Читать книгу Der Mann, der alles sah - Дебора Леві, Deborah Levy - Страница 5

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Um Jennifer für ihre Zeit zu danken, kaufte ich im Fischgeschäft sechs Austern und eine Flasche trockenen Weißwein. Die nächsten Stunden verbrachten wir in ihrem Bett, während ihre Mitbewohnerinnen, Saanvi und Claudia, nicht da waren. Es war eine winzige, dunkle Souterrainwohnung, aber ihnen allen gefiel es dort, und sie schienen gut miteinander auszukommen. Claudia war Veganerin und weichte in der Küche ständig irgendwelche Algen in einer Schüssel mit Wasser ein.

Als wir uns in voller Montur auf ihrem Bett küssten, rutschte ihr immer wieder die Pilotenkappe über die Augen, was mich richtig scharf machte. Ab und zu blitzten in meinem Kopf blaue Lichter auf, doch davon sagte ich Jennifer nichts, die mit meiner Perlenkette spielte, die ich immer um den Hals trug. Als ich schließlich meine weiße Hose auszog, bemerkte sie, dass ich auf dem rechten Oberschenkel einen großen Bluterguss hatte und beide Knie aufgeschürft waren und bluteten.

»Was ist denn nun wirklich passiert, Saul?«

Ich erzählte ihr genauer, wie ich kurz vor ihrem Eintreffen beinah überfahren worden wäre und wie verlegen ich gewesen sei, als ich das Päckchen Kondome aufhob. Sie lachte, schlürfte dann eine Auster und warf die Schale auf den Boden.

»Wir sollten in diesen Austern nach Perlen suchen«, sagte sie. »Vielleicht könnten wir dir noch eine Kette machen?«

Sie wollte wissen, warum ich so erpicht darauf war, nach Ostdeutschland zu fahren, wo seine Bürger doch hinter dieser Mauer feststeckten und die Stasi jeden bespitzelte. Vielleicht war es ja nicht sicher, dorthin zu fahren. Warum führte ich meine Forschung nicht in Westberlin durch, sodass sie mich besuchen konnte und wir in Konzerte gehen und billiges Bier trinken konnten?

Ich bin mir nicht sicher, ob Jennifer wirklich überzeugt davon war, dass ich Wissenschaftler und kein Rockstar war.

»Deine Augen sind so blau«, sagte sie, kletterte auf mich und saß rittlings auf meinen Hüften. »Es ist ganz ungewöhnlich, so tiefschwarze Haare und noch tiefblauere Augen zu haben. Du bist viel hübscher als ich. Ich möchte deinen Schwanz die ganze Zeit in mir haben. Alle in der DDR haben Angst, stimmt’s? Ich begreife immer noch nicht, wie man die Menschen eines ganzen Landes hinter einer Mauer einsperren und sie nicht ausreisen lassen kann.«

Ich roch das süße Ylang-Ylang-Öl, das sie sich immer ins Haar kämmte, bevor sie in die winzige Sauna ging, die zur Souterrainwohnung in der Hamilton Terrace gehörte. Manchmal kam ich abends nach der Arbeit hierher und hörte, wie sie sich mit Claudia und Saanvi in der Sauna unterhielt, während ich am Küchentisch die Essays meiner Studenten benotete. Wenn Jennifer dann endlich aus der Sauna auftauchte, manchmal eine Stunde später, nackt und mit ihrer selbst gemixten Ylang-Ylang-Lotion eingeölt, folterte sie mich oft, indem sie sich zurückhielt und Kamillentee aufbrühte, ein Knäckebrot butterte und sich erst dann auf mich stürzte. Ein hinreißenderes Raubtier hätte ich mir nicht wünschen können, das mich von einem Essay wegzog, in dem mein schlechtester Student zum Schluss eines der berühmtesten Zitate der Welt dem falschen Autor zugeschrieben hatte.

»Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.«

Ich strich Leo Trotzki durch und schrieb Karl Marx hin.

Ich wusste, dass mein Körper Jennifer antörnte, doch ich bekam den Eindruck (während sie meine Finger zu den Stellen führte, deren Berührung sie am meisten erregte), dass sie nicht auf die gleiche Weise an meinem Geist interessiert war. Sie fing an, mir zu erzählen, dass Künstler wie Claude Cahun und Cindy Sherman ihr mehr bedeuteten als Stalin und Erich Honecker (»Nein«, sagte sie, »hier, hier«, und ich spürte, wie sie kam). Danach lag sie neben mir (während ich ihre Finger zu den Stellen leitete, die mich am meisten beglückten), und sie erklärte, dass sie Sylvia Plath Karl Marx vorziehe, obwohl ihr die Zeile im Kommunistischen Manifest gefiel, wo vom Gespenst die Rede ist, das in Europa umgeht. »Ich meine« – sie flüsterte jetzt –, »üblicherweise geht ein Gespenst in einem Haus oder einem Schloss um, aber Marx’ Gespenst ging in einem ganzen Kontinent um. Vielleicht stand das Gespenst ja unter dem Trevi-Brunnen in Rom, um sich von der Plackerei des Herumgeisterns abzukühlen, oder es kaufte irgendeinen Protz in den Versace-Geschäften in Mailand oder besuchte ein Konzert von Nico?« Ob ich wisse, dass Nico mit richtigem Namen Christa geheißen habe (das wollte ich eben jetzt nicht wissen) und dass Nico/Christa, die in Köln geboren sei, ihr Leben lang vom Geräusch der im Krieg fallenden Bomben heimgesucht worden war? Ich wollte auch nicht wissen (und Jennifer hielt mit ihrer Berührung in einem erotisch heißen Moment inne, um zu diesem Gedanken zu kommen), dass in jedem Foto, das sie in der Dunkelkammer entwickelte, ein Gespenst steckte, und ich konnte mich nicht an die Szene im Film Der Himmel über Berlin (den wir vor Kurzem zusammen gesehen hatten) erinnern, in der einer der Engel sagt, er möchte »in die Geschichte der Welt eintreten«, doch jetzt, sagte sie, wünsche sie sich, dass ich das Gespenst in ihr sei.

Wir hatten ziemlich heftigen Sex, und danach hatte ich wirklich Schmerzen. Es war klar, dass mit meiner Hüfte, die gar keinen Bluterguss erkennen ließ, etwas nicht in Ordnung war.

Wir vertrödelten die Zeit, leerten die Flasche Wein und unterhielten uns. Nach einer Weile fragte mich Jennifer, was ich mir am meisten wünschen würde im Leben.

»Ich würde gern meine Mutter wiedersehen.«

Die Antwort war nicht allzu sexy, aber ich wusste, sie würde Jennifers Interesse wecken.

»Dann solltest du sie vielleicht besuchen.«

»Du weißt doch, dass sie tot ist.«

»Geh zum Haus deiner Familie in Bethnal Green und sag mir, was passiert.«

Sie hatte ein Stück Zeichenkohle gefunden und balancierte ein Blatt Papier auf ihren nackten Oberschenkeln.

»Ich sehe Kopfsteinpflaster und eine gotische Universität«, sagte ich.

Ihre Hand bewegte sich nicht über das Blatt.

»Ich dachte, du würdest zeichnen?«

»Na, es gibt keine gotische Universität in Bethnal Green. Ich würde lieber deine Mutter zeichnen als ein Gebäude. Vermisst du sie mehr als deinen Vater?«

Hatte man sich auf jemanden wie Jennifer Moreau eingelassen, bedeutete das Schwerstarbeit. Wir hörten die Wohnungstür zuschlagen.

»Das wird Claudia sein.« Jennifer legte meine Hand auf die Mitte des Papiers und zeichnete mit dem Stück Kohle um meine Finger herum. Ihr Schlafzimmer lag neben der Küche, und wir konnten hören, wie Claudia den Wasserkessel füllte.

Ich lag auf dem Rücken und sah einen Strauß blühender Nesseln in der Zimmerecke auf Jennifers grünem mexikanischem Schreibtisch (aus Stinkholz oder etwas mit finsterem Namen), dazu ihren Pass und einen Stapel Schwarz-Weiß-Fotos. Ich wollte Jennifer sagen, dass ich sie liebe, doch ich dachte, es könnte sie abschrecken.

Plötzlich öffnete sich quietschend die Schlafzimmertür. Claudia, die über Nacht immer Algen einweichte, war nackt, weil sie in die Sauna gehen wollte, und hatte ein pinkfarbenes Handtuch um den Kopf gewickelt. Sie gähnte, langsam, heftig, wohlig, als langweile sie die Welt unendlich, den einen Arm hatte sie über dem Kopf ausgestreckt, während die linke Hand auf ihrem flachen, gebräunten Bauch ruhte.

Ich fragte Jennifer Moreau, ob sie mich heiraten wolle. In diesem Augenblick kam es mir vor, als hätte ich gerade ein Atom gespalten. Sie beugte sich vor und folgte meinem Blick.

»Weißt du, Saul, ich glaube, es ist aus zwischen uns. Wir sollten Schluss machen, aber ich werde dir jedenfalls die Abbey-Road-Fotos schicken. Lass es dir gut gehen in Ostberlin. Hoffentlich klappt es mit deinem Visum.«

Sie legte sich neben mich auf das Kissen und zog sich die Pilotenkappe übers Gesicht, damit sie mich nicht ansehen musste.

Ich stieg aus dem Bett, leicht betrunken, und schloss die unzuverlässige Schlafzimmertür, wobei ich über die leere Weinflasche stolperte, die wir auf die zerkratzten Dielen geworfen hatten.

»Dein weißer Anzug liegt auf dem Stuhl«, sagte sie. »Kannst du dich rasch anziehen? Ich muss in die College-Dunkelkammer, ehe sie heute Abend abgeschlossen wird.«

Ich hatte den Anzug im Laurence Corner gekauft, dem Laden für Armee-Überbestände in der Euston Road. Dort hatten die Beatles in den 1960ern ihre Sergeant-Pepper-Jacken gefunden. Ich glaube, mein weißer Anzug war einmal eine Marine-Uniform, was gut passte, da mein Heiratsantrag auf den Meeresgrund gesunken war. Ich war zwischen den leeren Austernschalen mit ihren gezackten scharfen Kanten gestrandet und konnte Jennifer Moreau auf meinen Fingern und Lippen schmecken. Als ich mich neben sie auf das Bett hockte und sie fragte, warum sie plötzlich so zornig auf mich war, schien sie es nicht zu wissen oder zu verstehen oder sich darüber Gedanken zu machen. Sie war ruhig und ziemlich unterkühlt, dachte ich, als hätte sie schon eine ganze Weile darüber nachgedacht.

»Abgesehen von allem anderen hast du mich nicht ein einziges Mal nach meiner Kunst gefragt.«

»Was soll das heißen?« Ich schrie inzwischen. »Dort ist deine Kunst, sie ist an deinen Wänden, dort und dort.« Ich zeigte auf zwei an die Wände ihres Zimmers geklebte Collagen. Eine davon war eine vergrößerte Schwarz-Weiß-Fotografie meines Profils, die über dem Bett hing wie eine religiöse Ikone. Sie hatte den Umriss meiner Lippen mit rotem Filzstift nachgezogen und die Worte KÜSS MICH NICHT hingeschrieben.

»Die ganze Zeit sehe ich mir deine Kunst an.« Ich schrie immer noch. »Ich denke darüber und über dich nach. Ich interessiere mich dafür.«

»Nun, da du so interessiert bist, woran arbeite ich gerade?«

»Weiß ich nicht, du hast es mir nicht erzählt.«

»Du hast nicht gefragt. Also, welche Kamera benutze ich?«

Sie wusste, dass ich keinen blassen Schimmer hatte. Es war auch nicht so, als hätte Jennifer sich besonders für das kommunistische Osteuropa interessiert. Will sagen, sie hatte mich nicht um eine Lektüreliste gebeten, und ich warf ihr das nicht vor.

»O ja«, sagte ich, »du hast ein Negativ von mir gemacht und es dir auf die Schulter geklebt und dich in die Sonne gelegt, dann hast du es abgezogen und hattest so etwas wie ein Tattoo von mir auf deiner Haut.«

Sie lachte. »Es geht immer nur um dich, stimmt’s?«

In gewisser Weise stimmte das. Schließlich fotografierte Jennifer Moreau mich ständig.

Als die quietschende Schlafzimmertür erneut aufsprang, aß Claudia mit einem riesigen Löffel gebackene Bohnen in Tomatensoße direkt aus der Büchse.

»Jennifer« – ich flehte jetzt –, »es tut mir leid. Seit dem Tod meines Vaters habe ich nur versucht, irgendwie durch den Tag zu kommen.«

Wir konnten das Zischen des kochenden Wasserkessels auf der anderen Seite der Tür hören.

»Wie es der Zufall will«, sagte sie, sprang aus dem Bett und schlug die Tür wieder zu, »ist eine Kuratorin aus Amerika in mein Studio gekommen und hat zwei meiner Fotos gekauft. Und sie hat mir für die Zeit nach meinem Examen eine Künstlerresidenz auf Cape Cod in Massachusetts angeboten.«

Deshalb also lag ihr Pass auf dem Schreibtisch.

»Glückwunsch«, sagte ich niedergeschlagen.

Sie sah so begeistert und jung und gemein aus. Wir waren etwas über ein Jahr zusammen, doch mir war klar, dass ich ihr nicht gewachsen war. Als Erstes hatte Jennifer Moreau (französischer Vater, englische Mutter, geboren in Beckenham, Süd-London) mit mir ausgehandelt, dass sie meine erhabene Schönheit (wie sie es ausdrückte) rühmen konnte, wie sie wollte, meine Figur, meine »tiefblauen Augen«, doch ich durfte ihren Körper nie beschreiben oder meiner Bewunderung für ihn Ausdruck verleihen, außer durch Berührungen. Auf diese Weise wollte sie herausfinden, was ich alles für sie empfand und über sie dachte.

Claudia hatte jetzt den heulenden Kessel abgeschaltet. Als ich wieder auf die Wand schaute, entdeckte ich ein auf den bröckelnden Putz geklebtes Foto von Saanvi. Die Souterrainwohnung war feucht, und eine Art Pilz kroch über die Wände von Jennifers Schlafzimmer. Auf dem Foto schwitzte Saanvi auf der Seite liegend in der Sauna. Sie las ein Buch, ihre linke Brustwarze war mit einem kleinen Goldring gepierct.

»Mach dich auf den Weg, Saul. Ich weiß nicht, warum du hier noch herumhängst.«

Jennifer zog einen Kimono mit einem auf den Rücken gestickten Drachen an und fuhr mit den Füßen in ihre Lieblingssandalen, die aus Autoreifen hergestellt waren.

Sie warf mich praktisch hinaus.

Ich fummelte eine ganze Weile am Riegel des Eingangstors herum. Nie schaffte ich es durch dieses Tor – weder rein noch raus; ich hatte beobachtet, wie Jennifer und Claudia darüber hinwegsprangen, wenn sie spät dran waren für ihre Seminare. Ihre andere Mitbewohnerin, Saanvi, hatte kein Problem mit dem Riegel, weil sie geduldig war, aber Jennifer sagte, das sei so, weil sie einen Hochschulabschluss in höherer Mathematik habe und eine Menge über unbegrenzte Zeit wisse.

Die Spätnachmittagssonne tat meinen Augen weh. Meinen tiefblauen Augen. Ich drehte mich plötzlich um, weil ich das Gefühl hatte, Jennifer beobachte mich. Und so war es. Mit einer Kamera in der Hand. In ihrem Drachenkimono und den Sandalen aus Autoreifen stand sie vor der Eingangstür, noch erhitzt vom Liebesspiel mit mir, ihre linke Hand suchte in den Taschen nach den Geleebonbons, die sie immer dort hatte. Ihre Kamera war auf mich gerichtet. Während sie summte und klickte, sagte Jennifer ziemlich theatralisch: »Mach’s gut, Saul. Du bleibst für immer meine Muse.«

Einen Augenblick dachte ich, sie würde mir ein Geleebonbon zuwerfen, wie Zirkusdompteure ihren auftretenden Tieren Leckerli zuwerfen, wenn sie durch einen brennenden Reifen gesprungen sind.

»Ich lasse dir die Abbey-Road-Fotos vor deiner Abreise zukommen. Wegen deines Vaters tut es mir leid. Hoffentlich fühlst du dich bald besser, und vergiss die Dose Ananas für deinen Dolmetscher nicht.«

Die Abbey Road war zwölf Minuten zu Fuß von der Hamilton Terrace entfernt. Irgendetwas zwang mich, zum Ort des Fast-Unfalls zurückzukehren. Ich musste langsam gehen, weil ich merkte, dass ich hinkte und mein weißes Jackett an der Schulter einen Riss hatte. Jennifer Moreau war ohne Mitleid und wusste offenbar viel über mein Leben. Woher wusste sie, dass Walter Müller mich gebeten hatte, eine Dose Ananas in die DDR mitzubringen? Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich es ihr erzählt oder ob sie danach gefragt hatte. Es stimmte, dass sie mich vor drei Wochen zur Beerdigung meines Vaters begleitet hatte, sie wusste also von seinem Tod. Ihr eigener Vater war gestorben, als sie zwölf war, so wie ich beim Tod meiner Mutter. Wir hatten uns oft darüber unterhalten, wie es war, im selben Alter ein Elternteil verloren zu haben. Es war etwas Verbindendes zwischen uns, obwohl sie dachte, der Tod ihres Vaters hätte sie befreit, weil er ihr nie erlaubt hätte, die Kunsthochschule zu besuchen. Ich war mir nicht sicher, ob mich der Tod meiner Mutter befreit hatte. Nein, ich konnte nichts Gutes darin entdecken, außer dass ich nie an ihrer Liebe zu mir gezweifelt hatte, was ihre Abwesenheit zu einer noch größeren Katastrophe machte. Wie dem auch sei, das Begräbnis meines Vaters hatte an Jennifers eigenen frühen Verlust erinnert, und ich hatte ihr gegenüber einen Beschützerinstinkt empfunden. Mein gefühlloser Bruder Matthew, auch bekannt als Fat Matt (komplettes englisches Frühstück an sieben Tagen die Woche – drei englische Eier, drei englische Würstchen), hatte die Trauerfeier organisiert, ohne mich zurate zu ziehen.

Ich war stolz gewesen, die glamouröse Jennifer Moreau am Arm zu haben, mit ihrem exotischen französischen Familiennamen, dem himmelblauen Vintage-Hosenanzug und den dazu passenden Wildleder-Plateaustiefeln. Ich hatte Fat Matt und seine armselige Frau mit den zwei jungen Söhnen beobachtet, die in der Kirchenbank vor mir saßen, als wären sie die Royals der Familie, und hatte überlegt, was ich in ihren Augen so falsch gemacht haben könnte, abgesehen davon, dass ich eine Perlenkette trug.

Ich war offenbar ein weniger wichtiges Familienmitglied: unverheiratet, ohne Kinder, in die zweite Reihe verwiesen. Das erinnerte mich an die tief empfundene Einsamkeit während meiner Teenagerzeit, als Matt, der damals noch nicht fett und in den Augen meines Vaters ein bolschewistischer Held war, als Elektriker zu arbeiten begann und gutes Geld verdiente, während ich Probe-Eyeliner in der Drogerie um die Ecke ausprobierte. Als ich dann zur Cambridge University kam, konnte er ein ganzes Haus neu verkabeln, während ich meine Methoden zur Verschleierung meiner Unwissenheit perfektionierte (tiefblaue Augen helfen dabei) und das Beste daraus zu machen versuchte, dass ich als Kind der Arbeiterklasse unter den feinen Pinkeln für Aufregung sorgte wie die Katze im Taubenschlag.

Matt sprach liebevoll-würdigende Worte für unseren Vater. Als ich an der Reihe war, konnte ich, als Familienmitglied mit der höchsten Bildung, nur sagen: »Goodbye, Dad.«

Mein Bruder stimmte jedoch meiner Idee zu, dass ich einen Teil der Asche unseres kommunistischen Vaters mit mir nahm, um sie in der DDR zu begraben. Schließlich hatte er daran geglaubt.

Ich betrachtete die hohen edwardianischen Villen, die die Hamilton Terrace zu beiden Seiten säumten, während ich die lange, breite Straße hinunterhinkte und mich immer noch zu erinnern versuchte, woher Jennifer von der Dose Ananas wusste, die zu besorgen mir Walter Müller aufgetragen hatte. Hatte sie seinen Brief an mich gelesen? Stasi-Spitzel wurden als Ohren und Augen bezeichnet, Horch und Guck. Es konnte so wirken, als wären meine Augen gegenüber Jennifers Kunst verschlossen, meine Ohren taub, aber in Wirklichkeit bereitete ich fieberhaft meine Reise nach Ostdeutschland vor und bemühte mich um die behördliche Zugangserlaubnis für die Archive, die ich für meine Forschung brauchte. Die Genehmigung dafür hatte ich bekommen, weil ich versprochen hatte, mich in einem Artikel einfühlsam über das reale Alltagsleben in der DDR zu äußern. Statt auf die üblichen Kalter-Krieg-Stereotype würde ich das Augenmerk auf Bildung, Gesundheitsvorsorge und Wohnungen für alle Bürger legen. Das alles hatte ich mit meinem Vater vor seinem Tod besprochen.

»Wenn du jemals gegen einen Faschisten hättest kämpfen müssen, würdest du auch eine Mauer hochziehen, um sie draußen zu halten.«

Als ich ihn daran erinnerte, dass die Mauer errichtet worden war, um die Menschen drinnen, nicht draußen, zu halten, sagte er mir, ich sei die Marie Antoinette der Familie und die Perlenkette wäre keine Hilfe.

»Leg sie ab, Sohn.«

Seiner Ansicht nach waren Meinungs- und Reisefreiheit nicht so wichtig wie die Beseitigung von Ungleichheiten und die Arbeit für das Wohl der Allgemeinheit, aber er konnte ja auch jederzeit mit der Fähre nach Frankreich fahren, wenn er wollte, und keiner würde ihn von einem Wachturm in Dover aus erschießen. Er drückte beide Augen zu, als sowjetische Panzer 1968 durch Prag rollten, weil er offensichtlich dachte, wir wären mit Stalin verwandt.

»Die Sowjetunion ist der Pate der DDR. Die Familie muss sich umeinander kümmern und ihre Mitglieder vor reaktionären Feinden schützen.«

Yeah yeah yeah.

So wie Matt sich um seinen Bruder kümmerte, als die Jungs mich im Oberdeck des Busses an meinem Schlips zu erhängen versuchten. Meinem Vater missfiel, was Jennifer als meine »erhabene Schönheit« beschrieben hatte; aus irgendeinem Grund erregte sie bei ihm Anstoß. Und was es noch schlimmer machte, ich war körperlich schwächer als mein Bruder und trug manchmal einen orangefarbenen Seidenschlips, wenn ich mit meinem Vater ins Pub ging. Einmal hörte ich, wie er ein halbes Bitter für sich und »ein Glas Roten für die Tunte« bestellte. Der Barmann fragte meinen Vater, ob ihm Merlot recht sei, und gab mir das halbe Bitter. Als Kompromiss ließ ich die Wimperntusche weg, wenn ich zu seinen Ansprachen bei den Versammlungen der Kommunistischen Partei ging, und tauschte den orangefarbenen Seidenschlips gegen eine grüne Kappe aus Schlangenlederimitat. Wenn er in meinen frühen Teenagerjahren schlechte Laune hatte (oft), schrie er Matt in Stalin’scher Manier zu: »Hau ihn, hau ihn«, und Matt als sein Komplize boxte mich dann zu Boden. Nach dem Tod unserer Mutter war Matt dann ein ernsthafter Schläger. Er schlug einmal so zu, dass mir die Lippe aufplatzte und ich zwei tiefschwarze Augen hatte, die offenbar akzeptabler waren als meine tiefblauen Augen. Es war, als wären die Panzer meines Vaters für immer im Wohnzimmer unseres Hauses in Bethnal Green geparkt, bereit, mit ihren drohenden Kanonenrohren über meinen unwürdigen dreizehnjährigen Körper hinwegzurollen.

Goodbye, Dad. Was sollte ich auf seiner Trauerfeier sonst sagen?

Viel.

Der Unterschied zwischen meinem Vater und mir, abgesehen von meiner Bildung und den hohen Wangenknochen, war, dass ich daran glaubte, man müsse die Menschen überzeugen und nicht zwingen. Aber jetzt, wo er tot war und nicht mehr Kontra geben konnte, vermisste ich seine feste Überzeugung.

Bis zum Zebrastreifen waren es noch ungefähr sieben Minuten.

Ich musste immer mal wieder stehen bleiben, um zu Atem zu kommen. Jennifers Stimme klang in mir nach. Was ist denn nun wirklich passiert, Saul?

Ich beschloss, mir eine Notiz zu machen, damit ich die Dose Ananas nicht vergaß. Ich würde sie in Großbuchstaben schreiben und mit meinem »Zeus, der Gott der Götter«-Magneten an den Kühlschrank heften, sobald ich nach Hause kam. Als Gegengeschenk, hatte Walter Müller geschrieben, würde er mir ein Glas saure Gurken geben, das Kleinod des Ostens, eingemacht mit Fenchel und Thymian, Zucker und Essig. Ich fragte mich, ob ihm bewusst war, dass die Stasi ganz sicher seine Briefe las. Wenn Stasi-Spitzel als Augen und Ohren bekannt waren, dann schien es so, dass Jennifer mich entsorgt hatte, weil meine Ohren nicht zuhörten und meine Augen geschlossen waren, wenn es um ihre Kunst ging, und wenn ich es mir recht überlegte, und das tat ich, während ich schneller ausschritt, fiel mir nichts ein, was sie mir über ihr laufendes Projekt erzählt hätte, außer dass ich ihre Muse sei. Ich stellte auch fest, dass ich trotz der Mühe, die ich mir mit dem Aufheben der Kondome nach dem Unfall gegeben hatte, sie tatsächlich nicht benutzt hatte. Sie steckten ungeöffnet in der Tasche meines zerrissenen weißen Jacketts.

Es war seltsam tröstlich, zum Zebrastreifen auf der Abbey Road zurückzukehren. Es gab keinen Verkehr, also war es wahrscheinlich, dass die Straße schließlich doch gesperrt worden war.

Mir fiel ein, dass ich, als ich zum ersten Mal auf diesen Übergang getreten war, eine Freundin hatte und nicht hinkte. Als ich auf der Mauer vor den EMI-Studios saß, erinnerte ich mich an die Art, wie der Mann, der mich beinahe umgefahren hatte, mein Haar berührte, als würde er eine Statue oder etwas ohne Herzschlag berühren.

Während ich darüber nachdachte, kam eine Frau auf mich zu und wedelte mit einer nicht angezündeten Zigarette in ihrer Hand. Sie trug ein blaues Kleid und fragte mich nach Feuer. Ihre kurzen blonden Haare waren so hell, dass sie fast silbern wirkten. Ihre Augen waren vom hellsten Grün, wie ein am Strand angespültes Stück Glas. Ich langte in meine Tasche und fand den metallenen Zippo-Anzünder, den ich immer bei mir hatte, eine windsichere, altmodische, plumpe Version des vom amerikanischen Militär im Zweiten Weltkrieg – und später in Vietnam – benutzten Feuerzeugs. Sie packte meine Hand mit dem Feuerzeug und betrachtete die eingravierten Initialen. Ich erklärte, dass es meinem Vater gehört habe, als er noch geraucht hatte, während er sein monatliches Bad nahm. Er sei vor Kurzem gestorben, und ich würde einen kleinen Teil seiner Asche in einer Streichholzschachtel mitnehmen, um sie in Ostberlin zu begraben. Mir zitterten die Hände, während ich sprach. Ich bat sie, sich eine Weile neben mich zu setzen, was sie tat. So hockten wir auf der Mauer vor den EMI-Studios, und unsere Schultern berührten sich. Ich hörte, wie sie ein- und ausatmete. Rauch kam aus ihren Nasenlöchern, wie bei dem Drachen, der auf Jennifers Kimono gestickt war. Sie fragte mich, ob ich ein ängstlicher Mensch sei.

»Nö.«

»Dann nervös?«

Zeilen aus einem Gedicht, von dem ich nicht wusste, dass ich es kannte, kamen mir in den Sinn. Ich zitierte sie laut, für die Frau, die ihre Zigarette rauchte.

»Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch

Lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang,

Liebten und wurden geliebt …«

Sie nickte, als verhielte ich mich normal, was nicht der Fall war.

»Es stammt von John McCrae«, sagte ich. »Er war ein kanadischer Arzt, doch im Ersten Weltkrieg verpflichtete er sich als Artillerist.«

Ich wandte ihr mein Gesicht zu, und sie wandte sich mir zu, während der Wind die Plastiktüte eines Supermarkts um unsere Füße blies.

»Das ist merkwürdig«, sagte sie und stieß sie weg. »Ist Wal-Mart nicht amerikanisch?«

Wir küssten uns auf der Mauer wie Teenager, ihre Zunge war tief in meinem Mund, mein Knie zwängte sich zwischen ihre Schenkel. Als wir uns schließlich trennten, erkundigte sie sich nach meinem Parfüm. »Ylang-Ylang«, sagte ich, während sie mir ihre Telefonnummer auf die zitternde Handfläche schrieb. Als sie davonging, las ich die Worte auf dem Rücken ihres blauen Kleides. Es war eine Uniform. Ich stellte fest, dass sie Krankenschwester war und dass in dem Song »Penny Lane« eine Krankenschwester vorkommt, die Mohnblumen von einem Tablett verkauft.

Der Mann, der alles sah

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