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Kapitel 1 – Babysitting

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Ein Kind ließ einem wirklich keine Privatsphäre.

Ich war gerade mal zwei Minuten lang mit meinem Freund am Telefon gewesen, als mir meine kleine Schwester wieder am Arm zerrte. Ich unterbrach meinen Satz und schaute zu Mia hinunter. Sie stand wartend vor mir, ihre Augen voller Elan. Echt bewundernswert, welche Energie vierjährige Kinder aufbrachten. Ich fühlte mich mit meinen achtzehn Jahren schon alt neben ihr.

»Moment, Schatz«, sagte ich und meinte damit sowohl meinen Freund als auch meine Schwester. Ich legte einen Arm um Mia und sagte rasch in mein Handy: »Okay, Nate, tut mir leid, ich muss auflegen. Mia ruft. Meldest du dich heute Abend nochmals?«

»Okay, ich ruf dich später wieder an«, versprach Nate verständnisvoll. »Ich liebe dich. Bis dann.«

»Ich liebe dich auch«, erwiderte ich noch, dann legte ich auf und verstaute das Handy in der Hosentasche. »Okay Mia, was ist denn?« Nun widmete ich mich wieder voll und ganz meiner Schwester. Es war ja nicht so, dass ich sie vernachlässigte oder eine dieser Schwestern war, die ständig mit dem iPhone neben dem gelangweilten Kind herumlief. Aber Nate war soeben in die Ferien gereist und hatte mir mitteilen wollen, dass er gut angekommen war. Dennoch, Mia benötigte wieder meine vollständige Aufmerksamkeit.

Wir waren an einem Spielplatz im örtlichen Park angelangt, wo ich mit ihr den Nachmittag verbringen wollte. Wie jeden Montag um zwei Uhr nachmittags hatte ich Mia vom Tagesheim abgeholt. Doch im Unterschied zu gewöhnlichen Montagen hatte ich diese Woche die volle Verantwortung für meine kleine Halbschwester, da meine Eltern – beziehungsweise meine Mutter und ihr Mann – in den Flitterwochen waren. Also hatte ich mich bereit erklärt, auf meine Schwester aufzupassen. Doch ich liebte Mia über alles, solange sie nicht erwartete, dass ich dieselbe unerschöpfliche Energie besaß wie sie. Daher hatte ich meiner Mutter gerne angeboten, auf die Kleine aufzupassen. Ich fand, Flitterwochen gehörten zu jeder Hochzeit und die beiden sollten sich mal eine Auszeit gönnen. Diese Woche hatte ich Glück, da zurzeit Sommerferien waren. Einerseits hatte ich selbst genug Zeit und andererseits war der Spielplatz nicht so hoffnungslos überfüllt wie an anderen Tagen – viele Kinder waren wohl in den Urlaub gefahren.

»Möchtest du auf die Rutsche?«, fragte ich die Kleine. Noch hatte ich Energie, es war erst Mittag.

Mia nickte mit wild hüpfenden Haaren. Sie hatte blonde Löckchen, die wahrscheinlich in den nächsten Jahren glatter werden würden. Auch ich hatte als Kind Locken gehabt – jetzt waren meine Haare eher glatt, zu meinem Stolz aber immer noch natürlich blond. »Jaaa, du musst mich aber auffangen!«, verlangte sie.

Ich willigte ein und wir rannten zu der Rutschbahn. Der Spielplatz war weitläufig und hatte alle möglichen Arten von Spieleinrichtungen, von den Klassikern wie Rutschbahn und Schaukel bis hin zu speziellen Klettervorrichtungen, deren Namen ich nicht kannte. Nun half ich meiner Schwester auf die Rutschbahn und wartete unten, bis sie ankam und sich in meine Arme warf. »Huch«, machte ich spaßeshalber. »Hast aber Glück, dass ich hier stehe, hm?«

Mia giggelte nur. Sie wusste genau, dass es kein Glück war. Wir wiederholten das Ganze mindestens zehn Mal, ohne dass es Mia langweilig wurde. Und ich hatte meinerseits Freude an ihrer Freude. Die Sonne schien angenehm warm, ein perfekter Tag, um draußen zu sein, fand ich. Ich liebte es, bei schönem Wetter in der Natur zu sein, selbst wenn es nur ein Park war. Neben uns war eine Großfamilie und weiter hinten sah ich eine modisch gekleidete Jugendliche mit einem kleinen Kind. Es war eher ungewöhnlich, hier junge Leute zu treffen, und mein Blick schweifte erneut zu der Frau. Ich fragte mich regelmäßig, wo all die Babysitter und Jugendmütter hingingen - bei dem Spielplatz hier hielten sie sich jedenfalls kaum auf. Außer ebendiese junge Frau weiter hinten.

Mia wollte im Nachhinein auf die Schaukel und wir wechselten dorthin. Doch auf halbem Weg blieb sie stehen und deutete mit dem Finger vor sich. »Oh, schau mal, ein Ball!«

Ich runzelte die Stirn und folgte ihrem Finger. Da war die modische Frau mit einem brünetten Kind etwa in Mias Alter, mit einem aufgeblasenen Ball spielend. »Ja, sie spielen Ball.«

»Kann ich auch?«, fragte Mia und schaute mich mit großen Augen an.

Ich lächelte. »Mia, der Ball gehört dem anderen Mädchen. Wir können ihn nicht einfach nehmen.«

Mia zog eine Schnute. »Wieso können wir nicht mitspielen?«

Ich schaute zu den beiden hinüber, sie sahen eigentlich ganz freundlich aus. »Möchtest du das Mädchen fragen gehen?«, fragte ich Mia in der Hoffnung, dass sie mir die Sache abnahm. Kinder hatten da weniger Hemmungen.

Mia hüpfte glücklich. »Jaa!«

Sie lief schon auf das kleine Mädchen zu und ich schaute ihr schulterzuckend hinterher, ebenfalls in die Richtung schlendernd. Wenn sie fragen wollte, war ja wohl nichts Falsches daran. Mia wurde langsamer, nun doch etwas unsicher, je näher sie bei dem Kind war. Sie schaute kurz zu mir und ich lächelte sie aufmunternd an. Die junge Frau, etwa in meinem Alter, warf ihrem Mädchen gerade den Ball zu. Die Kleine fing ihn nicht, sondern er rollte an ihren Füssen vorbei … genau auf Mia zu. Diese hob nun den Ball auf und brachte ihn in kleinen Schritten zu dem anderen Mädchen zurück. »Kann ich auch mitspielen?«, fragte sie dabei schüchtern.

Ich lächelte gerührt in mich hinein. Meine Mia.

Das kleine Mädchen schaute Mia erst ausdruckslos an, dann tauschte sie einen Blick mit ihrer Begleitung. Die junge Frau nickte ihr zu, um ihr mitzuteilen, dass sie Ja sagen sollte. Schließlich stimmte das Mädchen zu und machte einen ungeschickten Versuch, Mia den Ball zuzuwerfen. Die beiden Kinder begannen augenblicklich zu spielen.

»Ist das deine?«, fragte die junge Frau und lächelte mich an. »Sie ist ja süß.«

Ich schaute sie an. Ihre Stimme war tiefer, als ich es erwartet hatte, doch irgendwie gefiel es mir. »Sie ist meine Schwester, ja«, bestätigte ich, nicht sicher, ob sie mich für eine Teenagermutter gehalten hatte. »Bei dir?« Die junge Frau hatte feine, asiatische Gesichtszüge, während die Kleine eher europäisch wirkte. Daher tippte ich nicht auf Schwester – höchstens Halbschwester.

»Ich passe nur auf Jenny auf, sie wohnt hier in der Nähe«, erwiderte die Jugendliche lächelnd. Sie streckte mir die Hand hin, am Zeigefinger trug sie einen dünnen Ring. »Ich heiße Louisa. Und du?«

Ich nahm überrascht ihre Hand. Sie war angenehm warm. »Freut mich, ich bin Jessica.« Kurz schaute ich zu Mia und Jenny, doch die beiden spielten vergnügt mit dem Ball und schienen uns nicht weiter zu benötigen. »Ich passe ebenfalls auf Mia auf«, fügte ich lachend hinzu. Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte.

»Kann anstrengend sein, hm?«, meinte Louisa dann mit dem Blick auf die spielenden Kinder. Es schien, als ob sie Erfahrung damit hatte. Sowieso schien sie sich völlig wohl zu fühlen in der Konversation, als spräche sie jeden Tag mit Fremden auf dem Spielplatz. Es war ja nicht so, dass ich das nicht konnte, aber dennoch war ich immer etwas ungeschickt bei neuen Bekanntschaften.

Ich nickte. »Du sagst es«, meinte ich seufzend. Kurz dachte ich an Nate. Es war schwer, mit ihm zu telefonieren, währenddem die Kleine nebenan war ... Und das würde sich im Verlauf der Woche kaum ändern. »Ich hatte gerade mal zwei Minuten am Telefon heute.«

Louisa warf mir einen Blick zu. »Ein wichtiger Anruf?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wie man’s nimmt. Mein Freund hat aus dem Urlaub angerufen.«

Etwas in ihren Augen regte sich. »Ach so, verstehe«, meinte sie. »Wenn du möchtest, kannst du ihn schnell anrufen? Ich behalte die beiden im Auge.«

Ich schaute das Mädchen verblüfft an. »Wirklich?«, fragte ich blöderweise nach.

Louisa lächelte. »Ja, klar.«

Ich lächelte, plötzlich ungemein erleichtert. Hastig warf ich Mia einen Blick zu, aber sie war voll und ganz auf das Ballspiel konzentriert. »Vielen Dank. Ich benötige auch nicht lange«, versicherte ich Louisa und entfernte mich ein paar Schritte. Währenddessen holte ich mein Handy hervor und wählte Nates Kontakt. Er war entsprechend überrascht, dass ich anrief, freute sich jedoch darüber. Wir unterhielten uns nochmals etwas ausführlicher über seine Reise und dann kurz über meinen Tag. Immer wieder warf ich Louisa und den beiden Kleinen einen Blick zu, doch sie schienen mich nicht zu brauchen. Ich bemerkte, dass Louisa mich ab und an anschaute. Nach etwa fünf Minuten verabschiedete ich mich wieder von Nate und wir versprachen einander, dass wir schreiben würden. Dann legte ich zufrieden auf. Es war nicht so, dass diese fünf Minuten die Welt ausmachten, aber dennoch war es ein anderes Gefühl, ein vollständiges Gespräch führen zu können und nicht mitten im Satz abbrechen zu müssen. Auf diese Weise hatten wir beide loswerden können, was uns wichtig war. Zufrieden ging ich zurück zu Louisa. »Da bin ich wieder.«

Louisa warf mir ein Lächeln zu. Sie wirkte wie jemand, der viel lächelte. Überhaupt wirkte sie wie eine offene Person und ich fühlte mich augenblicklich wohl in ihrer Anwesenheit. »Wie heißt er denn?«, wollte sie nun wissen.

»Nate«, erwiderte ich und fügte nach einer Pause ungefragt hinzu: »Ich kenne ihn sozusagen vom Kino.«

Louisa runzelte amüsiert die Stirn. »Blind Date, meinst du?«

»Nein, ich arbeite an der Kinokasse.« Ich lachte. »Daher war unser erstes Date schon vorprogrammiert.« Ich erinnerte mich noch gut daran, auch wenn es schon eine Weile her war.

Jetzt lachte Louisa auch. »Das ist ja praktisch. Seid ihr schon la-« Sie unterbrach ihren Satz, als ein Ball auf sie zuflog. Reflexartig packte sie das Wurfgeschoss, bevor es in ihrem Gesicht landen konnte. »Jenny!«, rief sie tadelnd. Das kleine Mädchen kam auf sie zu gerannt und als sie sah, was passiert war, brach sie in Gekicher aus. Ich verkniff mir das Lachen angesichts der Reaktion von Jenny. Louisa versuchte, ernst zu bleiben, aber ich konnte an den Grübchen sehen, dass sie ebenfalls lachte. Sie beugte sich zu dem Mädchen hinunter. »Ja ja, mach dich nur lustig über mich. Hier hast du den Ball wieder.«

Jenny nahm ihn giggelnd entgegen. »Danke Lou.« Dann warf sie ihn wieder in Mias Richtung, welche den Ball nicht fing und ihm stattdessen hinterhereilte.

Ich kicherte. »Sie scheint lustig zu sein.«

»Ja, das ist sie wirklich.« Louisa schmunzelte. »Ein wenig aufgedreht ebenfalls.«

»Na, dann passt sie ja perfekt zu Mia.«

Louisa warf mir einen amüsierten Blick zu, brauchte jedoch ein paar Sekunden, um zu antworten. »Wie würdest du Mia denn beschreiben?«, wollte sie wissen.

Mein Blick glitt wieder zu meiner kleinen Schwester. Allein wenn ich sie ansah, spürte ich, wie sehr ich sie liebte. »Sie ist sehr lieb«, beteuerte ich und lächelte. »Sie ist meistens großzügig, aber manchmal auch frech, wenn sie ganz dringend etwas braucht. Schokolade zum Beispiel.«

»Das gehört dazu.« Louisa musterte mich. Ich trug eine graue Bluse, die ich in einen schwarzen Jeansrock gesteckt hatte. Ich trug selten Farben. »Du hast doch sicher auch freche Seiten?«

Ich warf ihr ein Lächeln zu. »Ist es nicht schon unglaublich anmaßend, dass ich dir einfach Mia aufdränge?«

»Doch, eigentlich gehört sich das absolut gar nicht, Jessica«, erwiderte Louisa kopfschüttelnd. »Ich erwarte mindestens einen Kinoeintritt von dir.«

Ich lachte herzlich. »Ich geb´ dir Bescheid«, versicherte ich ihr zwinkernd und ich meinte es sogar ernst. Wenn wieder ein guter Romantikfilm lief, könnte ich tatsächlich mal einen Mädchenabend planen … Und Louisa wirkte wie eine tolle Frau. Sie schien die Art von Person zu sein, die jedem das Gefühl geben konnte, man selbst sein zu können. Kurz schaute ich sie genauer an und auf einmal spürte ich Nervosität in mir aufkommen. Sollte ich sie um ihre Nummer fragen? Als ich aufschaute, merkte ich, dass sie mich ebenfalls betrachtet hatte. Louisa selbst trug eine zerrissene Jeans, die jedoch stylisch aussah und bestimmt von guter Qualität war. Oben hatte sie ein gestreiftes Frauenhemd an, das ihr gut stand und gerade so weit offen war, dass man nicht zu viel und nicht zu wenig Dekolleté sah. Doch bevor der Moment seltsam werden konnte, unterbrachen wir den Blickkontakt und schauten wieder unseren »Kindern« zu.

»Mist«, sagte Louisa plötzlich. Ich schaute zu ihr. »Es ist schon nach vier Uhr. Jenny müsste längst bei ihrer Mutter sein.«

Ich hob die Augenbrauen. »Oh! Kriegst du Ärger?«

»Ich denke nicht, aber ich muss jetzt gehen.« Louisa warf mir einen gehetzten Blick zu. »Tut mir leid.«

»Musst dich nicht entschuldigen«, erwiderte ich schnell. Ich folgte ihr zu Jenny und Mia, um ihr zu helfen, die beiden zu trennen. Ich erklärte Mia, dass Jenny gehen musste und wir noch ein bisschen bleiben würden. Die beiden Mädchen schienen sich echt zu mögen und es war entsprechend schwer, ihnen die Situation klar zu machen.

»Mia, wir werden uns ja wieder treffen«, versicherte ich meiner enttäuschten Schwester. Auch ich selbst würde gerne weiter mit Louisa reden und freute mich daher auf ein Wiedersehen. »Aber jetzt muss Jenny wieder zu ihrer Mama nach Hause, weißt du? Sonst macht sich die Mama Sorgen.«

Mia schaute mich aus großen Augen an und stimmte endlich zu. Sie umarmte Jenny umständlich und meinte zu ihr, dass sie zu ihrer Mutter müsse, da sich diese sonst sorgte. Louisa lächelte gerührt. »Sie ist so süß«, meinte sie leise zu mir und nahm Jenny in den Arm. Dann verabschiedeten wir uns und ich schaute Louisa noch nach, wie sie mit Jenny den Spielplatz verließ. Und erst, als sie außer Sichtweite waren, fiel mir auf, dass ich ihre Nummer nicht hatte. So ein Mist.

Es war beinahe Schicksal, dass wir uns am nächsten Tag wieder trafen.

Ich traute meinen Augen kaum, als ich mit Mia durch den Park lief und plötzlich eine junge, hübsche Asiatin mit einem kleinen, brünetten Kind sah. Ich konnte meine Aufregung nur schlecht verbergen. »Hey, Louisa!«, rief ich, als wir in Hörweite waren.

Louisa wandte augenblicklich den Kopf und als sie mich sah, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Etwa zur selben Zeit entdeckten sich Jenny und Mia. Automatisch bewegten wir uns aufeinander zu. Mia begann, aufgeregt in Richtung Jenny zu hüpfen und ich beschleunigte entsprechend meinen Schritt, um mit meiner Schwester mithalten zu können.

»Jenny, Jenny!«, rief sie in regelmäßiger Wiederholung.

Louisa umarmte mich zur Begrüßung wie eine alte Freundin. Ohne große Besprechung stand fest, dass wir den Nachmittag zusammen verbringen würden.

Zwei Stunden später befanden wir uns auf einer abenteuerlichen Wanderung am schmalen Ufer eines Flusses entlang. Der Fluss war eigentlich eher ein breites Rinnsal mitten im Kinderpark und das Ufer ein Trampelweg, aber es war dennoch Wasser und daher hochinteressant für die beiden Kleinen. Wir schlenderten also dem Bächlein entlang und passten auf, dass keines der Mädchen ins Wasser fiel. Louisa und ich waren in eine Unterhaltung vertieft, die nur gelegentlich unterbrochen wurde, wenn unsere Kleinen stehen blieben. Jenny und Mia gingen ein paar Schritte vor uns und hielten alle paar Minuten an, um etwas vom Boden hochzuheben oder einem Fisch im Wasser hinterherzusehen.

Abrupt machte Louisa einen Sprung auf Jenny zu, die aus irgendeinem unerklärlichen Grund entschieden hatte, dass sie sich in den Bach setzen müsste, und zog das Mädchen wieder hoch. Dabei trat sie selbst aus Versehen ins Wasser und wurde durch das sich bewegende Mädchen aus dem Gleichgewicht gebracht. Ehe sie es sich versah, rutschte sie aus und landete im Rinnsal. Ich versuchte bestürzt, sie aufzufangen, doch es war zu spät. Sie saß mitten im Nass, das zu allem Übel auch noch voller Erde und sonstigem Dreck war.

»Oh Mist, Louisa!«, entfuhr es mir. »Alles okay?«

Ich beugte mich zu ihr herunter und fasste sie am Arm.

Louisa lachte halb, halb fluchte sie. »Mir geht’s gut, danke. Iiih, meine Hose. So ein Mist!« Sie ließ sich von mir aufhelfen und schaute dann angeekelt ihre Jeans an, sich immer noch an mir festhaltend. Die Hose war einst von einem hellen Blau gewesen, doch jetzt war sie von Schlamm überzogen und das linke Bein war komplett nass. Mit einer Hand versuchte sie, die Jeans zu säubern, bewirkte aber eher das gegenteilige Ergebnis; der Schlamm verbreitete sich noch mehr auf dem Hosenbein. Mia hatte zum Glück den Anstand, nicht zu lachen.

Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass sie schöne lange Beine hatte. »Hast du irgendwas zum Wechseln dabei? Und bist du dir sicher, dass du dir nicht wehgetan hast?«

»Ja, ich bin wirklich unverletzt, danke Jessica«, beteuerte Louisa und warf mir ein fast schon gerührtes Lächeln zu. Dann schüttelte sie jedoch bekümmert den Kopf. »Aber ich hab´ nichts zum Wechseln da und muss nachher direkt in eine Vorlesung zur Uni …« Sie zog die Augenbrauen zusammen, in Gedanken nach einer Lösung suchend. »So ein Mist, ich kann unmöglich dazwischen nach Hause! Da brauche ich eine Stunde hin und zurück.« Jenny stand betreten neben Louisa und schien zwischen Schuldgefühlen und Belustigung zu schwanken.

»Hey, alles gut, wir finden eine Lösung«, sagte ich sofort beschwichtigend. Ihr verzweifelter Anblick löste einen Beschützerinstinkt in mir aus. Ich bemerkte, dass wir immer noch unsere Arme hielten, und ließ sie vorsichtig los. »Ich wohne nicht so weit weg von hier. Du kannst eine Hose von mir haben.« Ich betrachtete sie nochmals etwas genauer, um zu sehen, ob wir dieselbe Größe trugen. Wir waren beide schlank, aber Louisa hatte längere Beine als ich. Andererseits war ich etwas größer als sie, daher könnte sich das wieder ausgleichen.

Louisa schaute mich aus großen Augen an. »Oh, wirklich? Könntest du mir eine ausleihen?«, fragte sie hoffnungsvoll und auf einmal ein wenig scheu.

»Natürlich«, versicherte ich ihr. Das war wirklich kein Problem, und dabei könnte ich sie vielleicht nach ihrer Nummer fragen, um das nächste Treffen besser vereinbaren zu können … und mit ihr ins Kino zu gehen.

Also machten wir uns auf den Weg zu mir nach Hause, damit Louisa die schmutzige Hose loswerden konnte. Vor meinem Kleiderschrank merkte ich, dass wir einen einigermaßen ähnlichen Style hatten. Zwar trug Louisa mehr Farben und kombinierte die Dinge anders, aber wir trugen beide Jeans, Blusen und Hemden. Nur mochte Louisa im Gegensatz zu mir keine Röcke, wie ich bemerkte, als ich ihr einen anbieten wollte.

Vehement wehrte sie ab, als hätte ich ihr ein Dirndl und orange gepunktete Strümpfe hingehalten.

»Okay, dann finden wir eine Jeans«, meinte ich amüsiert und schaute meine Jeansauswahl an. Diejenige von Louisa war eine verwaschene Bluejeans gewesen und ich suchte eine heraus, die ebenfalls verwaschen war. Zwar war meine dunkler, aber es ging ja jetzt nicht um Umstyling, sondern um eine Ersatzhose.

»Vielen Dank, die ist perfekt«, bedankte sich Louisa, als ich ihr die Jeans hinhielt.

»Was anderes darfst du über meine Jeans auch nicht sagen«, erwiderte ich zwinkernd und schloss den Schrank wieder.

Louisa schaute mich kurz zögernd an, dann drehte sie mir den Rücken zu und zog ohne Scham ihre Hose aus. Wir waren in meinem Zimmer und die beiden Kleinen hatten wir ins Wohnzimmer zu Mias Spielsachen gesteckt, damit wir für ein paar Minuten unsere Ruhe hatten. Ich bemerkte, dass Louisa wohl Sport machte, da sie sowohl definierte Bein- als auch Armmuskeln hatte. Ihr Hautteint war milchschokoladenfarben, der sich mit dem hellen Hemd, das sie trug, schön hervorhob. Sie schlüpfte in meine Hose und drehte sich um, noch während sie den letzten Knopf zumachte. Ich betrachtete sie von oben bis unten. »Steht dir gut«, sagte ich und meinte es auch so. Wir hatten tatsächlich eine ähnliche Kleidergröße und die Jeans betonte ihre schlanke Figur.

»Danke.« Louisa schmunzelte und klang beinahe überrascht über mein Kompliment.

Eine Sekunde lang schauten wir uns stumm an. Dann hörte ich hüpfende Schritte vom Gang her und es war klar, dass der Moment vorüber war.

»Jessiiiee, wo bist du?«

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