Читать книгу Die Leiden der jungen Lotte - Denise Rüller - Страница 7
ОглавлениеParkklinik Hochfeld Duisburg
Prof. Dr. Mechthild Rosenowsky
Therapieprotokoll
Name der Patientin: Schröder, Julia
eingewiesen am: 10.08.1982
geboren am 15.01.1949 in Neasden (GB)
Familienstand: ledig
Kinder: eine Tochter, geb. am 15.04.1967
in Duisburg
Sitzung: 1. Datum: 12.08.1982
Äußeres Erscheinungsbild
Die Patientin hat einen asketischen Körperbau, wirkt allerdings ausgezehrt. Sie macht einen sehr gepflegten Eindruck, ist akkurat geschminkt, trägt auffällig schweres Parfüm, hat ihre Haare streng zu einem Dutt gebunden, rot lackierte Fingernägel und Lippenstift. Sie ist fraulich-streng gekleidet mit engem, knielangem Rock, Bluse, Jacket und Pumps.
Trägt Ohrringe und eine Halskette, keine Ringe.
Äußeres Verhalten
Die Patientin tritt nervös in das Behandlungszimmer ohne zu grüßen und begegnet mir in einer feindseligen Haltung. Sie durchbohrt mich minutenlang mit starrem Blick ohne zu blinzeln und bleibt trotz meiner Aufforderung, sich zu setzen, in der Nähe der Tür stehen. Sie lehnt jegliches Beziehungsangebot ab.
Nach etwa zehn Minuten setzt sie sich mir gegenüber in steifer Haltung in den Sessel ohne sich anzulehnen, die Beine wechselnd übereinanderschlagend und die Hände auf dem Oberschenkel abgelegt. Sie weicht meinem Blick demonstrativ aus, indem sie an mir vorbei schaut.
Denkweisen/Gefühlslage/soziale Interaktion
Sie hegt großes Misstrauen gegenüber dem Personal und tritt anderen mit Feindseligkeit entgegen. Sie schließt sich in ihrem Zimmer ein und gewährt dem Personal keinen Zutritt, weshalb ihr der Schlüssel abgenommen werden musste.
Außerdem weigert sie sich, die Mahlzeiten gemeinsam mit den anderen Patienten einzunehmen.
Auf die Fragen, wie es ihr gehe und ob sie wisse, warum sie hier sei, antwortet sie in aggressivem Ton, dass sie unrechtmäßig eingewiesen worden sei und jegliche Aussage verweigere, bevor sie nicht mit ihrem Anwalt gesprochen habe.
Sie fühle sich entwürdigt, mit den Irren eingesperrt zu sein. Sie sei geistig voll auf der Höhe und habe sich nichts zu Schulden kommen lassen. Auf Beruhigungs- und Beschwichtigungsversuche geht die Patientin nicht ein. Auch auf Fragen zu ihrer Lebenssituation verweigert sie eine Antwort und erwidert stattdessen, dass mich das nichts angehe.
Vorläufige Diagnose/Krankheitsbild
Die Patientin ist nicht in der Lage, sich und ihre Situation realistisch einzuschätzen und zeigt keine Bereitschaft zur Selbstreflexion. Sie kann weder eine Beziehung zu sich selbst noch zu mir oder anderen aufbauen. Die biografische Anamnese, die auf Informationen der Mutter und der Tochter der Patientin basiert, lässt eine posttraumatische Belastungsstörung vermuten, die sich an folgenden Verhaltensstörungen mit schizophrener Symptomatik zeigt: Feindseligkeit, Aggressivität, mangelnde Einsichtsfähigkeit, Unkooperativität, körperliche Erregung, Nervosität und innere Unruhe.
Das Trauma auslösende Ereignis liegt wahrscheinlich etwa sechzehn Jahre zurück und hängt mit dem damaligen
Lebensgefährten und/oder der Zeugung der Tochter zusammen, eine Vergewaltigung ist in Betracht zu ziehen.
Weiterführende Maßnahmen/nächste Therapieschritte
- Tablettenentzug
- Beziehung zur Tochter thematisieren
Lotte
Mit meinem richtigen Namen war ich eigentlich ganz zufrieden, aber Mutter nannte mich Biggy, nach einem berühmten Model aus ihrer Jugendzeit Ende der Sechziger. Und weil sie es nicht geschafft hat, eine zweite Biggy zu werden, musste ich das stellvertretend verwirklichen. Meine Kindheit beschränkte sich deshalb auf meine ersten vier Lebensjahre, in denen mich Mutter noch linksliegen ließ. Die schönsten Erlebnisse waren die Tage ohne Mutter am Baerler See, wo ich Romeo als Eisfee assistieren durfte. Romeo stellte nicht nur unvergleichliche Sorten Eiscreme her, sondern war auch eine einzigartige Sorte Mann, wie Großmutter immer sagte. Im Jahr 1966 kehrte Romeo seiner Heimat, den Dolomiten, den Rücken, wanderte über die Alpen nach Deutschland und landete mit zwanzig Jahren am Beeckbach Nummer 22, in dem Haus neben meiner Großmutter, in dem ich ein Jahr später geboren wurde. Sie war seine erste und blieb seine treueste Kundin. Da Romeo sich noch kein Ladenlokal leisten konnte, verkaufte er seine hausgemachten Bällchen aus dem Küchenfenster. Es gab fünf Sorten: Vanille, Schokolade, Stracciatella, Erdbeer und Zitrone; mit dem Zitroneneis gewann er später sogar eine Goldmedaille. Sein Geheimnis, so verriet er mir, seien unbehandelte Zitronen aus der sonnigen Heimat. Meine Großmutter machte überall, wo sie hinkam, Werbung für Romeos Eis und da er einer der ersten Eismacher im Ruhrgebiet und Eiscreme eine seltene und schwer zu bekommende Gaumenfreude war, standen die Leute zu den Stoßzeiten bei gutem Wetter unter seinem Küchenfenster schlange, sodass Großmutter eines Tages einfach in seine Küche trat, sich eine Schürze umband, eine grüne Schiffchenmütze, wie Romeo sie trug, aufsetzte und neben ihm Kugel für Kugel zu je 30 Pfennig aus dem Fenster reichte. Nach vier Monaten hatte Romeo so viel Geld eingenommen, dass er sich ein Fahrrad und einen kleinen Anhänger, den er zu einem Eiswagen umbaute, kaufen konnte. Damit fuhr er in benachbarte Orte und am Wochenende zum Baerler See und ging schon bald als Eiscreme-Casanova in die Duisburger Analen ein. Denn seine Erscheinung war der sinnlichen Verführung seines Eises durchaus ebenbürtig, sodass sich zahlreiche junge Frauen sowohl nach seiner Eiscreme als auch nach ihm die Finger leckten, was ihm sichtlich Vergnügen bereitete und was er charmant auskostete. Seine schwarzen Haare, braunen Augen, vollen Lippen und weißen Zähne, dazu seine sportlich-schlanke Gestalt und dunkle Stimme, mit der er hinter seinem Verkaufswagen italienische Arien schmetterte, trugen das Übrige dazu bei, dass Väter Angst um die Widerstandskraft ihrer Töchter hatten und sie sie daher nicht selten zum Eisholen begleiteten, um dem ungezügelten Liebäugeln Einhalt zu gebieten. Dabei war Romeo alles andere als ein Schürzenjäger, er lebte bescheiden und arbeitete das erste Jahr so hart, dass er keine Reserven hatte, auszugehen und Frauen kennenzulernen. Zudem schränkte seine zweite Leidenschaft neben der für Eiscreme den Kreis der zu ihm passenden Frauen erheblich ein: die für Shakespeare. Denn er fühlte sich in seiner Neigung zu unmäßiger Sinnlichkeit gleichnamigem Helden aus dem bekannten Drama Shakespeares seelenverwandt, weshalb er im Alter von fünfzehn Jahren unwiderruflich beschlossen hatte, dass er niemals eine Frau heiraten werde, die nicht Julia heißt, auch wenn er das tragische Ende dieser Liebe für sein Leben nicht eins zu eins übernehmen wollte. Die erste potenzielle Julia stand im Dezember 1966 vor der Tür seiner Nachbarin: Julia Schröder, meine Mutter. Bis Romeo sich seinen Traum einer eigenen Eisdiele erfüllen und auf die Seetouren verzichten konnte, vergingen noch einige Jahre, in denen er mich an den Wochenenden zum Baerler See mitnahm. Er hatte eine Vorrichtung für seinen Eiswagenanhänger gebaut, auf dem ich wie eine Königin thronte, während er sich auf dem Rad abstrampelte. Und wenn jemand fragte, wer das süße Kind an seiner Seite sei, zwinkerte er mir zu und sagte stolz, dass ich sein Sahnestück sei. An manchen Tagen war es so heiß, dass wir den Wagen von Baumschatten zu Baumschatten geschoben haben und als wir den See Stunden später fast umrundet hatten und nachmittags an der Stelle, die ganz flach in den See führte, angekommen waren, durfte ich alleine im Wasser plantschen, musste aber ununterbrochen singen, damit Romeo wusste, dass mit mir alles in Ordnung war, weil er mich nicht die ganze Zeit beobachten konnte, während er die Kunden bediente. Ich habe sämtliche Opernarien nachgesungen, die er inbrünstig auf den Fahrten zum See schmetterte. Obwohl wahrscheinlich niemand außer ihm erkannt hat, dass ich die bekanntesten italienischen Arien zum Besten gab, versammelte sich meistens eine kleine Fangemeinde um mich und wenn Romeo hörte, dass ich nicht mehr weiterwusste, stimmte er in die Arie mit ein und wir sangen im Duett. Da die meisten sich währenddessen oder danach ein Eis gönnten, leistete ich so meinen Beitrag zu seinen Einnahmen.
Diesen paradiesischen Kindheitserlebnissen setzte Mutter ein jähes Ende und stieß mich mit fünf Jahren in eine eisfreie Hölle. Es gingen elf Knochenjahre ins Land, in denen ich zum Frühstück eine Scheibe Knäckebrot mit fettreduziertem Quark, garniert mit Tomaten- und Gurkenscheiben und eine Tasse Basentee zur Gewährleistung eines ausgewogenen Säure-Basen-Haushaltes bekam.
Wenn meine Mitschüler in den Pausen erwartungsvoll die Brotdosen öffneten, verbreitete sich der verbotene Geruch von Bifiwürsten, Hackfleischbällchen, mit Butter und Leberwurst oder Nutella bestrichenen Weißbrotscheiben, Milchbrötchen mit Schmelzkäse und Schokokussbrötchen. Das Wertvollste waren allerdings die kleinen Liebesbeweise der Mütter in Form von Süßigkeiten oder Selbstgebackenem. Um das elterliche Gewissen zu beruhigen, enthielten einige Dosen noch Kirschtomaten oder geschälte Apfelstücke, die meist unbeachtet in der Dose liegen blieben. Meiner Brotdose entströmte nichts außer der miefende Wunsch der Mutter, ihre gerade einmal achtjährige Tochter auf Modelmaße zu trimmen, der sich in geruchsneutraler Rohkost manifestierte. Die anderen zeigten sich gegenseitig ihre Schatzkisten und begannen die Leckereien zu tauschen, was bei mir darauf hinauslief, dass ich für Möhre, Paprika und Tomate ähnlich wenig Begehrtes wie Gurke, Apfel und Kohlrabi bekam. Dieser Handel frustrierte mich derart, dass ich es vorzog, den traurigen Inhalt meiner Dose auf dem Weg zur Schule an die Pferde zu verfüttern und lieber mit leeren Händen dem Tauschhandel in den Pausen zuzusehen, als daran gedemütigt teilzunehmen.
Allein meine Box aus dem Schulranzen zu nehmen, war eine Zumutung, denn statt einer grünen, blauen oder roten Dose mit dem Aufdruck der Comichelden unserer Kindheit prangten auf meiner Dose schwarze weibliche Beine in lasziver Haltung auf rosa Grund. Auf die verdutzten Blicke meiner Mitschüler antwortete ich mit einem unschuldig-unwissenden Schulterzucken und verwies auf einen Spleen meiner Mutter. Niemals durften sie erfahren, dass die Dose ursprünglich ein Epiliergerät enthielt, das Mutter als Dankeschön für ihr Abonnement der Vogue erhalten hatte.
Die Marke, der ich meine übrige schulische Ausstattung zu verdanken hatte, TOPModel by Depesche, hatte scheinbar keine Pausenbrotdose im Repertoire - wofür auch: Topmodels essen in den Pausen nichts -, dafür enthielt meine mit glänzenden Sternen aus Streichpailletten bestickte lilafarbene Schultasche einen TOPModel Radierer in Lippenstiftform und TOPModel Bleistifte mit Plüschbommel, die ich vergeblich versuchte als Tauschobjekte gegen eine der Leckereien meiner Mitschüler einzusetzen.
Aus Mitleid überließen sie mir ihre Brotreste, die mir eine Ahnung davon gaben, wie Mutterliebe schmecken könnte. In der dritten Klasse schaffte ich es, meine Großmutter dazu anzustiften, mir hinter dem Rücken Mutters ein monatliches Taschengeld von zehn Mark zu geben, die ich zu einhundert Prozent in Süßigkeiten investierte und so endlich an dem Süßwarenbasar teilnehmen konnte.
* * *
Das Beste an der Grundschule waren die Fußballspiele zwischen den Unterrichtsstunden. Noch bevor der Pausengong ausgeklungen war, stürmte ich mit dem Ball auf den schuleigenen Rasenplatz, um möglichst keine Sekunde der wertvollen zwanzig Minuten Spielzeit zu verschenken. Während die anderen eintrudelten und die Mannschaften wählten, versuchte ich meinen Rekord im Ballhochhalten zu brechen. Allerdings war ich mittlerweile so gut darin, dass die Zeit bis zum Anpfiff zu kurz war, um die 587 Fußberührungen zu erreichen. Herr Angenvort, unser Sportlehrer, hatte mein Talent erkannt und mir empfohlen, mich in einem Fußballverein anzumelden. Ich schaute ihn traurig an und beichtete ihm, dass meine Mutter das niemals erlauben würde, da sie aus mir ein Model machen wolle. Er schien die Antwort nicht einordnen zu können und ließ es zunächst dabei bewenden, bot mir aber an, unverbindlich zum Training der D-Jugend-Mannschaft des FC Grün-Weiß Millingen zu kommen, das er leite. Auf dem Weg nach Hause überlegte ich mir, welche Lüge ich Mutter dafür auftischen konnte, dass ich am nächsten Tag länger in der Schule bleiben müsse. Beim mittäglichen Putenbrustsalat gab sie selbst die Vorlage für einen überzeugenden Schwindel: »Weißt Du, wo der Elternbrief mit der Einladung zum Tag der offenen Tür an deiner Schule geblieben ist? Ist der Termin nicht bald? Wenn ich mich recht erinnere, schrieb Frau Barthelmi darin, dass Beiträge zum Büfett willkommen seien.«
»Ach ja, gut das du fragst, der ist übermorgen. Ich hätte fast vergessen, dir zu sagen, dass ich deswegen morgen etwas länger in der Schule bleibe und beim Aufbau helfe und ein paar Schilder bastele.«
»Ach herrje, übermorgen schon? Dann gehe ich am besten gleich noch schnell auf den Markt und kaufe frisches Gemüse und die Zutaten für ein paar Dipps. Welche magst du am liebsten?« Um den blamierenden Anblick von Gemüsedipps zwischen duftenden Kuchen zu verhindern, warf ich ein: »Nein, nein, du musst für das Büfett nichts zubereiten, es haben sich so viele Eltern gemeldet, die Kuchen backen, dass wir gar nicht wissen, wohin.
»Wie, es gibt nur Kuchen, aber dann ist ein gesunder Beitrag doch umso wichtiger.«
Das war also ein Eigentor. Jetzt half nur noch schmeicheln: »Da hast du recht, aber die Eltern kommen ja nicht, um etwas Gesundes zu essen, sondern um zwischendurch eine kleine Pause mit Kaffee und Kuchen zu machen. Und außerdem können ja nicht alle so schlank sein wie du.«
Meine Bemerkung erreichte die gewünschte Wirkung und ich schnaufte innerlich durch, als sie mit den Worten: »Wenn du meinst«, von ihrem Vorhaben abließ.
Ich hatte somit einen Freibrief für den morgigen Nachmittag und Herr Angenvort staunte nicht schlecht, als er mit einem Netz voller Bälle den Platz betrat und mich am Spielfeldrand stehen sah. Er winkte mich zu sich und sagte erfreut: »Da hast du ja nicht lange überlegen müssen, ob du mein Angebot annimmst. Na, dann komm, ich stelle dich kurz den anderen vor.« Er machte keine großen Worte, er freue sich, dass ich zum Probetraining gekommen sei, stellte mich als Lotte vor und wollte gerade das Startsignal zum Aufwärmen geben, als er einen unzufriedenen Blick auf meine Ausstattung warf: Leggins und leichte sporthallentaugliche Schuhe mit glatter Sohle, die Mutter mir unwillig für den Schulsport gekauft hatte, obwohl sie der Meinung war, dass Gymnastikschläppchen reichen müssten.
»Mit den Schuhen kannst du nicht Fußball spielen, damit kommst du mit Glück mit blauen Flecken davon, wahrscheinlich wirst du aber mit ordentlichen Prellungen und gebrochenen Zehen vom Platz humpeln.« Tränen vor Enttäuschung und Wut auf Mutter traten mir in die Augen und ich konnte Herrn Angenvort auch nicht mit dem Versprechen überzeugen, dass ich besonders aufpasse. Frustriert schlenderte ich mit hängendem Kopf vom Platz. Da rief mir plötzlich jemand hinterher: »Kannst die von meinem Bruder haben, falls sie dir passen!« Meinte er mich? Ich drehte mich um und sah, wie ein Junge mit der Nummer fünf und dem Namen Chris auf dem Trikot Fußballschuhe aus seiner Tasche kramte und sie mir hinhielt. Freudestrahlend lief ich auf ihn zu und nahm sie überschwänglich dankend entgegen. Er sagte: »Ist schon gut, das sind eh bloß meine Ersatzschuhe, die ich anziehe, wenn der Platz voller Matsch ist. Die habe ich von meinem Bruder geerbt, als sie ihm zu klein geworden sind. Probier mal, ob sie dir passen.« Das stand für mich außer Frage, denn mir waren gequetschte Zehen oder schlechter Halt tausendmal lieber, als auf das Spielen zu verzichten, weshalb ich, noch bevor ich die Schuhe richtig anhatte, euphorisch ausrief: »Wie angegossen. Vielen Dank!« Als ich aufschaute, war er schon wieder zwischen den anderen verschwunden, ich rannte hinterher und reihte mich in die Mannschaft ein. Während des Trainings schweißten uns Jubel, Abklatschen, Huckepacknehmen und gemeinsames Auf-dem-Boden-Wälzen derart zusammen, dass sowohl mein unpassendes Outfit als auch meine Ausnahmeerscheinung als eines von zwei Mädchen in der Jungenmannschaft keine verächtlichen Blicke oder Gekicher mehr provozierten. Das andere Mädchen, Martina, kannte ich aus der Parallelklasse, es hatte einen Igelschnitt, war halb so groß, aber dreimal so breit wie ich, spielte ausschließlich in der Abwehr und mähte jeden nieder, der versuchte, an ihr vorbeizukommen. Daher nannten die anderen sie Walze. Ich hielt den Namen Walze für gemein, weshalb ich sie Martina nannte. Nach meinem zweiten Zuruf: »Martina, hier!« und »Martina, pass auf, links!«, kam sie bedrohlich auf mich zugestampft, drückte ihre Stirn gegen meine wie ein Stier und schnaubte: Wenn du mich noch ein Mal Martina nennst, walz ich dich um, Böhnchen.« »Ich wollte nur nett sein«, beruhigte ich sie. »Seit wann geht es beim Fußball um nett sein? Wenn du nettes Kuscheln suchst, dann geh zu den Baghwan-Spinnern da hinten.« Walze deutete auf das Waldgebiet in der Nähe des Fußballvereins, wo vor drei Jahren Anhänger irgendeines indischen Gurus einen Ashram gegründet haben, um den die meisten Duisburger einen großen Bogen machten, da sie gegen deren spirituelle Lebensweise, wozu auch gehörte, dass sie nackt herumliefen, Bedenken hatten.
Ich verstand, dass der Name Walze ein Kompliment für sie war und ich durfte einige Male erfahren, wie es sich anfühlt, von ihr umgewalzt zu werden.
Als Mutter die blauen Flecken und Schürfwunden an meinen Beinen sah, stellte sie mich zur Rede und es gelang mir, sie mit Legenden von Fahrradstürzen, Unachtsamkeiten oder Vorfällen im Sportunterricht ruhigzustellen, bis Herr Angenvort auf die Idee kam, Mutter zu einem Gespräch in die Schule zu bitten. Voller Begeisterung erzählte er ihr von meinen Stürmerqualitäten auf dem Fußballplatz und dass ich in den letzten Wochen eine wichtige Stütze der Mannschaft geworden sei, weshalb er Mutter bat, mich im FC Millingen anzumelden, um an den Mannschaftsspielen teilnehmen zu können. Außerdem bräuchte ich eigene Fußballschuhe, da die geliehenen so langsam aus dem Leim gingen, Schienbeinschoner und ein Vereinstrikot.
Ich spürte, wie sich kalter Schweiß in meinen Händen sammelte und meine Ohren kurz davor waren, in Flammen aufzugehen, fixierte reglos den Kaktus, der hinter meinem Sportlehrer auf der Fensterbank stand und traute mich nicht Mutter anzuschauen, die wortlos ihren Kopf um fünfundvierzig Grad nach rechts drehte und mich von der Seite anstarrte. Ich fühlte, wie ihr Blick sich in meinen Kopf bohrte, hörte, wie ihr Atem begann vor Wut zu schnauben und wusste, dass sie drohte zu hyperventilieren. Ich bewegte die Augen einen Millimeter von dem Kaktus weg hin zu Herrn Angenvort und schloss aus seinen aufgerissen Augen und seiner heruntergelassenen Kinnlade, dass er Mutter so wahrnahm, wie ich sie neben mir spürte. Als er verunsichert und besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei, stand Mutter auf, ging zur Tür, brüllte meinen Namen, was für fünf Wochen das letzte an mich gerichtete Wort war, und eilte mich am Ärmel hinter sich herziehend aus der Schule. Herr Angenvort fand seine Sprache erst wieder, als Mutter mich ins Auto stieß. Ich hörte noch, wie er aus dem Fenster hinunter zum Parkplatz rief, dass sie mich nicht einfach mitnehmen dürfe, da ich noch vier Stunden Unterricht hätte. Sie würdigte ihn keines Blickes und schon gar keines Wortes, raste los und sperrte mich bis zum nächsten Morgen ohne Mittag- und Abendessen in mein Zimmer. Als ich hungrig und ängstlich die Küche betrat, lag ein Zettel mit folgender Nachricht auf dem Tisch: »Wage dich nicht noch einmal in die Nähe eines Fußballplatzes! Gehe mir aus den Augen und sprich mich nicht an. Die einzige Möglichkeit, dein Vergehen wieder gutzumachen, ist ein Platz auf dem Treppchen in Köln.«
* * *
Dem Casting in Köln wäre ich auch ohne den Fußballskandal nicht entkommen, allerdings hätte ich alles dafür getan, nicht zu den Auserwählten zu gehören. Da mir ansonsten die Fashion Week in Paris drohte, auf der ich die Mini-Versionen der Luxuskleider bekannter Modedesigner auf dem Laufsteg präsentieren müsste. Das sollte der erste Preis sein, für mich wäre das die Höchststrafe und durfte auf gar keinen Fall passieren. Denn womöglich käme ich dann auch noch ins Fernsehen und würde von meinen Lehrern oder Mitschülern erkannt, was mir so peinlich wäre, dass ich die Schule nicht mehr betreten könnte. Mein Vorbild war der gerade zum Fußballer des Jahres gewählte Jürgen Klinsmann und nicht eine stöckelnde Bohnenstange im Prinzessinenkostüm. Ich wollte brüllen, jubeln, mich auf dem Platz wälzen, auf den Rasen spucken und nach dem Spiel mit den anderen unsere Kampfschrammen bewundern, deren Anzahl offenbarte, wer den größten Einsatz auf dem Platz gezeigt hatte: Je mehr Blessuren, desto stolzer ging man aus der Kabine.
Aber nun musste ich mich entscheiden, ob ich die nächsten Jahre in mein Zimmer eingesperrt werden, keinen Fußballplatz betreten und die schweigende Verachtung der Mutter ertragen wollte. Oder ob ich zumindest vorübergehend vortäuschen sollte, eine Modelkarriere anzustreben, bis sich die Wogen geglättet hätten und ich einen neuen heimlichen Vorstoß aufs Spielfeld wagen könnte.
Ich entschied mich für die Täuschung und besiegelte damit mein Schicksal. Das Casting wurde ein voller Erfolg für Mutter und ein großes Dilemma für mich: Mein Plan, nach dem Casting unmerklich aus dem Traum der Mutter zu verschwinden und eine Hintertür zum Fußball zu finden, wurde einen Tag nach meinem Sieg in Köln von den Medien vereitelt. In sämtlichen Zeitungen prangte ein Bild von mir im Cocktailkleid mit meinem Namen darunter. Leider auch auf der Titelseite jenes bunten Blattes, das den Duisburgern wie eine Erkennungsmarke unter den Achseln klemmte, wenn sie morgens vom Bäcker kamen und in der einen Hand die Brötchentüte, in der anderen die Zigarette hielten. Über dem Foto titelte die Schlagzeile: Die Auferstehung Biggys. Von der Bulettenmeile auf den Laufsteg.
Der Ehrgeiz und die Euphorie der Mutter nahmen pathologische Ausmaße an, gegen die ich nicht ankam. Sie zwang mich nach einer kalten Dusche vor dem Frühstück zu Beckenbodengymnastik und Gesichtsmuskeltraining und vor dem Zubettgehen knetete sie in meine Oberschenkel, meinen Po und die Rückseite meiner Oberarme, die von ihr gefürchteten und gehassten Schwachstellen der Frau - die ich noch lange nicht war -, eine durchblutungsfördernde Penis-Steifungscreme ein und bearbeitete sie anschließend mit einer Cellulite-Massage-Rolle, um der Kraterlandschaft auf der Haut so früh wie möglich jeglichen Nährboden zu entziehen. Als mich meine Sitznachbarin in der Schule darauf aufmerksam machte, dass sie in meiner Gegenwart ständig Lust auf Plätzchen habe, weil ich irgendwie nach Weihnachten rieche und fragte, woher der Duft komme, verschluckte ich im letzten Moment die zweite Silbe des Pe…-Wortes, weil mir schlagartig bewusst wurde, wie abartig Mutter war. Ich stotterte noch einige Male die Silbe »Pe«, als suchte ich nach dem Namen der Creme und konnte noch halbwegs glaubhaft mit rotem Kopf antworten, dass es irgendeine Körperlotion mit Zimtduft sei. Gabi meinte, dass ich einmal nachschauen solle, wie die Creme heiße, denn sie würde sie gerne ihrer Mutter zu Weihnachten schenken. Auf dem Weg nach Hause ging ich in einen Drogeriemarkt, durchsuchte die Regale vergeblich nach einer Creme mit Zimtduft, schlenderte auffällig unauffällig einige Male an dem Regal mit den Intimartikeln entlang und schielte zu den Produkten: Neben einer ganzen Palette an Kondomen in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen gab es ein Gleitgel von Flutschi. Ich war mir nicht ganz sicher, wofür man das brauchte, aber die Tube sah genauso aus wie eine Haargeltube. Allerdings stand auf der Rückseite, dass es einen erregenden Ambra-Duft enthalte. Roch Ambra nach Zimt? Ich überlegte, ob man mit Flutschi nicht zwei Fliegen mit einer Klappen schlagen und es auch für die Haare nutzen konnte. Plötzlich stand eine Verkäuferin neben mir und riss mich aus meinen Gedanken: »Junge Dame, kann ich dir helfen? Ich glaube nicht, dass du damit etwas anfangen kannst. Was suchst du denn?« Ich stellte Flutschi verlegen zurück ins Regal und sagte: »Haargel.« Sie führte mich in den entsprechenden Gang und setze sich wieder hinter die Kasse. Es war mir peinlich, mit leeren Händen aus dem Laden zu gehen, als ob bei den unzähligen Gelsorten keine für mich dabei gewesen wäre. Aber mein wertvolles Taschengeld für eine Tube Gel auszugeben, die ich in den nächsten Jahren nicht brauchen werde, da ich meinen Pferdeschwanz nicht gelen musste und nicht vorhatte ihn abzuschneiden, nein, dafür war die Scham nicht groß genug. Also ging ich zügig mit gesenktem Blick an der Kassiererin vorbei und legte draußen einen kleinen Spurt hin, der die Anspannung vertrieb. Immerhin hatte ich die Penis-Versteifungscreme, mit der mich Mutter täglich beschichtete, nicht entdeckt, sonst wäre Gabi womöglich noch auf den Riecher gekommen bei der Suche nach einer Zimtcreme für ihre Mutter.
* * *
Bis zu dem Tag, als ich Gabi gegenüber in Erklärungsnöte gekommen war, hatte ich mir über die Paste keine Gedanken gemacht, da Mutter neben ihrer Arbeit als Schneiderin als Vertreterin für Beate Uhse-Artikel unterwegs war und ich daher von klein auf Gummiringe auf Dildos schob statt Legosteine zusammenzustecken und nicht auf einem imaginären Einhorn ritt, sondern mit Latexmaske und Silikonpeitsche durch die Wohnung jagte. Der Koffer mit Sexspielzeug war für mich eine Schatztruhe absonderlicher Entdeckungen, die ich leider geheim halten und nicht mit meinen Freunden teilen konnte, was mir Mutter unmissverständlich mit drohendem Zeigefinger zu verstehen gab. Nach der ersten Stunde Sexualkundeunterricht in Biologie in der fünften Klasse bekam ich eine Ahnung davon, warum mein Spielzeug der Geheimhaltung unterlag, da ich vage Verbindungen ziehen konnte zwischen den Bildern in unserem Schulbuch und den Erklärungen unserer Lehrerin und dem Inhalt des Koffers. Als in der zweiten Stunde das Kinderkriegen thematisiert wurde, bekam ich einen innerlichen Panikanfall, da ich in den Abbildungen des männlichen Geschlechtsteils die Dildos wiedererkannte, mit denen ich beinahe täglich in Berührung kam. Wofür sollten die sonst gut sein, als diese kleinen Kaulquappen abzusondern, damit sie sich in der Spielgefährtin einnisten konnten, so wie es auf den Arbeitsblättern zu sehen war. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, tastete immer wieder meinen Bauch ab, ob der sich nicht bereits verdächtig wölbte und wollte Mutter am nächsten Tag zur Rede stellen. Würde sie mich damit spielen lassen, wenn es so gefährlich wäre? Glücklicherweise lösten sich meine Sorgen in der nächsten Biologiestunde in peinlichem Stolz auf, als Frau Stövken Penismodelle und Kondome verteilte, um uns schon einmal mit einer möglichen Verhütungsmethode vertraut zu machen, denn in den nächsten Jahren sei es für uns wichtiger zu wissen, wie man eine Schwangerschaft verhindere als wie man sie herbeiführe. Während Frau Stövken wie eine Stewardess den Plastikpenis vor sich hielt und demonstrierte, wie man das Kondom darüberzustreifen habe, war ich in meinem Element, hatte bereits zwei Kondome über ein Exemplar gezogen und suchte vergeblich nach dem Schalter, mit dem unsere Dildos zu Hause ausgestattet waren. Denn ohne die lustigen Kreisbewegungen oder das Vibrieren waren die Dinger furchtbar langweilig. Als ich aufzeigte, um nach dem An-Aus-Knopf zu fragen, bemerkte ich erst, dass die anderen mit hochrotem Kopf das Plastikglied vor sich auf dem Tisch unangetastet anstarrten, vor Scham kicherten und wie gelähmt davor saßen.
Sie waren so befangen, dass sie mein fingerfertiges Vorpreschen nicht bemerkt hatten, sodass ich meine Meldung schnell zurückzog, unter der Bank unauffällig den Phallus wieder von den Kondomen befreite, diese wieder in die Verpackung steckte, beides vor mich auf den Tisch legte und versuchte, ebenso überfordert vor mich hinzustarren wie meine Mitschüler. Frau Stövken hatte meine Expertise aber mitbekommen und meine Meldung registriert: »Lotte, du hast eine Frage?«
»Ich wollte fragen, wo der An-Aus-Schalter an diesen Dildos ist.«
Frau Stövken brauchte einige Sekunden, bis ihr die Brisanz dieser Frage bewusst wurde, errötete dann schlagartig, dachte womöglich an ihr eigenes Gerät zu Hause, hoffte, dass die anderen Schüler die Frage nicht gehört oder begriffen hatten und antwortete herunterspielend und möglichst leise nur an mich gerichtet: »Diese Modelle haben keine Schalter« und schob hektisch und mit lauterer Stimme hinterher: »Und jetzt sei so lieb und schau dich an den Tischen um, wer Hilfe gebrauchen könnte.«
Ich war mit der Antwort nicht zufrieden, aber bevor ich nachhaken konnte, guckte Frau Stövken mich durchdringend an und forderte mich mit einer zur Eile gemahnenden Handbewegung auf, durch die Klasse zu gehen und den Befangenen bei der Verhütung zu helfen.
Während sich die Stimmung unter den Schülern lockerte, zuckte Frau Stövken alle paar Minuten zusammen, wenn sie das Wort »Dildo« an den Tischen vernahm, das die Schüler wie selbstverständlich in ihren Wortschatz aufgenommen hatten. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie die Kinder ihren Eltern beim Abendessen begeistert von den Dildos in ihrem Unterricht erzählen würden und legte sich schon einmal Erklärungen zurecht, mit denen sie die Empörten bei den auf sie einstürzenden Elterngesprächen beruhigen konnte. Am Ende der Stunde bat mich Frau Stövken zu sich und wollte wissen, woher ich den Ausdruck habe und warum ich mich mit dem so Bezeichneten so gut auskenne.
Ich erzählte ihr ungeniert, dass Mutter beruflich damit zu tun habe und ich mit den Dingen in ihrem Arbeitskoffer spielen dürfe, unter denen sich eben auch solche aus dem heutigen Unterricht befänden und auf deren Verpackung »Dildo« stehe.
Frau Stövken witterte Kindesmisshandlung und versuchte sich an den Ablaufplan bei einem solchen Verdacht zu erinnern, welchen die Kollegen des sozialpsychologischen Dienstes auf der letzten Lehrerkonferenz anschaulich per PowerPoint-Präsentation vorgestellt hatten, um sich über den nächsten Schritt klarzuwerden, den sie zweifellos unverzüglich einleiten musste. Dabei kam ihr eine der fünf wichtigsten Regeln in den Sinn, die laut Beratungsteam unbedingt eingehalten werden sollte: »Sprechen Sie mit den Schülerinnen und Schülern nicht über Details des Hergangs!« Deshalb blieb sie möglichst sachlich und sagte beschwichtigend: »Also gut, aber ich bitte dich diesen Namen für unsere im Unterricht verwendeten Modelle des männlichen Geschlechtsteiles nicht zu verwenden, da er unangemessen und nicht richtig ist! Verstanden?«
Ich fühlte mich zu Unrecht abgekanzelt, da ich mir keiner Schuld bewusst war und erwiderte gekränkt mit den Worten: »In Ordnung! Aber was ist so schlimm an dem Wort?« »Lotte, am besten, du vergisst ihn einfach. Geh jetzt in die Pause.«
Eine Woche später hatte ich einen Termin bei Frau Recki, unserer Sozialpädagogin, während die anderen Sportunterricht hatten, was mich wütend machte, denn Sport war mein Lieblingsfach und der Höhepunkt der Woche. Meine schlechte Laune verflog aber sofort, als Frau Recki auf mein Klopfen hin die Tür öffnete, herzlich ihren Arm um mich legte und mich in ihr Sprechzimmer führte. Ich tauchte ein in eine wohltuende Welt mit lustigen Tierbildern an den Wänden, einem bunten, flauschigen Teppich und einem weichen, blauen Ledersofa. Ich zog meine Schuhe aus und ein Paar der dicken, selbst gestrickten Wollsocken, die in einem Korb neben der Tür lagen, an und machte es mir auf dem Sofa bequem. Vor dem Fenster stand ein uralter Schreibtisch aus edlem Holz mit blumigen Verzierungen, in der Ecke neben dem Schreibtisch schlängelte sich eine Philodendron bis zur Decke hoch und auf der Fensterbank und dem kleinen Tisch vor dem Sofa verbreiteten bunte, duftende Blumensträuße eine freundliche Atmosphäre. Endgültig entschädigten mich aber die kleinen Naschereien, die mir Frau Recki anbot, bei denen ich im Laufe unseres Gespräches immer beherzter zugriff; nicht nur wegen meines ständigen Appetits auf Süßes, sondern auch, weil sie meine Nerven, die Frau Recki ziemlich strapazierte, beruhigten.
Ich verlor zunehmend meine Scheu und vertraute mich ihr mehr und mehr an, was sie sehr mitzunehmen schien, denn zuweilen bekam sie rote Flecken am Hals und Schweißperlen bedeckten ihre Stirn. Ich erzählte ihr vom Fußball-, Hamburger-, Pommes- und Süßigkeitenverbot, von Knäckebrot, Salat, Basentee, den Beckenbodenübungen am Morgen und der Knetbehandlung mit der Penis-Steifungscreme am Abend. Als ich ihr schilderte, dass Mutter mir die Schuld an der Zerstörungen ihres Traumes einer Modelkarriere gebe, da ihr Körper während der Schwangerschaft durch Wasserablagerungen, Dehnungsstreifen in der Haut und einen Hängebusen verunstaltet worden sei, was sie mir regelmäßig vorwurfsvoll präsentiere und ich deshalb als Schadenersatz an ihrer Stelle Modell werden müsse, zog Frau Recki ein Taschentuch aus dem Spender und schnäuzte sich. Ihre Tränen verunsicherten mich und mir kamen Bedenken, ob mit mir etwas nicht in Ordnung sei, weil meine Augen trocken blieben und ich keinen Drang verspürte, mich schluchzend an Frau Reckis Brust zu werfen. Ich versuchte vergeblich, meine Tränendrüsen zu aktivieren und dabei fiel mir ein, dass ich Mutter noch nie habe richtig weinen sehen, außer ein paar Glückstränen vor Stolz. Sie liefen ihr über die Wangen, als ich letztes Jahr für eine chinesische Designerin auf der New Yorker Fashionweek deren Partnerlook-Kreationen, gleiche Outfits für Eltern und Kind, zur Schau stellen musste. Statt eines in die Rolle der Mutter schlüpfendes Model durfte sie sich auf den Pressefotos in einem hautengen Kostüm neben mir ablichten lassen, das den verlorenen Kampf gegen ihre Schwachstellen enthüllte. Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass Gefühlskälte vererbbar ist, denn ich wollte auf keinen Fall so werden wie Mutter. Mein Unwohlsein schien sich in meinem Gesicht widerzuspiegeln, denn Frau Recki sagte, dass ich ziemlich blass geworden sei und nahm mich in den Arm, um mich zu trösten. Ich tat ihr den Gefallen und schlang nach anfänglichem Fremdeln meine Arme um sie und verlor mich, je länger sie mich hielt, mehr und mehr zwischen ihren verschwenderischen Brüsten und geriet in einen pränatalen Zustand der Geborgenheit und Sicherheit. Der Schulgong riss mich aus der Schutzzone heraus und ich spürte eine heilsame Träne über meine Wange laufen. Ich strahlte Frau Recki überglücklich an und sagte erleichtert: »Ich bin nicht wie Mutter!«
Nach einem Glas Wasser und Schokolade hatten wir unsere Fassung und die alte Sitzposition wiedergefunden und Frau Recki fragte, ob ich noch genug Kraft hätte, um über den Vorfall während der letzten Biologiestunde zu sprechen. Ich hätte ihr zwar lieber von schwerwiegenderen Vorfällen zwischen Mutter und mir erzählt, die mir erneut Einlass in die Schutzzone zwischen ihren Brüsten gewährt hätten, aber tat ihr den Gefallen und schilderte ihr die Biologiestunde und was ich Frau Stövken danach erzählt hatte.
Frau Recki wollte genauer wissen, was sich alles in meinem Spielzeugkoffer befinde und wie sie sich das Spielen mit diesen Gegenständen vorzustellen habe. Ihre Gesichtsfarbe änderte sich im Verlauf meiner Erläuterungen und diente mir als Indiz dafür, wie stark meine Kindheit gefährdet war: Klangkugeln durch mein Zimmer zu rollen zeigten sich als ein ungefährliches Zartrosa; dass ich mir über jeden Finger Kondome in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen stülpte und daran als Lolliersatz, denn die habe Mutter mir verboten, herumnuckelte, wobei mein Lieblingsgeschmack Marshmallow sei, führten zu einem kirschroten Teint und schien also gefährlicher zu sein. Das Leichenblass bei der Schilderung meines Rittes durch die Wohnung mit Reitpeitsche und in schwarzer Latex-Kluft signalisierte mir, dass ich vielleicht doch ein Fall für den Kinderpsychiater war. Nach einer Stunde lagen die Nerven von Frau Recki blank und sie verabschiedete mich mit dem Hinweis, dass sie Mutter zu einem Gespräch in die Schule bitten werde und dass ihre Tür immer für mich aufstehe.
Mutter verfolgte, von der Unterredung mit Frau Recki scheinbar ungerührt, ihr Ziel mit noch mehr Härte, obwohl sie ihr mit dem Jugendamt gedroht habe, wie sie mir spöttisch berichtete. Das Jugendamt tauchte nicht auf und drei weitere Jahre durchlitt ich das von Mutter für mich vorbestimmte Leben. Ich musste mich regelmäßig auf Fotoshootings darbieten und fühlte mich dabei wie auf einer Schlachtbank: Mein Körper wurde zu Werbezwecken instrumentalisiert und inszeniert, sodass ich meine Gliedmaßen und mein durch ein gezwungenes Lachen verzerrtes, künstliches Gesicht wie tote, nicht zu mir gehörende Körperteile empfand und mich wie ein Arbeitsgerät der Mutter fühlte. Ich lief auf Kindermodenschauen in Hamburg, München und Berlin über die Laufstege und präsentierte Kreationen bekannter Modedesigner. Meine Fußballleidenschaft musste ich auf die Unterrichtspausen während der Schule einschränken.
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Mein Aufstieg begann im Jahre 1981 mit einem Absturz vom Schwebebalken am Ende der achten Klasse. Im Sportunterricht stand Turnen auf dem Programm, nicht gerade meine Stärke, aber auf dem Schwebebalken hielt ich mich vergleichsweise gut, da ich durch das Stöckeln über Laufstege Übung im Gleichgewichthalten hatte. In der letzten Turnstunde sollten wir unsere einstudierte Kür vorturnen, die bei mir bis zu meinem finalen Salto wie am Schnürchen lief. Doch dann rutsche ich beim Schwungholen von der Kante ab und hörte bei der Landung auf der Matte ein Knacken, spürte einen stechenden Schmerz und blickte auf meinen abgeknickten Fuß. Dreißig Minuten später bekam ich im Krankenhaus einen glatten Mittelfußbruch und einen Bänderriss attestiert. Als Mutter eintraf, wurde mein Schmerz von einem mir bisher unbekannten Gefühl von Schadenfreude verdrängt, die mein Körper mir bereitete, indem er sich an Mutter für deren jahrelange Schändung rächte. Denn mit diesen Verletzungen durchkreuzte er ihre Pläne für die nächsten Modenschauen und verhinderte, dass sie mich weiter über Laufstege jagen konnte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass der gebrochene Fuß auch ein Bruch mit meinem bisherigen Leben bedeutete. Während ich eingegipst wurde, stürmte Mutter außer sich ins Krankenzimmer und befahl dem Arzthelfer, sofort den Gips wieder zu entfernen, da sie ansonsten eine Anklage auf Schadenersatz erhebe. Wutschnaubend schrie sie ihn an: »Wissen Sie eigentlich, wessen Bein Sie hier gerade eingipsen? Nein? Lesen Sie keine Zeitung, schauen Sie kein Fernsehen? Schon einmal etwas von der Auferstehung Biggys gehört? Biggy, also Lotte, läuft nächste Woche als erstes Kindermodel der Welt auf John Gallianos Show für Dior, und das auf der großen Treppe des Pariser Opernhauses. Können Sie mir sagen, wie das mit Gipsbein gehen soll? Seit zwei Monaten fahren wir dafür dreimal pro Woche nach Bochum, da die Operntreppe dort die gleichen Stufenmaße hat wie die in Paris, um das Gehen auf der Treppe in engem Kleid und mit hohen Schuhen zu trainieren. Das muss in Fleisch und Blut übergehen. Sie glauben wohl, das Modeln sei ein spaßbringender Zeitvertreib, da irren Sie sich gewaltig, das ist harte Knochenarbeit.« Mutter hatte während ihrer Tirade nicht ein Mal Luft geholt und ihr Kopf sah bedrohlich krebsrot aus. Sie hielt ihren anklagenden Erregungszustand aufrecht und brachte mir statt mütterlicher Anteilnahme ihre Erbarmungslosigkeit entgegen: »Lotte Schröder, wie konntest du nur so unvernünftig sein und nicht aufpassen! Täglich bete ich dir vor, dass du nichts anderes im Kopf haben darfst als deine Karriere. Wieso ist das in deinem Schädel nicht angekommen?« Während ich beschämt nach unten schaute, fuhr der Arzthelfer unbeeindruckt mit dem Eingipsen fort und sagte: »Wie Sie sehen, hat der Knochen seine Arbeit eingestellt. Wenn ihnen etwas an ihrer Tochter liegt, sollten auch Sie das tun, wozu Lotte nun leider, zumindest einseitig, für die nächsten acht Wochen gezwungen ist: die Füße still halten.«
»Ich möchte sofort den Arzt sprechen!«, verlangte Mutter. Dazu müsse sie zur Anmeldung gehen und nach Frau Dr. Böhnisch fragen. Mutter jagte über den Flur zur Anmeldung.
Der Arzthelfer sah mich mitleidig an und drückte sein Bedauern über den unpässlichen Unfall aus: »Da hast du dir ja nicht gerade den günstigsten Zeitpunkt für ein Gipsbein ausgesucht, aber Kopf hoch, du scheinst ja bereits weltweit in aller Munde, da werden die Designer sicher auf deine Genesung warten und bald schon wieder Schlange stehen.«
»Ich wünschte, die würden mich vergessen. Ich hasse das Modeln. Können Sie den Gips nicht so anlegen, dass alles etwas schief zusammenwächst? Dann müsste ich nie wieder über Laufstege stelzen. Und eine leichte O-Beinstellung wäre sogar förderlich für einen ordentlichen Spin beim Schießen.«
Verdutzt schaute mich der Arzthelfer an und pochte darauf, dass ich mit Mutter über meine Wünsche spreche.
Ich erwiderte resigniert: »Mit ihr kann man nicht reden. Als sie erfuhr, dass ich Fußball spiele, hat sie mich in mein Zimmer eingesperrt, mir das Fußballspielen verboten und so lange nicht mehr mit mit gesprochen, bis ich fünf Wochen später den nächsten Modelwettbewerb gewonnen hatte.«
»Gibt es denn niemanden, dem du dich anvertrauen kannst und der dir hilft?«, fragte der Arzthelfer alarmiert, »ich kann dir die Telefonnummer des sozialpsychologischen Dienstes für Kinder und Jugendliche in deiner Nähe geben. Dort kannst du jederzeit anrufen.« Er gab mir ein Faltblatt aller Einrichtungen für Kinder in Not mit dem Hinweis, dass meine Mutter davon nichts zu wissen brauche.
Wie auf‹s Stichwort hörte ich Mutter Frau Dr. Böhnisch anblöken: »Ihre Vorwürfe sind absolut haltlos und eine Frechheit. Ich werde mir einen Anwalt nehmen und Sie verklagen und meine Tochter können Sie nicht gegen meinen Willen hier behalten, ich nehme sie jetzt mit!« Vom Flur aus rief sie nach mir: »Lotte, komm, wir gehen!«
Ich zuckte zusammen und wollte von der Liege steigen, als mich ein stechender Schmerz zurückwarf. Dr. Böhnisch stürzte kurz nach Mutter herein und forderte sie auf, das Zimmer zu verlassen: »Frau Schröder, wenn Sie Ihre Tochter gegen meine ärztliche Anweisung mitnehmen, werde ich das Jugendamt einschalten, denn dann ist das Wohl Lottes in Gefahr. Ich bitte Sie daher, zur Vernunft zu kommen und Ihre Tochter bis morgen für weitere Untersuchungen hier zu lassen.« Ich wusste nicht, über welche weiteren Untersuchungen Frau Dr. Böhnisch mit Mutter gesprochen hatte, konnte mir aber vorstellen, dass es etwas mit den Bemerkungen Herrn Mühlenas, des Arzthelfers, zu tun hatte, der während des Eingipsens sagte, dass eine solche Schwere meiner Verletzung in meinem Alter sehr ungewöhnlich sei, was ihn aber nicht wundere, wenn man nur aus Haut und Knochen bestehe. Mutter gab sich geschlagen: »Dann lassen Sie mich wenigstens mit meiner Tochter unter vier Augen sprechen.«
Als wir allein im Zimmer waren, beschwor Mutter mich, keine Dummheiten zu erzählen, an meine Karriere zu denken und mich nicht so anzustellen. Ich solle sie anrufen, wenn die Untersuchungen erledigt seien, sie warte dann auf dem Parkplatz auf mich, denn sie wolle dieser ignoranten und beleidigenden Böhnisch nicht noch einmal begegnen.
Erst als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, atmete ich weiter und als ich realisierte, dass ich einfach einmal nur daliegen durfte, ohne irgendwelche Erwartungen erfüllen zu müssen, überkam mich ein tiefer Entspannungszustand. Als wollte mein Körper von den nächsten mutterfreien vierundzwanzig Stunden keine Sekunde verschenken, schlief ich erleichtert ein.
Ich träumte, dass Herr Mühlena mir etwas Blut abzapfen wollte und merkte erst, als er mir mit einer Nadel in den Arm pikste, dass das kein Traum war, was meinem zufriedenen Zustand aber nichts anhaben konnte. Auch die weiteren Untersuchungen waren im Vergleich zu den Schikanen der Mutter eine Erholung: Es wurden neurologische Tests durchgeführt, meine Organe konnte ich auf Ultraschallbildern betrachten, meine Knochendichte wurde gemessen, mein Herz mit einem Langzeit-EKG, das ich über Nacht tragen musste, kontrolliert und mein psychischer Zustand durch ein langes Gespräch mit einer sehr netten Psychologin, die mich an Frau Recki erinnerte, geprüft.
Die Ergebnisse waren für die Ärzte besorgniserregend, für Mutter ein Fiasko und für mich ein Geschenk. Die Hormonzusammensetzung in meinem Blut und die Knochendichte passten zu einem siebzigjährigen hermaphroditischen Börsenmakler kurz vor dem Crash, wohnhaft in Fukushima: poröse Knochen, weibliche Hormone kaum vorhanden, Cortisolspiegel viel zu hoch und eine amoklaufende Schilddrüse. Zudem sei eine posttraumatische Belastungsstörung vorprogrammiert, wenn nicht unverzüglich gegengesteuert würde. Da Mutter die Untersuchungsergebnisse anzweifelte und sich nicht dazu bereit erklärte, auch nur einen Zentimeter von ihrer Lebensplanung abzurücken, mich zu einem Weltstar auf dem Laufsteg abzurichten, stand drei Wochen später, zu Beginn der Sommerferien, das Jugendamt vor der Tür und rettete meine Knochen. Man fand bei der Durchsuchung unserer Wohnung Schilddrüsentabletten, die Mutter mir vermutlich ohne mein Wissen verabreicht hatte, was die Überfunktion und das Scheitern meiner Gewichtszunahme trotz des heimlichen Verschlingens von Süßigkeiten erklärte.
Auch eine Abhängigkeit Mutters von Psychopharmaka und Schlaftabletten kam ans Licht und ein psychologisches Gutachten bescheinigte ihr eine schwere Traumatisierung und vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit, weshalb ihr das Sorgerecht vorerst entzogen und meiner Großmutter zugesprochen wurde. Als Mutter am Ende der Sommerferien in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, erlangte ich eine doppelte Freiheit: Beinfreiheit, da mir der Gips abgenommen wurde und Willensfreiheit, da ich der mütterlichen Handhabung entkam und zum ersten Mal in meinem Leben das machen konnte, wozu ich Lust hatte.
* * *
Während es für die meisten Kinder ein Albtraum ist, von der Mutter getrennt zu werden,
genoss ich es in vollen Zügen. Ich schlief so albtraumlos wie noch nie und freute mich abends schon auf das Frühstück und eine heiße Dusche ohne Kälteschocks, die Mutter mir sonst jeden Morgen zur Abhärtung verabreicht hatte. In den ersten Tagen meines neuen Lebens kam es mir wie ein Traum vor, ohne von durchblutungsfördernder Penis-Versteifungscreme rotfleckigen Beinen mit Großmutter am Frühstückstisch zu sitzen und in ein Brötchen mit Butter und Nutella zu beißen. Die Beckenbodengymnastik war in weite Ferne gerückt und sollte sich erst wieder nähern, als ich dreißig Jahre später freiwillig den Alterserscheinungen zu Leibe rückte. Das erste Indiz für meine Willensfreiheit war die Fahrt zum FC Millingen gleich am ersten Schultag nach den Sommerferien. Mein letztes Training war fast drei Jahre her, aber Herr Angenvort tat so, als sei es gestern gewesen, und statt Fragen zu stellen - ich war mir nicht sicher, was er über die Sache mit Mutter wusste - mahnte er mich zur Eile: »Worauf wartest du? Zieh dich um, deine Mannschaft ist schon beim Aufwärmen.« Ich heulte vor Glück, zog die mir vor drei Jahren zwei Nummern zu großen, nun etwas zu kleinen Fußballschuhe, die mir Chris damals geschenkt hatte, an und rannte zu den anderen. Fast alle aus dem früheren Team waren noch dabei, aber ich befürchtete, dass sie mir meinen plötzlichen Abgang übelgenommen hatten und bremste meinen euphorischen Sprint zwanzig Meter vor der laufenden Truppe ab. Chris bemerkte mich als Erster und rief: »Nein, ich glaub‹s nicht. Hey, Jungs, schaut mal, wer da kommt. Die Auferstehung Biggys.« Bei dem Wort entwich meinem Körper jegliche Kraft, ich strauchelte und mir wurde schwindelig. Aus dem Hinterhalt war mein altes verhasstes Leben wieder in mich hineingekrochen. Sie wussten es also. »Böhnchen?«, rief Walze erstaunt. Da war sie, meine zweite Identität, die mich auf den Beinen hielt. Mein Blick wurde wieder klarer und als ich die anderen lachend auf mich zustürmen sah, wusste ich, dass mir zum zweiten Mal das Aufnahmeritual bevorstand und ich ließ mich vergnügt von ihnen niederwalzen. Ich gehörte wieder dazu.
Von diesem Tag an war ich täglich auf dem Fußballplatz. Einmal pro Woche trainierte ich die Kleinsten des FC Millingen und verdiente mir damit das Geld für eine angemessene Ausrüstung: Nach einem Monat konnte ich mir passende Schuhe und kurz darauf Schienbeinschoner kaufen. Aber das schönste Geschenk in meinem Leben bekam ich zu meinem fünfzehnten Geburtstag. Ich fuhr wie jeden Tag nach der Schule mit dem Rad zum Verein, aber der Platz war wie leergefegt, kein Mensch weit und breit, irgendetwas stimmte da nicht. Ich schaute in den Umkleidekabinen: nichts, im Vereinsheim: niemand zu sehen. Auf einmal hörte ich aus irgendwelchen Lautsprechern die Stimme von Chris: »Frau Schröder, bitte finden Sie sich umgehend auf dem Fußballplatz ein!« Ich rannte hinaus auf den Platz, der nach wie vor verlassen dalag. Verdutzt stand ich eine Weile da, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Geburtstagsständchen der ganzen Mannschaft durch die Lautsprecher dröhnte und gleichzeitig etwas an dem Fahnenmast vor dem Vereinsheim hochgezogen wurde. Ich traute meinen Augen nicht: Das war ein Vereinstrikot mit dem Namen Böhnchen und der Nummer fünfzehn auf dem Rücken. Ich bekam eine Gänsehaut und wieder wurde mir schwindelig, aber dieses Mal vor Glück. Meine Mannschaftskameraden kamen aus ihrem Versteck auf mich zu, trugen mich auf ihren Händen hoch über ihren Köpfen und ließen mich dreimal hochleben. Als ich das Trikot in den Händen hielt, sah ich, dass alle auf der Vorderseite unterschrieben hatten.
Es war sowohl ein Geburtstags- als auch ein Abschiedsgeschenk, das ich bei unserem letzten Saisonspiel zwei Wochen später trug. Ich musste den Verein verlassen und in eine Damenmannschaft wechseln, denn die Jungs aus meiner Mannschaft wurden zu Männern und ich kam gegen ihren Testosteron- und Adrenalinspiegel nicht mehr an: Sie waren schneller, ihre Schüsse härter, ihre Fouls nicht mehr Ausdruck ihres Spiel-, sondern zunehmend ihres Aggressionstriebs, die Jubelgesten wurden geschlechtsspezifisch und grenzten mich aus: Ich konnte und wollte mir nach einem Tor nicht wie ein Affe auf die Brust trommeln, an die Keimzellenhalter zwischen den Beinen packen oder die Eckfahne kopulierend antanzen. An dem Umgang mit mir auf dem Platz zeigte sich, welcher Typ Mann in den Jungen steckte: Es gab die Ausnahmen mit angemessenem Empathievermögen, die sich im Zweikampf charmant zurückhielten; dann gab es den hormongesteuerten Typus, der gleichzeitig seinen Aggressions- und Sexualtrieb befriedigte, indem er mir so oft wie möglich auf den Leib rückte, dabei sein Becken gegen meinen Hintern drückte und alles, was er in die Hände bekam, brünstig angrapschte. Und das, obwohl ihm kaum etwas in die Hände fallen konnte. Denn während meinen Klassenkameradinnen die pubertären weiblich- en Pölsterchen wuchsen, wurde ich dem bei sommersprossigen Rothaarigen häufig anzutreffenden leptosomen Erscheinungsbild gerecht: blasse Bohnenstange ohne erkennbare sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale. Den am häufigsten anzutreffenden Männertypus auf dem Fußballplatz verkörperten jene Mannschaftskameraden, die mir durch Fouls deutlich machten, wer auf dem Platz die Hosen anhat und mir mit sexistischen Äußerungen drohten, dass ich meinen Schwanz, den sie mir immerhin zugestanden, besser einziehen und mich aus ihrem Revier verpissen sollte.
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Da Frauenfußball zu Beginn der Achtzigerjahre noch wenig verbreitet war, bot sich für mich nur der Wechsel in die Frauenmannschaft des Kaßlerfelder Ballsportclubs in Duisburg an oder ich hätte wegziehen müssen. Das wollte ich nicht, denn ich fühlte mich wohl bei Großmutter und hatte einen netten Freundeskreis und außerdem war der KBC alles andere als eine Kompromisslösung. Der Verein hatte bereits seit 1970 eine Frauenfußballabteilung und das Team gehörte zu einem der besten in Deutschland; zwei Jahre zuvor, 1980, hatten sie um die Deutsche Meisterschaft gespielt und im Finale knapp gegen SSG 09 Bergisch Gladbach verloren.
Außerdem konnte ich mit dem Rad zum Verein fahren, denn vom Beeckbach bis zum KBC waren es nur neun Kilometer. Herr Angenvort hatte im Vorfeld mit dem Vereinsvorstand und dem Trainer gesprochen und ein Kennenlerntreffen und Probetraining vereinbart. Als ich das Vereinsgelände erreichte, wurde mir etwas mulmig zumute, da der FC Millingen mit diesen Dimensionen nicht mithalten konnte. Statt direkt bis an den - einzigen und nicht zu verfehlenden - Platz zu fahren, stand ich hier erst einmal perplex auf einem riesigen Parkplatz und sah nichts von einem Spielfeld. Stattdessen türmte sich ein Stadion vor mir auf. Ich fuhr zweimal darum herum und schob mein Rad - Schilder zeigten an, dass das Radfahren auf dem Vereinsgelände verboten war - durch irgendeinen Eingang und stand wieder orientierungslos da. Aus einem Nebengebäude trat ein Mann mit einem Netz voller Bälle, auf den ich in der Annahme, dass es der Trainer sei, zulief und mich vorstellte. Er entgegnete ungerührt: »Wolle, Platzwart. Denn hau ma rein, wa« und schlurfte weiter. Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass Trainer und Platzwart im KBC nicht ein und dieselbe Person waren, bevor ich zu Wolle aufschloss und ihn fragte, ob er mir sagen könne, wo die Frauenmannschaft trainiere. Ohne stehen zu bleiben, nickte er in eine nicht näher bestimmte Richtung zur anderen Seite des Stadions. Ich schob mein Rad weiter neben ihm her und fragte, wie ich dorthin komme. Da müsse ich raus aus dem Stadion zum Trainingsgelände, Ausgang F, am Hockeyplatz vorbei und dann immer dem Duft nach. Ich bedankte mich und ging zum Ausgang F. Was der Kommentar mit dem Duft sollte, blieb mir schleierhaft.
Am Trainingsplatz angekommen sah ich jemanden verschiedene Übungsstationen auf dem Rasenplatz aufbauen, weshalb ich annahm, dass dies der Trainer sein müsste, aber nach der Begegnung mit Wolle war ich etwas verunsichert. Vielleicht hatte der KBC ja auch einen extra Trainingsgeräteaufsteller. Zögerlich näherte ich mich dem Platz und stand eine Weile am Spielfeldrand, bis der Mann mich bemerkte und lächelnd auf mich zukam: »Lotte? Schön, dass du da bist. Die Mädels findest du da drüben in der Umkleide.« Ich war nervös und atmete tief durch, bevor ich die Umkleideräume betrat. Meine zukünftigen Mannschaftskolleginnen redeten alle gut gelaunt durcheinander. Die meisten waren deutlich älter als ich, auf einigen prangten Tattoos und sie gingen ziemlich vulgär miteinander um, so wie ich es eher vom Männertyp zwei und drei aus meiner alten Jungenmannschaft kannte. Als eine ihre Hüllen fallen ließ und ein Leopardentanga zum Vorschein kam, gab es obszöne Pfiffe, schlüpfrige Bemerkungen und anzügliche Klapse auf den Allerwertesten. Ich blieb eingeschüchtert an der Tür stehen und sie bemerkten mich zunächst nicht. Mit einem zaghaften »Hallo!« machte ich auf mich aufmerksam, woraufhin die Leopardin mir entgegensprang, mir ihren muskulösen Arm um die Schultern legte und mich den anderen vorstellte: »Hi, du bist wahrscheinlich das angekündigte Sturmwunder auf zwei Stelzen?«
»Lotte wäre mir lieber!«, konterte ich.
Ich fühlte mich fehl am Platze, denn dem Sprücheklopfen konnte ich nichts abgewinnen und stieg in dieses Gebaren nicht mit ein, sondern blieb mit meiner Tasche um die Schulter am Eingang stehen.
Die Leopardin zog sich ihr Trikot und eine Armbinde an, die sie als Spielführerin auswies, und übernahm auch in der Kabine die Initiative: »So, Mädels, jetzt zeigen wir uns mal von unserer guten Seite und nehmen Lotte in unser Team auf.« Was dann geschah, verkehrte mein anfängliches Gefühl der Deplatziertheit in eines der Zugehörigkeit. Alle Spielerinnen bildeten mit mir zusammen einen Kreis, indem wir unsere Arme gegenseitig auf den Schultern verschränkten und unsere Oberkörper nach vorne beugten, sodass sich die Köpfe in der Mitte trafen. Die Spielführerin begann leise mit der Silbe »ho«, die Nachbarin stieß ein etwas lauteres »ha« aus und so ging es immer lauter werdend im Wechsel reihum weiter: »Ho, ha, ho, ha, ho, ha!« Nach zwei Runden waren wir eine eingeschworene Einheit und begannen uns wie bei einem indigenen Ritual im Kreis zu drehen und Gesänge anzustimmen. Ich war wie weggetreten und mit den anderen zusammengeschmolzen. Die Spielführerin trat in die Mitte des Kreises, zog mich zu sich, während die anderen weitersangen, wir sahen uns tief in die Augen, lachten uns an, stecken die Köpfe zusammen, klopften uns gegenseitig auf die Schultern, reihten uns wieder in den Kreis ein und ein anderes Pärchen trat in die Mitte und vollzog das gleiche Ritual. Am Ende bildeten wir die Anfangsformation und reduzierten die Gesänge wieder auf das reihum laufende »ho, ha«, bis das Ritual in einem letzten leisen »ho« versiegte. Mir kam es so vor, als hätte ich eine ganze Trainingseinheit hinter mir, aber de facto waren nur fünf Minuten vergangen. Die Atmosphäre war wie ausgewechselt, der Zusammenhalt fühlbar. Meine Mannschaftskolleginnen stellten sich in einer Reihe auf, ich ging an ihnen vorbei, tauschte mit jeder einen Handschlag und sie nannten mir ihre Namen.
Ich zog noch schnell mein Geburtstagstrikot über, wofür ich mich trotz der Gefahr, dass es etwas kindisch wirken könnte, entschieden hatte, da es mir das Gefühl gab, meine alte Mannschaft um mich zu haben, die mich zur Not beschützen würde.
Der Notfall trat nicht ein, denn bereits beim ersten Trainingsspiel erwies sich die Zeit in der Jungenmannschaft des FC Millingen als gute Schule. Obwohl ich die Jüngste im Team war, hatte ich eine gute Spielübersicht, lief mich blitzschnell frei und stand häufig vor dem Tor und musste auf den Pass warten. Anfänglich schienen die anderen im Zweikampf noch etwas zögerlich, als hätten sie Angst, mich zu zerbrechen, aber als sie merkten, dass ich alles andere als zimperlich zur Sache ging - gegen Walze und die Männergrätschen, die ich gewohnt war, wirkten ihre Körperkontakte wie Streicheleinheiten -, versuchten sie mich zunehmend rabiater auszubremsen, was ihnen aber selten gelang, da ich ihre Attacken meist voraussah und über sie hinwegsprang, weshalb sie mir den Namen Grashüpfer verpassten.