Читать книгу Die Leiden der jungen Lotte - Denise Rüller - Страница 8
ОглавлениеParkklinik Hochfeld Duisburg
Prof. Dr. Mechthild Rosenowsky
Therapieprotokoll
Name der Patientin: Schröder, Julia
eingewiesen am: 10.08.1982
geboren am 15.01.1949 in Neasden (GB)
Familienstand: ledig
Kinder: eine Tochter, geb. am 15.04.1967 in Duisburg
Sitzung: 3. Datum: 27.08.1982
Äußeres Erscheinungsbild
Nach wie vor sehr gepflegter Eindruck, geschminkt, schweres Parfüm, Haare zu einem Dutt gebunden, lackierte Fingernägel, Lippenstift. Streng und auffällig gekleidet: Kostüme, Röcke, Stoffhosen, Blusen, meist hochhackige Schuhe, trägt Schmuck, außer Ringe.
Äußeres Verhalten
Die Patientin grüßt verhalten beim Eintritt in das Behandlungszimmer und setzt sich ohne Aufforderung hin. Sie weicht meinem Blick aus, aber in einer mehr unsicheren als feindseligen Art. Ihr Blick geht weniger starr geradeaus als mehr nach unten. Sie sitzt weniger steif und angespannt auf dem Sessel, lehnt sich zeitweise an, wechselt häufig Arm- und Beinstellung.
Denkweisen/Gefühlslage/soziale Interaktion
Auf die Fragen nach ihrem Befinden und ob sie das Gefühl habe, dass ihr hier geholfen werde, räumt sie ein, dass sie sehr erschöpft sei, aber beharrt nach wie vor darauf, keine psychotherapeutische Hilfe, sondern nur etwas Ruhe zu benötigen. Auf Fragen zu einem Lebenspartner reagiert sie abweisend und verärgert: Sie brauche keinen Mann, stehe lieber auf eigenen Füßen. Sie scheint ein sehr schlechtes Männerbild zu haben. Auf die Nachfrage, ob sie sich vorstellen könne, dass ihre Tochter Lotte sich nach einem Vater sehne, fällt sie sofort in eine Verweigerungshaltung, ihr Blick zeigt Dissoziierungstendenzen, sie scheint von sich selbst fort zu sein und ist nicht mehr ansprechbar. Der einzige Zugang zu ihrer Vergangenheit ist das Thema Modeln, ihre Stimmung hellt sich auf, sie nimmt sogar kurz Blickkontakt auf und sagt, dass sie damals als eines der jüngsten Models kurz vor dem Durchbruch gestanden habe. Die Erinnerungen an die Gründe des Scheiterns dieser Karriere sind ihr nicht zugänglich beziehungsweise blockt sie die Frage danach ab, erstarrt und wird sichtlich nervös, bevor sie ungewöhnlich lebhaft von den Erfolgen ihrer Tochter und deren bevorstehenden Karriere prahlt. Sie ist allerdings nicht in der Lage, sich in ihre Tochter hineinzuversetzen, deren Wünsche und Befinden blendet sie vollkommen aus beziehungsweise spricht davon in einer sachlichen und distanzierten Art, als rede sie über einen Gegenstand, den sie formen müsse. Als ich sie mit den durch Mangelernährung und Stress verursachten gesundheitlichen Beschwerden ihrer Tochter konfrontiere, gerät sie außer sich vor Wut und Ärger:
Um als Model etwas zu erreichen, müsse man hart zu sich selbst sein und die Grenzen des Körpers überschreiten. Das müsse sie ihrer Tochter beibringen.
Die Frage, ob sie nicht wolle, dass ihre Tochter selbst hinter dem Modeln stehe und glücklich damit werde, löst eine traumatische Reaktion bei ihr aus. Sie schlägt mit ihren Händen auf ihren Bauch ein und schreit: »Sie hat kein Recht auf ein selbstbestimmtes, glückliches Leben.«
Vorläufige Diagnose/Krankheitsbild
Die Patientin ist sich ihrer Situation in der Klinik bewusst und wehrt sich nicht mehr gegen den Aufenthalt. Den Tablettenentzug hat sie körperlich gut überstanden, verlangt aber abends nach Schlafmitteln. Sie wird von Albträumen geplagt und hat Angst einzuschlafen. Es stellen sich zwei Trigger heraus, auf die sie mit unterschiedlichen
Abwehrmechanismen reagiert: Sie sieht ihr vergangenes eigenes Ich verletzt und bedroht, wenn im Kontext des Modelns Glück und Selbstbestimmung ihrer Tochter angesprochen werden und reagiert darauf mit Ärger und Wut. Sie macht ihre Tochter dafür verantwortlich, dass ihr das Lebensglück und die Selbstbestimmung genommen wurden. Während sie bei dieser Thematik noch Verbindung zu ihren Gefühlen hat (Wut und Ärger), bewirkt der Trigger Vater der Tochter eine Ich-Dissoziierung und Erstarrung, sodass davon auszugehen ist, dass das schwerwiegendere Trauma im Zusammenhang mit der Zeugung der Tochter steht. Nach wie vor ist eine Vergewaltigung nicht auszuschließen. Alles deutet auf eine traumatisierte Übertragung hin: Die Patientin inszeniert unbewusst immer wieder den Beginn ihrer eigenen Modelkarriere und hält diesen Wunsch lebendig, indem sie aus ihrer Tochter ein
Model machen möchte. Andererseits überträgt sie ihre negativen Erfahrungen im Kontext der Zeugung und Geburt auf ihre Tochter und kehrt damit die Rollen um: Die Patientin, damals das Opfer, dem seine Selbstbestimmung genommen worden ist, wird jetzt zur Täterin und macht ihre Tochter zum fremdbestimmten Opfer. Somit fungiert ihre Tochter einerseits als Stellvertreterin für die nicht erfüllten Wünsche der Patientin, andererseits als Sündenbock für das ihr zugefügte Leid.
Weiterführende Maßnahmen/nächste Therapieschritte
- Gespräch über die Alb-/Träume der Patientin
- Verhältnis zum Vater thematisieren
- Was wissen Tochter und Mutter über die Vaterschaft?
- Aufbau einer wertschätzenden Beziehung zu sich selbst, um über das Ereignis der Entwürdigung sprechen zu können.
Julia
Vier Wochen nach Mutters Einlieferung wollte ich sie das erste Mal in der Psychiatrie besuchen. Meine Großmutter begleitete mich und bereitete mich während der Busfahrt darauf vor, dass Mutter im Moment einen ungewohnt lethargischen Anblick biete und sich anders verhalte als ich sie kenne. Ich solle mir das nicht zu sehr zu Herzen nehmen, das habe nichts mit mir zu tun. Bis zu Großmutters Vorwarnung habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, dass Mutter anders aussehen könnte als eine Figur aus ihren Modemagazinen, die sie täglich las, und mich anders behandeln könnte als ihre willenlose Leibeigene; vor allem der Begriff »lethargisch« war im Zusammenhang mit Mutter fehl am Platze, ich habe sie nie anders als nervös, gestresst und herrisch erlebt. Deshalb fragte ich Großmutter: »Wie ist sie denn?« »Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, sie sagt nicht viel und wirkt, als sei sie mit den Gedanken woanders. Als ich ihr letzte Woche eine Tasche mit Kleidung brachte, bat sie mich, ihr eine kleine Schatulle mit sehr persönlichen Sachen aus ihrem Nachttisch mitzubringen, die sie vor über fünfzehn Jahren aus England mitgebracht haben muss.«
Ich wurde neugierig, eine solche Geheimnistuerei passte nicht zu Mutter, sie war freizügig, vulgär und trug ihre Gedanken auf der Zunge, weshalb ich nachhakte: »Hast du nachgesehen, was sich in der Schatulle befindet?«
»Ich habe zwar einen Blick hineingeworfen, aber nicht darin herumgewühlt oder mir die Dinge genauer angesehen. Das gehört sich nicht. Es waren Fotos, ein Buch, mehrere Schriftstücke und eine Kette mit einem Ring darin.«
Wir erreichten die Klinik, die einen überraschend friedlichen Eindruck machte. Umgeben von Wald und mit Blick auf einen See wirkte sie wie ein Ort, an den man sich eher freiwillig zur Erholung einquartiert als unfreiwillig eingewiesen wird. Großmutter brachte mich bis zu Mutters Zimmer, wollte mich aber zunächst mit ihr alleine sprechen lassen. Falls ich sie brauche oder ich mit Mutter herunterkommen wolle, fände ich sie draußen auf der Caféterrasse. Ich klopfte an, aber es kam keine Antwort. Ich horchte an der Tür, rief zaghaft ihren Namen, klopfte erneut, aber es regte sich nichts. Vielleicht schlief sie. Vorsichtig drückte ich die Türklinke herunter, die Tür ließ sich öffnen, ich machte einen unsicheren Schritt in das Zimmer, rief Mutters Namen, aber erhielt wieder keine Antwort. Ich schlich ins Zimmer und schloss so leise wie möglich die Tür. Nichts erinnerte hier an Mutter. War ich im richtigen Zimmer?
Das musste es sein, denn an dem Bettgestell klemmte ein Schild mit ihrem Namen. Warum standen hier so viele Blumen, zu Hause wollte sie nie welche haben? Oder gehörten die zur Klinikausstattung? Es roch angenehm frisch, nicht nach ihrem süßen aufdringlichen Parfüm und es lagen keine Zeitschriften herum. Mein Blick fiel auf ein Bild, das auf ihrem Nachttisch stand. Es war eine Schwarzweißaufnahme zweier Mädchen, die sich umarmten und sehr glücklich wirkten; die Köpfe aneinandergelehnt lachten sie in die Kamera. Wer waren die beiden? Ich nahm das Foto aus dem Rahmen, um nachzusehen, ob sich auf der Rückseite ein Hinweis befand. Ich las: »Lissy und Birdy. Neasden 1958.« Verwirrt setzte ich mich auf das Bett und versuchte irgendeinen logischen Zusammenhang zwischen dem Bild und Mutter herzustellen. Ich hatte die Namen noch nie gehört, aber je länger ich die Gesichter dieser beiden Mädchen betrachtete, desto mehr erkannte ich bei dem einen die kindlichen, unverfälschten Züge der heute von einer kosmetischen Maskerade verstellten Mutter. Das Mädchen neben Mutter schien eine enge Freundin von ihr zu sein.
Ich hatte Mutter früher einige Male nach ihrer Kindheit und Jugend in England gefragt, aber sie blockte immer ab, sagte bloß, da gebe es nicht viel zu erzählen, es sei eine gewöhnliche Kindheit und trostlose, von dem Tod ihres Vaters überschattete Jugend gewesen, die ihren negativen Höhepunkt in der ungewollten Schwangerschaft erreicht hätte. Als ich sie das zweite Mal im Alter von acht Jahren nach meinem Vater fragte, bekam sie einen hysterischen Anfall, schlug um sich, warf mit allem, was sie in die Finger bekam, nach mir und schrie: »Ich habe dir gesagt, dass ich die Frage nie mehr hören will, ich weiß nicht, wer dein Vater ist, ich war sturzbetrunken und es ist auf einer Party in einer Toilettenkabine passiert. So, jetzt weißt du es. Und ich warne dich, sprich mich nicht noch einmal darauf an, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meiner Konfusion, hastig versuchte ich das Foto wieder in den Bilderrahmen zu bekommen, als jemand die Tür aufmachte und mit den Worten »Frau Schröder?« ins Zimmer trat. Ich versteckte Bild und Rahmen schnell unter der Bettdecke, schaute die Ärztin unschuldig an und antwortete: »Ja.« Sie lächelte mich an und hielt meine Antwort für einen Scherz, auf den sie mit gespielter Verwunderung einging: »Aber Frau Schröder, bei Ihnen hat die Verjüngungskur ja schneller angeschlagen als erwartet, na dann können wir Sie ja schon bald entlassen.«
»Sie liegen gar nicht so falsch«, sagte ich, »ich bin Lotte, die Tochter von Frau Schröder und wollte Mutter besuchen. Wissen sie, wo sie ist?« Sie ging mit mir auf den Balkon und zeigte in Richtung See: »Wenn sie nicht in ihrem Zimmer ist, sitzt sie meistens dort drüben auf der anderen Seite des Sees auf der Bank unter der großen Kastanie und liest ein Buch.« Ungläubig entgegnete ich: »Sind Sie sicher, dass Sie meine Mutter nicht mit jemand anderem verwechseln? Ich habe sie nämlich noch nie länger als zwei Minuten freiwillig ruhig irgendwo sitzen sehen, einem Aufenthalt in der Natur konnte sie nie etwas abgewinnen und niemals brächte sie die Geduld auf, ein Buch zu lesen.«
Frau Dr. Rosenowsky wurde ernst: »Lotte, ich weiß nicht, was deine Mutter dir über ihre Vergangenheit erzählt hat, aber du solltest wissen, dass in ihrer Jugend wahrscheinlich Dinge passiert sind, die sie verdrängt hat, weil sie sie sehr verletzt haben. Und ich als ihre Psychotherapeutin werde versuchen, diese Ereignisse wieder in ihr Bewusstsein zurückzuholen, damit sie in Zukunft besser damit leben kann. Aber das kann ein langwieriger und schmerzhafter Prozess sein. Um die erste Therapiephase zu überstehen, nimmt sie Medikamente, die sie zur Ruhe und zu sich selbst kommen lassen. Vielleicht erkennst du sie daher kaum wieder. Es wäre eventuell leichter für dich, wenn du bei dem ersten Besuch nicht alleine zu deiner Mutter gehst. Wenn du möchtest, kann ich mitkommen.« »Vielen Dank, aber meine Großmutter wartet unten in der Caféteria, sie kann mich begleiten.«
Auf dem Weg zum See erzählte ich meiner Großmutter, was Frau Dr. Rosenowsky über Mutter gesagt hatte und fragte sie, ob sie von solchen schlimmen Erlebnissen in Mutters Jugend wisse. Ich spürte, wie ihr bei mir untergehakter Arm plötzlich schwer wurde und sie zusammensackte. Wir gingen gerade an einer Bank vorbei und ich schlug vor, dass wir uns einen Moment setzten und ausruhen sollten. Meine Frage hatte sie traurig gemacht und ich hörte an ihrem tiefen Durchatmen, dass Großmutter sich sammeln musste, bevor sie bedrückt anfing zu erzählen: »Deine Mutter war ein sehr fröhliches und aufgewecktes Mädchen. Der Tod ihres Vater hatte sie zunächst sehr betrübt, aber im Laufe der Monate kam sie, auch dank eines engen Freundeskreises, mehr und mehr darüber hinweg und hatte den Verlust letztendlich gut verkraftet. Anders als ich, ohne meinen Jimmy fühlte ich mich in England allein und fremd.«
Irgendetwas verschwieg Großmutter mir, weshalb ich nachhakte: »Großmutter, ich habe nie verstanden, warum du unbedingt nach Deutschland zurück wolltest. Du hattest doch hier niemanden mehr, während du in England nette Menschen kanntest, wie du sagst. Außerdem sah die Zukunft dort viel rosiger aus als hier, zumindest was die Arbeit anging. Wenn ich mich recht erinnere, hast du in einer Schneiderei gearbeitet.«
»Naja, aber an die englische Mentalität und die Kultur konnte ich mich nicht gewöhnen und es gab zwischen meiner Freundin Helene und mir auch immer öfter kleinere Streitigkeiten. Und immerhin stand mein Elternhaus noch, das meine Cousine und deren Mann nach dem Krieg bewohnten und vor ihrer Auswanderung in die USA verkauft hätten, wenn ich nicht zurückgekommen wäre.«
Ihre Erklärungen überzeugten mich nicht und ich blieb bei meiner Vermutung, dass sie mir etwas verheimlichte. Aber sie ließ sich auf mein erneutes Nachfragen nicht ein, sondern übersprang ein paar Jahre und fuhr fort: »Ich hielt durch, bis Julia ihren mittleren Schulabschluss gemacht hatte und wollte sie dann mit nach Deutschland nehmen. Als es so weit war, wirkte sie sehr bedrückt und unglücklich. Sie wollte ihr englisches Zuhause und ihre Freunde nicht verlassen. Sie liebte ihre Heimat und ihr Leben so wie es war und wünschte sich, dort bleiben und eine weiterführende Schule besuchen und ihren Advanced-Level-Abschluss machen zu dürfen, der mit dem deutschen Abitur zu vergleichen ist. Sie war also in einer ähnlichen schulischen Situation wie du jetzt. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich sie alleine in England zurücklassen sollte, aber ich sah ein, dass ich sie todunglücklich gemacht hätte, wenn ich sie von ihren Freunden weg und aus ihrem freudvollen Leben fortgerissen hätte. Die Browns, eine eng befreundete Familie im Nachbarort, versicherte mir, dass sie ein Auge auf Julia werfe; die letzten Zweifel nahmen mir die Thornbys, deren Tochter Lissy sie von kleinauf kannte und die seit dem Kindergarten unzertrennlich waren. Sie gaben mir ihr Wort, sich um deine Mutter zu kümmern und ihr ein Zuhause zu geben.«
Mir stockte der Atem: »Stop, Großmutter, warte mal, Lissy Thornby ist doch der richtige Name von diesem Model Biggy. Und Mutter nannte mich so, weil sie dieses Model verehrt und aus mir Biggy zwei machen wollte. Und du sagst mir jetzt, dass Biggy eine gute Freundin von Mutter war?«
»Ich glaube, deine Mutter hat sie weniger als Model verehrt, sondern persönlich sehr gemocht.«
Irritiert musste ich das Gehörte noch einmal in meine Worte fassen, damit es begreiflicher wurde: »Du möchtest mir also weismachen, dass das Model Lissy Thornby, genannt Biggy, mit Mutter zusammen aufgewachsen ist, dass sie ein Herz und eine Seele waren und Mutter sogar bei ihnen gelebt hat?«
»Ja, so war es«, versicherte Großmutter.
Noch immer nicht überzeugt fragte ich: »Aber warum hätte Mutter mir das verschweigen sollen? Was ist daran so schlimm? Für mich wäre der Name weniger abscheulich gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass sich dahinter ein Mensch verbirgt, den meine Mutter sehr gemocht hat.« Auf einmal kam mir das Foto auf Mutters Nachttisch wieder in den Sinn. Waren das die engen Freundinnen, von denen Großmutter mir gerade erzählt hatte? Wenn das stimmte, müsste sie wissen, welchen Spitznamen Lissy Mutter gegeben hatte und sie wusste es: »Sie nannte sie Birdy. Und weißt du, warum? Weil sie so schön singen konnte wie ein Vögelchen«, antwortete sie wehmütig und Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich nahm Großmutter in den Arm, bis sie aufgehört hatte zu weinen und versuchte vorsichtig das schicksalsträchtige Ereignis in dem Leben Mutters aus ihr herauszulocken, das auch mein Leben maßgeblich bestimmte: »Woran ist diese Freundschaft zerbrochen?«
»Eineinhalb Jahre nach meinem Wegzug aus Neasden lag deine Mutter verletzt und entkräftet mit einem Koffer vor meiner Tür. Ich werde ihren Anblick nie vergessen. Sie sah aus, als sei sie gerade der Hölle entstiegen, abgemagert, gerötete Augen, kreidebleich, die langen Haare völlig zerzaust und in ihrem zu groß gewordenen Mantel wirkte sie wie ein Gespenst. Aber das Schlimmste waren ihre ausdruckslosen Augen, durch die ich in ein leeres, lebloses Inneres schaute. Ich trug sie ins Haus, sie wog kaum mehr als ihr Knochengerüst, und legte sie auf das Sofa im Wohnzimmer.«