Читать книгу Ich weiß nur, dass ich dich liebe - Denise Hunter, Denise Hunter - Страница 6
EINS
ОглавлениеLucy Lovett öffnete die Augen und spürte sofort den pochenden Schmerz in ihrem Hinterkopf. Sie stöhnte und fasste sich an die Stelle, an der sich unter ihrem braunen Haar deutlich tastbar eine Beule abhob.
Sie schloss die Augen wieder und nahm jetzt weitere Einzelheiten wahr. Sie lag mit einer Wange auf einer kalten, harten Fläche, ihre Körpermitte war irgendwie eingeschnürt wie von einem Korsett, und ihre Zehen fühlten sich eingezwängt an.
Irgendwo in der Ferne war das Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum zu hören, dann ein dumpfes Geräusch, und kühle Luft zog über sie hinweg.
Jemand gab einen Schreckenslaut von sich: „Oh nein! Miss? Ist alles in Ordnung, Miss? Ach du liebe Güte!“
Lucy öffnete wieder die Augen und drehte sich auf den Rücken, sodass die Beule am Hinterkopf auf den harten Boden traf. „Aua!“
Ihr Blick schweifte erst über die Deckenverkleidung, die voller Wasserflecken war, und dann abwärts zum rundlichen Gesicht einer brünetten Frau mittleren Alters.
„Wie viele Finger zeige ich?“, fragte die Frau. Drei pummelige Finger versperrten Lucy den Blick.
„Was ist denn passiert?“, fragte sie.
„Ach, können Sie sich nicht mehr erinnern?“
Lucy schaute sich hektisch in dem Raum um. In ihrem Blickfeld befanden sich mehrere graue Toilettenkabinen, ein fleckiger Fußboden und zwei Keramikwaschbecken mit verrosteten Armaturen und Abflussrohren. Dann fiel ihr Blick auf ein gelbes Klappschild mit dem Warnhinweis: Vorsicht, Rutschgefahr.
Zur Veranschaulichung war noch ein stürzendes Strichmännchen darauf abgebildet.
„Ich bin hingefallen.“
Oder? Ja, so musste es gewesen sein. Wieso lag sie sonst mit einer Beule am Kopf auf dem nassen Boden? Als sie die Stelle an ihrem Kopf noch einmal betastete, zuckte sie wieder zusammen.
„Können Sie aufstehen? Ach, Sie haben sich den Kopf verletzt? Vielleicht sollten wir doch lieber einen Krankenwagen rufen.“
„Nein!“ Schon allein der Gedanke ans Krankenhaus sorgte dafür, dass sie sich rasch aufsetzte. „Hören Sie, ich bin nur …“ Sie senkte den Blick, schaute auf ihren Schoß und betrachtete das duftige weiße Kleid, das sie trug. Ihr Blick wanderte weiter zu der zarten Perlenstickerei an der Korsage und zu den bloßen Schultern. Ihre Gedanken gingen wild durcheinander auf der Suche nach Antworten, aber es kam nichts dabei heraus als jede Menge durcheinandergewürfelter Puzzleteile.
„Sagen Sie mir doch, mit wem Sie da sind, dann sage ich Bescheid, dass etwas passiert ist“, bot die Frau an.
„Ich – ich bin allein.“ Oder? Wieso konnte sie sich nicht erinnern?
„Dann rufen wir jemanden an. Vielleicht Ihren Bräutigam? Aber als Erstes hole ich Ihnen jetzt etwas zum Kühlen für Ihren Kopf, und dann sagen wir ihm Bescheid. Er ist sicher schon sehr in Sorge.“
Die Frau huschte zur Tür hinaus, während Lucy versuchte, die Fakten zusammenzusetzen, die ihr durch ihren dröhnenden Kopf gingen. Es konnte unmöglich ihre Hochzeit sein. Das ergab keinen Sinn, denn bis dahin war es doch noch über einen Monat. Vielleicht war sie ja bei einem Anprobetermin für ihr Brautkleid. Aber wieso konnte sie sich an absolut gar nichts erinnern? Weder daran, wie sie in das Brautkleid hineingekommen war, noch, wie sie hingefallen war?
Denk nach, Lucy. Denk nach.
Das Letzte, was sie wusste, war, dass sie am Abend zuvor mit Zac zusammen im Restaurant aufgeräumt und die Stühle hochgestellt hatte. Danach hatte er sie zu Fuß zu ihrer Wohnung gebracht. Der kühle Wind hatte ihm sein ziemlich langes schwarzes Haar zerzaust, er hatte ihr seine Jacke um die Schultern gelegt, und sie hatten geredet, bis sie vor ihrer Haustür angekommen waren. Dort hatte sie im Schein der Außenlampe in sein hübsches Gesicht geschaut – in seine ungestümen grauen Augen – und ein ganz klein wenig Angst verspürt. Die quälende Sorge, dass irgendetwas furchtbar schiefgehen könnte und sie den einen Menschen verlöre, den sie brauchte wie die Luft zum Atmen.
Vor dem Eingang zur Toilette waren jetzt Schritte zu hören und holten sie in die Gegenwart zurück. Es ging ihr gut. Sie musste nur aufstehen und Zac finden. Er würde ihr helfen, das alles hier zu verstehen.
Lucy zog die Knie an den Körper heran, rutschte mit dem Rücken zur weißgefliesten Wand und schob sich daran hoch, bis sie saß. Ihr Blick fiel auf die weißen Satinschuhe, in denen sich ihre Zehen so eingezwängt anfühlten. Es waren hochhackige Slingpumps mit Peeptoes und winzigen Schleifen, die sie ein paar Wochen zuvor bei einem Online-Schuhversand so bewundert hatte, die sie sich aber absolut nicht hatte leisten können. Deshalb hatte sie sie auch nicht bestellt, sondern ein süßes (wenn nicht sogar entzückendes) Paar in einer Boutique in Summer Harbor gekauft.
Noch einmal schaute sie auf die Schuhe, aber es waren tatsächlich die teuren Designerschuhe.
In dem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und die rundliche Frau, die sie gefunden hatte, tauchte mit einem Eisbeutel auf. Sie half Lucy auf, die sich den Eisbeutel auf die Beule an ihrem Kopf legte, in dem anscheinend ein Presslufthammer am Werk war – jedenfalls fühlte es sich so an. Der Schmerz war so heftig, dass sie nur unscharf sehen konnte und blinzeln musste.
„Kommen Sie, Schätzchen, setzen Sie sich erst mal auf einen Stuhl. Ich glaube, Sie sollten lieber Ihren Kopf röntgen lassen – nur zur Sicherheit. Sie kommen mir nämlich ein bisschen benebelt und durcheinander vor“, sagte die Frau.
„Aber es geht mir wirklich gut. Ich muss meinen Verlobten anrufen.“
„Natürlich müssen Sie das! Bei meinem Handy ist der Akku leer, aber die Geschäftsführerin leiht Ihnen bestimmt ihres. Ich glaube, sie hat schreckliche Angst, dass Sie sie verklagen.“
Die Damentoilette, in der sie gestürzt war, gehörte zu einem klassischen amerikanischen Diner, das mit seinen roten Kunstledersitzbänken und dem schwarz-weiß gefliesten Boden geradewegs aus den 1950er Jahren zu kommen schien. Doch ihr kam nichts bekannt vor, und sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Es roch jedenfalls köstlich, und erst jetzt merkte Lucy, wie hungrig sie war.
Sie schaute durch das große Panoramafenster des Lokals nach draußen, wo die Sonne in der Ferne auf dem Meer glitzerte, aber die Geschäfte auf der anderen Straßenseite kamen ihr ebenfalls nicht bekannt vor. Ob das hier eine Ecke von Summer Harbor war, in der sie bisher noch nie gewesen war? Doch eigentlich konnte das nicht sein, denn der Ort war so klein, dass sie eigentlich schon alles davon kannte.
Die rundliche Frau holte jetzt ein Handy von der Dame, die mit sorgenvoll gerunzelter Stirn hinter dem Tresen stand, und gab es ihr.
„Sie rufen jetzt erst mal Ihren Verlobten an. Ich bin gleich wieder da“, sagte sie und verschwand dann auf der Toilette.
„Da steht doch extra ein Schild“, sagte die Frau hinter dem Tresen zu Lucy und sah sie wütend an. „Gleich an der Tür. Ist doch gar nicht zu übersehen.“
Als Lucy daraufhin nickte, pochte es noch heftiger in ihrem Kopf, und ihr Atem ging schnell und flach. Sie saß jetzt in einem Raum voller Menschen, konnte sich aber nicht erinnern, sich jemals so allein gefühlt zu haben. Außer einem Mal. Aber das war schon sehr lange her. Lange vor Zac.
Er ist nur einen Anruf entfernt.
Lucy wählte seine Handynummer und versuchte, die verärgerte Geschäftsführerin und die neugierigen Blicke der anderen Gäste zu ignorieren. Wahrscheinlich kam es nicht jeden Tag vor, dass eine Braut in das Lokal kam.
Zac ist sicher schon sehr beunruhigt meinetwegen, dachte sie, als sie es am anderen Ende der Leitung klingeln hörte. Sie hoffte, dass er nicht schon in der Kirche auf sie wartete. Sie schaute auf die Uhr an der Wand. Nein, dazu war es noch zu früh. Die Trauung sollte erst um 16.30 Uhr beginnen.
Mein Hochzeitstag. Was ist in den letzten Monaten passiert?
Aber sie schob diese Frage beiseite. Sie brauchte Zac jetzt mehr denn je und wählte die Nummer des Roadhouse.
Zac Callahan legte die weiße Kugel in die richtige Position, holte mit dem Queue aus und traf sie präzise. Sie rollte über den grünen Filz und berührte die blaue Kugel, die daraufhin in dem Eckloch versank.
Die umstehenden Gäste applaudierten und jubelten laut. Wenn es um eine Wette ging, fieberten die Zuschauer immer besonders stark mit.
„Das war doch reines Glück“, sagte Beau abfällig.
Zac richtete sich zu seiner vollen Größe von 1,95 Metern auf und widersprach: „Das hatte mit Glück absolut nichts zu tun, großer Bruder.“
„Wie auch immer“, entgegnete der und verschaffte sich mit seinen beinah schwarzen Augen und gerunzelter Stirn einen Überblick über die neuen Positionen der Kugeln auf dem Tisch.
Zac machte es ihm wirklich schwer. Der Rest seines Feierabends stand auf dem Spiel, und Zac verlangte ihm wirklich alles ab. Marci, eine der Kellnerinnen, hatte sich krankgemeldet, und es wurde langsam voll im Lokal, sodass Zac unbedingt Hilfe brauchte.
„Ich kann es gar nicht erwarten, dich in einer Schürze zu sehen“, sagte er zu Beau.
„Das wird nicht passieren“, entgegnete der. Sein schwarzes Haar hing ihm ins Gesicht, als er stieß, doch die Kugel verfehlte das Loch.
Beaus Verlobte Eden tröstete ihn mit einem Tätscheln und sagte dann tonlos in Zacs Richtung: „Ich kann es auch kaum erwarten.“
„Zac, Telefon für dich!“, rief da seine Serviceleitung.
Er legte sein Queue hin, zeigte auf Beau und sagte: „Aber nicht schummeln.“
Beau machte ein unschuldiges Wer-ich?-Gesicht, während Zac schon auf dem Weg zum Tresen war. Das Restaurant war wegen des Spiels der Red Sox, das im Fernsehen übertragen wurde, gut gefüllt. Die Menge johlte gerade bei einem entscheidenden Run.
Zac blieb kurz stehen, um hinzuschauen, und ging dann weiter. Er gab Sheriff Colton im Vorbeigehen einen Klaps auf die Schulter und mied bewusst die Nische, in der Morgan LeBlanc mit einer Freundin saß. Er hatte sich ein paarmal mit Morgan getroffen, und demnächst stand wieder ein Date an. Obwohl er sich wirklich Mühe gab, ihre Treffen aufregend zu finden, gelang es ihm irgendwie nicht.
Jetzt schob er sich hinter den Tresen, nahm den Hörer in die Hand und sagte: „Ja, hier ist Zac.“
„Zac, Gott sei Dank“, hörte er aus der Leitung.
Er spürte einen Adrenalinstoß, sodass es ihn am ganzen Körper kribbelte und seine Schultern sich verspannten. Seit sieben Monaten hatte er die Stimme nicht mehr gehört, den niedlichen Südstaatenakzent, bei dem er normalerweise Herzklopfen bekam, der jetzt aber dafür sorgte, dass ihm beinah das Herz stehenblieb.
„Es ist gerade etwas passiert. Ich … bin gestürzt, und ich weiß nicht so genau, wo ich hier bin. Kannst du mich bitte holen kommen?“
Er rieb sich die Stirn, und seine Gedanken gingen wild durcheinander.
„Wie bitte?“, fragte er völlig entgeistert.
„Ich möchte nicht zu spät kommen, aber ich bin nass geworden, und mein Haar …“
„Zu spät für was denn?“, fragte er nach.
„Das ist nicht lustig, Zac Callahan“, antwortete sie und schien den Tränen nah.
„Mein Kopf tut so weh, und ich … kannst du mich bitte hier abholen?“
„Lucy, was redest du denn da? Wieso rufst du mich an?“
Es folgte eine lange Pause, und dann fragte sie: „Willst du mich auf den Arm nehmen?“
Er erinnerte sich an den Tag vor sieben Monaten, an dem er von einer Wochenendtour zurückgekommen war, als wäre es gestern gewesen. All die unbeantworteten Anrufe, die vielen Male, die er an ihre Tür geklopft und keine Antwort bekommen hatte. Wie er voller Sorge ihren Vermieter angerufen und erfahren hatte, dass die Wohnung leer und Lucy weg war.
Er merkte, wie seine Finger den Hörer fester packten. „Ruf jemand anders an, Lucy. Das ist nicht mehr mein Problem“, sagte er schroff.
Er hörte sie erschrocken nach Luft schnappen, dann fragte sie mit bebender Stimme: „Wieso bist du so gemein zu mir?“
Ja, wieso war er …? Er nahm den Hörer vom Ohr weg, schaute ihn kurz finster an, nahm ihn dann wieder ans Ohr und erklärte: „Du bist es, die gegangen ist, Lucy. Wenn du irgendwo hin musst, nimm ein Taxi.“ Er wollte gerade auflegen, da sagte sie: „Warte bitte, Zac. Das kannst du mir doch nicht antun. Ich bin auf den Kopf gefallen, habe eine dicke Beule und schlimme Kopfschmerzen, und ich brauche Hilfe. Ich brauche dich.“
Es zog schmerzhaft in seinem Bauch. Wie oft hatte er sich in den vergangenen Monaten danach gesehnt, diese Worte aus ihrem Mund zu hören. Sie klang … irgendwie verwirrt und so verloren. Und außerdem hatte sie doch niemanden – keine eigene Familie.
Und du bist ein Riesentrottel, Callahan.
„Bitte! Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder was passiert ist. Du musst mir helfen!“
Er lehnte sich mit dem Rücken an die Bar und antwortete: „Geh ins Krankenhaus, Lucy. Du brauchst ein …“
„Ins Krankenhaus gehe ich auf gar keinen Fall!“, sagte sie panisch.
Zac strich sich mit der Hand über sein stacheliges Kinn, und ihm fiel wieder ein, dass sie ja diese Krankenhausphobie hatte. Hier am Telefon würde er sie niemals dazu überreden können, eine Notaufnahme im Krankenhaus aufzusuchen. Nicht einmal, als sie sich eine Sehne im Fuß gerissen hatte, war sie dazu bereit gewesen. Ein Freund von ihm, der in der Notaufnahme arbeitete, hatte sie schließlich zu Hause behandelt.
Wenn sie wirklich eine Kopfverletzung hatte, konnte das schlimme Auswirkungen haben, bis hin zu einer Hirnblutung.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus und wusste, dass er genervt und hartherzig klang.
„Wo bist du denn?“, fragte er und dachte gleichzeitig, was für ein Trottel er doch war.
„Ich … ich weiß es gar nicht. Bleib bitte dran und leg nicht auf.“
Dann hörte er ein schlurfendes Geräusch am anderen Ende der Leitung und versuchte, trotz der Geräuschkulisse im Roadhouse etwas zu verstehen.
Er hörte, wie eine Frauenstimme eine Adresse herunterrasselte.
„Moment“, hörte er Lucy mit gedämpfter Stimme sagen. „In Summer Harbor?“
„Nein Schätzchen, in Portland.“
„Portland …?“, fragte Lucy erstaunt nach. „Portland, Oregon?“
„Was? Nein, Maine. Portland, Maine.“
Oh Gott – Zac drückte sich die Finger in die Augenhöhlen.
„Lucy“, sagte er und hörte wieder das schlurfende Geräusch. „Lucy.“
„Ich bin noch dran, Zac. Ich bin in …“
„Ich hab’s gehört“, sagte er leicht entnervt. Eigentlich hätte er nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden sollen, denn sie war einfach aus seinem Leben verschwunden, und er war endlich darüber hinweg.
Ja, klar bist du das. Deswegen eilst du ihr jetzt auch auf der Stelle zu Hilfe.
Er hatte schon immer eine Schwäche für Lucy gehabt. Schon seit sie das erste Mal ins Roadhouse gekommen war, hatte sie ihn völlig in der Hand. Bis sie ihm mit ihren schicken spitzen Schuhen über sein Herz gelatscht war.
„Ich hoffe für dich, dass das kein Trick ist, Lucy“, warnte er sie.
„Wieso sollte ich so etwas tun?“, fragte sie, und in ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Empörung und Verletztheit mit.
Er schnaubte. War er denn jemals aus ihr schlau geworden?
„Bitte, Zac. Ich weiß wirklich nicht weiter.“
Seine Entschlossenheit schwand, als er ihre tränenerstickte Stimme hörte. Verdammt noch mal. Er würde es sich niemals verzeihen, wenn ihr etwas zustieße. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sagte dann: „Bleib, wo du bist. Ich bin in ein paar Stunden bei dir.“