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Das orangefarbene Leuchten inmitten des Weltalls fiel ihm erst wirklich auf, als es wieder verschwand, um dann in regelmäßigen Abständen wieder aufzutauchen.

Alle optisch flexiblen Oberflächen, wozu auch die 'Fenster' gehörten, unterlagen einer Zentralsteuerung, die, wenn nötig, allgemeine Signale übermittelte, die von 'Guten Morgen', bis hin zu 'Alarm' reichten. Letztere Botschaft war die im Moment übermittelte, wie David langsam aber sicher realisierte.

Zu Beginn des Studiums hatte er wie jeder andere Student einen Intensivkurs absolvieren müssen, während dessen er die an Bord und der Universität gängigen und wichtigen Signale lernte. Dieser Kurs wurde mittels Schlafband absolviert und dauerte drei Wochen. Nach diesem Kurs war man in der Lage, alle Signale praktisch im Koma erkennen. Roter Alarm wurde eigentlich nur zu Übungszwecken ausgesandt, damit alle Passagiere wussten, was im Notfall zu tun sei. Diese Notfälle waren äußerst selten und kamen auch nur in Form von unerwarteten Raumschuttschauern vor, denen man nicht mehr rechtzeitig hatte ausweichen können, aber diese Fälle kamen eben vor und waren, wenn wirklich vorhanden, ein ernst zu nehmendes Risiko. Das Schema der Übungen änderte sich ständig, sodass nie klar war, ob nun eine Übung angesetzt war, oder ob wirklich ein Ernstfall vorlag. Dementsprechend wachsam erhob sich David aus seinem Sessel, um gleich wieder in selbigen geworfen zu werden, was er anfangs seinem immer noch nicht wieder voll hergestellten Gleichgewichtsgefühl zuschrieb. Das Krachen, mit dem Sonja eine Sekunde später das Bett unbeabsichtigter weise verließ und auf dem Boden aufschlug, sagte ihm jedoch, dass diese Annahme nicht zutraf. Das Schiff schlingerte weiterhin, als er abermals aufstand und sich in Richtung Monitor bewegte. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte das gewohnte Bild. Die angedeuteten Strahlen der Sonne, die Milchstraße im Hintergrund, und absolut nichts, was auch nur im Ansatz Anlass zur Beunruhigung gegeben hätte. David tippte gegen den Monitor neben sich, der daraufhin sofort zum Leben erwachte, und las den Satz:

System Arbeitet; Kein Zugriff Möglich

Die in die Tastatur eingehämmerte Frage nach dem Grund des Alarms bewirkte keinerlei Veränderung auf dem Schirm. Nicht einmal die eingegebenen Buchstaben erschienen auf dem Monitor, was David erstmals wirklich wach werden ließ.

Was gerade passierte, war nicht nur ungewöhnlich, eigentlich war es unmöglich. Im Prinzip hätten alle dreihundertundachtzehn Anwesende auf dem Schiff den Computer gleichzeitig auf der höchsten Ebene benutzen müssen, um dann dem dreihundertundneunzehnten Benutzer – den es nicht gab – diese Botschaft zukommen zu lassen. Darüber hinaus erhob sich eine der theoretischen Benutzer gerade verwirrt vom Fußboden, was die Möglichkeit dieser Antwort noch weiter einengte. Folglich musste etwas wirklich Elementares schiefgelaufen sein. Was wiederum bedeutete, dass dies ein echter Alarm war.

Adrenalin ist die unglaublichste Erfindung des menschlichen Körpers, stellte David zwei Stunden später fest, als er endlich die Zeit für solche Überlegung fand.

Innerhalb von zwanzig Sekunden war David sowohl hellwach als auch total nüchtern, was, den letzten Abend berücksichtigend, eine wirklich erstaunliche Leistung war.

»Verdammt!« Es folgte eine Pause, während der sich Sonja orientierte und es schließlich schaffte, ihren Kopf über die Bettkante zu heben. »Was soll denn der Krach?« Gemeint war damit das akustische Signal, das mit dem optischen Notsignal einherging, das bisher aber nur unterbewusst in Davids Wahrnehmungsbereich vorgedrungen war.

Es handelte sich dabei um ein hinterhältiges Summen, das knapp unterhalb der hörbaren Frequenzen lag, das sich aber nach kurzer Zeit als ein leichtes, aber stetiges Wummern im Bauch und in den Schläfen bemerkbar machte. Menschen mit einem überdurchschnittlich guten Gehör kamen sich vor, als ob sie in einer großen Basstrommel saßen.

»Zieh dich besser an, ich hab' das dumpfe Gefühl, wir stecken in Schwierigkeiten! Und warte hier, ich komme gleich wieder!«, wies er sie an, und befolgte damit, Sonja betreffend, unterbewusst die Sicherheitsregeln, die besagten, dass man, solange kein Evakuierungsalarm gegeben wurde, an Ort und Stelle zu verbleiben hatte, sofern dieser Ort unbeschädigt war. Dass er diese Regel gerade selbst missachtete, war eine völlig andere Geschichte.

Ein kurzer Blick auf den Korridor bestätigte seine Befürchtungen. Rauchschwaden waberten durch die Luft und verdeckten eine zum Teil verwirrte und verängstigte Menschenmenge, die auf dem Weg in Schutzräume, das MedLab, oder sonst wohin war. David hielt einige Sekunden lang nach einem bekannten Gesicht Ausschau und packte schließlich Marc, seines Zeichens Maschinenbaustudent, nachdem dieser auf einen Ruf nicht reagiert hatte, von hinten am Kragen und zog ihn in sein Quartier, um die Tür so schnell wie möglich wieder schließen zu können. Dem Geruch nach zu beurteilen, der von dem Rauch ausging, lieferten unter anderem diverse Kunststofflegierungen die Nahrung für die Brände. David fragte sich kurz, warum der Computer die Luft nicht reinigte, wurde jedoch von Marc abgelenkt, der vor sich hin wimmernd vor ihm auf dem Boden lag. Erst nachdem David ihm eine satte Ohrfeige gegeben hatte, war Marc imstande, seiner Umgebung volle Aufmerksamkeit zu schenken und berichtete, was vorgefallen war.

»Man … man hat auf uns geschossen«, brachte er schließlich hervor, um fast sofort von einer erneuten Erschütterung zu Boden geworfen zu werden.

»Geschossen? Das soll wohl'n Scherz sein?!« Sonja betrat voll angekleidet den Wohnraum und betrachtete Marc, der sich, ohne eine Antwort zu geben, mit verkrampftem Gesicht auf dem Boden wand.

Nachdem sie ihn vorsichtig auf die andere Seite gedreht hatte, war der Grund für seine Sprachlosigkeit erkennbar. Fast der gesamte rechte Arm wies Verbrennungen dritten Grades auf und das Fleisch warf an einigen Stellen schon Blasen. Darüber hinaus wies sein Gesicht mehrere Kratzer und blaue Flecke auf. Das rechte Bein seiner Hose war an einem Fleck dunkelrot verfärbt.

»Oh, verflucht! Wie hast du denn das gemacht?!« Die Frage war rhetorischer Natur, da Marc offensichtlich nicht in der Lage war, zu antworten. Einige Sekunden später hatte sie sich wieder gefangen und gab David im kühl-sachlichen Tonfall, den David von der angehenden Ärztin gewohnt war, Anweisungen, was zu tun sei. Sie behandelten Marcs Wunden mit Kühlgel aus dem Notfall-Set, welches weiteren Zerfall des Gewebes verhindern sollte und Sonja verabreichte ihm eine mittlere Dosis eines Amalgetic, das Marc einerseits von den Schmerzen befreite, ihn jedoch soweit bei Bewusstsein ließ, um erzählen zu können, was sich zugetragen hatte.

»Ich saß gerade beim Essen, als es losging«, berichtete er schließlich mit zunehmend glasigem Blick. »Erst sind die Lampen angegangen, und alle haben angefangen zu fluchen, dass zu viele Übungen durchgeführt werden. Dann hat plötzlich das Schiff angefangen, zu wackeln, und alle … alle sind aufgesprungen und sind raus gerannt. Ich hab' noch gedacht 'was für ein Chaos' und bin sitzen geblieben, um zu warten, dass es leerer wird … als ich aufgestanden bin, ist die Wand neben mir in die Luft geflogen … «

»Verdammt!« Sonja befühlte diverse Stellen an Marcs Körper. Ihre Miene verdüsterte sich dabei zusehends. Währenddessen fuhr der Untersuchte mit einer Stimme zu erzählen fort, die sogar David erkennen ließ, dass sich Marcs Zustand rapide verschlechterte.

»Ich hab' aus dem Fenster gesehen. Da war ein Schiff. Ausgesucht hässlich.«

Marcs Stimme war mittlerweile leiser geworden, seine Augen waren jedoch weit aufgerissen, als er das Vergangene noch einmal durchlebte. Selbst die offensichtlich angeborene Antipathie, die zwischen Marc und David bestand, löste sich anhand des Zustandes, in dem der junge Mann, der da vor ihm auf dem Boden lag, in Davids Kopf auf.

»Dann war da was … ganz hell … « Marcs Stimme versagte und er blieb, von einem leichten Zittern abgesehen, regungslos auf dem Boden liegen, während seine Augen noch immer etwas beobachteten, das vermutlich nur ein paar Minuten zurücklag.

»Oh, Mann, den muss es richtig erwischt haben. Er steht unter Schock«, teilte Sonja David mit. »Wir müssen ihn unbedingt warm halten und ruhig stellen, bis ich ihn ins MedLab bringen kann.«

Während Sonja Marc versorgte, soweit es die Umstände zuließen, dachte David darüber nach, was er eben von Marc erfahren hatte. Ein Schiff? Beschossen?! Völlig unmöglich. Wer sollte denn geschossen haben? Wahrscheinlich die Zylonen. Den Jungen musste es noch schwerer erwischt haben, als es den Anschein hatte.

Die Menschheit hatte seit mehr als zweihundert Jahren versucht, Kontakt mit außerirdischen Lebewesen aufzunehmen. Der Erfolg ließ sich, Area 51 ausgenommen, als gleich Null bezeichnen. Darüber hinaus waren sie keine vier Tage von der Station und knappe fünf von der Erde entfernt. Wenn irgendetwas so weit in das Sonnensystem vorgedrungen wäre, hätte sich zumindest einer der Außenposten auf Venus oder Mars gemeldet, um sie zu warnen.

Völlig lächerlich, das Ganze. Wahrscheinlich war ein Asteroid oder sowas dem Schiff unbeachtet zu nahe gekommen und hatte die Außenhülle beschädigt.

David holte die Ersatzsauerstoffmaske aus dem Fach, setzte einen neuen Filter auf und machte sich daran, die Situation an Bord auszukundschaften.

»Ich komme so schnell wie möglich wieder«, versprach er Sonja, nachdem er ihr versichert hatte, im MedLab vorbeizuschauen, um dort Bescheid zu sagen, falls nötig, eine Liste der Verletzten anzufertigen und sich nach dem allgemeinen Zustand des Schiffes und der restlichen Situation zu erkunden.

Besagte zwei Stunden später hatte er nicht nur diese Informationen erhalten, sondern befand sich darüber hinaus auch zum ersten Mal in seinem Leben in einer Situation, die er so nun wirklich überhaupt gar nicht geplant hatte.

Er hatte irgendwie das Kommando über ein Raumschiff und dessen Besatzung erhalten.

Zumindest was davon übrig war.

Eine Zeit lang war er durch das Raumschiff gelaufen, um überall dasselbe Bild vorzufinden. Menschen, die er zumindest vom Sehen her kannte, liefen, standen, saßen oder lagen völlig paralysiert in der Gegend herum und strahlten alle miteinander dasselbe Gefühl aus: Angst.

Nach einigem Suchen traf er auf einige Leute, die er entweder kannte, und die nicht völlig apathisch oder zumindest ansprechbar waren. Diese erzählten ihm, dass das, was Marc berichtet hatte, offenbar mehr oder weniger der Wahrheit entsprach.

Mitten während der Mittagspause, als ein Teil der Studenten in der Mensa und so ziemlich alle Dozenten in der Cafeteria waren, hatte plötzlich der Alarm begonnen, nachdem kurz zuvor – die Schilderungen reichten hier von 'erst nicht da, dann 'schwupps' plötzlich da' bis hin zu 'es wurde ganz langsam sichtbar, ich konnte sehen, wie es langsam Kontur annahm' – ein Schiff vor den Fenstern aufgetaucht war und das Feuer eröffnet hatte.

Farbe und Form des Schiffes, sollte es sich wirklich um eines handeln, blieben ebenso unklar wie der gesamte Vorgang. Rund, eckig, blau, grün, grell erleuchtet, dem Hintergrund angepasst, so ziemlich jede Beschreibung war vertreten.

Letztendlich lief es darauf hinaus, das irgendetwas sie mit etwas Hellem angegriffen hatte, und mindestens einen Treffer gelandet hatte.

Die Folgen waren fatal.

Fast die gesamte vordere Steuerbordseite des Schiffes, also der direkte Trefferbereich, war in Mitleidenschaft gezogen worden, was im Klartext hieß, dass sie nicht mehr existent war. Der einzig positive Umstand, der aus dieser Tatsache zu ziehen war, lag darin, dass keine lebenswichtigen Anlagen in diesem Teil des Schiffes gelegen hatten, sondern nur Privatquartiere und Gemeinschaftseinrichtungen.

Die ehemals 318 Mann starke Besatzung hatte sich innerhalb von fünf Sekunden auf einen verwirrten und verängstigten Haufen von ein paar Dutzend Menschen reduziert. Der Rest hatte sich entweder innerhalb der Cafeteria, verschiedenen Seminarräumen oder Privatquartieren aufgehalten, die in der Peripherie des Trefferbereiches gelegen waren. Alle diese Räume waren als solche nicht mehr vorhanden. Entweder fehlte die komplette Außenhülle, sie waren in einem Maße verstrahlt, dass sich automatische Schutzfelder um sie herum gebildet hatten, oder sie waren komplett in ihre Moleküle zerlegt worden, mit allem, was sich innerhalb dieser Räume befunden hatte.

Die noch intakten Anlagen umfassten teilweise das MedLab, aus dem sich zumindest noch ein Großteil der Ausrüstung benutzen ließ, den Computerkern, der durch seine zentrale Lage am wenigsten in Mitleidenschaft gezogen worden war, und sämtliche Räume, die sich auf der hinteren Steuerbordseite und der kompletten Backbordseite befanden.

Diese Informationen zu erhalten, bedurfte es einiger Anstrengungen.

Da David offensichtlich einer der wenigen Anwesenden war, die durch den Angriff keinen physischen oder psychischen Schaden erlitten hatte, begann er mit ein paar anderen damit, die Überlebenden im Seminarraum 305 zu versammeln, während er es Sonja überließ, die Leitung der Verletztenversorgung zu übernehmen.

Obwohl er ihr gesagt hatte, in ihrem Quartier zu bleiben, war es ihm bewusst gewesen, dass sie keine zwei Minuten würde still da sitzen können. Er war deshalb auch nicht verwundert gewesen, als er in einem der Flure an ihr vorbei kam und sie dabei beobachtete, wie sie sich um einen der Verletzten kümmerte.

Nach einigen Minuten lief er aus Zufall Michael in die Arme, seines Zeichens Physikstudent und somit einer der wenigen guten Bekannten, die David außerhalb des eigenen Fachbereiches hatte.

»Oh, Mann, ich dachte schon, ich würde hier überhaupt niemanden mehr treffen, den ich kenne«, begrüßte ihn Michael.

»Ich versuche gerade, die Leute zusammenzutrommeln, so weit das geht.« David hatte weder die Zeit noch die Lust auf Small Talk, auch wenn ihm ebenso ein Stein vom Herzen gefallen war, ein bekanntes Gesicht zu sehen, das fast vollständig intakt war. Die allgegenwärtige Baseballmütze, die Michael nicht einmal zum Schlafen abzulegen schien, saß schief auf seinem Kopf und hielt ihm die schulterlangen Haare aus dem Gesicht. Sein sonst heiteres Wesen schien sich an einen weit entfernten Ort verflüchtigt zu haben, denn in Michaels Blick konnte David alles mögliche sehen, nur keine Heiterkeit; ein Umstand, an den er sich spontan nicht erinnern konnte. Nur ein paar Schrammen und die dunklen Augenringe, die von letzter Nacht herrührten, waren auffällig.

»Was zum Teufel ist eigentlich mit dem Computer los?!«

»Ich weiß es nicht, aber ich kann mal versuchen, was in Erfahrung zu bringen. Das kann allerdings 'ne Weile dauern, ein paar von den Gängen sind zusammengebrochen, wir müssen uns da erst durch buddeln. Wir sitzen echt in der Scheiße. Hast du irgendeine Ahnung, was passiert ist?«

Ein schneller Abgleich der Information ergab, dass keiner von beiden auch nur eine blasse Ahnung hatte, was gerade passierte. Da Raum 305 der größte Seminarraum auf diesem Deck war und mehreren Aussagen zufolge noch komplett intakt, einigten sie sich darauf, alle Beteiligten dort zu versammeln.

Michael nickte. »Ich komm', so schnell ich kann. Ich muss noch ein, zwei Sachen überprüfen.« Daraufhin war er wieder in dem allgemeinen Durcheinander verschwunden.

David kam sich sehr alleine vor. Er hatte keine Ahnung, dass das erst der Anfang sein sollte. Kurz entschlossen packte er den ersten Menschen, den er zu fassen bekam, um zusammen alle nicht ernsthaft verletzten Personen in Raum 305 zu versammeln.

Dass besagte Person dieser mehr als schroff geäußerten Aufforderung nachkam, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, verwunderte David in diesem Augenblick nicht weiter. Wäre dies der Fall gewesen, hätte er sich wahrscheinlich unter seinem Bett versteckt.

Nach siebenunddreißig Minuten war es zum ersten Mal wieder möglich gewesen, mit den einsatzfähigen Menschen über die herrschende Situation zu reden.

In diesem Moment hatte David eine weitere Erkenntnis getroffen. In dem Raum befand sich kein einziger Ingenieur, nur 2 Wartungsangestellte sowie 3 sehr verwirrte und arg mitgenommene Professoren. Ansonsten waren nur Studenten anwesend.

Den mehr als widersprüchlichen und stellenweise einfach irrwitzigen Aussagen der verschiedenen Personen nach war die allgemeine Lage des Schiffes mehr als unklar. Sicher war nur, dass ein riesiges Loch dort war, wo es nicht hätte sein sollen und diverse Menschen verletzt oder gar tot waren. Nach einem kurzen Blick in Richtung der Professoren und Techniker, die nicht den Eindruck machten, einen klaren Gedanken zu fassen zu können, sei es aufgrund psychischer Traumata oder nicht auf den ersten Blick erkennbaren Verletzungen, griff sich David kurz entschlossen einen Stuhl und stellte sich darauf.

»Kann mir mal jemand sagen … «, begann er vorsichtig, um zu bemerken, dass seine Stimme im allgemeinen Stimmengewirr unterging.

»Ruhe, zum Donnerwetter noch mal! Alle halten jetzt die Schnauze und hören mir zu, ist das klar!«, brüllte er nach einer kurzen Pause. Er war kurz davor, in hysterisches Gelächter zu verfallen, konnte ich aber gerade noch beherrschen.

Augenblickliche Stille senkte sich über den Raum. Erstaunt ob der Wirkung seines Ausbruchs blickte David die vor ihm versammelte Menge an, bevor er fortfuhr, ehe sich wieder jemand zu Wort melden konnte.

»Könnte mir mal jemand sagen, wo die übrige … « Er hielt inne, um seine Worte neu zu formulieren.

»Entschuldigung«, fuhr er schließlich fort. »Ich weiß, meine Wortwahl mag einigen von euch jetzt reichlich taktlos erscheinen, aber kann mir mal jemand sagen, wo sich die übrig gebliebene Schiffsbesatzung herumtreibt?«

Erneutes Stimmengewirr, wenn auch nicht annähernd so laut wie vorher, breitete sich im Raum aus, brachte jedoch keinerlei Antworten, sondern erzeugte nur ein flaues Gefühl in der Magengegend der meisten. David betätigte die Sprechanlage an der Wand neben ihm.

»Sonja? Hier ist David.« Normalerweise war es Studenten strikt untersagt, die Sprechanlage zu benutzen. Die momentane Situation sprach allerdings dafür, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen. Das Prasseln in der Leitung, das anstelle einer Antwort aus dem Lautsprecher drang, ließ ihn einige Schritte zurückweichen. Offensichtlich war der Schaden doch nicht nur auf die Außenhülle beschränkt. Er schaltete den Lautsprecher ab und suchte nach jemandem, den er in Bezug auf die Verletztenliste fragen konnte. Er hatte in der letzten Zeit einige von Sonjas Kommilitonen kennengelernt, konnte jedoch keinen davon in der Menge vor ihm erblicken. Kurz entschlossen packte er einen der Herumstehenden, den er zumindest vom Sehen her kannte und sagte:

»Kannst du mir einen Gefallen tun?« Ohne eine Antwort abzuwarten, redete er weiter. »Geh mal ins MedLab und frag Sonja oder irgendeinen, der sich da auskennt, wie es mit den Verletzten steht, und ob und wie viele der Mannschaftsmitglieder dabei sind. Okay?«

Nachdem Marcel sich angeschickt hatte, die Information zu besorgen, hatte David den Eindruck gehabt, dass der Mann fast dankbar gewesen war, dass er ihn so schroff herumkommandiert hatte. Über die weiteren Konsequenzen dachte er jedoch auch jetzt nicht weiter nach. Er stellte sich wieder auf seinen Stuhl. Es galt die Zeit zu füllen, bis die Lage geklärt war.

Ein oberflächlicher Blick in die Gesichter der meisten zeigte deutlich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die ersten hysterischen Anfälle auftraten. Das wollte er verhindern, da ein solches Verhalten extrem ansteckend war. Auf eine Menge von sich prügelnden Menschen hatte er gerade gar keine Lust.

»Also«, begann er seine improvisierte Rede und betete, dass Sonja bald etwas von sich hören lassen würde. »Die Lage ist momentan etwas unklar.« Er hatte beschlossen, die Tatsache, dass das halbe Schiff in Trümmern lag und mehrere Dutzend Menschen vermisst oder gar tot waren, nicht explizit zu erwähnen.

»Bevor ihr mich fragt: Ich weiß auch nicht, was passiert ist, aber wir haben einige Verwundete, die versorgt werden müssen. Ich schlage vor, dass wir Gruppen bilden, die die notwendigen Arbeiten verrichten, bis sich die Situation geklärt hat. Also: Wer kennt sich mit medizinischer Betreuung aus?«

Diverse Hände reckten sich in die Höhe, woraufhin David ein Stein vom Herzen fiel. Momentan waren sie nämlich ohne behandelnden Arzt, da jener, wie er von mehreren Personen erklärt bekommen hatte, vor einer Stunde zu Mittag gegessen hatte. Da er nicht unter den vor ihm Stehenden zu entdecken war und Sonja bisher noch nichts von sich hatte hören lassen, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er den Speisesaal nicht hatte verlassen können, bevor dieser explodiert war.

Diese Art von Informationen war die einzige, auf die er sich einigermaßen verlassen konnte. Niemand hatte eine Ahnung, was eigentlich passiert war, aber er bekam langsam aber sicher ein recht gutes Bild davon, wer alles mit Sicherheit zumindest verletzt oder gar tot war. Und dieses Bild gefiel ihm gar nicht. Was mit den medizinischen Assistenten geschehen war, wusste er nicht, jedoch waren sie nicht aufzufinden, und selbst wenn sie noch alle am Leben und unverletzt waren, würden diese alle Hilfe, die es gab, brauchen, denn die medizinische Station war eigentlich für Dinge wie gebrochene Knochen eingerichtet, nicht für einen derartigen Katastrophenfall.

»Gut«, fuhr er fort. »Alle, die sich gemeldet haben, gehen ins MedLab und melden sich bei Sonja. Das ist die große gut aussehende Rothaarige, die an alle Befehle verteilt. Die wird euch dann sagen, wie ihr helfen könnt.« Vereinzeltes Gelächter erklang, während sich die angesprochenen Personen aus der Gruppe lösten und dem Ausgang entgegenstrebten.

David wusste nur zu gut, wie Sonja in solchen Situationen reagierte, so wie die meisten anderen, die einmal längere Zeit mit ihr zu tun gehabt hatten. Die Reaktionen zeigten jedoch, dass die ersten Ansätze von Panik im Keim erstickt waren. Die vorherrschende Situation und die anstehenden Aufgaben ließen dafür keinen Platz. Auch der Rest der Gruppe brachten so etwas wie Entschlossenheit zum Ausdruck, als ob sie es ihren Kommilitonen, die gerade verschwunden waren, nachmachen wollten.

»Was gibt es noch zu tun?«, fragte David laut. In diesem Augenblick bemerkte er, dass sich Michael mit einem Gesichtsausdruck durch die verbleibende Menge schob, der besagte, dass eine arbeitsreiche Zeit hinter ihm lag. Ebenso war ihm, jetzt, da er keinen Atemschutz mehr trug, deutlich anzusehen, dass er seinen Rausch von gestern Nacht noch nicht vollkommen ausgeschlafen hatte. Hinzu kamen die Ereignisse der letzten Stunde.

Während der vergangenen Dreiviertelstunde hatte Michael sich abwechselnd damit beschäftigt, Verletzte ins MedLab zu bringen und herauszufinden, wie es um den Maschinenraum bestellt war. Wie David war ihm aufgefallen, dass er seit dem Zwischenfall keinem Besatzungsmitglied begegnet war und das machte ihm zunehmend Sorgen.

Die Maschinerie an Bord eines Raumschiffes war zwar sehr leicht zu bedienen und zu warten, sodass es üblich war, während des Schichtwechsels den Maschinenraum fast völlig unbemannt zu lassen, sollte sich die Ablösung einmal verspäten. Dies traf jedoch nur zu, solange alles in Ordnung war. Mit Zwischenfällen war nicht zu spaßen, geschweige, dass die Reparatur ein Weilchen warten konnte.

Im Moment waren fast alle Monitore an Bord blockiert oder ausgefallen, was ihn zusätzlich beunruhigte. Eine derartige Überlastung konnte nur wenige Ursachen haben, und keine dieser Möglichkeiten gefiel ihm.

Es brannte ihm unter den Fingernägeln, etwas zu tun, allerdings fehlte es ihm dazu an Mitteln, an Helfern und vor allen Dingen an einem kühlen Kopf. Er war, bevor David die Initiative ergriffen hatte, drauf und dran gewesen, dasselbe zu tun, was allerdings mit ziemlicher Sicherheit in einem ähnlichen Fiasko geendet hätte, wie es bei seinen Referaten meist der Fall war.

Jetzt allerdings, wo er die Situation einigermaßen realistisch einschätzen konnte, musste er an sich halten, nicht laut loszuschreien.

»Wir haben da ein kleines Problem, fürchte ich«, meinte er, endlich bei ihm angekommen, zu David im Flüsterton, nachdem sich dieser in die Hocke begeben hatte. »Ich weiß immer noch nicht genau, was kaputt ist, aber in der Computerzentrale herrscht ein Chaos, das lässt sich nicht mehr mit Worten beschreiben. Wir müssen da ganz schnell was machen!«

Der Blick, den Michael ihm zuwarf, veranlasste David, diese Bemerkung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

Michael und er kannten sich bereits seit drei Jahren, wenn sie auch nicht die allerbesten Freunde waren. Im Prinzip beschränkten sich ihr Umgang auf gelegentliche gemeinsame Vorlesungen und kleine Feiern wie gestern Abend. Davids Meinung nach war Michael meistens 'ein klein wenig zu enthusiastisch', wie er es mal scherzhaft ausgedrückt hatte, wenn es um sein Studium ging.

Dieser Blick und die Tatsache, dass Nina, die mit Michael zusammen studierte, hinter Michael stand und den gleichen Gesichtsausdruck trug, ließen ihn jedoch zu dem Schluss kommen, dass es wirklich wichtig war. Wenn diese beiden irgendetwas für wichtig hielt, dann war es wichtig.

In diesem Augenblick kehrte Marcel in den Raum zurück, um David, seinem Gesichtsausdruck nach zu beurteilen, eine weitere schlechte Nachricht zu übermitteln.

»Oh-oh!«, erklang Michaels Stimme.

»Schnauze, verdammt!«, herrschte David ihn an. Marcel gab sich offenbar alle Mühe, seine Gedanken nicht offen zu zeigen, jedoch sprachen seine Augen, wenn man sich die Mühe machte, genauer hinzusehen, Bände über sein Gefühlsleben. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass ihm nur der Anblick der Verletzten auf den Magen geschlagen war, betete David im Stillen.

David las sich die Mitteilung, die Marcel ihm reichte, in aller Ruhe durch und gab sich ebenfalls Mühe, seine Gefühle nicht offen zu zeigen. Der zugegebenermaßen provisorische Bericht überstieg seine schlimmsten Befürchtungen.

»Danke!«, meinte er schroff zu Marcel und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er ihn an dem Inhalt der Mitteilung mitverantwortlich machte. Das war zwar nicht fair Marcel gegenüber, aber ungemein befriedigend, wie David feststellte. Nach einigen Augenblicken stellte er sich wieder auf den Stuhl und meinte im optimistischsten Ton, den er zuwege brachte:

»Wer sich mit Technik auskennt … das hier sind Michael und Nina. Die beiden finden mit Sicherheit was zu tun für euch. Vielleicht kriegt ihr ja die Monitore wieder zu laufen. Noch Fragen? Na, dann ab!«

Er blickte sich in dem Raum um. Übrig geblieben waren ungefähr zwanzig Personen, die ihn erwartungsvoll anblickten. Unter ihnen waren erstaunlich viele, die er persönlich kannte und die er als intelligent und halbwegs kompetent einstufte. Das zumindest machte ihm Hoffnung. Die Zahlen, die er eben gesehen hatte, ließen ihm immer noch die Knie weich werden.

»Tja, äh, ich würde mal sagen, dass wir uns in zwei Gruppen aufteilen«, fuhr er mit seiner improvisierten Rede fort. »Die eine hilft bei den Aufräumarbeiten und sucht nach Verletzten, die anderen gucken, ob sie einer der anderen beiden Gruppen helfen können. Mehr fällt mir im Moment auch nicht ein.«

Eine Weile stand er bewegungslos da, während sich die Menge langsam, aber mit einer erkennbaren Zielstrebigkeit auflöste. Er dachte über die Situation nach, wie er sie einschätzte. Welche war: Kein Mensch, der sich mit der Maschinerie des Schiffes wirklich auskannte, war am Leben oder einsatzfähig.

Der Ursprung für ihren Zustand, was oder wer auch immer das sein sollte, war nach wie vor da und machte nicht den Anschein, als ob er ihnen plötzlich freundschaftlich unter die Arme greifen würde. Das zumindest schloss er aus den immer noch andauernden Erschütterungen, die das Schiff von Zeit zu Zeit durchliefen. Darüber hinaus zeigten die wenigen noch funktionierenden Monitore, die Systeme betreffend, wirklich beunruhigende Werte an. Er selbst hatte nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen, als er zufällig an der Antriebssektion vorbeigekommen war, hatte aber zu viele andere Dinge im Kopf und zu tun gehabt, um wirklich über die Bedeutung der Zahlen nachzudenken.

Die Lage ist momentan etwas unklar.

Das war glatt gelogen, jetzt, wo er es besser wusste. Wenn man den zugeflüsterten Auskünften von Nina und Michael trauen durfte, die aus den Anzeigen wesentlich mehr herauslesen konnten als er selber, würden sie in weniger als zwei Stunden ein wirklich ernsthaftes Problem haben. Unter anderem das, dass sich das Schiff in eine Wolke umher treibender Moleküle verwandeln würde. Abgesehen davon lief, den Umständen entsprechend, eigentlich alles wie am Schnürchen.

Er riss sich von seinen Gedanken los und merkte, dass sich der Raum zunehmend leerte. Er erinnerte sich an einen weiteren Punkt, den er allerdings nicht vor der versammelten Menge hatte erörtern wollen. Er stieg von seinem Stuhl herunter und bedeutete einigen Leuten aus der Menge durch Blicke oder kurzen Bemerkungen, noch dazubleiben.

Die 'Brückencrew', die sich so herausbildete, bestimmte David mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip, da er sich auf Leute beschränkte, die er kannte, seinem Fachbereich angehörten oder die er schlicht einigermaßen gut leiden konnte. Vor allem aber die, die jetzt noch anwesend waren.

Das wirklich Erstaunliche war, wie er später bemerkte, dass es funktioniert hatte. Alle hatten, zugegebenermaßen erst nachdem er den ersten cholerisch reagierenden Kommilitonen, der noch im Raum verblieben war, einen kräftigen und mustergültigen Haken versetzt hatte, allen seinen Anweisungen gehorcht und sich sofort auf den Weg gemacht.

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