Читать книгу Die goldene Ananas - Dennis Kornblum - Страница 8
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Es war Sonntag, 11 Uhr 12, als Elias‘ Handywecker ihn aus dem Schlaf riss. Wie immer hätte er gerne noch weitergeschlafen, aber es lag einiges an Arbeit vor ihm; ab heute würde wieder sein gewohntes Programm, der übliche Tagesablauf beginnen.
Elias stand auf und sah aus dem Fenster. Es war ein warmer, aber überwiegend bewölkter Vormittag. Gegen die Wolken hatte Elias gar nichts, denn Sonne brauchte er hier drinnen nicht, und ihm graute ohnehin schon vor möglichen Hitzewellen im Hochsommer. Er hatte sich sagen lassen, dass solche in einer Dachgeschosswohnung sehr unangenehm werden könnten.
Das erste, was er morgens machte, war Kaffee aufsetzen, denn es gab, über den Tag verteilt, zu jeder Zigarette eine halbe Tasse davon, bis auf die letzten vier Stunden vor dem Schlafen gehen. Zum Frühstück gab es, wie immer, 70 Gramm Haferflocken, 175 Milliliter fettarme Milch und darein Apfel –und Bananenstücke sowie ein Ei. Während er aß, dachte er an seinen Tagesablauf, der heute zum ersten Mal in der neuen Wohnung vollzogen werden würde. Nachdem er gleich noch eine Zigarette geraucht hätte, würde er mit seinem Gitarre–Übungsplan einsetzen - eine halbe Stunde chromatische Fingerübungen zum Aufwärmen, dann Wechselschlagübungen auf den Drei-Noten-pro-Seite-Skalen, hiernach Legatotechniken, Sweeping mit Arpeggios, Tapping, Eightfingertapping und schließlich noch String-Skipping. Anschließend erwarteten ihn 25 bis 30 Minuten Powerchords und bekannte Death Metal Riffs (denn er wollte auch die Rhythmusgitarre nicht komplett vernachlässigen) und schließlich 25 bis 30 Minuten freies Spielen, wobei er meistens über ein paar Metal-Jamtracks solierte, die er auf CD hatte. Das ganze Programm erstreckte sich, vier kurze Rauch- und Kaffeepausen nicht miteingerechnet, über ziemlich genau sechs Stunden.
Wenn er damit fertig wäre, würde er sich einen kleinen Snack gönnen, meist einen Apfel und ein paar Walnüsse. Danach würde er ein paar Musikalben hören, die er für gewöhnlich bereits beim Frühstück ausgesucht hatte. Für heute hatte er sich drei Alben vorgenommen, als letztes eines von Deicide, bei welchem er sein Sportprogramm durchziehen würde, bestehend aus sieben Übungen innerhalb einer guten halben Stunde für den gesamten Körper. Diese hatte er vor ein paar Jahren mithilfe eines Home-Trainer-Buches zusammengestellt. Nachdem er im Anschluss geduscht hätte, würde er eine Dreiviertelstunde bei einer Dreamsession mit Schiller-Musik entspannen und danach seinen Teller mit fünf Scheiben Brot vorbereiten, die er jeden Abend als letzte Mahlzeit aß, zwei mit Käse und Zigeunersauce, darauf zwei mit Wurst (Salami und/oder Schinken) und scharfem Senf, und ganz oben noch eine mit Schmelzkäse. Er belegte alle Scheiben entweder mit Zwiebel- oder mit Gurkenscheiben; dies war im Grunde die einzige Variationsmöglichkeit, die es für diese Mahlzeit gab. Während des Essens würde er dann gemütlich einen Film schauen, und anschließend noch einen weiteren. Je nachdem, wie lange die Filme dauerten, würde er auch noch einen dritten schaffen, ansonsten hörte er stattdessen noch ein oder zwei Alben oder surfte ein wenig im Internet, googelte ein paar Dinge nach, die ihn interessierten. Irgendwann so gegen halb drei, drei Uhr ging er dann ins Bett. Das war sein üblicher Tagesablauf.
Nach dem Verzehr seines Frühstücks gönnte Elias sich nun den ersten halben Kaffee und rauchte die erste Zigarette. Hochmotiviert, jetzt mit dem Üben anzufangen, drückte er die Zigarette aus, lüftete ein paar Minuten (das tat er nach jeder Zigarette, Sommer wie Winter) und nahm seine schwarze Ibanez aus dem Gitarrenständer. Nachdem er sein Stimmgerät angeschlossen und sie sorgfältig gestimmt hatte, stellte er das Metronom auf 60 Schläge. Er fing bei jedem der einzelnen Übungsteile immer ganz langsam bei Achteln beziehungsweise Triolen an und steigerte die Geschwindigkeit bis 208 (bis dahin reichte sein Metronom), dann setzte er bei 100 mit Sechzehntelnoten beziehungsweise Sextolen wieder ein und tat das gleiche. Er setzte sich nun auf den Drehstuhl, verband seine Kopfhörer mit seinem kleinen Champ Verstärker, setzte sie auf, stellte den Sound erst einmal auf Clean und legte mit den chromatischen Warmups los.
Es klappte sehr gut heute. Mitunter wie in Trance sah er seine Finger die Bünde rauf und runter fegen. Er fand es faszinierend zu beobachten, wie schnell sie im Laufe der letzten Jahre geworden waren, und sie wurden weiterhin schneller. Beim Alternate Picking brach er bei den Sechzehntelnoten heute sogar seinen Rekord, indem er eine Geschwindigkeit von 196 erreichte, wobei es ab 180 dann doch etwas unsauber wurde. Das machte ihn überaus zufrieden; er liebte es, wenn er sich steigern konnte. Nach dem Legatospiel legte er eine kurze Pause ein, konsumierte eine weitere halbe Tasse Kaffee und eine Zigarette, dann fuhr er mit Sweeping fort. Hochkonzentriert machte er sich an verschiedene Arpeggios in unterschiedlichen Lagen auf dem Griffbrett.
Elias arbeitete gerade an einem besonders schwierigen Sweep-Lick und hatte das Metronom mühsam auf 123 gesteigert, als er durch ein Klopfen an der Tür gestört wurde. Erschrocken fuhr er zusammen. Er stellte das Metronom aus, nahm die Kopfhörer ab und lauschte in Richtung der Wohnungstür. Da ertönte wieder ein Klopfen, diesmal ein wenig lauter. Jetzt spürte Elias einen Anflug von Verzweiflung in sich aufsteigen, ein Gefühlschaos aus Ängstlichkeit und Verärgerung, Panik und Wut.
Er hasste Unterbrechungen. Einige Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, einfach nicht zu reagieren, immerhin erwartete er ja niemanden. Andererseits fürchtete er weitere Klopfdurchgänge; also erhob er sich und ging zur Tür.
Er öffnete sie zaghaft, und vor ihm stand eine Dame, Anfang bis Mitte Fünfzig, relativ groß, sehr schlank. Sie hatte mittellange braune Haare und trug ein hellblaues Sommerkleid und elegante schwarze Schuhe mit kleinem Absatz. Elias blickte gepeinigt in ihr gutmütig lächelndes und recht ansehnliches, ja irgendwie klassisch schönes Gesicht.
»Hallo«, begrüßte sie ihn freundlich. »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht stören.«
Elias wollte keinen unfreundlichen Eindruck machen, also gab er sich Mühe, entspannter zu wirken; jedoch schaffte er nicht mehr, als ein verkrampftes Lächeln aufzulegen.
»Hallo«, entgegnete er höflich.
»Mein Name ist Bettina Kinateder; ich wohne eine Etage unter Ihnen. Ich habe gehört, dass hier ein junger Mann eingezogen ist, und wollte mich mal vorstellen. Wir wohnen ja immerhin im gleichen Haus. Ich wollte Sie einfach mal kurz kennenlernen, also dachte ich, ich komme mal eben hoch. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich an einem Sonntag vorbeikomme.«
»Nein, nein, ist kein Problem«, erwiderte Elias immer noch sehr angespannt. »Ich heiße Bach. Elias Bach.«
Sie reichte ihm lächelnd die Hand. »Freut mich, Herr Bach.«
»Wollen Sie reinkommen?«, bot er ihr an, obwohl ihm das eigentlich überhaupt nicht behagte, aber er fand die Frau sehr nett und wollte auf ihre Freundlichkeit nicht unangemessen reagieren.
»Ja, danke, für einen Moment vielleicht, ich will Sie wirklich nicht lange stören. Das ist nett.« Sie betrat Elias´ Wohnung und sah sich um. »Das ist eine sehr schöne Wohnung. Eigentlich unglaublich, dass sie so lange Zeit leer stand. Gefällt es Ihnen hier?«
»Joa«, antwortete Elias. »Gefällt mir ganz gut.« Er versuchte, freundlich zu sein, war innerlich aber erfüllt von Unruhe; es machte ihm großen Stress, dass er Zeit zum Üben verlor.
»Schön«, sagte die Dame lächelnd.
Jetzt trat eine Pause ein, welche Elias als etwas peinlich empfand. Sie standen bloß im Raum und lächelten sich verlegen an.
»Sie können sich ruhig setzen«, unterbrach Elias schließlich das Schweigen.
»Dankeschön«, entgegnete Frau Kinateder und setzte sich auf einen der Stühle, die seine Eltern ihm mitgebracht hatten. Jetzt haben die wenigstens einen Nutzen, dachte Elias.
»Hätten Sie gern einen Kaffee?«
»Ja gerne, aber nur, wenn es wirklich keine Umstände macht.«
Elias begab sich in seine kleine Küchenzeile, nahm eine Tasse aus dem Schrank und schüttete aus seiner silbergrauen Thermoskanne Kaffee hinein, alles in äußerst langsamem Tempo. Jetzt, wo er ihr eine kurze Zeit lang nicht gegenüberstand, wollte er die Gelegenheit nutzen, kurz seinen Tagesplan zu überdenken. Wie lange würde sie wohl bleiben? Er rechnete vorsichtshalber eine halbe Stunde ein. Er würde also gleich, wenn er weiterübte, eine halbe Stunde in Verzug sein. Da er seinen Übungsplan auf keinen Fall verkürzen wollte, musste er die verlorene Zeit an anderer Stelle wieder reinholen. Eine Möglichkeit bestand darin, nach seinem Snack ein Album weniger zu hören; ansonsten würde er, anstatt wie gewohnt gegen halb zehn, erst eine halbe Stunde später zum Essen und Filmegucken kommen. In diesem Fall könnte er wohl auf keinen Fall mehr einen dritten Film schauen, zumindest nicht ohne später ins Bett zu kommen, was ihn wiederum wertvollen Schlaf kosten würde, denn um 11 Uhr 12 ging ja morgen wieder sein Wecker. Auch wenn er ohnehin häufig bloß zwei Filme sah, widerstrebte ihm die Vorstellung, es von vornherein ausschließen zu müssen; ihm missfiel der Gedanke, erst verspätet sein Abendessen einzunehmen und mit dem Filmeabend zu beginnen. Also tendierte er im Moment eher dazu, im mittleren Teil des Tages ein Album auszulassen, er musste gleich nur noch entscheiden, welches.
Aber was, wenn Frau Kinateder noch länger blieb? Zur Not müsste er sie irgendwann freundlich bitten zu gehen, auch wenn ihm das sehr schwerfallen und ihm einiges an Energie abverlangen würde.
»Ach so«, sagte er jetzt. »Ich hab keinen Zucker, nur Milch hab ich da. Ich trinke meinen Kaffee immer schwarz.«
»Ich trinke ihn auch immer schwarz«, gab Frau Kinateder lächelnd zurück. »Alles bestens.«
Elias brachte ihr den Kaffee und setzte sich auf seinen dunkelgrauen Drehstuhl ihr gegenüber. Zwischen ihnen stand das kleine schwarze Tischchen, auf dem er die Tasse platziert hatte.
»Trinken Sie keinen?«, fragte sie.
»Nein, ich hab vorhin erst einen getrunken. Nachher wieder.«
Ihr Blick fiel nun auf die Gitarre. »Sie spielen Gitarre? Oh, ich hoffe, ich habe Sie nicht beim Üben gestört.«
»Na ja, ich war grade am Üben, aber ist nicht so schlimm. Ich mache gleich weiter.«
»Ich bleibe auch nicht so lange, trinke nur den Kaffee hier, dann lasse ich Sie wieder alleine.« Sie schlürfte die ersten paar Schlucke von ihrer Kaffeetasse.
Elias entgegnete nichts; das wäre jetzt zu viel des Guten, wenn er sie auch noch anhielt, länger als die Kaffeelänge zu bleiben. Er nickte bloß verlegen.
»Sie spielen bestimmt sehr gut. Machen Sie das beruflich oder betreiben Sie es als Hobby?«
»Also ich mache das nicht beruflich, aber es ist schon mehr als ein Hobby für mich. Ich übe sehr viel, so sechs Stunden am Tag nach einem Übungsplan.«
Frau Kinateder machte große Augen und blickte ihn bewundernd an. »Wirklich? Da sind Sie aber sehr diszipliniert.«
»Ich hab früher auch mal bis zu zehn Stunden am Tag geübt«, ergänzte Elias.
Er fühlte sich allmählich ein bisschen weniger angespannt. Eine halbe Stunde hatte er ja sowieso einberechnet, da konnte er sich jetzt auch ein wenig unterhalten. Außerdem schmeichelte ihm das Interesse der Dame.
»Aber da ging es mir irgendwann nicht mehr gut mit, ich …« Er hielt inne, denn er wollte ihr nicht unbedingt von den Angstzuständen und Heulkrämpfen berichten, die jene Überlastung bei ihm hervorgerufen hatte. Frau Pawlowska und sein Psychiater hatten ihm damals dringend ans Herz gelegt, die Übungsstunden zu reduzieren. »Ich wollte auch noch etwas Zeit zum Musik hören, Filme gucken und Trainieren haben.«
Frau Kinateder sah verwundert aus. »Aber dann bleibt ja gar keine Zeit mehr für etwas anderes. Ich hätte angenommen, Sie sind Student.«
»Nein«, sagte Elias zögerlich.
»Irgendeine Arbeit?«
»Auch nicht.« Elias wurde unbehaglich zumute. Er kannte diesen Verlauf einer Konversation mit fremden Menschen bereits, und er wusste nie so recht, was und wie viel er zu diesem Thema sagen sollte.
»Und wovon leben Sie?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich …« Er stockte. »Ich bin sozusagen Frührentner. Beziehe Erwerbsminderungsrente.«
Frau Kinateder blickte ihn ein wenig ungläubig an. »Das ist aber sehr früh. Sie machen auf mich keinen besonders eingeschränkten Eindruck. Sie sind doch ein fitter junger Mann. Wie alt sind Sie?«
»26«, antwortete Elias. »Ich hab auch keine körperliche Einschränkung. Es ist eher … psychisch. Aber wie gesagt, das ist eine lange Geschichte.«
»Schon gut. Sie müssen mir nichts davon erzählen, wenn es Ihnen unangenehm ist. Ich war vielleicht auch etwas zu neugierig. Es wird schon gute Gründe dafür geben. Tut mir leid, wenn ich indiskret war.«
»Nein, schon okay. Ich hab diesen Zustand, also das mit der Rente und so, auch nicht unbedingt für immer, es ist halt momentan so.«
»Sie sind ja auch noch sehr jung. Mit 26 haben Sie noch so viel Zeit vor sich.« Sie schaute wieder auf seine Gitarre. »Was spielen Sie denn für Musik? Das ist doch eine E-Gitarre, oder? Demnach Rockmusik, oder Jazz vielleicht?«
»Also …«, entgegnete Elias, wieder mit leichtem Zögern. »Ich beschäftige mich hauptsächlich mit Techniken, die im Hardrock und Metal angewandt werden. Ich übe diese schnellen Soli, die Sie vielleicht aus manchen Heavy-Metal-Stücken kennen. Am meisten interessiere ich mich für Death Metal, das ist auch die Musik, die ich fast ausschließlich höre und später spielen möchte; am liebsten Technical Death Metal, aber auch Old-school im Stil vom Florida und New York Death Metal.«
»Aha.« Frau Kinateder hob die Augenbrauen. »Death Metal. Ich muss zugeben, damit kenne ich mich gar nicht aus. Ist das so etwas wie Metallica?«
»Nein, nicht ganz. Metallica spielen Thrash Metal und sind schon vor langer Zeit sehr kommerziell geworden. Die Bands, die ich höre, kennt man eigentlich nur, wenn man sich stark mit dieser Musikrichtung beschäftigt. Das ist eher Underground, so was läuft nicht im Radio. Ich weiß nicht, ob Sie so etwas irgendwann schon mal gehört haben. Das ist diese Musik mit diesem ganz speziellen Gesang, der mit dem Kehlkopf erzeugt wird, und ganz tief gestimmten Gitarren.«
»Ach ja …!« Frau Kinateder schien ein Licht aufzugehen. »Das habe ich schon mal gehört. Da wird gar nicht richtig gesungen, eher gebrüllt, ganz dunkel und aggressiv, und die Musik ist ganz chaotisch und disharmonisch.«
»Ja genau das. Aber Singen ist das schon, das nennt man gutturalen Gesang. Und die Musik ist sehr anspruchsvoll, chaotisch wirkt es nur beim ersten Eindruck, die Liedstrukturen sind sehr komplex. Technisch ist diese Musik mit das Anspruchsvollste, das es gibt. Anders als diese simplen Drei-Akkord-Lieder, die man meistens im Radio hört und die in den Charts stehen, mit dem langweiligen Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Schema.«
»Ja, das glaube ich Ihnen, sie beherrschen ihre Instrumente bestimmt sehr gut. Also mein Geschmack ist diese Musik nicht, das ist mir zu düster und zu aggressiv, aber die Geschmäcker sind ja zum Glück verschieden, und jeder Musikstil hat seine Berechtigung. Ich höre auch nicht unbedingt das, was so im Radio und in den Charts läuft. Ich höre gern klassische Musik und hin und wieder auch ein wenig Jazz. Das ist auch sehr anspruchsvoll.«
»Das stimmt«, bestätigte Elias. »Metal hat auch häufig Einflüsse aus der Klassik und dem Jazz. Es gibt zum Beispiel auch Neo-Classical-Metal und Symphonic Metal. Aber auch im Death Metal gibt es solche Einflüsse, den klassischen vor allem im Melodic Death, Jazz eher im Technical Death Metal.«
»Interessant«, meinte Frau Kinateder. »Haben Sie auch einen Lieblingsgitarristen?«
Elias überlegte kurz. »Da gibt es einige. Zum Beispiel Eric Rutan von Hate Eternal, Karl Sanders von Nile, Robert Vigna von Immolation … Oder Jon Levasseur von Cryptopsy und Michael Keene von The Faceless. Ein besonderer Fan bin ich von Trey Azaghtoth von Morbid Angel; der hat einen ganz eigenen, einzigartigen Sound und Stil in seinen Soli, das finde ich sehr faszinierend.«
»Kenne ich alle nicht«, sagte Frau Kinateder mit einem leichten Grinsen. »Spielen Sie denn auch in einer Band?«
»Nein«, antwortete Elias kleinlaut.
»Warum nicht?«
»Na ja … Es fällt mir ehrlich gesagt etwas schwer, Kontakte zu knüpfen. Ich kann auch nicht gut mit anderen Menschen zusammenarbeiten.«
»Aber in einer Gruppe macht das doch viel mehr Spaß! Sie könnten eine Anzeige aufsetzen, dass Sie ein paar Musiker suchen. Es gibt auch bestimmt viele Anzeigen von Bands, die Gitarristen suchen, sicherlich auch in dieser Musikrichtung.«
»Ich will lieber noch etwas damit warten«, meinte Elias. »Ich bin noch nicht ganz mit meiner Spielstärke zufrieden; ich will das erst noch perfektionieren. Außerdem bin ich es nicht gewöhnt, vor anderen zu spielen.«
»Das ist reine Übungssache«, erwiderte Frau Kinateder. »Natürlich sind Sie nicht daran gewöhnt, wenn Sie immer alleine spielen. Außerdem glaube ich nicht, dass Sie noch großartig besser werden müssen; Sie üben sechs Stunden am Tag, früher sogar zehn. Sie müssen doch kein Weltklasse-Gitarrist sein, um mal mit anderen zusammen zu spielen. Ich glaube, Sie stellen zu hohe Ansprüche an sich selbst. Sie sollten mit ein wenig Selbstvertrauen an die Sache herangehen.«
Elias sah sie erwartungsvoll an. Er fand das Gespräch mittlerweile sehr interessant.
»Wissen Sie«, fuhr Frau Kinateder fort. »Die meisten Menschen leben in der Vergangenheit und in der Zukunft, aber niemals wirklich in der Gegenwart, obwohl dort das Glück zu finden ist. Und Sie üben und üben auf das Ziel hin, einmal gut genug zu sein, um in einer Band spielen zu können. Aber so, wie ich Sie einschätze, werden Sie sich wahrscheinlich niemals gut genug fühlen, also üben Sie immer weiter und weiter, immer im Hinterkopf das Bild in der Zukunft, wenn Sie perfekt spielen können. Dabei haben Sie Ihr Ziel sehr wahrscheinlich schon längst erreicht. Jetzt ist der Zeitpunkt für Sie, eine Band zu kontaktieren, jetzt, in der Gegenwart.«
»Das klingt, als hätten Sie darüber mal gelesen«, entgegnete Elias schmunzelnd. »Das mit der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und so.«
»Ja, das habe ich tatsächlich. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen mal etwas darüber zu lesen. Ich glaube, das würde Ihnen guttun. Ich vermute, Sie sind ein Mensch, der sehr viel denkt, vor allem sehr viel daran denkt, was möglicherweise passieren könnte.«
»Das könnte stimmen … Früher habe ich übrigens auch viel gelesen. Mittlerweile lese ich kaum noch, eigentlich hauptsächlich nur noch Musikzeitschriften und Albumrezensionen im Internet … Aber nochmal zu dem, was Sie gerade gesagt haben. Es ist bei mir nicht nur die Angst, nicht gut genug zu sein. Ich hab auch wirklich Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten.«
»Das mag sein. Aber das wird bestimmt nicht besser, wenn Sie den ganzen Tag bloß üben, Musik hören und Filme gucken. Aber ich lasse Sie jetzt in Ruhe.« Sie lächelte Elias freundlich an. »Ich wollte Ihnen nur mal einen kleinen Denkanstoß geben. Ich bin sicher, es gibt gute Gründe für Ihr Verhalten und dafür, dass Sie momentan Rente beziehen. Ich glaube aber auch, dass Sie ein netter, intelligenter junger Mann sind. In Ihnen steckt bestimmt noch großes Potenzial.«
»Na ja«, entgegnete Elias verlegen. »Sie kennen mich ja eigentlich kaum.«
»Ich habe eine gute Menschenkenntnis«, meinte Frau Kinateder. »Und mein Gefühl sagt mir, dass mehr in Ihnen steckt, als es anfänglich scheint und als Sie selber glauben.«
»Na ja … Danke.« Elias taten ihre Worte sehr gut, auch wenn er nicht wirklich daran glaubte.
»Ich möchte Sie wirklich nicht länger aufhalten. Den Kaffee habe ich auch ausgetrunken.« Frau Kinateder erhob sich.
Elias stellte fest, dass sie nur über ihn gesprochen hatten und er über sie eigentlich überhaupt nichts erfahren hatte. Er überlegte, welche Frage er ihr stellen könnte.
»Haben Sie eigentlich schon jemand anderen hier aus dem Haus kennengelernt?«, fragte sie ihn jetzt, bevor ihm etwas einfiel.
»Ja, ich hab alle schon einmal gesehen. Mit dem Willi hab ich schon gesprochen, als ich ihn am Tag meines Einzugs vor der Haustür getroffen habe. Und mit dem …« Ihm fiel der Name nicht mehr ein. »Dieser unglaublich muskulöse Typ eine Etage unter mir, also Ihnen gegenüber.«
»Ach, der Herr Meurer«, sagte Frau Kinateder mit einem Anflug von Lachen. »Der nennt sich Joe, heißt eigentlich Jochen. Das ist eigentlich ein ganz Netter, wenn man so oberflächlich mit ihm kommuniziert, aber ich glaube, unter der Oberfläche ist er auch etwas narzisstisch. Und seine Muskelmasse ist auch nicht natürlich. Er nimmt anabole Steroide, das gibt er auch offen zu. So etwas missfällt mir, aber das muss ja jeder für sich selbst entscheiden. In meinen Augen ist er ein Prolet. Übrigens ist er eigentlich Metzger, aber im Moment ist er glaube ich wieder mal arbeitslos. Er scheint das mit dem Beruflichen auch nicht allzu eng zu sehen … Der Willi ist ein ganz feiner Kerl, immer freundlich, immer gut gelaunt und sehr hilfsbereit.« Sie lachte. »Er hat mir schon mal einen Schrank aufgebaut, das fand ich richtig lieb von ihm.«
»Ach, stimmt, er ist ja Schreiner, oder?«
»Ja, genau, er ist selbstständig. Seine Werkstatt befindet sich ganz in der Nähe, einen Block weiter. Haben Sie die Frau Schmitz mit ihrer Tochter auch schon gesehen?«
»Ja, aber nur kurz«, antwortete Elias. »Schmitz? Ich hätte bei ihr eher eine ausländische Abstammung vermutet, also optisch jetzt, sie sieht sehr südländisch aus.«
»Ja, sie ist halbe Tunesierin, der Vater ist Deutscher. Die Tochter ist süß, oder?«
»Ja, sie hat mich total nett begrüßt. Aber Frau Schmitz hat mich gar nicht richtig beachtet, war am Telefonieren.«
»Ja, die Aziza hängt ständig am Handy; sie ist auch so ein Fall für sich. Aber sie hat ein ganz besonderes Kind. Ich habe nur manchmal die Befürchtung, das ist ihr gar nicht so klar. Sie ist leider zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«
»Wer ist eigentlich dieser etwas kleinere Mann mit der Brille?« Elias nutzte die Gelegenheit, einmal nach diesem merkwürdigen Stoffel zu fragen, den er als allerersten zu Gesicht bekommen hatte.
»Ach, das ist Herr Ingelheim.« Frau Kinateder runzelte die Stirn. »Ein ganz komischer Kauz, total arrogant und unfreundlich. Er wohnt in diesem Extraanbau hier im Erdgeschoss und spricht eigentlich mit niemandem, nur dann, wenn er was zu meckern hat. Merkwürdigerweise war mein allererster Eindruck von ihm ganz gut, als ich hier eingezogen bin. Ich fand ihn irgendwie interessant, so zurückhaltend und eigensinnig. Aber schließlich entpuppte er sich als ziemlich unfreundlich. Ich glaube, er ist ein sehr egozentrischer Mann. Im ganzen Haus hier hat sich, soweit ich weiß, noch niemand richtig mit ihm unterhalten. Das scheint mir auch gar nicht möglich zu sein. Wenn er gut drauf ist, grüßt er mal mürrisch, aber oft geht er einfach so an einem vorbei, ohne einen zu beachten. Keine nette Art, finde ich. Aber zumindest tut er niemandem was. Er scheint sich einfach selbst genug zu sein. Ich habe niemals erlebt, dass er mal Besuch gehabt hätte. Es weiß auch keiner, was er beruflich macht. Er scheint jedenfalls viel zu Hause zu sein.«
»Ich bin auch viel zu Hause«, sagte Elias und grinste zaghaft. »Das hab ich mit ihm gemeinsam.«
»Ja, bei Ihnen gibt es ja auch einen guten Grund dafür. Außerdem sind Sie sehr höflich und nett.« Sie hielt einen Moment inne. »So, jetzt lasse ich Sie aber wirklich alleine!«
Während sie zur Tür schritten, fiel Elias wieder ein, dass er sie ja noch etwas zu ihrer Person fragen wollte.
»Was machen Sie eigentlich beruflich?« Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen. Sie standen nun an der Türschwelle.
»Ich bin klassische Philologin«, antwortete Frau Kinateder, sichtlich erfreut über Elias‘ Frage. Ob sie ihm die Mühe, die er sich gab, vielleicht anmerkte? »Ich halte Vorträge, Vorlesungen und unterrichte in der Hochschule.«
»Das hat mit Latein zu tun, oder?«
»Ja genau, Altgriechisch und Latein.«
»Latein war in der Schule mein Lieblingsfach.« Elias hatte mit einem Mal ein Glitzern in den Augen. »Erste Person Singular Indikativ Präsens Aktiv und so weiter … Das fand ich immer total spannend.«
»Ja, Latein ist eine sehr interessante Sprache, aber trotzdem bei vielen Menschen ziemlich verhasst. Bei Ihnen hätte ich als Lieblingsfach aber wohl eher Musik erwartet.«
»Als Schulfach mochte ich Musik nicht, ich hab mich erst später mehr dafür interessiert. Aber Latein hat mich von Anfang an begeistert.«
»Dann waren Sie sicherlich ein guter Schüler in diesem Fach?«
»Ja, in Latein hatte ich durchgehend eine Eins auf dem Zeugnis, selbst in der Phase, in der ich so gut wie nichts für die Schule getan habe und fast sitzen geblieben wäre.«
»Interessant«, meinte Frau Kinateder.
»Amo, amas, amat, amamus, amatis, amant«, sagte Elias fröhlich auf. »Das hat mir einen Riesenspaß gemacht.«
Frau Kinateder lachte. »Man merkt, dass Sie Freude daran hatten. Vielleicht hätten Sie das studieren sollen.«
»Ja, vielleicht.« Elias‘ Gesicht nahm wieder ernstere Züge an.
»Aber Sie spielen ja jetzt Gitarre, und das hat bestimmt seinen Grund … Alles hat seinen Grund. Und nun, machen Sie es gut! Kommen Sie mich doch demnächst auch mal besuchen, dann können wir uns weiter unterhalten.« Mit diesen Worten machte sie einen Schritt aus der Wohnung und betrat den kleinen Flur des Dachgeschosses. Sie gab ihm noch einmal die Hand. »Hat mich sehr gefreut, Elias.«
»Mich auch«, erwiderte dieser.
Dann ging sie die Treppe herunter und verschwand aus seinem Blickfeld.
Wieder allein in seiner Wohnung, setzte Elias sich zurück auf seinen Drehstuhl und legte die Gitarre auf den Schoß. Er warf einen Blick auf sein Handy. Ziemlich genau 36 Minuten waren seit der Unterbrechung vergangen. Da würde er nachher ein Album weniger hören, dann passte es wieder. Er sah die verlorene Zeit nun etwas gelassener, ruhiger an. In gewisser Hinsicht war die Zeit ja auch eigentlich gar nicht verloren, er hatte schließlich ein interessantes Gespräch geführt. Er fühlte sich angenehm belebt von der Unterhaltung und wollte sie unbedingt nachher noch einmal in Ruhe Revue passieren lassen, wenn er seine Dreamsession mit Schiller-Musik einhielt; aber jetzt musste er erst einmal weiter üben. Es war eigentlich schon wieder Zeit für den nächsten halben Kaffee mit Zigarette, aber er beschloss, erst mit dem Sweeping abzuschließen und dann eine kleine Pause einzulegen.
Als Elias etwa vier Stunden später rücklings auf seinem Bett lag und sehr leise eine seiner drei CDs von Schiller hörte, ging er vor seinen geistigen Augen und Ohren das Gespräch mit Frau Kinateder noch einmal durch und überlegte, wie er sie einschätzen und welche innere Haltung er ihr und ihren Worten gegenüber einnehmen sollte. Sie war auf jeden Fall sehr freundlich und interessiert gewesen; er würde ihre Art also durchaus als wohlwollend einschätzen. Doch diese Einschätzung nahm er eher vorsichtig und zögerlich vor, er stand Frauen generell etwas skeptischer gegenüber. Womöglich lag das an einer schlechten Erfahrung, die er einst mit seiner ehemaligen Deutschlehrerin Frau Schultze gemacht hatte. Diese hatte sich ihm gegenüber zunächst sehr wohlwollend und freundlich verhalten, sich dann aber später als ungeduldig und fies herausgestellt. Allerdings war er damals auch noch um einiges jünger gewesen, vielleicht war er ja mittlerweile besser darin, Menschen einzuschätzen. Bei Frau Kinateder hatte er zumindest die starke Vermutung, dass sie es gut mit ihm meinte.
Etwas merkwürdig fand er bloß ihre sehr direkte, offene Art, wie zügig sie mit ihm ins Gespräch gekommen war und wie schnell sie ihm dann ihre Meinung über ihn dargelegt hatte. Aber das war wahrscheinlich einfach ein Teil ihrer Persönlichkeit, eine Charaktereigenschaft.
Elias dachte nun an das, was Frau Kinateder über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gesagt hatte, und befürchtete, dass da schon etwas dran war. Das, was ihn jeden Tag antrieb, stundenlang zu üben, war ein Bild in der Zukunft, wenn er gut genug spielen könnte, um mit seinen Spielkünsten nach außen zu gehen, sie anderen zu präsentieren. Aber obwohl er seine Technik immer weiter verbesserte, wurde der Abstand zwischen dem jetzigen Zustand und diesem Bild irgendwie kaum geringer. Das Niveau, welches er mittlerweile erreicht hatte, wäre zum Beispiel vor sieben Jahren noch völlig jenseits seiner Vorstellung gewesen, viel weniger hatte er da erst einmal angestrebt. Doch mit dem Spielniveau sind die Ziele immer weiter angestiegen.
Plötzlich überkam ihn eine beißende Gewissheit. Auf diese Weise würde er niemals in einer Band spielen und wirklich etwas Kunstvolles aus seiner erlernten Technik machen, er würde sich ewig weiter mit Fingerübungen aufhalten. Dieser Gedankengang schmerzte Elias, quälte ihn nahezu; es war kaum auszuhalten. Daher beschloss er, ihn vorerst nicht weiterzugehen. Er würde erst einmal weiter nach Plan arbeiten.
Im Folgenden tagträumte er noch ein wenig, wie er auf einer großen Bühne die krassesten Gitarrensoli hinlegte und damit das tobende Publikum begeisterte. In dem Publikum befanden sich viele Menschen aus seiner Vergangenheit und Gegenwart, die ihn unterschätzt hatten und ihn nun tief beeindruckt anstarrten. Schließlich erhob er sich aus seinem Bett und ging in die Küche, um seinen Teller mit den Broten vorzubereiten.
Nachdem Elias zwei weitere Tage seinen Tagesablauf gewohnt und ohne irgendwelche diesen verändernd beeinflussenden Vorkommnisse abgespult hatte (er hatte lediglich noch einmal die laut telefonierende Stimme der halben Tunesierin aus dem Treppenhaus gehört), kam am Mittwoch Frau Pawlowska zu ihm. Sie beide hatten einen Termin um 16 Uhr. Zwar stellte dies einen ärgerlichen Störfaktor für seinen Tagesrhythmus dar, aber er hatte sich ja darauf einstellen können und seinen Plan für heute dementsprechend angepasst.
Um 16 Uhr 3, also innerhalb ihres obligatorischen Verspätungszeitfensters, erreichte Frau Pawlowska seine Wohnung und äußerte sich zunächst einmal sehr erfreut über die Einrichtung; seine Eltern hätten mit ihm gemeinsam gute Arbeit geleistet. Nachdem Elias ihr eine Tasse Kaffee mit Milch hingestellt und sie sich einander gegenüber an sein schwarzes Tischchen gesetzt hatten, fragte sie nach dem Verlauf der ersten Tage in der neuen Wohnung und wollte wissen, ob er sich schon ein wenig eingelebt hätte. Er bejahte dies grundsätzlich, erzählte ihr aber auch von der etwa halbstündigen Übungsunterbrechung, die er am Sonntag durch Bettina Kinateder erfahren hatte, und davon, dass sie ihm geraten hatte, in einer Band zu spielen.
»Immer mit der Ruhe, Herr Bach, überlasten Sie sich nicht«, meinte Frau Pawlowska in ihrem gewohnt besänftigenden Tonfall. »Sie sind doch jetzt erst mal ausgezogen, haben den Schritt aus dem Wohnheim in eine eigene Wohnung gewagt. Damit haben Sie schon einen sehr entscheidenden Schritt für Ihr weiteres Leben getan. Immer eins nach dem anderen. Wenn Sie so weit sind, machen Sie den nächsten großen Schritt und suchen sich eine Band. Aber setzen Sie sich nicht unter Druck. Sie haben Zeit. Ihre Nachbarin kennt Sie doch noch gar nicht. Sie weiß nichts über Ihre Schwierigkeiten und kann nicht nachvollziehen, was ein solcher Schritt für Sie bedeuten würde.«
»Ja, stimmt eigentlich«, entgegnete Elias. Er fühlte sich jetzt ein wenig beruhigter.
»Waren Sie eigentlich schon mal im Garten?«
»Nur das eine Mal bei der Hausbesichtigung.«
»Sie sollten es ausnutzen, dass Sie hier einen so schönen großen Garten haben. Wir bekommen jetzt die Tage richtig schönes Wetter. Und Sie könnten wirklich etwas Farbe vertragen, Sie sehen sehr blass aus. Es ist außerdem nicht gut für die Psyche, immer nur drinnen zu hocken. Und wir haben schließlich Sommer.«
»Ich bin doch draußen, wenn ich einkaufen gehe«, wandte Elias lakonisch ein.
»Einmal in der Woche für eine Viertelstunde, Herr Bach. Der Supermarkt ist doch gleich um die Ecke.«
»Halbe Stunde«, verbesserte Elias. »Hin und zurück.«
»Dann eben eine halbe Stunde. Das ist trotzdem sehr wenig.«
»Hm…« Elias grübelte ein wenig nach. Gerade im Moment hielt er Frau Pawlowskas Vorschlag für eher keine so gute Idee.
Die restliche Zeit sprachen sie über organisatorische Dinge - Hilfeplan, Briefe, Termine für Behördengänge und andere ihn nicht im Mindesten interessierende Dinge. Heute kümmerten sie sich unter anderem um eine Vollmacht, sodass er nicht zum Amt gehen musste; ein Zugeständnis, das Frau Pawlowska ihm gemacht hatte, um seinen Stress innerhalb der ersten Wochen in der neuen Wohnung so gering wie möglich zu halten.
Um 16 Uhr 48 war Frau Pawlowska wieder gegangen, und Elias konnte mit seinem Programm fortfahren.
Zwei Tage später, an einem schwülwarmen Freitagabend, stand Elias von seinem Bett auf und schaute auf sein Handy. Es war 19 Uhr 47. Er hatte soeben zwei Musikalben durchgehört, nachdem er davor relativ erfolgreich seinen Übungsplan durchgearbeitet und seinen Snack eingenommen hatte. Nun klickte er auf Youtube das neueste Album von Decapitated an, eine polnische Tech Death Band, die er sehr schätzte. Er hatte dieses Album bisher erst zweimal gehört und war gespannt, ob nun beim dritten Durchgang der ein oder andere Riff griffiger, eingängiger klingen würde.
Der erste Song ertönte aus den Boxen in wie immer recht gemäßigter Lautstärke. Elias hatte nur sehr selten das Verlangen, Musik richtig laut zu hören, da er ein sehr empfindliches Gehör besaß und im Grunde alle Arten von lauten Geräuschen als sehr unangenehm empfand.
Er ging in die kleine Küchenzeile. Es war an der Zeit, noch eine kleine Menge Kaffee für die letzten zwei halben Tassen des Tages aufzusetzen. Er warf den alten, mit Kaffeesatz gefüllten Filter in den Biomüll, setzte neuen Kaffee auf und drückte auf den Startknopf. Es ertönte sogleich das gewohnte Rattern der Maschine; allerdings nur für wenige Sekunden, dann ging das gelbe Lämpchen plötzlich aus, und auch die Musik verstummte.
Elias fuhr ein Schauer durch den Körper. Es machte sich wieder jenes Kribbeln in der Bauch- und Brustgegend bemerkbar, das er in Schrecksituationen immer fühlte, im Grunde ein wenig wie Schmetterlinge im Bauch, aber als äußerst unangenehme Variante. Panisch drückte er erneut ein paarmal auf den Knopf, aber es tat sich nichts. Dann betätigte er den Lichtschalter, doch auch das Licht ging nicht an. Es war ein Schock für Elias, chaotisch wirbelten Gedanken wie »kein Strom«, »Was mach ich jetzt?«, »Ich will noch Musik hören und nachher Filme gucken«, gemischt mit Emotionen von Angst, Wut und Verzweiflung in seinem Kopf herum.
Stromausfall? Wenn ja, wie lange würde das dauern?
Elias versuchte, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen, einen klaren Gedanken zu fassen; er musste jetzt ruhig bleiben und genau überlegen, was er tat.
Er setzte sich auf den Drehstuhl, griff sich sein auf dem schwarzen Tischchen liegendes Handy und suchte im Internet nach Informationen über Stromausfälle. Wenige Minuten später hatte er herausgefunden, dass Stromausfälle zumeist nur von kurzer Dauer waren, wenn die gesamte Wohngegend betroffen war. Betraf es denn die gesamte Wohngegend oder nur seine Wohnung? Er nahm seinen Schlüsselbund, ging aus der Wohnung und betätigte den Lichtschalter im Treppenhaus. Das Licht ging an, - das bedeutete, dass es nur seine Wohnung betraf.
Er kehrte in seine Wohnung zurück, setzte sich wieder auf den Drehstuhl und überlegte, mit stark anwachsender Nervosität wegen der jetzt schon verlorenen und immer weiter verloren gehenden Zeit.
Im Wohnheim würde er um diese Uhrzeit keinen Betreuer mehr erreichen. Er könnte seine Eltern anrufen. Aber die wohnten ja so weit weg, die konnten ihm bestimmt auch nicht helfen.
Da kam ihm eine Idee, - und ein kleiner Funke Hoffnung sprühte in ihm auf. Willi, der sportlich aussehende, graubärtige Mann, mit dem er vor einer Woche gemeinsam mit Frau Pawlowska eine ziemlich angenehme Unterhaltung vor der Haustür geführt hatte – der hatte ihm doch angeboten, dass er zu ihm kommen könnte, wenn einmal etwas sein sollte. Das könnte die Rettung sein!
Aber Elias zögerte. Er wollte Willi nicht stören, und außerdem bedeutete es immer eine große Anstrengung für Elias, mit Menschen in Kontakt zu treten, vor allem mit solchen, die er kaum kannte. Unruhig schaukelte er auf seinem Stuhl vor und zurück.
Es war jetzt 20 Uhr 2, seit einer Viertelstunde hatte er bereits keinen Strom und noch nichts Nützliches dagegen unternommen. Seine Unruhe wurde immer stärker und beißender.
Schließlich gab er sich einen Ruck und erhob sich aus dem Drehstuhl. Er nahm seinen Schlüsselbund, verließ die Wohnung, ging die Treppen hinunter ins Erdgeschoss und stand schließlich vor der Wohnung, von der er dachte, dass es Willis sein musste. Er holte tief Luft. Vielleicht war Willi gar nicht zu Hause, es war immerhin Freitagabend. War es wirklich Willis Tür, oder hatte sich dieser womöglich bei der Angabe der Tür vertan? Nicht, dass ihm gleich diese ständig telefonierende halbe Tunesierin aufmachen würde, das wäre ihm äußerst unangenehm. Namen standen in diesem Haus nicht an den Türen. Aber er musste es einfach riskieren, er brauchte unbedingt wieder Strom. Also drückte er auf den neben dem Lichtschalter befindlichen Klingelschalter. Ein schriller Ton erklang im Inneren der Wohnung, der gleiche, der auch bei ihm ertönt war, als seine Eltern und Frau Pawlowska ihn besucht hatten; Frau Kinateder hatte ja bloß geklopft, was deutlich angenehmer für seine Ohren gewesen war. Er fand dieses laute Klingelgeräusch aufdringlich, irgendwie eklig und war beide Male davon zusammengezuckt. Das tat er auch hier, obwohl es durch die verschlossene Wohnungstür etwas abgedämpft war.
Unmittelbar nach dem Ertönen der Klingel tat sich erst einmal gar nichts. Nachdem bereits eine Viertelminute vergangen war, die Elias unendlich lang vorkam, stand er ziemlich unentschlossen da; unsicher, ob er wieder gehen oder noch einmal klingeln sollte, wippte er nervös auf der Stelle, innerlich stark angespannt.
Plötzlich vernahm er Fernsehgeräusche aus dem Inneren der Wohnung, scheinbar war eine Tür aufgegangen, und Schritte, die sich der Wohnungstür näherten.
Im nächsten Moment stand Willi vor ihm, in grünen kurzen Shorts, oberkörperfrei, an den Füßen blaue Adidas-Schlappen. Zuerst war sein Gesichtsausdruck sehr verwundert, doch dann erhellte sich seine Miene, als ob er Elias jetzt erkannte.
»Hallo«, grüßte Elias schüchtern.
»Da hab ich doch richtig gehört, dass es geklingelt hat«, entgegnete Willi mit einem Grinsen. »Hi. Was gibt‘s, Junge?«
»Es tut mir leid, wenn ich störe. Ich hab da ein Problem in meiner Wohnung, und Sie meinten ja letztens, wenn mal was ist, könnte ich ruhig runterkommen. Da dachte ich, ich versuch‘s mal. Weiß auch nicht, ob Sie mir helfen können … ich …«
»Was hast du denn für ein Problem?«, fiel Willi ihm ins Wort, in klarem, bestimmtem Ton.
»Ich hab Stromausfall, also … keinen Strom mehr in meiner Wohnung. Das scheint nur meine Wohnung zu betreffen, denn das Licht im Treppenhaus funktioniert, und Sie scheinen ja auch Strom zu haben.«
»Hast du mal im Sicherungskasten nachgeschaut, ob alle Schalter oben sind?«
»Sicherungskasten?«
»Du hast doch irgendwo in deiner Wohnung so einen Kasten mit den Sicherungen. Da musst du reingucken. Vielleicht hast du einen Kurzen gehabt, und der FI-Schalter ist rausgesprungen.«
»FI-Schalter? Ich weiß nicht …« Elias schaute ihn hilflos an. Er wusste absolut nicht, wovon Willi da sprach, und das war ihm sehr peinlich.
»Warte, ich komm mal mit hoch.« Mit diesen Worten verschwand Willi kurz in der Wohnung.
Elias war erleichtert, dass er ihn nicht mit dem Sicherungskasten und diesem merkwürdigen FI-Schalter, von dem er noch nie etwas gehört hatte, alleine ließ.
Wenige Augenblicke später trat Willi aus der Wohnung. Er trug jetzt ein schwarzes T-Shirt mit Deep Purple-Aufschrift und einen großen Schlüsselbund in der Hand. »Dann woll‘n wir mal!«
Sie stiegen die Treppen bis ins Dachgeschoss hoch, und Elias schloss seine Wohnungstür auf. Seine Hände zitterten dabei ein wenig; er fühlte sich immer noch ziemlich angespannt. »Eine schöne kleine Wohnung hast du hier«, meinte Willi, als sie eingetreten waren.
»Joa«, entgegnete Elias zaghaft.
»Ah, da ist er ja.«
Willi öffnete die Tür eines weißen, länglichen Kastens, der etwa zwei Meter von der Wohnungstür entfernt auf halber Höhe der Wand befestigt war. Elias fiel er jetzt zum ersten Mal richtig auf. Zwar hatte er ihn während der letzten Woche immer wieder unbewusst wahrgenommen, aber eher, wie man ein Bild oder eine Kachel an der Wand wahrnahm, ohne ihm praktische Bedeutung zuzuschreiben.
»Das ist der Sicherungskasten«, sagte Willi. »Und das sind alle Sicherungen für die Wohnung, Licht im Badezimmer, Licht in der Küche, Herdplatten und so weiter. Die Schalter sind alle oben. Und der einzelne hier an der Seite, das ist der FI-Schalter, die Hauptsicherung, und die ist rausgesprungen, siehst du? Der Schalter ist unten. Dann machen wir den mal wieder hoch … Okay, springt direkt wieder raus. Dann ist wahrscheinlich hier irgendwo ein defektes Gerät mit dem Stromkreis verbunden. Was hast du gerade gemacht, als der Strom ausgefallen ist?«
»Na ja, ich habe Kaffee aufgesetzt« antwortete Elias. »Dann ist die Maschine plötzlich ausgegangen, und die Musik auch.«
»Aha, dann haben wir´s ja. Wo ist die Kaffeemaschine, in der Küche?« Ohne eine Antwort abzuwarten war Willi schon um die Ecke in die kleine Küchenzeile gegangen. Elias folgte ihm. »Da haben wir den Übeltäter.«
Dies ausgesprochen, zog Willi den Stromstecker der Kaffeemaschine aus der Steckdose. Dann ging er zum Kasten zurück und schaltete den FI-Schalter wieder hoch. Zwei bis drei Sekunden später ging das Licht in der Küche an, und ein wuchtiges Riff vom neuesten Decapitated-Album erfüllte den Raum.
»Oh, ich mach das mal eben aus«, sagte Elias und eilte zu seiner Anlage.
»Kannst du ruhig laufen lassen«, meinte Willi, aber da hatte Elias bereits den Power-knopf gedrückt und die Musik war verstummt.
»Deine Kaffeemaschine hat einen Kurzschluss verursacht«, sagte Willi, als Elias wieder neben ihm in der Küche stand. Er nahm die Kanne heraus. »Und das wundert mich auch gar nicht, wenn ich mir die Platte hier ansehe. Die ist ja komplett durchgebrannt, hier, alles schwarz. Da ist mit Sicherheit Wasser an die Elektroden gekommen. Die kannst du wegschmeißen.«
»Aber ich wollte heute noch Kaffee machen«, wandte Elias mit bebender Stimme ein.
»Mit dem Ding nicht mehr. Wie alt ist die denn?«
»Ich weiß nicht genau, ich …« Beinahe hätte Elias das Wohnheim erwähnt, von dort hatte er nämlich eine ältere Maschine mitnehmen dürfen, aber er wollte nicht jetzt schon damit herausrücken, dass er in einer Einrichtung gelebt hatte. »Ich hab ja vorher in so einer Art … WG gewohnt, und da hab ich die mitgegeben bekommen.«
»Da haben die dir aber einen ganz schönen Schrott angedreht. Also ich würde sagen, du brauchst eine neue Maschine. Die gibt‘s momentan sehr günstig im Aktion-Markt.«
»Aber«, stammelte Elias erschrocken. »Ich muss heute noch Kaffee machen.«
Willi schaute auf seine silberne Armbanduhr. »Also der Aktion-Markt hat schon zu. Heute kriegst du nur noch eine im Obi, drüben in Gehring, der hat bis 22 Uhr auf. Hast du ein Fahrrad?«
Elias verzweifelte innerlich, er war den Tränen nahe. »Gehring? Da war ich noch nie.«
»Du warst noch nie in Gehring?« Willi schaute ihn ungläubig an. »Wie lange wohnst du schon in dieser Stadt?«
Elias wusste nicht, was er entgegnen sollte. Mit einem Mal konnte er nicht mehr sprechen; er blickte Willi bloß verzweifelt an.
»Okay, pass auf«, fuhr dieser nun mit ruhiger Stimme fort. »Du hast Glück, ich hab noch eine Maschine bei mir unten, die ich nicht mehr brauche. Ich hab mir so einen Vollautomaten geholt. Eigentlich wollte mein Sohn die haben, aber der will sich jetzt wohl doch eine neue besorgen. Also die kannst du erstmal haben, wenn du willst. Ach, weißt du was, die schenk ich dir, ich brauch das Ding nicht mehr.«
Elias‘ Augen leuchteten. Ein wohliges Gefühl von Entspannung und Erleichterung breitete sich in seinem Inneren aus. »Oh, danke, das ist wirklich nett.«
»Warte, ich hol die mal grad«, sagte Willi und verließ Elias‘ Wohnung.
Elias setzte sich auf seinen dunkelgrauen Drehstuhl und wartete. Er schaute auf sein Handy; es war 20 Uhr 28. Das bedeutete, er würde heute entweder auf das Decapitated-Album oder auf die Dreamsession verzichten müssen, um ohne Verspätung seine Brote vorbereiten und seinen Fernsehabend starten zu können. Aber immerhin hatte er wieder Strom und konnte Kaffee kochen. Er würde auch gleich eine rauchen, die nächste Zigarette war bald möglich, und durch den ganzen Stress verspürte er auch ein starkes Verlangen danach.
Sollte er Willi vielleicht anbieten, auf eine Tasse Kaffee bei ihm zu bleiben? Immerhin hatte er ihm jetzt sehr nett geholfen, ja ihn nahezu gerettet. Allerdings würde er dann noch mehr Zeit verlieren.
Da erschien Willi wieder in der Wohnung, eine schwarze Kaffeemaschine in seinen Händen. Er stellte die defekte Maschine auf den Küchenboden und schloss die neue an. Elias war beruhigt, als er sie ansah. Es war eine ganz normale Filterkaffeemaschine, wie er im Wohnheim schon ein paar kennengelernt hatte, die er ohne Schwierigkeiten zu bedienen wusste.
»Vielen Dank«, sagte er freudig. »Dann setze ich jetzt mal Kaffee auf.« Er zögerte, ging einen kurzen Moment in sich. »Trinkst du auch einen?«
»Ja, warum eigentlich nicht. Ich warte noch auf eine Nachricht von meiner Freundin; werd wohl gleich noch zu ihr fahren. Aber ich trink ‘ne Tasse mit.« Willi setzte sich auf den Stuhl, auf dem ein paar Tage zuvor Frau Kinateder gesessen hatte. »Ist das auch eine Death Metal Band?« Er zeigte auf das große Poster, das über dem Bett an der Wand hing. Es waren dort auf schwarzem Hintergrund vier junge Männer mit langen Haaren und in schwarzen Sweat-Shirts abgebildet; bis auf einen hatten alle die Hände vor dem Körper verschränkt. Sie schauten ernst, aber nicht unbedingt unfreundlich.
»Ja, das sind Obscura«, antwortete Elias, während er den Kaffee aufsetzte. »Eine Technical Death Metal Band aus Deutschland.«
»Aha«, erwiderte Willi.
Elias setzte sich vor ihn auf den Drehstuhl.
»Sag mal, die hat aber auch schon bessere Zeiten gesehen.« Er deutete auf Elias‘ blaue Jogginghose, auf der in Höhe des rechten Knies ein tennisballgroßes Loch klaffte. Auch am linken Bein war bereits ein kleiner Riss.
»Oh, äh …« Elias grinste verlegen.
Er trug diese Hose bestimmt schon drei Jahre, das Loch war erst sehr klein gewesen und dann immer größer geworden. Er dachte kurz daran, dass er diese Hose auch getragen hatte, als Frau Kinateder bei ihm gewesen war. Er nahm das Loch mittlerweile gar nicht mehr wahr, hatte sich schon vollständig daran gewöhnt. Frau Kinateder war es womöglich auch unangenehm aufgefallen und hatte lediglich aus Höflichkeit nichts dazu gesagt.
»Die habe ich schon ziemlich lange. Das ist meine Lieblingshose; auf das Loch achte ich eigentlich gar nicht. Meine Eltern haben mir letztens eine neue gekauft, aber irgendwie wollte ich erst noch ein bisschen weiter diese tragen.«
»Bis sie nur noch in Fetzen hängt?«, erwiderte Willi. »Schmeiß die doch weg, Junge, wenn du doch ‘ne neue hast. Mit sowas kannst du doch nicht mehr rumlaufen.«
»Also mich stört das beim Tragen gar nicht«, entgegnete Elias. »Und es werden ja sogar Hosen mit Löchern verkauft.«
»Das sind aber Jeans, und man sieht, dass die Löcher gewollt sind. Bei so ‘ner Jogginghose sieht das einfach scheiße aus.«
»Wenn ich raus gehe, ziehe ich ja eine andere Hose an.«
»Na ja, mach was du willst«, meinte Willi. »Ich wollte dich ja bloß mal darauf hinweisen. Hast du eigentlich eine Freundin?«
»Nein«, antwortete Elias kleinlaut.
»Spätestens, wenn du eine Freundin hast, solltest du die nicht mehr tragen.« Er lachte. Dann blickte er auf Elias‘ Gitarre. »Ah, das ist also deine Klanfe. Eine Ibanez, oder?«
»Ja«, antwortete Elias.
»Spiel doch mal was. Ich würd echt gern mal was von dir hören.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Elias schüchtern. »Ich übe hauptsächlich nur Technik, da kannst du bestimmt nicht viel mit anfangen.«
»Dann zeig mal, was du so übst. Mein Bruder ist Gitarrist, ich kenne mich also ein bisschen damit aus. Würde mich wirklich mal interessieren.«
Elias überlegte. Er war es nicht gewöhnt, anderen etwas vorzuspielen. Nur wenige Male hatte er jemanden etwas vorgeführt, in den letzten Jahren unter anderem einmal seinen Eltern; diese waren eher nicht so begeistert gewesen, für sie hatte das bloß wie ödes Gedudel geklungen, sie kannten sich aber auch nicht damit aus. Es reizte ihn aber irgendwie schon, sein Können wieder einmal jemandem zu demonstrieren, der es vielleicht ein wenig mehr zu schätzen wusste.
»Okay«, sagte Elias also, nahm die Gitarre, legte sie auf den Schoß und schnappte sich sein Lieblingsplektron, das noch auf dem kleinen Tisch lag, ein kleines, schwarzes, zentimeterdickes Ding, bestens geeignet für schnelle Metal- Soli.
»Ja, hau in die Saiten, Junge!«, feuerte Willi ihn an, ein fröhliches Leuchten im Gesicht.
Elias machte den Verstärker an und stellte zunächst einmal auf Clean. »Also, ich mache mich immer zuerst mit chromatischen Fingerübungen warm. Chromatisch heißt, dass ich eine Tonleiter spiele, die ausschließlich aus Halbtonabständen besteht. Klingt also jetzt nicht sehr melodisch.«
Er stellte das Metronom auf 60 Schläge, setzte das Plektron an die dicke E-Saite an und begann, langsame Achtel zu spielen. Dann steigerte er die Geschwindigkeit allmählich. Während des Spielens fiel ihm ein, dass er Willi ja nicht jede Einheit seines Übungsplans zeigen müsste; so ein chromatisches Gedudel in cleanem Sound klang wirklich sehr langweilig. Also stellte er die Verzerrung auf die höchste Stufe.
»Das sah aber schon sehr gut aus«, meinte Willi lächelnd. »Wie flink sich deine Finger bewegen und wie sauber die Töne rauskommen. Super!«
»Ich spiel jetzt mal was von dem, was ich am meisten geübt habe und immer noch regelmäßig übe. Kirchentonleiterskalen mit Alternate Picking über das Griffbrett. Das nennt man auch Wechselschlag; das bedeutet, dass man immer abwechselnd die Saiten mit dem Plektron von oben und von unten anschlägt. Auf diese Weise kann man sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen. Der Wechselschlag hat einen eher harten Klang und passt daher sehr gut in den Metal.«
»Ja, hau rein, Junge, aber mach dieses komische Teil mal aus, das nervt.«
»Ach so, das Metronom.« Elias dachte, dass er es jetzt ja zum Vorführen eigentlich nicht unbedingt bräuchte. Also stellte er es aus, setzte diesmal mit dem Plektron an der dünnen E-Saite an, zählte innerlich bis drei und legte einen ultraschnellen Killer-Lick hin, einen Triolen-Lick von unten nach oben, über insgesamt vier Bünde des Griffbretts. Dann fuhr er mit Triolen über die anderen Bünde fort, spielte dabei einfach so schnell er konnte. »Das hier ist jetzt ein Pedalton-Lick. Bei solch einem Lick werden ein immer wiederkehrender Ton oder eine Tonfolge immer abwechselnd mit anderen Tönen kombiniert. In diesem Fall ist es nur ein Ton.«
»Also das ist wirklich geil!«, meinte Willi, als Elias fertig war. »Wie gesagt, mein Bruder spielt schon ewig Gitarre in einer Band, und die sind sogar recht erfolgreich, aber so etwas habe ich von ihm noch nie gehört. Deine Finger bewegen sich ja wie in Lichtgeschwindigkeit.«
»Danke. Jetzt spiele ich noch etwas Legato.« Elias war jetzt richtig aufgedreht; es war ein tolles Gefühl, auch mal ein Feedback zu erhalten. »Das ist eine Technik, bei der nicht mit dem Plektron angeschlagen wird, sondern die Töne nur durch Hammer-Ons und Pull-Offs mit den Fingern der linken Hand erzeugt werden. Bei dieser Technik kann man sogar noch schneller spielen. Diese Spielart hat einen weicheren Klang als Alternate Picking und wird häufig im Jazz und Fusion angewandt.«
Im Weiteren spielte Elias Willi noch ein paar Licks mit Tapping, String-Skipping und Sweeping vor, wobei vor allem die Tapping-Licks ein Funkeln von Begeisterung in Willis Augen erscheinen ließen.
»Also das ist wirklich der Hammer!«, rief er aus.
»Diese Technik hat Eddie van Halen populär gemacht hat«, erklärte Elias.
»Von dem hab ich schon mal gehört … Kannst du auch mal einen Song spielen?«
»Nein«, antwortete Elias kleinlaut. »Nur ein paar Riffs aus bestimmten Death-Metal-Stücken. Songs zu üben hat mich nie sonderlich interessiert. Aber ich könnte ein Solo über einen Jamtrack spielen; das klingt vielleicht noch am ehesten nach einem Lied.«
»Dann hau rein!«, forderte Willi ihn auf. Also legte Elias seine CD mit Metal Jamtracks ein, machte den Track an, zu dem er am besten spielen konnte, und legte los.
»Also das war jetzt wirklich der krönende Abschluss«, sagte Willi, als Elias fertig war. »Super, Junge! Du musst unbedingt in einer Band spielen, das ist doch vergeudetes Talent. Ich muss meinen Bruder mal fragen, ob der sich nicht mal erkundigen kann.«
»Brauchst du nicht«, erwiderte Elias. »Das eilt nicht so.«
Jetzt bekam er mit einem Mal wirklich ungemein starke Lust, eine Zigarette zu rauchen und dazu Kaffee zu trinken; daran hatte er die letzte Viertelstunde gar nicht mehr gedacht.
»Oh, der Kaffee ist schon lange durch. Ich hol uns welchen, und dann muss ich unbedingt mal eine rauchen.« Mit diesen Worten legte Elias die Gitarre wieder beiseite und ging in die Küche.
»Ach, da rauch ich noch eine mit. Hab jetzt bloß nichts dabei.«
»Du kannst eine von mir haben«, bot ihm Elias an. »Willst du Milch in den Kaffee? Zucker habe ich leider nicht.«
»Ja, hau mal ‘nen Schuss Milch rein«, antwortete Willi.
Elias kam mit zwei Tassen aus der Küche zurück und stellte sie auf den Tisch. »Ich hab aber nur Tabak. Kann dir eine drehen.«
»Kein Problem, ich rauche auch Tabak. Mach du erst deine, dann kannst mal rübergeben, ich kann selber drehen.«
Elias drehte sich eine Zigarette, gab Willi die Packung Tabak und schaute noch auf sein Handy, bevor er sie anzündete. Es war 20 Uhr 52. Eigentlich hätte er noch sechs Minuten warten müssen, aber da er vorhin durch den Stromausfall wirklich enormem Stress ausgesetzt gewesen war und sich jetzt zusätzlich durch das Vorspielen verausgabt hatte, beschloss er, seine Zigarette ausnahmsweise einmal ein wenig früher zu genießen; die Nächste dürfte er dann aber frühestens um 22 Uhr 19 rauchen, also erst nach dem Abendessen. Würde er dazu heute überhaupt pünktlich kommen?
»Was haben wir denn hier für ein Kraut?«, begutachtete Willi die Packung Tabak.
»Mohawk«, sagte Elias. »Das ist indianischer Tabak. Der schmeckt mir am besten und ist außerdem sehr günstig.«
»Aha, Halfzware. Ich rauche milden Tabak, aber zur Not geht das auch mal.« Willi drehte sich nun ebenfalls eine Zigarette, sehr dünn, fast wie ein Streichholz, wie Elias auffiel, und zündete sie an. »Endlich mal ‘ne Bude, in der man rauchen kann. Bei mir rauche ich gar nicht mehr, gehe immer auf den Balkon. Meine Freundin mag‘s nicht, wenn ich drinnen rauche.« Er grinste. »Eigentlich mag sie es grundsätzlich nicht, wenn jemand raucht.«
»Ist sie denn oft bei dir?«
»Nö, eigentlich sogar ziemlich selten, ich bin meistens bei ihr. Sie fährt nicht so gerne durch die Gegend, außerdem ist sie lieber bei sich zu Hause, und mir macht das nichts aus. Sind ja auch bloß zwanzig Minuten mit dem Auto.«
»Und nachher fährst du noch zu ihr?«
»Ja, wahrscheinlich. Ich warte noch auf eine Nachricht von ihr. Wollten uns eigentlich heute treffen, aber manchmal ist sie zu erschöpft. Na ja, mal schauen.« Jetzt rümpfte er mit leicht verzogenem Gesicht die Nase. »Meine Fresse, ist das ein Kraut! Das stinkt ja bestialisch … nicht zum Aushalten. Was du da für einen Dreck rauchst.«
»Mir schmeckt der Tabak gut«, entgegnete Elias.
»Na, Geschmäcker sind verschieden. Was machst du eigentlich sonst so, also außer Gitarre zu spielen? Bist du Student oder hast du ‘n Job?«
»Weder noch«, antwortete Elias verhalten. Jetzt kam also wieder dieses Thema.
Willi machte ein verdutztes Gesicht. »Und wovon lebst du dann?«
»Na ja, ich bekomme Erwerbsminderungsrente. Ich hab eine psychiatrische Diagnose und bin als erwerbsunfähig eingestuft worden. Zumindest im Moment ist das mein Status.«
»Ja?« Willi legte jetzt eine ernstere Miene auf. »Aber wenn du Rente kriegst, musst du ja schon mal irgendwo gearbeitet haben?«
»Ich hab bloß mal als Aushilfe in einem Tierheim gearbeitet, als ich mit der Schule fertig war. Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich irgendwas mache und nicht nur zu Hause rumhänge. Ich wollte eigentlich studieren, aber wusste nicht, was. Also hab ich erst einmal im Tierheim gejobbt. Aber nachher dann …« Er geriet ins Stocken.
»Nachher?«, wiederholte Willi fragend.
»Na ja …« Elias wusste nicht recht, ob er Willi schon so viel über sich erzählen sollte. Er wollte eigentlich schon, aber man hatte ihm oft gesagt, dass er zu schnell zu viel über sich preisgeben würde. »Ich hatte dann eine Phase, in der es mir gar nicht gut ging. Da bin ich auch in die Klinik gekommen. Aber das ist eine lange Geschichte.«
»Alles klar, verstehe. Kannst du mir ruhig beizeiten mal erzählen.«
In dem Moment machte es Bing, und Willi schaute auf sein Handy. »So, Junge«, sagte er dann, drückte die Zigarette aus und erhob sich eilig. »Ich muss los. War nett bei dir. Demnächst zeig ich dir mal meine Gitarre. Ich hab ‘ne Gibson, ein Superteil; war auch nicht billig.«
»Ja, gerne«, meinte Elias, sich jetzt ebenfalls erhebend.
»Elias war das, richtig?«, fragte Willi, als er ihm noch einmal die Hand reichte.
»Ja, genau. Und dein Name war Willi, oder?«
»Stimmt genau. War nett, deine Bekanntschaft zu machen, wir quatschen demnächst noch mal. Und mach weiter so.« Er zeigte auf die Gitarre. »Das war echt mega.«
»Ja, mach ich. Und noch mal vielen Dank für deine Hilfe. Und für die Kaffeemaschine. Ohne dich wäre ich echt aufgeschmissen gewesen.«
»Ach, kein Ding, gern geschehen. So, mach´s gut, Jung. Tschüss.« Mit diesen Worten verließ er schnellen Schrittes die Wohnung und verschwand im Treppenhaus.
Elias schloss die Wohnungstür, ging zurück zum schwarzen Tischchen, wo er seine Zigarette auf dem Aschenbecher abgelegt hatte, nahm noch einen letzten Zug und drückte sie aus. Nun war er also wieder allein.
Als Elias am nächsten Tag um 11 Uhr 12 seine Jalousien hochzog, schien sehr stark die Sonne in seine Wohnung. Er googelte die Temperatur für diese Gegend und stellte fest, dass sie jetzt schon bei 24 Grad lag und noch auf 29 ansteigen sollte; außerdem sollte es den ganzen Tag sonnig und nahezu wolkenfrei bleiben.
Er dachte an die Worte von Frau Pawlowska, dass er sehr blass sei und etwas Farbe vertragen könnte, und überlegte, vielleicht nachher tatsächlich einmal in den Garten zu gehen; natürlich erst nach dem Übungsplan, am frühen Abend. Er könnte über sein Handy mit Kopfhörern Musik hören und sich dabei etwas bräunen.
Als er 17 Jahre alt gewesen war, hatte er einmal einen Sommer lang den Ehrgeiz gehabt, so braun wie möglich zu werden, und fast täglich stundenlang in der Sonne geschmort, nahezu jeden sich bietenden Sonnenstrahl genutzt, um dieses Ziel zu erreichen. Und irgendwie hatte er einmal wieder Lust auf etwas anderes, womöglich angeregt durch das gestrige Erlebnis mit Willi. Das kam bei ihm sehr selten vor. Aber er hatte mit einem Mal Lust, nachher in den Garten zu gehen und sich zu sonnen, natürlich nur eine Stunde oder vielleicht eineinhalb; dann würde der Tagesablauf weiter wie gewohnt verlaufen.
Aber konnte er sich denn hier im Garten oberkörperfrei hinsetzen? Wenn er ein T-Shirt trüge, würden ja nur seine Unterarme und ein Teil der Oberarme braun, und das sähe blöd aus. Vielleicht würde er einfach seine Badeshorts anziehen, im Freibad lief man ja auch so herum.
Noch etwas unentschlossen, ob und wie er das Gartenprojekt in Angriff nehmen sollte, machte er sich an sein Frühstück. Danach hatte er, bevor er mit dem Üben anfing, erst einmal etwas anderes zu tun, denn heute war Samstag, und das bedeutete für Elias: Waschtag. Letzten Samstag hatte er nicht gewaschen, weil ihm das gleich am ersten Tag in der neuen Wohnung zu stressig gewesen wäre, aber dafür vorrausschauend am Donnertag davor noch einmal im Wohnheim.
Nachdem er seine Haferflocken mit Milch und Obst gegessen hatte, schnappte er sich den im Badezimmer stehenden, schon wieder recht prall gefüllten Wäschekorb, steckte seinen Schlüsselbund in die Hosentasche seiner Jogginghose und verließ die Wohnung. Er ging die Treppen ins Erdgeschoss hinunter und dann nach rechts um die Ecke, wo noch eine weitere Treppe in den Keller führte. Diese war kürzer und noch schmaler als die anderen beiden Treppen im Haus, und ebenfalls aus Holzdielen bestehend.
Unten angekommen, lagen links die Kellerräume der einzelnen Bewohner, und rechts führte ein Flur an hellgrauen Wänden vorbei in die Waschküche, einem etwa 30 Quadratmeter großem Raum. Hier standen links hintereinander zwei Waschmaschinen und rechts waren drei lange Wäscheleinen von der einen Wand zur anderen gespannt. Geradeaus befand sich eine Tür, die in den Garten führte und bei welcher der gleiche Schlüssel wie auch bei dem Tor links von der Hausfassade passte.
Glücklicherweise schien die linke Waschmaschine frei zu sein. Seine Eltern waren mit ihm vorsichtshalber schon einmal hier gewesen, um zu schauen, ob er mit der Bedienung der Waschmaschinen zurechtkam, immerhin funktionierte ja nicht jede exakt gleich.
Elias stopfte seine Klamotten hinein, füllte Waschpulver in das Waschmittelfach und drückte auf den Startknopf.
Als er gerade im Begriff war, den Raum wieder zu verlassen, hörte er jemanden die Kellertreppe hinuntergehen. Er hielt inne, und im nächsten Moment erschien der Muskelprotz Joe im Flur.
»Hallo!«, rief dieser, auf Elias zugehend. »Du wäschst also auch samstags.«
Joe betrat den Waschraum und öffnete die Tür der anderen Waschmaschine. Seine Muskulatur erschien Elias heute noch krasser als beim letzten Mal, vielleicht lag es daran, dass Joe heute ein Muscle-Shirt trug, wodurch nicht nur seine monströsen Oberarme, sondern auch seine mächtigen Schulterköpfe sichtbar wurden. Elias fragte sich, wieviel Scheiben er wohl auf seine Zehnkilohanteln packen müsste, um irgendwann so auszusehen.
»Hallo«, grüßte Elias jetzt verhalten zurück. »Ja, genau, jeden Samstag. Ich hoffe, das stört dich nicht.«
»Ach was«, entgegnete Joe, während er seine gewaschene Wäsche aus der Maschine in einen Korb packte. »Jeder kann hier waschen, wann er will, wenn halt ‘ne Maschine frei ist. Aber Willi und ich waren bisher die einzigen, die anderen haben ‘ne eigene Maschine. Und, hast du dich schon etwas hier eingelebt?«
»Joa«, antwortete Elias. »So einigermaßen.« Er beobachtete ein wenig apathisch, wie Joe die Maschine ausräumte. »Kann ich dich mal was fragen?«
»Klar, schieß los.«
»Mit wie viel Kilos machst du eigentlich Bizepscurls?«
Joe lachte. »Kurz- oder Langhantel?«
»Kurzhantel.«
»So 30 bis 35 Kilo. Außerdem drücke ich 240 Kilo auf der Bank und mach Schulterheben mit 260 Kilo.«
»Mit den beiden Übungen kenne ich mich nicht aus«, entgegnete Elias. »Ich nehme mal an, das ist ziemlich viel?«
»Sehr viel.« Joes Augen loderten feurig auf. »Das schafft niemand sonst im Studio.«
»Ich komme bei Bizepscurls nur bis siebeneinhalb Kilos«, sagte Elias kleinlaut. »Ich hab zwei Kurzhanteln bis zehn Kilo, mit denen mache ich zu Hause ein paar Übungen, die mir meine Mutter mal gezeigt hat. Die hat sich auch mit Fitness beschäftigt.«
»Deine Mutter?« Joe hob belustigt die Augenbrauen. Er war nun mit Ausräumen fertig und stand, den Wäschekorb in der Hand, zwischen Elias und der Maschine. »Ich mache keine Fitness. Ich bin Bodybuilder, und ich nehme an Wettkämpfen teil. Anfang September hab ich wieder einen, hab vor Kurzem mit der Vorbereitung angefangen. Wenn du willst, zeig ich dir mal was. Dazu müsstest du allerdings mal mit ins Studio kommen. Mit deinen Zehnkilohanteln kommst du nicht weit.«
Elias gefiel die Vorstellung, in einem Fitnessstudio zu trainieren, überhaupt nicht. »Ich trainiere eigentlich lieber zu Hause. Ein wenig hab ich mir ja auch schon antrainiert.« Schüchtern krempelte er rechts sein T-Shirt hoch, sodass der Oberarm frei lag, und spannte den Bizeps an. »Ein bisschen sieht man doch, oder?«
»Niedlich«, sagte Joe schmunzelnd. »Mein Vater hätte gesagt, wie ein Spatz Krampfadern. Aber dafür, dass du nur zu Hause mit zwei Kurzhanteln trainierst, gar nicht so übel, ist zumindest ‘ne ganz gute Definition drin. Das liegt natürlich da dran, dass du einfach nichts auf den Rippen hast. Zeig mal deinen Bauch.« Elias zog das T-Shirt über seinen Bauch und spannte seine Bauchmuskeln an.
»Also ein Sixpack hast du ja, aber das ist bei dem Körpergewicht auch nicht schwer. Wie viel wiegst du, 70 Kilo?«
»71,5 Kilo«, antwortete Elias. »Ungefähr.«
»Ich wiege im Moment 102 Kilo und bin noch ein Stückchen kleiner als du. Die Schrägen musst du aber auch trainieren.«
»Mach ich doch.« Elias spannte auch seine Seite an.
»Das sind Rippen«, erwiderte Joe. »Rippen sind keine Muskeln.«
Elias machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Alles gut.« Joe lachte wieder. »Das ist schon ganz in Ordnung. Du bräuchtest einfach nur mehr Masse. Futter einfach mal ein bisschen mehr, das könnte auch schon was bringen.«
»Mal sehen.« Aber Elias hatte nicht vor, an seinen Essgewohnheiten etwas zu ändern. So wichtig war ihm das jetzt auch nicht, er war immerhin Gitarrist und nicht Bodybuilder.
»Mach das. So, ich geh jetzt mal draußen meine Wäsche aufhängen. Hau rein, mein Freund.«
Elias war irritiert. Waren sie jetzt etwa schon Freunde? Ach nein, das war wahrscheinlich irgendeine soziale Floskel.
»Draußen?«, fragte er dann verwundert. »Kann man im Garten auch Wäsche aufhängen?«
»Wenn du einen eigenen Wäscheständer hast, dann schon«, entgegnete Joe. »Ich hab mir extra einen besorgt, draußen werden die Klamotten viel schneller trocken.«
»Okay … Ach so, eine Frage noch. Ich wollte nachher eventuell mal in den Garten gehen, mich ein wenig sonnen. Meinst du, es ist okay, wenn ich da in Badeshorts sitze?«
»Also ich geh auf die Sonnenbank, hab keinen Bock, stundenlang in der Sonne zu brutzeln; Toaster geht viel einfacher und schneller.«
»Toaster?«, wiederholte Elias verunsichert.
»Sonnenbank. Das nennt man auch Toaster.« Er grinste. »Aber setz dich ruhig in Badeshorts raus, es ist meist eh niemand im Garten, und du bist ja nicht nackt.«
»Kann man mich denn von den Wohnungen aus sehen?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Von meiner Wohnung kann ich jedenfalls nicht auf den Garten gucken. Aber du brauchst dich doch nicht zu genieren, im Freibad läufst du doch auch so rum.«
»Okay, danke«, sagte Elias höflich. »Ich bin dann auch erst mal wieder oben. Schönen Tag noch.«
»Dir auch, mach‘s gut.« Mit diesen Worten öffnete Joe die Kellertür und verschwand mit seinem Wäschekorb nach draußen.
Auch Elias verließ den Keller und stieg die Treppen bis ins Dachgeschoss hinauf. Wieder in seiner Wohnung angekommen, machte er sich sogleich, heute ein wenig verspätet, an seinen Übungsplan.
Sechseinhalb Stunden später, es war mittlerweile 18 Uhr 32, war Elias fertig und lud sich ein paar Alben auf sein Handy, die er im Garten hören wollte. Er aß schnell noch seinen Nachmittagssnack - einen Apfel und eine Handvoll Walnüsse -, rauchte eine Zigarette und zog sich seine schwarz-grün gestreifte Badeshorts an, darüber die Jogginghose.
Dann fiel ihm ein, dass sein Mülleimer mit dem Plastikmüll randvoll war und er ihn, wenn er sowieso nach draußen ging, eigentlich mitnehmen könnte. Auch wenn er da jetzt nicht die geringste Lust zu hatte, aber Frau Pawlowska hatte gemeint, dass es nicht gut war, Müll im Sommer so lange stehen zu lassen.
Elias leerte den Müll in eine Plastiktüte, schnappte sich noch seine Kopfhörer und seinen Schlüsselbund, ging das Treppenhaus bis ins Erdgeschoss herunter, durch die Eingangstür und schließlich rechts ein paar Meter die Hausfassade entlang, bis er vor dem Außeneingang zum Garten stand, einem anthrazitfarbenen Metalltor in der Mitte eines ebenso farbigen, etwa eineinhalb Meter hohen Gatters. Er holte den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche hervor und schloss das Tor auf. Sogleich erwischte er den richtigen Schlüssel, denn er brauchte ja bloß das einzige Schlüsselpaar zu nehmen, das er noch nicht benutzt hatte. Von hier aus führte ein kleiner Weg zum Garten, rechts an einem überdachten Mülltonnenstellplatz und links an einer ziemlich hochgewachsenen alten Birke vorbei. Er warf die Plastiktüte mit dem Müll in den gelben der drei großen Container und folgte dann dem Weg weiter, bis er sich auf dem mit Marmorplatten ausgelegten Boden einer kleinen Terrasse befand. Von hier aus führte ein kurzer schmaler Weg aus Kieselsteinen auf eine quadratische, etwa 50 Quadratmeter große Rasenfläche, die an eine Reihe aus drei großen, rund geschnittenen Buchsbäumen angrenzte. Im hinteren Drittel der Fläche stand ein blau-weißer portabler Wäscheständer, an dem Kleidungsstücke hingen. Links und rechts von der Terrasse sowie von der Rasenfläche waren allerhand Blumenbeete angelegt, bewachsen mit Flieder, Pfeifenstrauch, Felsenbirne, Pfingstrosen, Malven, Glockenblumen, Zinnien und Rittersporn.
Elias kannte sich mit Gärten und Blumen überhaupt nicht aus, und so handelte es sich in seinen Augen hier bloß um ein buntes, blühendes Durcheinander an verschiedenen Pflanzen, das aber durchaus wohltuend auf ihn wirkte. Er musste sich eingestehen, dass er es eigentlich sogar recht schön hier fand.
Er wandte sich den zwei großen Gartenstühlen zu, die um einen runden Tisch aufgestellt waren, und stellte fest, dass er hier auf der Terrasse im Schatten sitzen würde; jedoch war die Rasenfläche hell mit Sonne beleuchtet. Er zögerte etwas, weil er sich nicht sicher war, ob er einen Stuhl einfach von seinem üblichen Platz wegnehmen und vorübergehend auf dem Rasen positionieren dürfte, wagte es aber schließlich doch; er würde ihn ja nach dem Sonnenbad sofort wieder zurückstellen.
Er nahm also den Stuhl, ging den kleinen Kiesweg entlang zur Rasenfläche und platzierte ihn gezielt so, dass er genau in der Sonne stand. Jetzt zögerte er ein weiteres Mal, denn eigentlich wollte er sich bis auf die Badeshorts ausziehen. Skeptisch blickte er zu der seitlichen Hausfassade, die man von hier aus sehen konnte. Da waren durchaus einige Fenster; die meisten standen auf Kipp. Elias wurde ein wenig mulmig zumute, er fühlte sich irgendwie beobachtet. Dann rief er sich jedoch Joes Worte von vorhin ins Gedächtnis und zog T-Shirt, Jogginghose, Socken und Schlappen aus und machte es sich auf dem Stuhl in der Sonne bequem.
Und der war tatsächlich recht bequem, hatte sogar eine verstellbare Rückenlehne, so dass er diese sehr schräg einstellen konnte und dadurch beinahe lag. Er steckte sich die Ohrstöpsel in die Ohren und öffnete auf Spotify das Album Pienacle of Bedlam von Suffocation, das zu seinen beiden Lieblingsalben dieser Band gehörte. Es war technisch versiert, aber auch nicht mit allzu viel Gefrickel; die Riffs und Leads waren durchaus eingängig, was aber nicht auf Kosten der diese Band auszeichnenden Härte und Brutalität ging.
In den ersten zehn Minuten verspürte Elias ein latent unwohles Gefühl, dass ihn jemand beobachten oder jeden Moment jemand in den Garten kommen könnte, aber dann entspannte er sich allmählich.
Seine auf die Musik geheftete Aufmerksamkeit driftete zweimal in Gedanken ab, was aber keine Seltenheit war; sich 40 Minuten lang auf jeden einzelnen Ton eines Albums zu konzentrieren, war sehr schwierig. Das erste Mal dachte er daran, dass er ja jetzt bloß seine Vorderseite bräunte; dann müsste er das nächste Mal die Sonne irgendwie auch auf seinen Rücken und die hinteren Beine scheinen lassen, vielleicht indem er sich mit einem großen Handtuch bäuchlings auf den Rasen legte.
Ferner erschien zwischendurch auch noch einmal der muskelbepackte Joe vor seinem geistigen Auge. Frau Kinateder hatte ja über ihn gesagt, dass er ein Prolet wäre. Elias dachte, dass er ihn eigentlich ganz nett fand, auch wenn dessen Worte, was Elias‘ eigene Muskulosität anging, ziemlich ernüchternd und desillusionierend waren. Sollte er vielleicht doch einmal mit ins Studio kommen?
An dieser Stelle zwang sich Elias wieder zur Konzentration auf die Musik; es begann gerade ein Track, den er nicht verpassen wollte. Als er so dalag und, die Augen geschlossen, den Tönen von Suffocation lauschte, fing er relativ stark zu schwitzen an und ärgerte sich, dass er kein Handtuch mitgenommen hatte. Er öffnete die Augen und wischte sich mit der Hand den Schweiß aus dem Gesicht.
Da bewegte sich plötzlich etwas in seinem Blickfeld. Er wandte seinen Kopf nach links und sah ein kleines Tier auf die Terrasse kommen, eine sehr schlanke, sich elegant bewegende Katze mit honigfarbenem, weiß beflecktem Fell. Das hatte er doch schon einmal gesehen! Draußen vor der Haustür, als er letzten Samstag vom Einkaufen zurückgekehrt war. Er hatte die Katze streicheln wollen, sie war aber zu scheu und ängstlich gewesen und schließlich über das Gatter verschwunden.
Sie bemerkte nun den auf der Rasenfläche sitzenden Elias; dieser pausierte das Album, nahm die Ohrstöpsel heraus, streckte die linke Hand aus und rieb wieder die Fingerspitzen aneinander.
»Na du«, sagte er leise, »komm doch mal her.«
Die Katze duckte sich ruckartig und riss die Augen weit und ängstlich auf, am ganzen Körper angespannt. Elias legte den Arm wieder zurück auf die Stuhllehne, sah aber weiterhin zu der Katze herüber. Diese entspannte sich wieder, wandte ihren Blick von Elias ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Marmorsteinboden, an dem sie genüsslich schnupperte. Dann begann sie sich zu putzen, wobei sie immer wieder zu Elias herübersah; Ängstlichkeit und Anspannung schienen von ihr abgelassen zu haben.
Als sie schließlich einige Minuten lang diverse Stellen ihres Körpers abgeleckt hatte, machte sie es sich auf dem Terrassenboden bequem und nahm eine halb liegende, halb sitzende, ziemlich gemütlich aussehende Haltung ein. Sie wandte ihren Kopf hin und wieder nach links oder nach rechts, wenn dort irgendein Geräusch erklang, wie zum Beispiel weit entferntes Kinderlachen, ein die Straße vorm Haus vorbeifahrendes Auto oder das Zwitschern eines oder mehrerer Vögel; und dann auch immer wieder nach vorne in Elias‘ Richtung.
Dieser versuchte es noch einmal und rieb wieder vorsichtig die Fingerspitzen aneinander. Die Katze zeigte diesmal überhaupt keine Reaktion, nur ihren Blick konnte er damit eine Weile lang einfangen. Ihr fielen jetzt ein wenig die Augen zu und gingen nach ein paar Sekunden wieder auf; sie schien in so eine Art Halbschlaf zu verfallen.
Elias beschloss, wieder mit Musik Hören fortzufahren und steckte die Kopfhörer zurück in die Ohren. Die Augen ließ er jedoch geöffnet, um die Katze weiterhin beobachten zu können.
Nach einer kleinen Weile von vielleicht fünf Minuten bewegte sie sich tatsächlich von der Stelle, und Elias‘ Aufmerksamkeit wurde sofort wieder von ihr eingenommen. Sie schlich zunächst gemäßigten Tempos über den kleinen Kieselsteinweg auf Elias zu.
Auf einmal wandte sie sich aber ruckartig nach links und rannte blitzschnell an Elias vorbei über die Rasenfläche, dann über einen der Buchsbäume und war verschwunden.
Na ja, dachte Elias, immerhin sind wir einen kleinen Schritt weitergekommen.