Als Chias Familie von einer einstürzenden Wand erschlagen worden war, hatte es wenig zu sehen gegeben, kurz bevor Frank von Staub und niederprasselnden Trümmern geblendet worden war. Jetzt aber würde er miterleben, wie Quebra von diesem niedrigen Dach geschmettert wurde, und dies zu sehen verdiente er auch, weil es schließlich seine Schuld war. Frank stand mitten auf der Straße, ohne sich zu rühren, und beobachtete das Ganze in einer Art qualvoller Ohnmacht.

Auf einmal rannte von gegenüber Mills auf die Fahrbahn – also von Franks Seite der Straße aus auf gleicher Höhe wie das Parkhaus – und warf etwas auf die Beine des Little Ones, das so dick wie ein Laib Brot war. Als es einen Moment später blitzte, nahm Frank an, Sonnenstrahlen brächen sich an dem Riesen, doch das konnte nicht sein, zumal der Himmel mittlerweile dunkelgrau war. Das Gewitter hatte die Stadt erreicht, und dementsprechend hielt Frank den Knall, der sich dem Gleißen anschloss, für einen Donnerschlag. Diese beiden Irrtümer huschten innerhalb einer Sekunde durch seinen Kopf, bevor ein anderer, geistesgegenwärtiger Teil seines Verstandes erkannte: Das ist eine Bombe!

Der Little One kreischte so laut, dass es die Luft zerfetzte. Er trat, nein er torkelte eher, zur Seite und starrte auf den Feuerball an seinem Schenkel. Dann erblickte er Mills.

Sie schrie – Gott, hatte sie das je getan? –, sie blieb einfach dastehen und schrie. Vor blankem Entsetzen oder eher aus blankem Trotz? Frank wusste es nicht, aber er vollzog nun mit, dass der Little One nicht lange fackelte, sondern mit einer fürchterlichen Pranke nach unten langte und die Frau so fest drückte, bis sie einfach platzte.

Chia zerrte ihn daraufhin auf das Parkhaus zu, von dessen Dach aus Mills die Gruppe zuvor provoziert hatte. Kurz sah Frank Quebra, aber dann versperrten ihm die Betonwände wieder die Sicht. Der Soldat seilte sich gerade von der Seite des Gebäudes ab, das zwar niedrig war, aber dennoch mehrere Stockwerke hoch. So Gott wollte, erreichte er den Boden, bevor der Little One wieder an ihn dachte und sich von der entleibten Frau abwenden würden, die ihm einen Sprengkörper gegen die Beine geworfen hatte. War es eine selbstgebastelte Bombe gewesen? Ob Mills so etwas hinbekommen hätte? Wer weiß? Sie war ihnen letztendlich völlig fremd gewesen, eine Lügnerin und Psychopathin, also könnte sie den Brandsatz eventuell auch für die Gruppe vorgesehen, ihn aber dann doch gegen den Giganten eingesetzt haben.

Sie war verrückt, oder sie hatte es eingesehen und so versucht, sich reinzuwaschen. Jetzt ist sie tot; du hast gesehen, wie ihr Kopf über seiner Faust hochgeflogen ist. Hör auf, zu viel nachzudenken, Frank. Brüten ist etwas für Schreiber und Träumer, aber die haben in dieser Welt keine Chance mehr.

Sie waren nun im Erdgeschoss des leeren Parkhauses angekommen, und die Decke erzitterte, als der Little One sein Getrampel fortsetzte. Betonstahl, der aus diesem und jenem Loch im Gebäude ragte, geriet in Schwingung und summte dabei wie ein Schwarm zorniger Hornissen. Chia führte Frank in die dunkelste und am schwierigsten zugängliche Ecke und dort kauerten beide nieder. Von dort zu entkommen würde letztendlich wahrscheinlich genauso misslich sein.

Frank fiel ein, dass er unbedingt wieder Luft holen musste. Die Erkenntnis des Ganzen machte die Tätigkeit selbst allerdings kein bisschen einfacher. Er hatte mittlerweile das Gefühl, seine Brust klemme in einem Schraubstock.

Durch die offene Einfahrt sahen sie den Fuß des Little Ones. Er war verrußt und, wie Frank dachte, vielleicht sogar gerissen, aber die Bombe hatte eigentlich viel weiter oben am Bein gezündet. Eine Wunschvorstellung, alter Junge und zu viel Nachdenken.

»Gib doch endlich Ruhe!«, murmelte Frank. Chia sah ihn verdutzt an. »Mein Gehirn«, fügte Frank erklärend hinzu, was zu genügen schien. Inmitten einer solchen Krise; eines so traumatischen Erlebnisses, wenn alles zäh wie in Zeitlupe oder schwindelerregend schnell ablief, war jeder Mensch, hin- und hergerissen, vermutete Frank. In seinem Fall hießen die beiden Pole Instinkt und Einbildungskraft. Er vertrat die Ansicht, beide können Leben retten, doch vielleicht stimmte es auch, dass Ersterer vermutlich das Ruder übernahm, wenn man von einem Riesenmonster gejagt wurde. Vielleicht.

Der Fuß des Little Ones war verschwunden, und sowohl der Lärm als auch die Erdstöße infolge seiner Schritte wurden langsam schwächer. Draußen plätscherten erste Regentropfen auf die Straße.

»Er sucht noch immer nach uns, anders kann ich es mir nicht vorstellen«, behauptete Chia. »Er wird zurückkommen und jedes Gebäude in diesem Block einreißen. Wir müssen irgendwie zu den anderen.«

»Mag sein, dass er sich vielleicht auch einfach verzieht«, erwog Frank.

»Der von damals hat Josie und Bryan auch verzögert umgebracht«, beharrte Chia, der jetzt richtiggehend böse war. »Er hätte es nicht tun müssen, und ihm war nicht bewusst, dass sie hinter der Mauer warteten.«

Frank nickte nur. »Okay, Chia.«

Er konnte jetzt endlich wieder unbeschwerter atmen, aber nicht, dass ihn der Alte danach gefragt hätte. Die beiden kehrten zum Eingang zurück, um hinaus auf die Straße zu schauen, und spähten in die Richtung, welche der Little One eingeschlagen hatte. Von ihm selbst war nichts mehr zu sehen, aber das schloss nicht aus, dass Chia womöglich doch recht hatte.

Wie gut, dass das Unwetter die Stadt verdunkelte, denn Frank war deutlich wohler dabei zumute, durch Schatten und Regen zu ziehen, während sie zum Krankenhaus vorstießen. Als sie näherkamen, rief jemand leise: »Hier drüben!«

Es war Autumn. Sie stand unter dem Wellblechdach der Haltebucht vor der Notaufnahme und winkte den beiden zu. Nachdem sie zu ihr gelaufen waren, betraten sie die düstere, muffige Ruine der Klinik.

Der Regen draußen trommelte wie verrückt. Autumn brachte sie in ein Voruntersuchungszimmer, in dem keine Betriebsmittel mehr lagen – sogar die Schranktüren fehlten –, und dort fanden sie alle anderen, auch Quebra. Er sah allerdings ziemlich fertig aus.

»Hey«, grüßte ihn Frank. »Danke.«

Der Soldat nickte und schlug sich mit einer Faust gegen die Brust. »Ich brauche Wasser.«

»Draußen gibt es ganz viel«, entgegnete Duckie ernst.

Daraufhin lachte und hustete Quebra gleichzeitig. »Ganz richtig, Mann.« Als er aufstehen wollte, gebot ihm Autumn Einhalt.

»Bleib sitzen«, ermahnte sie ihn. »O’Brien, hilf mir doch bitte mal beim Suchen, wir brauchen etwas, um das Regenwasser zu sammeln. Danach gehen wir wieder raus. Duckie, du auch.«

Frank und Chia ließen sich auf dem Fußboden nieder. Dodger neigte sich zu ihnen hinüber. »Diese Schlampe.«

Frank dachte, er beziehe sich auf Autumn und wollte ihn schon im Genick packen, als ihm dämmerte, dass Dodger Mills damit meinte.

»Diese Schlampe«, wiederholte der junge Mann. »Sie wollte uns in die Luft jagen, aber stattdessen hat sie den Knallfrosch auf das Monster geschmissen. Selten dämlich.«

»Was auch immer sie tun wollte: Sie hat Frank und mich dadurch gerettet«, hielt Chia dagegen, »vielleicht sogar uns alle.«

»Das konntest du aber nicht vorhersehen. Du hast sie am Leben gelassen, und sie hätte uns alle töten können.«

Chia lehnte sich zur Seite, bis kein Platz mehr zwischen Dodger und ihm war. Während er seine Stirn an die des Jüngeren drückte, erwiderte er leise und kehlig wispernd: »Wir alle haben sie am Leben gelassen. Du hättest sie selbst töten können, Mr. Hinterher, Mr. Vorbedacht. Vielleicht dachtest du ja, wir würden es nicht zulassen, hast es aber auch nicht einmal vorgeschlagen – nicht dort auf dem Freeway –, sondern erst jetzt, wo sie schon tot ist, gibst du etwas Schlaues zum Besten. Aber lass dir gesagt sein: Es ist nicht schlau, sondern einfach nur idiotisch.« Chia zog sich wieder zurück und wischte sich mit einem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

Dodger verharrte ungläubig und suchte Franks Blick.

»Was ist?«, fragte dieser in einem ruhigen Tonfall.

Nun setzte sich auch Dodger wieder gerade hin und schwieg.

***

Ein paar Stunden später hörte der Regen auf. Der aufgefangene Niederschlag brachte einen asche- und gummiartigen Nachgeschmack mit sich, tat aber trotzdem gut. Autumn, O’Brien und Duckie hatten jeden verfügbaren Behälter damit gefüllt. Frank kam nun endlich dazu, sich den Dreck aus den Haaren zu spülen und die schmutzigsten Stellen an seinem Körper zu waschen. Als das Wasser aufgebraucht war, konnte er sich beileibe nicht als sauber bezeichnen, fühlte sich aber wenigstens erfrischt.

Hinterher begab er sich mit Quebra hinaus in die Sonne. Von Mills fanden sie nicht mehr viel. Sie entdeckten ein Schuh, in dem ein Fuß steckte, aber es war eben nur ein Schuh. Quebra stieß eine rote Masse an und kam zu dem Schluss, es sei vielleicht ein Bein, doch dann entdeckten sie den Schädel – ihren blauroten, starrenden Kopf, der einfach so im Rinnstein lag.

»Begraben wir sie«, schlug Frank vor.

»Warum?«, fragte Caitlin, die ihnen gefolgt war.

Als er sich umdrehte, betrachtete sie argwöhnisch den abgetrennten Kopf. Autumn stand am Vordereingang des Krankenhauses, sah sich aber nicht bemüßigt, ihre Schwester zurückzuholen.

»Sie wollte uns umbringen, richtig?«, fragte Caitlin. »Ich meine, selbst wenn nicht, hat sie uns immerhin vorher all diese Lügen erzählt. Sie war ein schlechter Mensch.«

»Schlecht.« Frank ließ sich das Wort durch den Kopf gehen, während Quebra den Klappspaten aus seinem Rucksack öffnete. »Mag sein. Ich weiß es nicht.«

Schließlich erklärte er Caitlin: »Es geht nicht um sie. Leben hat einen Wert. Ich kann sie nicht einfach so liegenlassen. Sieh sie dir an.« Mit sie meinte er Mills’ Kopf, und den starrte Caitlin nun mehrere Augenblicke lang schweigend an.

Dann blickte sie zu Frank hinüber. »Glaubst du das wirklich, oder willst du mir nur eine Lektion erteilen?«

Er lächelte. »Gott, bist du zynisch.«

»Ich bin neunzehn Jahre alt!«

Natürlich, Neunzehnjährige dachten, sie wüssten alles. Sie hatten erfahren, dass die Welt beschissen war und der Weihnachtsmann nicht existierte ... dass ihre Eltern schon als Minderjährige Erfahrungen mit Alkohol gemacht hatten und alles von hier bis zum Nordpol so lala war. Die Welt jetzt, also nach dem Höllengänger und dem Kollaps, musste Teenager zwangsläufig in ihrem naiven Zynismus bestärken.

»Ich verstehe«, entgegnete Frank. »Das tue ich wirklich, aber … Gut, es könnte sein, dass ich dir eine Lektion erteilen will, ja. Die lautet, dass du, falls du dich nicht immer noch an eine jener dummen, rosaroten Vorstellungen vom Wert des Lebens klammerst, einen Scheißdreck hast. Schließlich besitzen wir kein Geld mehr, nicht wahr? Oder materielle Güter. Alles, was uns noch bleibt, ist das Hier und Jetzt, und Selbst das nur unter Vorbehalt. Deshalb begraben wir Mills, deshalb denken wir darüber nach, was das alles bedeutet, und haben ...«

»... etwas zu tun?«, ergänzte das Mädchen.

Es war die richtige Antwort – nicht einen Grund zum Weiterleben, wie Frank fast gesagt hätte. Ein wenig gesunder Zynismus hatte durchaus etwas für sich.

Er nickte ihr zu. »Wirst du Quebra nun helfen?«

Sie tat es. Die ganze Gruppe stellte sich um das winzige Grab herum auf, während der Soldat die Erde mit seinem Spaten festklopfte, ehe sie einen Moment lang still blieben, weil niemand etwas Gescheites zu sagen wusste.

Dann spuckte Dodger auf das Grab, womit die Lektion vorzeitig beendet war, und sie zogen weiter.

HELL WALKS - Der Höllentrip

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