Читать книгу Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat - Demian Lienhard - Страница 10

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Fünf

Morgen ist heute. Wenn sich einer einmischt in etwas, wo er nicht hingehört: Das ist das Problem. Die Zukunft ins Jetzt.

– Morgen gehst du wieder zur Schule, sagte meine Mutter und hielt mir das Thermometer hin: – 36,5 Grad, sagte sie.

Dieses Morgen ist jetzt.

Gestern habe ich gesagt: – Okay.

Aber heute ist alles anders. Auch das Problem, weshalb ich nicht zur Schule gehen kann, ist ein anderes. Aber es bleibt eines. Und deswegen will ich nicht.

In dreißig Minuten fängt die erste Stunde an. Wenn sich bis dann die drei Pickel nicht vollständig dahin zurückgezogen haben, wo sie hergekommen sind, setze ich keinen Fuß vor die Tür.

Nach dem Aufstehen leuchten mir die Dinger im Spiegel entgegen wie Pistenfeuer. Drei Stück, auf der linken Wange. Ich kneife die Augen zusammen. Aber das hilft nicht. Sie sind noch immer da. Eins, zwei, drei. Groß und rund und prall. Das Ende einer gottverdammten Fonduegabel.

– Du übertreibst, sagt meine Mutter.

Da hat sie recht.

– Stecknadelköpfe, sage ich.

Meine Mutter lässt das Brot aus der Hand fallen. Es bleibt auf dem Teller liegen, mit der bestrichenen Seite nach unten. Als sie es aufhebt, liegt die Marmelade in gekräuselten Wellen über der Butter. Dazwischen kleben hellbraun die Brosamen.

Meine Mutter seufzt.

– Alba, du hast doch jetzt schon eine ganze Woche gefehlt.

Das stimmt. Die Sache ist nur: Wenn deine Fieberkurve nach oben ausschlägt wie ein durchbrennendes Pferd, kannst du dich trotzdem ins Klassenzimmer setzen. Ich meine, das macht keiner und ich schon gar nicht. Aber du kannst. Und die Leute, die finden das gut. Deine Mutter findet das gut, der Lehrer findet das gut, sogar die Klasse findet das gut. Du schluckst eine Ponstan 500, die mit der hübschen Kerbe in der Mitte, und setzt dich ins Klassenzimmer. So einfach geht das. Mit Pickeln nicht.

Aber das sage ich nicht. Ich sage:

– Wenn du die Leute rausholst aus dem Tal, weil der Staudamm einen Riss hat, und dann reparierst du ihn und setzt einen Termin fest für die Leute, damit sie wieder zurückkehren können, wenn dann kurz vorher der Damm bricht, weil Unwetter ist oder irgendein Verrückter draufgeschossen hat mit seiner Panzerfaust, hältst du dann immer noch an deinem Termin fest?

Der sitzt. Bestimmt. Wenn nicht, dann weiß ich auch nicht.

Na ja.

Meine Mutter schüttelt den Kopf.

– Was sollen denn die Lehrer denken?

– Was die denken sollen? Das ist denen doch so egal wie der Weltmarktpreis für Yakbutter …

Meine Mutter springt auf und stößt den Tisch von sich weg.

Sie brüllt:

– Dass du schwänzt, und dass ich dich schlecht erzogen habe, das denken sie!

Gut, das tut sie nicht wirklich, aber ich weiß, dass sie das denkt, und sie stößt auch den Tisch nicht weg. Nur ihre Lider fangen zu beben an, und ihre Lippen tun es. Was andere Menschen die Mienen durcheinanderwerfen lässt im ganzen Gesicht, führt bei meiner Mutter nur gerade dazu, dass sich ihr der Mund kräuselt und um die Augenwinkel die Haut. Damals zumindest noch.

Und dann sagt meine Mutter das, was sie immer sagt, wenn sie gleich platzt vor Wut.

– Alba, sagt sie, Alba …

Meinen Namen sagt sie.

Sonst sagt sie nichts.

Also. Es ändert sich nichts an der Tatsache: Meine Mutter besteht darauf, dass ich in fünfzehn Minuten das Haus verlasse.

Ich meine, diese gelben Dinger und der rote Krater ringsum. Vielleicht, dass sie einem Farbenblinden nicht aufgefallen wären. Aber Marcel ist nicht farbenblind. Und damit ist die Sache ausdiskutiert.

Marcel. Damals, vor einem Jahr oder anderthalb, gehörte er zu den Kleinsten seiner Klasse. Aber als er zu uns kommt, fängt das mit dem Wachstum an. Er wächst und wächst und wächst und will gar nicht mehr aufhören damit. Er ist jetzt größer als alle anderen, die Lehrer eingeschlossen. Mit Marcel ist es so: Du schaust ihn an und denkst: Mann, ist der groß geworden. Und dann schaust du kurz weg, und wenn du wieder dahin blickst, wo eben noch seine Augen waren, schaust du auf einen zuckenden Adamsapfel. So schnell geht das. Man hat das Gefühl, Marcel ist sich selbst über den Kopf gewachsen.

Marcel kümmert sich um gar nichts. Die Schule ist ihm egal. Und die Lehrer – erst recht. Seine Baumwolltrainerhosen trägt Marcel weiterhin, da kann der Rechsteiner noch lange herumfranzen an der Wandtafel vorne. Marcel sagt dann den einzigen Satz, den bis jetzt nicht einmal die drei Öfen pro Tag aus seinem Kopf gekriegt haben: – Je ne comprends pas. Er spricht dabei ziemlich vorsichtig und etwas unbeholfen, tastet sich Wort für Wort vor, als sagte er den Satz zum ersten Mal. Und der Rechsteiner streckt die Waffen.

Jedenfalls: Mit der französischen Sprache hat’s Marcel nicht so. Aber mit der deutschen dafür umso mehr. Reden kann der Marcel, da kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und gleichzeitig gut aussehen dabei. Das Sprechen, das ist ihm angeboren. Und das werfen ihm auch die Lehrer vor. Wiederholen haben sie ihn lassen. Erst Anfang August ist er zu uns gekommen, die Dritte macht er jetzt zum zweiten Mal. Fragt sich nur, wie lange noch. Denn: Des Wortwitzes wegen krümmt er gerne mal die Wahrheit. Daher auch das mit den Noten.

– Die heißen so, sagt er, – weil sie notwendig sind, verstehst du?

Ich nicke. Klar verstehe ich. Und ich verstehe auch, dass ich, wenn Marcel meine Mutter wäre, ganz sicher nicht mit drei Sprengkörpern im Gesicht zur Schule gehen müsste. Allerdings – es gäbe in diesem Fall auch weniger Anlass zu schwänzen, weil es dann keinen Marcel in der Schule gäbe. Und ich mit dem Marcel daheim nicht das …, was ich eigentlich …

Ja.

Also: Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Der Vorschlag meiner Mutter fällt da nicht hinein.

Entweder drücke ich meine linke Gesichtshälfte während neun Lektionen gegen die Wand oder: Ich bleibe zu Hause. Ich entscheide mich für Letzteres. Ich bin Realistin, muss man wissen.

Das kann man von meiner Mutter leider nicht behaupten. Aber das ist es nicht, was mich beunruhigt. Es ist etwas anderes: Sie will mich zur Schule fahren.

– Nicht, dass du dir gleich wieder was einfängst auf dem Weg, sagt sie und legt mir den blau-gelb gestreiften Wollschal um den Hals, streicht mir übers Haar und schiebt mich hinaus in die Dunkelheit, damit ich das Tor schließen kann, wenn sie aus der Garage gefahren ist.

Vielleicht ist sie wirklich etwas in Sorge, aber vielleicht befürchtet sie auch einfach, dass ihre Tochter genau das vorhat, was sie nämlich vorhat: pünktlich die Wohnung zu verlassen und genauso pünktlich nicht zum Unterricht zu erscheinen.

In ihrer Bestürzung, dass man das Autonome Zentrum in Zürich geschlossen hat, ist eine junge Frau an einem Freitagmorgen zum Bellevue gegangen, hat sich mit Benzin übergossen und angezündet. An jenem Nachmittag, an dem sie im Krankenhaus an ihren Verletzungen starb, habe ich Marcel kennengelernt. Das war vor sechs Wochen. Das heißt, ich kenne Marcel vielleicht seit fast einem halben Jahr, aber kennengelernt habe ich ihn erst an jenem Freitag.

Vorher wusste ich nur, dass er sitzengeblieben war und dass er sich angeblich zusammen mit Albert Hofmann höchstpersönlich einen LSD-Trip geschmissen hat oben auf der Allmend. Jetzt weiß ich, dass er Bananen liebt, die so braun sind, dass es für die Gesundheit bedenklich wird, dass er Olympic Decathlon, Space Invaders und Battlezone spielt und dass das mit dem Trip Quatsch ist. – Das war gar nicht auf der Allmend, sagt er, – sondern drüben auf dem Chrüzliberg.

Ich würde sagen, die beiden wollten’s wissen. Ganz schön gefährlich mit all den Felsabbrüchen ringsum.

Die Sache mit Marcel war ziemlich heikel, weil: Ich bin nicht so der Typ, der dem anderen einfach einmal die Hand hinstreckt und sagt: – Hei, ich bin Alba, wie geht’s denn so? Also warte ich, bis sich Franz mit ihm angefreundet hat und stelle mich dann, während der Pause, unauffällig in die Runde. Und als Franz einen Witz reißt, den ich vergessen habe, sage ich … Das habe ich auch vergessen, und zwar deshalb, weil jetzt genau das geschieht, was mich hat vergessen lassen, was ich zuvor gesagt habe: Marcel schaut mich an, schiebt die aufeinandergepressten Lippen vor und nickt anerkennend. Und dann zeigt er seine riesigen Zähne, groß und vom Rauchen verfärbt wie von einem alten Klavier die gelben Tasten, und ein Röhren und Glucksen kommt ihm aus der Kehle, als hätte man irgendwo in der Gegend eine Hirschkuh angefahren und am geteerten Rand liegen gelassen, ohne dem Wildhüter Bescheid zu sagen. Sofort weiß ich: Den Typen werde ich lieben bis ans Ende meines Lebens. Und so falsch lag ich damit gar nicht.

Also: Ein Vierteljahr warten und dann gut anderthalb Monate harte Arbeit, da denke ich gar nicht erst daran, mir an einem einzigen Tag alles wieder zunichte zu machen.

Sicher, meine Mutter fährt mich zur Schule. Aber ich, ich habe vorgesorgt. Ich lasse mich nämlich an der Bushaltestelle beim Altersheim absetzen, halte ihr das präparierte Absenzenheft unter die Nase, damit sie ihre Unterschrift draufsetzen kann, und danach, hinter dem Erdwall, geht’s ab durch die Hecken: auf dem Trampelweg durchs Dickicht hinter dem Sportplatz, dann in einem großen Bogen hinab zum Schloss, über die hölzerne Brücke und wieder hinauf in die Stadt.

So stelle ich mir das zumindest vor. Aber der Plan haut nur gerade hin bis zum Punkt mit dem Absenzenheft. Meine Mutter nämlich setzt ihre Unterschrift drauf, kratzt mir mit ihren spröden Lippen einen Kuss auf die Stirn und zieht den Riegel hoch an der Beifahrertür. Ich steige aus, den Stift noch in der Hand und den linken Daumen zwischen die Seiten geklemmt, wo jetzt die Manipulation fällig ist. Ich nehme die beiden Stufen hoch zum Durchgang, öffne hinter der ersten Biegung das Heft und setze den Stift da an, wo die zweite Zwei so klein geschrieben ist, dass sie aussieht wie hochgestellt, und lasse so mit einem winzigen Häkchen, das ich unten anfüge, vierundzwanzig Stunden verfliegen, mache aus dem 22. einen 23. Januar.

Und dann, als ich die Ziffer noch einmal überprüfe, geschieht es: Hinter der Biegung taucht der Rechsteiner auf. Gut, es hätte schlimmer kommen können. Wenn er die Aktion mit dem Absenzenheft beobachtet hätte zum Beispiel. Aber dass er weiß, dass ich hier bin und das noch nicht einmal sterbenskrank, ist schlimm genug.

– Bonjour, mademoiselle Alba, sagt er, und: – Comment allez-vous? Und: – J’espère que vous êtes complètement rétablie. Und während er mir Löcher in den Bauch fragt wegen meiner Grippe, begleitet er mich bis ins Schulzimmer.

Ich sitze in der Falle.

Aber immerhin: Zwar ist das Schulzimmer nicht leer, wie ich mir das wünsche, als der Rechsteiner mit mir im Schlepptau den Raum betritt, aber wenigstens ist Marcel nicht da. Und das bleibt auch für die nächsten drei Stunden so.

Bis zur großen Pause.

Als sie mich gefragt haben einen Tag oder zwei danach, weshalb das alles passiert sei, sagte ich, ich wüsste es nicht, oder ich sagte irgendetwas, was wahrscheinlich klang. Aber ich wusste nicht, weshalb das geschehen war, was dann geschah.

Gründe kommen einem erst Jahre später in den Sinn. Viele, nicht einer, so wie es eben auch nicht nur der Torwart ist, der für die letzte Schande im Letzigrund verantwortlich ist, auch wenn das alle sagen, und es fallen einem auch nicht alle Gründe auf einmal ein, sondern erst einer und dann noch einer und dann wieder einer.

Wenn man also etwas gewartet hätte mit den blöden Fragen damals im Krankenhaus, wenn man zwei oder drei oder fünf oder sieben Wochen gewartet hätte, dann hätte ich ihnen von dieser großen Pause erzählt. Es war eigentlich eine Pause wie immer, und weil Winter war, haben sie alle drinnen verbracht, im Bunker, vor der Mensa. Nur die Raucher, die standen draußen unter dem Vordach oder vor den Seitentüren des Bunkers, aber ich habe ja noch gar nicht geraucht damals.

Der Bunker. Wenn die übrigen Schulgebäude lichtdurchflutet sind und hell, wenn sie leicht sind und durchsichtig, wenn das Glas und die Stufen der breiten Treppen, die frei hängen, Licht einlassen und Einblicke zu-, wenn sie durchschaubar sind, wenn man hineinschauen kann in den Hallerbau, in die Turnhalle, in die Aula, in die Pavillons und die lockeren Alleen, dann ist der Bunker das genaue Gegenteil. Der Bunker heißt so, weil er ein Klotz ist und viel zu sehr aus Beton besteht, weil er grau und fest und dunkel ist, weil seine Gänge eng und schummrig, seine schmalen Treppenschächte beinah absatzlos sind und so eng, dass sich gerade einmal zwei oder vielleicht drei Menschen kreuzen können in ihnen. Und weil es nur zwei Treppenschächte gibt und drei Etagen, und weil im ersten Stock die Bibliothek untergebracht ist und die je zwölf Klassenzimmer erst auf der zweiten und der dritten Etage, also bei jeder Pause um die vierundzwanzig Klassen mit zwanzig Schülern einmal hinab in die Mensa und wieder hinauf wollen, gehen von den dreißig Minuten Pause fünf Minuten für den Hin- und fünf Minuten für den Rückweg verloren. Und wie das dann erst gehen soll, wenn’s einmal brennt im Bunker, will man sich gar nicht vorstellen, aber man tut’s dann eben doch. Erst schrillt die Alarmglocke los und du denkst: Fehlalarm. Aber dann riecht einer den Rauch und dann ein Zweiter und dann ein Dritter und dann sieht ihn der Erste auch schon und dann noch einer und dann alle. Man bewahrt Ruhe in den Klassenzimmern, so gut sich die Ruhe eben bewahren lässt, wenn man mit fünfhundert Leuten in einem Gebäude feststeckt, wenn die Decke psychedelisch flackert von der Feuerwehr, der Polizei und was sich sonst noch alles ums Gebäude herumtummelt und dabei doch nichts tut, außer zuzuschauen, wie alles seinen Lauf nimmt. Man bewahrt Ruhe, obwohl überall Rauch ist und man weiß, dass die Fluchtwege verstopft sind, weil der Plastikboden im Treppenhaus und die Gase, die sich aus ihm lösen, dir die Lunge zerfressen würden, wenn du sie einatmest, dass sie dir hochkommt in Stücken und vor dir auf dem Tisch blutig liegen bleibt. Und irgendwann bricht der Tumult los, weil die zunehmende Hitze jemandem die Sicherungen hat durchschmelzen lassen und dann einem Zweiten in der Klasse und dann einem Dritten. Und dann stürmt die Menge auf den Flur und schießt hinaus zu den Treppenhäusern, drängt sich zusammen und auseinander, drückt sich gegen das Glas und die Wände und die Betonstützen und auf den Boden, und wenn einer gefallen ist, rücken die nachfolgenden Schüler sogleich nach in die Lücke, die sich vor ihnen aufgetan hat, und steigen einfach über den Liegenden hinweg. Und als man die Feuerschutztüren erreicht, bleiben die Vordersten stehen vor Grauen und Entsetzen und brechen in Geheul aus und Geschrei. Hinter dem Drahtglas ist der Qualm so dicht, dass jede Flucht unmöglich erscheint, vielleicht sind die Türen sogar defekt und lassen keinen Ausweg, nicht einmal den tödlichen hinein in den Rauch. Doch von hinten schiebt die Menge, die flucht und weint und spuckt und einfach nur hinauswill, und sich gegen das heiße Drahtglas quetscht, das krachend birst unter dem Druck und die Vordersten zerschneidet und zerteilt und zerreißt, dass ihre Körper ins Treppenhaus hineinhängen und gleichzeitig nicht hineinhängen. Sofort suchen sich der Rauch und das Gas und die Hitze einen Weg in den Flur hinein, drücken in die entgegengesetzte Richtung, sammeln sich an den Decken und füllen langsam den Raum von oben nach unten, und bald sieht man die Hand vor Augen nicht mehr, so dicht ist der wabernde Qualm. Scheiben werden jetzt eingeschlagen, man hält sich an den Fensterrahmen fest und streckt den Kopf ins Freie, um nach Luft zu schnappen, einige fallen schreiend in die Tiefe, regnen schwer aufs Pflaster wie Hagelkörner an einem lauen Sommerabend, begleitet vom Kreischen der im Innern feststeckenden Menge, das immer lauter wird und verzweifelter, nach einigen Minuten aber abnimmt und abnimmt und abnimmt und schließlich verstummt. Und wenn das Feuer endlich gelöscht ist und die ersten Feuerwehrleute auf der Suche nach Überlebenden über die vereinzelten Leichen im Treppenhaus steigen und schließlich in die oberen Stockwerke vordringen, bleiben sie auf den Treppenabsätzen stehen mit starrem Blick und wie festgeklebt. Hüfthoch angehäuft liegen die Kadaver in den Fluren, mit schmutzigen Kleidern und schwarzen und blauen und violetten Gesichtern, mit aufgesperrten Mündern, in denen weiß die Zähne leuchten, und aufgerissenen Augen, mit geschwollenen, vom Rauch aufgedunsenen Köpfen, mit gebrochenen und zerdrückten und zerstampften Gliedmaßen, mit blutig zerkratzter Haut, zusammengeschmolzen und verbacken zu einer Masse aus schmutzigem Fleisch. Aber das Schlimmste am Bunker ist, dass sie die Klos vergessen haben. Im Erdgeschoss keine Toiletten, im ersten Stock keine Toiletten, im zweiten Stock keine Toiletten, im dritten Stock keine Toiletten. Nur im Untergeschoss, vor der Dreifachturnhalle, da gibt es fünfzehn Stück für jedes Geschlecht, aber die sind immer leer. Erst später hat man in den winzigen Räumen, die als Abstellkammern für den Abwart vorgesehen waren, noch ein Klo auf jedem Stock eingerichtet, im Osten eines für die Frauen, im Westen zwei Pissoirs für die Männer. Nur zwei Pissoirs. Wenn von den Jungs einer mal nicht nur Kaffee getrunken hat oder einem Erstklässler übel wird, weil er alle Warnungen in den Wind geschlagen hat und etwas anderes als die Fritten gegessen hat in der Mensa – Pech gehabt. Drei oder vier Stockwerke muss der dann rennen. Überhaupt: Der Bunker ist eine verkehrte Welt. Wir Mädchen gehen nie zusammen auf Klo im Bunker, weil es keinen Vorraum gibt, in dem wir reden könnten, oder weil der Vorraum ganz einfach das Treppenhaus ist, sodass jeder mithören kann, wenn er will, aber dann braucht man sich auch nicht ins Klo zurückzuziehen für ein geheimes Gespräch, weil das Gespräch ja dann nicht das ist, was es sein soll, nämlich geheim. Die Jungs dagegen müssen immer zu zweit hin, damit dann einer vor der Tür wartet und zusieht, dass keiner reinkommt. Die Toiletten nämlich sind so klein, dass die Tür genau so breit ist wie der Raum, und wenn du hineingehst, dann schaust du geradeaus aufs Waschbecken, während du die beiden Pissoirs rechts an der Wand erst dann bemerkst, wenn du die Tür hinter dir geschlossen hast. – Und wenn du mit offener Hose vor dem Pissoir stehst und dir einer von hinten die Tür in den Rücken stößt, sagte Marcel einmal in der Pause, – dann wirst du nach vorne geschubst und pinkelst dir auf die Hose.

Und diesen abbruchreifen Neubau haben sie gleich vier- oder fünfmal gebaut im Kanton. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls: Ich stehe mit Franz und den anderen in der Runde, aber ich schaue mich andauernd nach Marcel um, weil ich möchte, dass Marcel kommt und weil ich nicht möchte, dass Marcel kommt. Und irgendwie macht mich der Gedanke, dass er kommen und meine drei Pickel sehen könnte, nervös. Aber auch der Gedanke, er könnte nicht kommen, lässt mir keine Ruhe. Mittlerweile habe ich in den allermeisten großen Pausen mit ihm geredet oder habe wenigstens in der Runde gestanden, wenn geredet wurde, und eine große Pause ohne Marcel war so etwas wie eine verlorene Pause für mich.

Und dann, als die Pause zu Ende ist und ich mich aufmache zum Hallerbau, begegne ich ihnen in dem Moment, als ich den Bunker über die Seitentür verlasse, die bei den Treppenhäusern, die immer zuschnappt und die man von außen nicht öffnen kann.

Ihnen, das ist Marcel und das ist Corinne, wie ich später erfahre, und sie wollen hinein in den Bunker und nicht hinaus, obwohl der Marcel doch mit mir in der Klasse ist und nicht mit der Corinne. Gut, die beiden haben zwar nicht Händchen gehalten und sie haben sich auch nicht geküsst, aber sie haben auch nicht nur geredet. Die haben … Ach, das muss man jetzt auch nicht breittreten. Ich jedenfalls wusste: Das war’s.

Und am Nachmittag kommt das mit der Chemieprüfung. Ich bin immer gut gewesen in Chemie. Ich bin schlecht in Mathe, ich bin schlecht in Physik, ich bin mittelmäßig in Biologie, aber ich bin gut in Chemie. Ich habe immer Bestnoten geschrieben, eine Sechs nach der anderen. Keine Frage, ich habe den Dreh rausgehabt mit den Prüfungen.

Bei den Notenbesprechungen hat das für lange Gesichter gesorgt. Es gibt nämlich vier Sorten Schüler, aus der Sicht der Lehrer, meine ich. Es gibt die, die überall gut sind und es gibt die, die überall schlecht sind. Dann gibt es noch die zwei Gruppen mit einer einseitigen Begabung. Die einen sind sprachbegabt und haben gute Noten in Geschichte, in Geografie manchmal, in Wirtschaft und Philosophie, aber können nicht einmal einen Spitzwegerich von einer Rotbuche unterscheiden. Und es gibt die Mathematikbegabten, die gute Prüfungen schreiben in Physik, in Biologie und in Chemie, aber nach acht Jahren Unterricht noch immer keinen geraden Satz auf Französisch herausbringen und die Kommas im Aufsatz nach dem Zufallsprinzip verteilen. Ich, muss man sagen, gehöre zur dritten Gruppe. Oder hätte gehört. Wenn da nicht die Chemie gewesen wäre. Der Schwarz, der Büttikofer und der Wullschläger, sie alle wittern eine Unregelmäßigkeit, weil ich in ihren Prüfungen lauter unzusammenhängenden Unsinn aufs Blatt werfe, aber in Chemie nur Sechsen schreibe. Aber der Novak, der hat mich immer verteidigt, hat mir der Rechsteiner einmal erzählt, als er ins Plaudern kam. Für Novak bin ich das hochbegabte Mädchen, das überall gute Noten schreiben würde, wenn es nur gewollt hätte. Oder wenn der Unterricht gut gewesen wäre. Dass ich in den anderen Naturwissenschaften nur schlechte Noten schreibe, hänge entweder mit meinem Desinteresse oder mit den inadäquaten Unterrichtsformen zusammen – inadäquat, betonte der Rechsteiner, habe der Novak gesagt –, wobei das eine letztlich auch der Grund für’s andere sei. Jedenfalls seien meine Bestnoten in Chemie und in den ganzen geisteswissenschaftlichen Fächern Beweis genug, habe der Novak gesagt, dass es mir nicht an Intelligenz fehle. An meinen schlechten Noten seien, wenn es nach ihm ginge, die Lehrer der anderen Naturwissenschaften vor allem selbst schuld.

Natürlich hatte der Novak unrecht. Sicher, seine Analogien aus dem zwischenmenschlichen Bereich, mit denen er uns erklärte, was freie Elektronen sind und was Wasserstoffbrücken, haben sich immer gut angehört und manchmal waren sie sogar hilfreich fürs Verständnis. Dass ich so gute Noten schrieb bei ihm, hatte damit allerdings nichts zu tun. Es hing einzig und allein mit der Prüfungsform zusammen: Novak machte offene Prüfungen. – Ihr sollt nicht auswendig lernen, sagte er mit einem Akzent, dem man die böhmischen Hügel auch zwölf Jahre später noch anmerkte, – ihr sollt denken lernen. Und weil wir nicht auswendig lernen sollten, durften wir alles mitnehmen, was wir wollten: Bücher, Ordner, Taschenrechner. Das klingt einfacher, als es war: Die Fragen, die waren wirklich schwer. So mancher aus meiner Klasse hat eine schlechte Prüfung nach der anderen geschrieben.

Ich hatte Glück. Eine Nachbarin von mir, die einige Jahre älter ist als ich, ist bei den Pfadfindern gewesen. Sie und einige ihrer Leiterinnen hatten alle beim Novak Chemie gehabt und dabei sämtliche Prüfungen gesammelt, die sie zusammenbringen konnten. Als ich die Sammlung erhalten habe, umfasste sie bereits mehrere Ordner. Zwar waren die Prüfungen selten identisch, doch weil der Novak meistens nur die Zusammenstellung der Fragen und einige Zahlen verändert hatte in ihnen, in den Ordnern meiner Nachbarin für jedes Thema aber mehrere Prüfungen abgelegt waren, konnte man in der Sammlung jede der fünf Aufgaben finden.

Also: Weil ich die Woche zuvor gefehlt habe, muss ich am Nachmittag die Prüfung nachschreiben. Keine große Sache, denke ich. Novak reicht mir das Aufgabenblatt, schickt mich in ein leeres Zimmer. Den Ordner habe ich dabei, die alten Prüfungen sind hinten eingeheftet. Ich fühle mich unfehlbar wie der Papst.

Doch als ich die Fragen durchgehe, wird mir klar: Irgendwas ist anders diesmal. In vier von fünf Aufgaben sind die Zahlen verändert, und das kostet Zeit. Dazu kommt, dass zwei Aufgaben, die ich zwar in meinem Ordner finde, von keiner meiner Vorgängerinnen richtig beantwortet wurde: Überall das unleserliche Rot von Novaks Sauklaue. Als ich nach fünfundvierzig Minuten abgebe, weiß ich: Das war nichts. Die Note wird nicht ungenügend sein, aber das ist es nicht, was mich traurig macht. Wenn du immer erste Klasse fährst und dann plötzlich zweite, zählt der Umstand, dass du gleich schnell ans Ziel kommst, wenig. Dass deine Handflächen den Plüsch vermissen an den Armlehnen und deine Beine die Freiheit, das ist es, was schmerzt.

Marcel, die Chemieprüfung und am Abend, als ich endlich zu Hause anlange, die Schmerzen unter dem Haaransatz. Es kommt alles zusammen. Als ich die Tür hinter mir schließe, ein paar Kerzen anzünde, das Radio einschalte und mich aufs Bett fallen lasse, ist mir schwindlig.

Etwas liegt in der Luft, trällert einer im Hintergrund, ob ich geliebt werden könnte, fragt ein anderer. Normalerweise singe ich mit, wenn Phil Collins singt oder Bob Marley, und wenn ich den Text nicht mehr weiß oder ihn nicht verstehe, dann bewege ich zumindest den Mund dazu. Aber diesmal liegen mir die Gedanken zu schwer auf der Kehle und im Hals stauen sich eine ganze Menge Fragen: Liebt mich jemand? Meine Mutter vielleicht, aber das zählt nicht. Marcel? Nein. Janine? Nein. Muriel? Schon gar nicht. Else? Die war doch nur darauf aus, von mir abzuschreiben in Latein. Was ist mit den guten Noten? Pff. Bin ich beliebt? Fehlanzeige.

Ich stehe auf, mache das Radio aus. Auf der Stelle schwappt Stille ins Zimmer, füllt jeden Winkel aus. Ich reiße die Fenster auf, dass die Scheiben zittern im spröd gewordenen Kitt, und lehne mich mit verschränkten Armen auf den Sims. Weiße Flocken fallen lautlos aus dem schwarzen Himmel. Vor mir ein Feld und dahinter, aufgereiht wie auf einer Perlschnur, Laternen und unter ihnen gelbe Indianerzelte aus Licht, die in der Nacht hängen mit ihrem steilen Dach. Alles ist still, alles ist dumpf, nur ab und an trägt ein leichter Luftzug das Rauschen eines Baches aus dem Wald heran und bricht in die Stille ein für eine Sekunde oder zwei, dann ist es wieder still draußen und dumpf und dumpf und still ist es auch in mir drin. Ich versuche, mit dem Blick den brüchigen Stäben auszuweichen, die sich vom Boden hinauf bis unter den Himmel stapeln und weiß flimmern vor mir und schwarz wie im Wald die Birken, und jetzt erinnere ich mich, dass ich mich früher mit meiner Schwester hinaus auf die Wiese gelegt habe, auf eine andere Wiese als diese, und dass wir, wenn es regnete, stundenlang in den grauen Himmel starrten, bis es uns unsere Mutter verboten hat, weil ich mir eine Lungenentzündung geholt habe. Und weil wir nicht mehr hinausdurften, wenn es regnete, blieb uns nichts anderes übrig, als mit einem Taschenspiegel am Fenster zu sitzen und den Tropfen zuzuschauen, wie sie hinauffielen und uns ins Gesicht, das nie feucht wurde davon. Ich denke daran und ich denke an meine Schwester und darüber wird mir das Dasein übel. Ich bin allein, denke ich, umgeben von dieser Schicht aus ewiger Gegenwart, aus der ich nicht herauskann. Ich bin allein, denke ich und drehe mich um. Ich schaue ins leere Zimmer und sehe meinen Schatten, der da gefangen ist in ihm. Er tut mir leid, wie er da an der Raufasertapete hängt und weder ein noch aus weiß, so unendlich leid, dass ich ihn umarme.

Und weil ich einfach nicht weiß, was ich dagegen tun soll, mache ich, was man tut, wenn man nicht weiß, was man tun soll.

Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat

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