Читать книгу Die goldene Ananas - Dennis Kornblum - Страница 9
ОглавлениеDrittes Kapitel
Heute war Montag, und Einkaufen stand auf dem Tagesplan.
Elias hasste es, in den Supermarkt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, und ihm graute schon seit dem Aufstehen davor. Da waren zunächst einmal die dreizehn bis vierzehn Minuten Fußweg (fünf Minuten mehr, als er vom Wohnheim aus zurückzulegen gehabt hatte), auf dem er allen möglichen visuellen und akustischen Reizen ausgesetzt war - lachenden Jugendlichen, schreienden Kindern, bellenden Hunden, jede Menge an ihm vorbeifahrender Autos und ihm begegnender Menschen. Er wohnte immerhin in einer Großstadt, und sobald er nach etwa fünf Minuten das Villenviertel verlassen hatte, war er mitten in der City.
Aber noch unangenehmer war der eigentliche Aufenthalt im Supermarkt. Ständig standen dort irgendwelche Leute im Weg herum, mitunter waren Lebensmittel, die er immer holte, plötzlich ausverkauft, und häufig musste er in einer langen Schlange an der Kasse warten. Das alles kostete ihn sehr viel Energie. Außerdem war da die Zeit, die er verlor; das Ganze dauerte etwa eine Dreiviertelstunde, eine ganze Albumlänge.
Als Elias seinen Übungsplan komplett absolviert hatte, war es 18 Uhr 14. Er nahm seinen kleinen Snack, zog sich seine Jeans an und steckte genügend Bargeld (welches er sich immer alle drei Wochen am Automaten um die Ecke zog) in die Hosentasche. Ein Portemonnaie besaß er nicht; er fand, so etwas fühlte sich unangenehm in der Hosentasche an. Daher nahm er immer nur so viel Geld mit, wie er gerade brauchte. Er schnappte sich seinen Rucksack, seinen Schlüsselbund und seinen Tabak und verließ die Wohnung. Auf dem Hinweg wollte er eine Zigarette rauchen, ausnahmsweise ohne Kaffee, und dafür bei der nächsten Zigarette eine ganze Tasse statt nur eine halbe trinken.
Nach dem Einkaufen hatte er heute außerdem vor, noch einmal in den Garten zu gehen und die letzten Sonnenstunden des Tages zu nutzen. Er überlegte, demnächst einmal früher den Garten aufzusuchen, denn am Abend bräunte die Sonne nicht mehr so stark. Eventuell könnte er nach der Hälfte seines Übungsplanes für eine oder eineinhalb Stunden in den Garten gehen und anschließend die zweite Hälfte durchziehen. Aber er war sich noch nicht sicher, wollte auf keinen Fall wieder in jenes damalige Extrem verfallen, als er siebzehn gewesen war und sich bis zu sechs Stunden täglich gesonnt hatte. Er musste Prioritäten setzen; als erstes kam die Musik, das Sonnen war Nebensache, auch wenn er wieder ein wenig Ehrgeiz in sich aufflackern spürte, diesen Sommer möglichst braun zu werden.
Als Elias, versunken in allmögliche Abwägungen und Planungen, was den heutigen und die folgenden Tage anbelangte, die Haustür öffnete und den zum Bürgersteig führenden Eingangsweg betrat, wurde seine Aufmerksamkeit abrupt auf etwas anderes gelenkt.
Da saß ein kleines Mädchen ziemlich in der Mitte des Weges zwischen Haustür und Bürgersteig und malte mit Straßenkreide. Elias erkannte in ihr das Mädchen, das er am Tag der Schlüsselübergabe zusammen mit ihrer Mutter, der laut telefonierenden Aziza, an ihm vorbei in das Haus hatte gehen sehen, das Mädchen, das ihn so nett gegrüßt hatte. Und das tat sie auch jetzt, als sie den aus dem Haus kommenden Elias erblickte. Sie trug ein lila Kleidchen und hatte auch wieder den blauen Stoffelefanten dabei, den sie neben sich auf dem Boden platziert hatte.
»Hi«, sagte sie lächelnd und sichtlich erfreut über Elias‘ Anblick.
»Hallo«, grüßte Elias, etwa einen Meter vor ihr anhaltend, höflich zurück.
»Was machst du?«, fragte sie.
»Ich wollte gerade einkaufen gehen. Und du?«
»Ich male.« Sie blickte schüchtern vor sich auf den Boden, wo in roten, blauen, weißen und gelben Farben zwei Menschen abgebildet waren, ein großer und ein kleiner. Elias fiel auf, dass es sich nicht etwa um Strichmännchen handelte, sondern um relativ realistisch umrandete Körperformen.
»Schön«, sagte er. Es kam etwas gezwungen aus ihm heraus, obwohl er die Zeichnung des kleinen Mädchens wirklich nicht schlecht fand.
»Danke. Du bist neu hier eingezogen, oder?«
»Ja, genau«, antwortete Elias. »Was malst du denn?«
»Mich und meinen Papa.«
Elias sah sich das Straßenbild noch einmal an. Der größere der beiden Menschen war mit blau gezeichnet und hatte einen rot ins Gesicht gemalten Bart und weiße Augen, die Kleidung war mit gelb angedeutet; der kleinere Mensch trug ein rotes Kleid und hatte lange blaue Haare.
»Mein Papa ist Hochofenbauingenieur und hat nicht viel Zeit.«
»Okay … Und deine Mutter? Malst du sie nicht?«
»Nee, Mama hab ich letztens schon gemalt. Heute wollte ich mich und meinen Papa malen.«
»Du könntest ja auch euch alle drei malen«, wandte Elias ein.
»Wir sind aber nie zu dritt«, erwiderte sie lakonisch.
Elias wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte eigentlich auch keine Zeit für eine Unterhaltung, er musste einkaufen gehen und wollte sich danach noch sonnen. Aber auf eine ihm unerklärliche Weise übte das Mädchen auf ihn eine beruhigende Wirkung aus, und außerdem würde es ihm leidtun, sie jetzt einfach abzuwürgen. Er beschloss, noch ein paar Minuten zu investieren.
Sein Blick fiel auf den blauen Stoffelefanten. »Ein Elefant kann mit einem Rüsselzug neun Liter Wasser aufnehmen.«
»Echt?« Das Mädchen lachte vergnügt. »Woher weißt du das?«
»Hab ich mal irgendwo gelesen«, entgegnete Elias lächelnd.
»Du bist echt klug.«
»Na ja, es geht. Manche Dinge kann ich mir sehr gut merken, aber nur die, die mich interessieren … Sind Elefanten deine Lieblingstiere?«
»Nö, eigentlich nicht. Ich mag lieber Pferde.«
»Pferde, okay.«
Elias wurde etwas unruhig und überlegte, ob er sich schon eine Zigarette anzünden sollte. Aber irgendetwas sagte ihm, dass es nicht gut war, vor einem Kind zu rauchen, genauso wie man vor Kindern nicht über eine rote Ampel ging, auch dann nicht, wenn kein Auto in Sicht war.
»Wie heißt du?«, fragte das Mädchen nun.
»Elias«, antwortete er. »Und du?«
»Mara.«
»Das ist ein schöner Name.«
»Danke.«
»Und wie alt bist du?« Das interessierte Elias tatsächlich.
»Siebeneinhalb«, antwortete Mara. »Und du?«
»26.« Elias dachte daran, dass er bereits eine Tochter in diesem Alter haben könnte; er wäre dann zwar relativ jung Vater geworden, aber es war absolut im Bereich des Möglichen. »Dann bin ich achtzehneinhalb Jahre älter als du.«
»Ja?« Mara konnte dies mathematisch wohl noch nicht nachvollziehen. Sie blickte wieder auf ihr Straßenkreidebild. »Malst du was mit mir?« Ihre großen grünbraunen Augen sahen ihn weit geöffnet an.
»Ich habe leider keine Zeit, ich muss jetzt einkaufen gehen. Tut mir leid. Vielleicht ein anderes Mal.«
»Okay, schade«, entgegnete Mara mit leicht enttäuschtem Gesicht.
»Ich wünsche dir aber noch viel Spaß beim Malen.«
»Danke. Bin gleich fertig.« Sie nahm sich ein Stück Kreide und malte ihrem Vater noch einige rote Barthaare an.
»Okay, dann bis bald.« Mit diesen Worten ging Elias an Mara und dem neben ihr liegenden Stoffelefanten vorbei und weiter zum Bürgersteig. Dort angekommen, wandte er sich noch einmal um. »Tschüss«, fügte er noch hinzu.
»Tschöhö«, erwiderte Mara laut und winkte ihm herzlich zu.
Elias winkte mit einem gutmütigen Lächeln zurück, wandte sein Gesicht wieder nach vorne und ging nach links den Bürgersteig entlang.
Als er so etwa zwanzig Meter gegangen war, zündete er sich die Zigarette an und begann, noch einmal seine Meinung über Kinder zu überdenken. Insbesondere deren Unberechenbarkeit hatte er stets als unangenehm empfunden. Sie waren den gesellschaftlichen Regeln noch gar nicht oder, je nach Alter, Intelligenz und Persönlichkeit, nur ansatzweise vertraut, sagten meist, was sie dachten, nahmen keine Rücksicht, hielten sich noch nicht an Gesetze der Höflichkeit oder des Anstands. Wenn er mit einem Erwachsenen verkehrte, konnte er sich in einer gewissen Sicherheit wiegen, dass bestimmte Dinge nicht angesprochen würden, ein dicker Pickel im Gesicht zum Beispiel würde wahrscheinlich höflich ignoriert werden, ein Kind dagegen könnte auf die Idee kommen, darüber zu lachen oder angeekelt das Gesicht zu verziehen.
Okay, Elias hatte nie Probleme mit Pickeln gehabt, aber er hatte andere Auffälligkeiten und Schwächen. Es gab den Spruch, dass Kinder grausam sein könnten, und dies hatte er in seinen eigenen Kinderjahren schmerzhaft zu spüren bekommen; oft war er veralbert worden, zum Beispiel wegen seiner in manchen Bereichen etwas verzögerten Auffassungsgabe oder seiner Unbeholfenheit in praktischen Dingen.
Er erinnerte sich daran, wie er in der Grundschule einmal ein großes Lineal aus einem Kasten holen sollte, um damit etwas an der Tafel vorzurechnen, und wie er es einfach nicht herausbekommen hatte und nahezu verzweifelt war. Der Lehrer hatte ihn einfach minutenlang herumprobieren lassen, während im Klassenraum schallendes Gelächter tönte, bis er sich endlich erbarmte, ihm zu helfen. Hätte die Klasse aus Erwachsenen bestanden, hätte wahrscheinlich niemand gelacht, es hätte bloß peinliche, mit leisen Tuschel- und Flüstertönen belegte Stille geherrscht.
Elias überlegte weiter. War das denn eigentlich wirklich viel besser? Er war nämlich nun, als er mit Mara gesprochen hatte, auch etwas anderes gewahr geworden, etwas Positives, Erfrischendes, ja irgendwie Entspannendes. Dass Kinder sich noch nicht so genau an soziale Gesetze hielten, bedeutete auch, dass man selbst im Umgang mit ihnen nicht an eine soziale Gesetzmäßigkeit gezwungen war; man konnte befreiter sprechen, musste nicht so sehr darauf achten, was man sagte, ob es eventuell unziemlich sein könnte; das Kind sagte ja auch geradeheraus das, was es wollte. Kinder waren im Grunde näher an der Wahrheit, waren ehrlicher, weil sie noch nicht gelernt hatten, sich zu verstellen.
Aber abgesehen von dieser allgemeinen Feststellung über Kinder hatte Elias den starken Eindruck, dass Mara kein gewöhnliches Kind war, sondern dass etwas Besonderes in ihrer Ausstrahlung lag, etwas, das eine angenehme, beruhigende Wirkung auf ihn hatte.
Tief in Gedanken versunken erreichte er den Supermarkt und tätigte seinen Einkauf.
Als er mit vollbepacktem Rucksack und einer halb gefüllten Tüte zum Anwesen im Taubenweg zurückkehrte, war Mara nicht mehr da. Er sah sich noch eine Weile ihr Bild auf dem Boden des Eingangsweges an, stellte fest, dass außer ein paar mehr Barthaaren nichts mehr dazugekommen war, und betrat das Haus.
In seiner Wohnung angekommen, warf Elias sich in Badeshorts und Jogginghose, nahm dieses Mal auch ein Handtuch mit und ging hinunter in den Garten, heute über den Keller, da er nachsehen wollte, ob seine Wäsche, die er am Samstag noch spätabends an den dort angebrachten Leinen aufgehängt hatte, eventuell bereits trocken war. Nachdem er festgestellt hatte, dass sie zum Teil noch ein wenig klamm war, betrat er die Terrasse, schnappte sich wieder einen der beiden großen Gartenstühle und stellte ihn auf der Rasenfläche genau in die Sonne. Der Wäscheständer, der sehr wahrscheinlich Joe gehörte, stand immer noch hier, und auch die Kleidungsstücke waren noch nicht wieder abgehängt worden.
Elias zog sich bis auf die Badehose aus, erneut mit leichtem Zögern und einem verunsicherten Blick in Richtung der Fenster an der Hausfassade, aber bereits ein wenig entspannter als beim letzten Mal. Er hatte vor, diesmal das Album Descent into Depravity von Dying Fetus zu hören, eine Technical Death Metal Band mit Grindcore Anleihen. Das Interessante an ihrer Musik bestand für Elias darin, dass nahezu vollständig auf den üblichen Aufbau eines Songs mit Strophe, Refrain und Bridge verzichtet und stattdessen ein unterschiedliches Riff an das nächste gereiht wurde, und das durchschnittlich etwa fünf Minuten lang. Nur ganz selten wurde eine Akkordfolge oder eine Lead-Spur an einer anderen Stelle des Liedes noch einmal wiederholt, auf Descend into Depravity im Grunde kein einziges Mal, zumindest war Elias dies nirgendwo auf einen der acht Tracks aufgefallen, auch nach mittlerweile mehr als zehnmaligem Hören nicht.
Etwa gegen Mitte des Albums musste er von seinem Handtuch Gebrauch machen. Es war schon Abend, aber immerhin noch 27 Grad im Schatten, und in der Sonne, die heute wieder den ganzen Tag über nahezu durchgehend geschienen hatte, doch ziemlich heiß.
Als er die Augen öffnete und nach dem über der linken Stuhllehne hängenden Handtuch griff, bemerkte er, dass auf der Terrasse an der gleichen Stelle wie am Samstag wieder die honigfarbene Katze saß und ihn neugierig betrachtete. Sie schien dieses Mal überhaupt nicht ängstlich, ja nicht einmal nervös zu sein; sie saß einfach da, mit entspanntem, aber wachsamem Gesicht.
Elias wischte sich den Schweiß ab, legte das Handtuch wieder über die Lehne, pausierte das Album und blickte gespannt zu der Katze herüber. Gewöhnte sie sich vielleicht allmählich an ihn? Nach einer kleinen Weile senkte sie Kopf, Schultern und Hinterteil ein wenig und schnupperte am Boden. Elias wollte es noch einmal versuchen. Er streckte seine Hand aus und rieb die Fingerspitzen aneinander. Die Katze zeigte zunächst keine besondere Reaktion, ihre Augen waren bloß von Elias‘ Gesicht auf seine Finger gewandert und visierten diese nun mit mittlerweile wieder etwas schläfrig gewordenem Blick.
Doch einige Augenblicke später stand sie plötzlich auf und setzte sich langsam in Bewegung. Elias verspürte ein Kribbeln in seinem Brustkorb, diesmal aber kein unangenehmes, wie wenn er Angst hatte oder Panik bekam, sondern es rührte von einer freudigen Gespanntheit her, einem spontanen Glücksgefühl. Ganz gemächlich und mit ruhigen Augen in einem entspannten Gesicht näherte sich die Katze Elias‘ Hand, bis sie nur wenige Zentimeter davor haltmachte. Vorsichtig streckte sie den Kopf ein wenig nach vorne, sodass ihre Nase sich jetzt kurz vor seinem Zeigefinger befand, an dem sie nun ausgiebig schnupperte.
Elias blieb so ruhig und regungslos, wie er konnte, hielt bloß die Hand hin und ließ die Katze seinen Finger beschnuppern. Dann streckte er den Arm etwas weiter nach vorne und berührte sie zaghaft mit dem Finger über der Nase. Die Katze zuckte zunächst kurz zurück, ließ es dann aber geschehen und rieb ihren Kopf an Elias‘ Hand. Dann kam sie ein Stückchen weiter vor und ließ sich von Elias an Kopf, Nacken und Schultern streicheln, wobei sie ein zufriedenes, leises Schnurren verlauten ließ.
Elias freute sich sehr, dass das Eis zwischen ihnen nun offensichtlich gebrochen war. Während er die Katze mit einem warm und wohlig glühenden Gefühl im Inneren streichelte, kam ihm der Gedanke, dass Katzen und Tiere im Grunde in ihrem Verhalten Kindern ähnlich waren. Auch sie beherrschten keine Regeln des sozialen Miteinanders (zumindest nicht des menschlichen), auch sie waren in gewisser Hinsicht unberechenbar. Elias dachte daran, wie viel Angst er früher immer vor Hunden gehabt hatte, vor allem wenn er sie laut bellen hörte; und auch heute war ihm noch mulmig zumute, wenn er an einem Garten mit einem zornig kläffenden Hund vorbeiging.
Tiere verhielten sich stets ihrem Gemütszustand und ihren Bedürfnissen entsprechend, genau wie Kinder. Sie konnten sich weder verstellen noch Rücksicht auf die Gesetze guten Benehmens nehmen, sie waren geradeheraus und ehrlich. Und eigentlich bin ich das ja auch, dachte Elias.
Aber warum hatte er Tiere immer gerngehabt, Kindern gegenüber hingegen eher ein zwiespältiges Gefühl? Vielleicht weil ihm ein Tier noch niemals etwas Böses getan hatte, höchstens durch lautes Gebell erschreckt, Kinder hingegen schon, nämlich als er selbst noch eines gewesen war.
In diesem Moment ging unvermittelt die Kellertür auf, und Willi erschien vor der kleinen Treppe, welche zur Terrasse führte.
»Haha!«, tönte er, während er auf Elias und die Katze zuging. Diese wandte sich erschrocken herum und zischte wie der Blitz davon. Sie verschwand so schnell und plötzlich aus Elias‘ Blickfeld, dass es für ihn beinahe so aussah, als wäre sie weggebeamt worden.
»Miez, miez«, sagte Willi, als er vor Elias‘ Gartenstuhl stand, ihr grinsend hinterherblickend. »Die hat es aber eilig.«
»Ja, hallo«, grüßte Elias, noch leicht verwirrt ob des plötzlichen Verschwindens der Katze.
»Was lümmelst du denn hier draußen rum, in Badehose?«
»Ich sonne mich noch was«, antwortete Elias verhalten.
»Ist doch kaum noch Sonne da«, wandte Willi ein.
»Na ja, stimmt, die steht jetzt mittlerweile schon sehr tief, vorhin war es noch besser.« Er blickte in Richtung der Sonne, die jetzt nur noch zur Hälfte über dem Dach des Nachbarhauses hervorlugte. Willi schaute ihn derweil mit fröhlich funkelnden Augen an.
»Der Katzenflüsterer«, sagte er grinsend.
»Na ja«, erwiderte Elias etwas verlegen. »Ich mag Katzen sehr, das sind meine Lieblingstiere. Also die Katzenfamilie allgemein mit ihren 38 Arten; sehr beeindruckend finde ich auch Großkatzen - Tiger, Löwen, Leoparden und so.«
»Deshalb hast du wohl auch einen Katzenkalender in deiner Wohnung hängen.«
»Ja, genau. Den haben mir meine Eltern geschenkt. Wir hatten …« Elias stockte. Beinahe hätte er das Wohnheim erwähnt. »In unserer WG hatten wir auch eine Katze, auch damals im Elternhaus hatten wir eine, aber die sind leider beide gestorben. Diese Katze hier ist sehr scheu. Ich bin ihr jetzt schon das dritte Mal begegnet, und erst heute ist sie zu mir gekommen, wenn auch immer noch sehr vorsichtig.«
»Also vor mir haut die immer ab«, entgegnete Willi. »Ich bin mehr so der Hundetyp, zu Katzen hab ich keinen Draht, die sind mir irgendwie zu link. Im ersten Moment schnurren sie, und zwei Sekunden später langen sie dir eine.« Er schmunzelte. »Aber mich können die genauso wenig leiden. Dich dagegen anscheinend schon.«
»Na ja, man muss halt ein wenig Geduld haben. Katzen sind sehr eigenwillig.«
»Ja, und dieses Exemplar hier ganz besonders. Ich hab die schon so oft wegrennen sehen, sobald sich ihr jemand auch nur ansatzweise genähert hat. Wie vom wilden Affen gebissen. Du bist der einzige, den ich sie streicheln gesehen hab. Ich glaub, die hat auch einen neben sich gehen. Ist halt die Mieze vom Ingelheim.«
»Ist das denn sicher seine?«, fragte Elias, nahezu erschrocken. Die Vorstellung, dass dieses Tier, das er bereits jetzt so liebgewonnen hatte, bei dem er so froh war, dass es endlich ein gewisses Zutrauen zeigte, diesem unfreundlichen Herrn Ingelheim gehörte, den scheinbar niemand hier leiden konnte, behagte ihm gar nicht, ja schmerzte ihn regelrecht.
»Also irgendwem in diesem Haus gehört sie. Und Ingelheim ist der einzige, der übrig bleibt, alle anderen sagen, dass sie nichts mit dem Tier am Hut haben.«
»Vielleicht gehört sie einem der Nachbarn«, wandte Elias hoffnungsvoll ein.
»Nein, die gehört definitiv zu jemandem aus unserem Haus. Die flitzt auch hin und wieder mal durchs Treppenhaus. Außerdem hab ich sie schon öfter in die Richtung vom Ingelheim gehen sehen, vor der Treppe nach rechts, wo sein Anbau ist. Sie läuft auch oft im Keller rum und geht durch das kleine Fenster in der Waschküche nach draußen.«
»Dann hat seine Wohnungstür wahrscheinlich eine Katzenklappe.«
»Nein, hat sie nicht. Vielleicht hat er es beim Vermieter nicht durchgekriegt. Ich vermute, er lässt sie regelmäßig rein, und sie geht auch über ein Fenster in seiner Wohnung nach draußen.«
Elias guckte nun ziemlich missmutig und enttäuscht.
»Was ist los, Junge, wo ist das Problem?«
»Na ja, ich weiß nicht. Vielleicht will er ja nicht, dass ich seine Katze streichle.«
»Da gibt es doch keine Gesetze gegen, Katzen zu streicheln. Nein, da kann er nichts gegen haben, und wenn, dann ist das sein Problem.«
»Okay …«, entgegnete Elias, noch nicht ganz überzeugt. »Frau Kinateder hat gesagt, dass noch niemand hier im Haus mit Herrn Ingelheim gesprochen hätte. Auf mich hat er auch keinen so freundlichen Eindruck gemacht.«
»Das ist auch ein richtiger Unsympath«, meinte Willi. »Gesprochen hab ich schon mal mit ihm - ein einziges Mal. Da hatte ich mal zum Geburtstag ein paar Leute eingeladen und wir haben ein bisschen laute Musik gehört, geklönt und gelacht, ein bisschen gefeiert eben. Er hat dann bei mir geklingelt und sich beschwert, aber richtig fies, dass das eine Unverschämtheit wäre und dass er gleich die Polizei rufen würde. So ein Quatsch, das war vielleicht ein klein wenig über Zimmerlautstärke. Außerdem war es Samstagabend. Da hab ich ihm gesagt, er soll die Polizei ruhig rufen, wir feiern jetzt weiter. Ich meine, wenn er mich freundlich darum gebeten hätte, etwas leiser zu sein, dann hätte ich die Musik etwas leiser gemacht – aber in dem Tonfall? Nee. Der war richtig aggressiv. Das war einfach total übertrieben, völlig Banane. Und wer mit mir nicht klarkommt … » Willi machte eine kleine Pause. » … also der kommt mit niemandem klar. Ich hab schon sehr viel Verständnis, komme mit allen sehr gut zurecht, aber ich brauche mich nicht so anschnauzen zu lassen. Na ja, im Endeffekt hat er jedenfalls nicht die Polizei gerufen.«
»Was macht er denn eigentlich beruflich?«, fragte Elias.
»Das weiß keiner. Vielleicht gar nichts. Oder er arbeitet zu sehr merkwürdigen Zeiten; denn immer, wenn ich mal etwas früher Mittagspause zu Hause mache oder mal ‘nen Werktag frei nehme, hör ich den, wie er so irgendwann zwischen eins und zwei das Haus verlässt und zwanzig Minuten später wiederkommt. Er fährt auch kein Auto oder Fahrrad. Vielleicht arbeitet er zu Hause. Oder er ist Privatier. Weil Asche muss er haben. Für den Riesenanbau, in dem er da wohnt, zahlt er bestimmt so viel Miete, wie wir anderen alle zusammen.«
Elias war zuerst recht irritiert von dem Ausdruck Asche, aber er erkannte dann aus dem Zusammenhang, dass es sich um ein umgangssprachliches Synonym für Geld handeln musste, ähnlich wie Kohle oder Kies; allerdings hatte er dieses bisher noch nie gehört.
Willi war gerade im Begriff, noch etwas hinzuzufügen, als ein weiteres Mal die Kellertür aufsprang und Joe vor ihren Augen auftauchte.
»Ach, der Herr Meurer«, kommentierte Willi grinsend, während dieser auf ihn und Elias zukam. Er trug braune Shorts, ein schwarzes Tank Top und außerdem einen Wäschekorb in den Händen. Elias fand den Anblick seiner Oberarm- und Schultermuskeln wieder einmal sehr beeindruckend.
»Hallo, Jungs«, begrüßte Joe sie. Als er die beiden auf der Rasenfläche erreicht hatte, gab er erst Willi, dann Elias die Hand.
»Grüß dich, Joe«, sagte Willi mit warmer Stimme.
»Hallo«, grüßte Elias etwas verlegen. Jetzt waren sie schon zu dritt, und er war der einzige, der nur mit Badeshorts bekleidet war. Ihm fiel außerdem ein, dass er ja unbedingt auch einmal etwas Sonne auf seinen Rücken scheinen lassen müsste. Daher erhob er sich nun aus seinem Stuhl.
»Jetzt haben wir ja bald das ganze Haus hier im Garten versammelt.« Willi legte ein schelmisches Grinsen auf.
»Ich wollte nur mal meine Wäsche abhängen«, sagte Joe und ging zu seinem blauweißen Wäscheständer.
Elias war froh, dass keiner eine Bemerkung dazu gemacht hatte, dass er aufgestanden war. Er stand nun, zu Willi gerichtet, mit dem Rücken in den letzten Sonnenstrahlen dieses Tages.
»Ja, mach das, Junge«, sagte Willi. »Wie läuft die Wettkampfvorbereitung?« Joe ging in die Doppelbizeps-Pose von vorne, bei der er die Arme seitlich ausstreckte, anwinkelte und anspannte.
»Wonach sieht es denn aus?«, fragte er grinsend.
»Hey, du bist ja ein richtiges Tier! Sieht krass aus. Im August ist der Wettkampf, oder?«
»Anfang September. Bis dahin hab ich noch viel Zeit; ich werde in absoluter Topform antreten. Bin auf ‘nem guten Weg. Hab schon sieben Kilo abgenommen. Kommen aber noch mal sieben runter. Diesmal rock ich die Bühne. Ich werd so mit 103 Kilo antreten, so viel hat in meiner Klasse keiner.«
Elias war irritiert. Hatte Joe ihm nicht gesagt, dass er im Moment 102 Kilo wiegen würde? Wenn er noch sieben abnehmen würde, wären das doch bloß 95. Also irgendetwas stimmte da nicht. Doch er entschied sich, zunächst einmal nichts dazu zu sagen, er wollte Joe nicht zu nahetreten; vielleicht hatte der sich ja einfach bloß vertan.
»Das ist einiges«, meinte Willi, während Joe nacheinander seine Kleidungsstücke abhängte und in den Wäschekorb legte. »Dann trainierst du bestimmt sehr hart im Moment. Die Temperaturen gehen ja im Moment noch so grade.«
»Ich trainiere immer hart. Und von Hitze lass ich mich auch nicht abhalten.«
»Kannst ja unsern Spargeltarzan hier auch mal mitnehmen«, sagte Willi mit Blick auf Elias. »Der könnte auch was mehr Muckis vertragen.« Elias stieß diese Bemerkung unangenehm auf.
»Hab ich ihm schon angeboten«, entgegnete Joe. »Er muss einfach nur Bescheid sagen.«
»So wenig Muskeln hab ich auch nicht«, erwiderte Elias verärgert.
»Ach, nimm das doch nicht so ernst, Junge«, forderte ihn Willi auf. »War nur Spaß. Du bist super in Form. Bisschen dünn vielleicht, aber ist ja nicht schlimm, besser als zu dick. Alles gut.«
»Also ich finde, er könnte schon etwas mehr Masse vertragen«, wandte Joe ein, der mittlerweile seine Wäsche komplett abgehängt hatte und mit dem gefüllten Wäschekorb in Händen dastand. »Da geht noch viel mehr. Aber das weißt du ja selber.«
»Na ja«, meinte Elias kleinlaut. »Also mir reicht es erst mal.«
»Du bist ja auch Gitarrist und kein Bodybuilder«, sagte Willi.
»Gitarrist? Was spielst du denn so?«, fragte Joe.
»Das musst du dir anhören. Der spielt richtig geile Metal-Soli. So was hab ich vorher noch nie gehört. Eine Wahnsinnsgeschwindigkeit. Das ist wirklich der Hammer.«
»Ja, das muss ich mir mal anhören«, sagte Joe, aber Elias beschlich das Gefühl, dass er das nur so dahingesagt hatte. »So, Freunde, ich bin wieder oben. Wollte gleich noch zum Training, bin heute was später dran.«
Willi warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich bin eigentlich auch nicht zum Spaß hier. Ich muss jetzt mal die Blumen gießen.«
» Unser Hobbygärtner«, sagte Joe grinsend.
»Einer muss es ja machen«, entgegnete Willi.
Daraufhin verabschiedete sich Joe von den beiden und verließ den Garten durch die Kellertür, durch die er gekommen war.
»Und was ist mit dir?«, wandte sich Willi jetzt an Elias.
»Ich glaube, ich geh dann auch wieder hoch.«
»Was machst du denn gleich noch?«
»Na ja, ich äh … ich hör noch was Musik, dann mach ich mir nachher was zu essen und gucke noch Filme.«
»Aha. Also wenn du Lust hast, kannst du auch gleich noch mit zu mir kommen. Dann zeig ich dir mal meine Bude und meine Gibson-Explorer. Kannst auch gerne mal darauf spielen. Ist bestimmt ein ganz anderes Feeling damit.«
»Also, ich …« Elias stockte. Im ersten Augenblick fühlte er sich von dem Angebot ziemlich überfordert, denn damit hatte er nicht gerechnet und außerdem einen ganz anderen weiteren Verlauf des Tages geplant. Sollte er seine Dreamsession heute womöglich ausfallen lassen und vielleicht sogar riskieren, erst verspätet zu seinem Abendessen zu kommen?
Willi schien seine Unsicherheit zu bemerken. »Nur wenn du Lust hast, ist keine Pflicht, Junge. Ansonsten machen wir das ein anderes Mal.«
»An wie lange hattest du denn gedacht?«, fragte Elias zögerlich.
»Keine Ahnung, ‘ne Stunde oder so. Ich wollte mich da nicht festlegen. Solange wir Lust haben. Kannst jederzeit gehen.«
»Okay, ich komme mit«, entschied Elias spontan, obwohl er eigentlich immer noch unsicher war.
»Alles klar, super. Ich muss nur eben noch die Blumen gießen.«
»Wie lange dauert das denn?«
»So ‘ne Viertelstunde, zwanzig Minuten.«
»Soll ich dann hier warten?«
»Wie du willst. Du kannst gerne hier warten. Kannst auch erst mal hochgehen, und wir treffen uns gleich. Überleg´s dir, ich fang jetzt erst mal an.« Mit diesen Worten ging Willi zur Terrasse und kam einige Augenblicke später mit einem langen, grünen Gartenschlauch zurück, den er vor einem der Blumenbeete auf den Rasen legte.
Elias schaute auf sein Handy; es war nun 20 Uhr 12. Wenn er gegen halb neun mit Willi in dessen Wohnung ging und dann eine Stunde bei ihm blieb, könnte er gleich im Anschluss seine Brote vorbereiten und wäre wieder gut in seinem Zeitplan.
»Ich glaube, ich warte dann hier«, sagte er an Willi gewandt. »Ich höre noch mein Album zu Ende und rauche eine.«
»Mach das, Jung.«
Willi ging nun noch einmal auf die Terrasse und drehte das Wasser auf. Ein lautes, Elias sehr unangenehm anmutendes Geräusch ertönte. Er dachte erst, ein aggressiver Hund würde sich dem Garten nähern, und ein kurzer Schrecken fuhr ihm durch die Glieder. Dann registrierte er, dass es vom Schlauch kam und war beruhigt. Willi hob diesen jetzt vom Boden auf und begann, die Pflanzen des Gartens zu bewässern.
Elias ließ das Album von Dying Fetus weiterlaufen, drehte sich eine Zigarette und beobachtete, wie Willi fröhlich pfeifend mit dem Schlauch in der Hand durch den Garten ging.
Die Arbeit schien ihm tatsächlich Spaß zu machen, was Elias gar nicht verstehen konnte, denn Gartenarbeit interessierte ihn überhaupt nicht.
Nach ziemlich genau siebzehn Minuten, Elias‘ Handy zeigte 20 Uhr 29 an, war Willi fertig, stellte das Wasser aus und legte den Schlauch wieder zurück an seinen Platz auf der Terrasse.
»So, wir können«, sagte er. Elias erhob sich, zog sich an, stellte den Stuhl wieder zurück, und gemeinsam verließen die beiden den Garten.
»Musst du das eigentlich machen?«, fragte Elias, während sie die Kellertreppe ins Erdgeschoss hinaufgingen. »Ich meine, die Arbeit im Garten.«
»Also eigentlich sind alle Mieter des Hauses dafür verantwortlich, sich um den Garten zu kümmern«, antwortete Willi. »Aber außer mir hat da keiner Lust zu. Eigentlich müssten alle abwechselnd mal was machen. Aber ich hab das einfach übernommen, ich mach das gerne.« Er grinste. »Da hat natürlich auch niemand was dagegen.« Sie standen nun vor Willis Haustür. »Unkraut jäten mach ich nicht so gerne, das kannst du gerne mal übernehmen.«
Elias war irritiert und machte ein entsprechendes Gesicht.
»War nur Spaß, Junge, keine Angst, ich mache alles im Garten. Das ist ein richtiges Hobby für mich.« Er schloss die Tür auf, und sie betraten die Wohnung. »So, da wären wir. Das ist meine Bude.«
Willi führte Elias über einen Flur an einem kleinen gepflegten Bad vorbei in eine ziemlich große Räumlichkeit, eine offene Wohnküche mit großem Esstisch und einigen anderen aus Massivholz angefertigten Möbelstücken. Der Boden der gesamten, insgesamt etwa 60 Quadratmeter großen Wohnung war mit Parkett belegt, in der Küche lag ein braunroter Flickenteppich aus. Es waren sehr viele Pflanzen hier, auf den Fensterbänken stand allerhand Topfgewächs, davor ein kleiner Gummibaum und außerdem im Regal eines großen Schrankes eine Kakteensammlung mit scheinbar extra dafür gebautem Ständer. An der Wand hingen ein Poster von Black Sabbath, ein eingerahmtes Foto und ein Konzertplakat von einer Band namens Hot Spirit, die Elias nicht kannte. Es roch im ganzen Raum ein wenig nach Essen.
»Bist du das?«, fragte Elias, auf das Foto zeigend. Es waren darauf fünf Männer abgebildet, in der Mitte ein Mann, der durchaus Willi sein konnte, allerdings mindestens zwanzig Jahre jünger.
»Jo«, antwortete Willi. »Das bin ich mit der Band meines Bruders. Hier, das ist mein Bruder.« Er zeigte auf den blonden, etwas größeren und kräftigeren Mann rechts neben ihm.
»Dann ist das Plakat hier wahrscheinlich von seiner Band? Hot Spirit.«
»Genau … So, und das ist meine Gibson-Explorer.« Er deutete auf eine beige-weiße E-Gitarre, die zwischen einem großen Marshall-Verstärker und dem Regalschrank an der Wand stand, ging zu ihr hin und schnallte sie sich um. »So weit, so gut. Nur spielen kann ich leider nicht. Willst du mal?«
Elias zögerte. Er hatte noch nie auf einer anderen Gitarre als seiner Ibanez gespielt. Aber irgendwie reizte es ihn schon.
»Okay«, erwiderte er verhalten. Willi schnallte sich die Gitarre wieder ab und gab sie ihm. »Ich will aber lieber im Sitzen spielen.«
»Dann setz dich ruhig.« Willi deutete auf einen hellbraunen Stuhl aus Massivholz, der vor dem Esstisch stand. »Den habe ich übrigens selbst geschreinert, so wie alle Möbelstücke hier.«
»Echt?« Elias war schon etwas beeindruckt, denn er würde so etwas niemals hinbekommen.
»Klar, du weißt doch, ich bin Schreiner.«
Elias setzte sich hin und legte die Gitarre auf seinen Schoß. Als er einmal über die Saiten strich, bemerkte er, wie verstimmt diese waren, und bat Willi um ein Stimmgerät, woraufhin dieser ihm eines (das auf dem Verstärker lag) reichte. Elias stimmte die Gitarre, und Willi schaltete den Verstärker ein.
»Aber bitte auf volle Verzerrung«, bat Elias.
»Wird gemacht.«
»Und ich brauche noch ein Plek.«
»Moment.« Willi kramte in der Schublade einer kleinen Kommode, die unter einer der Fensterbänke stand. »Irgendwo hab ich eins, das weiß ich … Ah, hier ist es ja.« Er reichte Elias ein grünes, dreieckiges Plastik-Plektron.
»Das ist aber ziemlich groß«, begutachtete Elias das Teil etwas skeptisch. »Meine sind wesentlich kleiner und dicker. Weiß nicht, ob ich damit so gut spielen kann. Ich hol vielleicht lieber schnell eins von mir.«
»Ach, das ist doch jetzt nicht nötig«, entgegnete Willi. »Spiel doch einfach damit, muss ja nicht perfekt sein. Geht doch nur darum, mal ein bisschen auf meiner Gibson-Klanfe zu klimpern.«
»Okay, dann versuch ich´s mal. Ist ja wenigstens kein weiches Plektron.« Elias setzte an der dicken E-Saite an und spielte in mäßiger Geschwindigkeit ein paar Triolen.
»Und?« Willi blickte ihn erwartungsvoll an. »Wie fühlt es sich an?«
»Ganz gut«, sagte Elias zurückhaltend. »Aber ist das nicht ein bisschen laut?«
»Ach quatsch, E-Gitarre muss man laut spielen, das muss richtig wummern, Junge. Hau mal ordentlich in die Saiten!«
»Ich hoffe, dass sich niemand beschwert. Nicht, dass Herr Ingelheim noch rüberkommt.«
»Du denkst zu viel. Spiel einfach.«
Also nahm Elias all seinen Mut zusammen und begann zu spielen.
Zuerst verwendete er Wechselschlag, jetzt aber nicht mehr langsam, sondern gleich so schnell er konnte. Nachdem er Triolen beziehungsweise Sextolen in fast allen Lagen auf allen Saiten gespielt hatte, ging er in zwei Pedalton-Licks über, spielte dann ein paar Legatoläufe, die er bald mit Tapping kombinierte; er wagte sich diesmal auch an Eightfingertapping heran und garnierte das Ganze anschließend noch mit ein paar Sweeping-Licks. Schließlich spielte er noch ein wenig in den Pentatonik- und Bluestonleitern herum, wobei er frei ein paar Melodielinien improvisierte.
Willi wippte zuerst begeistert auf und ab, dann ging er an den Verstärker und veränderte während Elias‘ Spiels den Sound, was ihm große Freude zu bereiten schien. Es kamen dabei auch ein paar recht exotische, abgehobene Klänge heraus. Sein Verstärker hatte ein deutlich größeres Soundpotential als Elias‘.
»Das war doch cool, oder?«, meinte Willi, als Elias schließlich mit dem Spielen innehielt.
»Ja, da kann man gut drauf spielen«, befand dieser.
Es hatte ihm tatsächlich Spaß gemacht, und die Handhabung des größeren Plektrons klappte besser als gedacht, auch wenn es sich teilweise ein wenig merkwürdig angefühlt und er, was die Geschwindigkeit betraf, nicht ganz sein Maximum erreicht hatte, was aber vielleicht auch damit zusammenhängen konnte, dass die Saiten auf dieser Gitarre etwas dicker waren.
»Aber auf meiner Ibanez kann man auch sehr gut spielen«, fügte Elias hinzu.
»Ja, aber das ist doch hier ein ganz anderer Sound. Das ist schon ein Unterschied.«
»Na ja, dein Verstärker kann auch viel mehr als meiner.« Er spielte noch einmal ein paar Noten aus der Pentatonik.
Willi schaute mit einem Mal etwas nachdenklich auf Elias´ Finger.
»Machst du eigentlich auch mal Bendings?«, fragte er.
»Ja, auch, aber … nicht so oft.«
»Also mein Bruder hat mir auch schon öfter mal was vorgespielt, das war bei Weitem nicht so technisch versiert und so schnell wie bei dir, aber klang trotzdem irgendwie cool. Der hat viel so mit Bendings gemacht, und Vibratos und mit dem Wawa-Pedal. Das hast du auch gar nicht benutzt.«
»Na ja, meine Gitarre hat gar kein Wawa-Pedal.« Elias fühlte sich jetzt nicht mehr wohl. »Und Bendings sind nicht so meine Stärke. Ich hab eine Zeit lang auch täglich Bendings und Vibratos in mein Übungsprogramm integriert, aber irgendwann hat es mich genervt, mich eine halbe Stunde oder länger an ein oder zwei Tönen abzumühen. Das ist ja auch eigentlich keine anspruchsvolle Technik, hat mehr mit dem Gehör zu tun, die richtigen Tonhöhen zu erreichen.«
»Das ist aber auch wichtig«, wandte Willi ein. »Laut meinem Bruder geben Bendings einem Solo erst die Farbe; das hat sehr viel mit Gefühl zu tun. Und Gefühl ist wichtig beim Gitarrespielen.«
»Na ja … » Elias fühlte sich etwas ertappt. »Um ehrlich zu sein, hab ich das auch nicht so gut hinbekommen. Also einen Ganzton hochziehen schon so einigermaßen, aber …« Er stockte und legte eine unzufriedene Miene auf.
»Also du spielst wirklich gut, versteh mich nicht falsch. Aber vielleicht fehlt das bei deinem Spiel noch. Bei einem Solo kommt es ja nicht nur auf Technik an.«
»Ich hab aber keine Lust, Bendings und Vibratos zu üben«, sagte Elias trotzig.
»Du bist doch total diszipliniert. Ich glaube, dass du dich schon dazu aufraffen könntest, das zu üben.«
»Bendings kann jeder«, erwiderte Elias missmutig.
»Du anscheinend nicht, sonst hätte ich schon welche von dir gehört. Versuch doch jetzt mal eins.«
»Nein, keine Lust.« Elias stand auf und stellte die Gitarre zurück in den Ständer.
»Du brauchst doch jetzt nicht eingeschnappt zu sein. Man muss auch mal etwas Kritik vertragen können.« Elias sah ihn verlegen an. »Ich bin wirklich begeistert von deinem Spiel; ich finde es toll, was du alles draufhast. Das sollte nur ein kleiner Verbesserungsvorschlag sein. Hab‘s nur gut gemeint. Wenn du keine Lust auf Bendings hast, dann lass es eben, ist ja keine Pflicht.«
»Ich überleg es mir mal«, sagte Elias, immer noch ein wenig angespannt. »Vielleicht bau ich es doch noch mal in meinen Plan ein.«
»Das wirst du bestimmt ganz schnell hinkriegen, da bin ich fest von überzeugt. Ist doch alles Übungssache … So, und jetzt hol ich mir mal ‘n Bier und rauch eine. Willst du auch ein Bier?«
»Nein, danke, lieber nicht.«
»Trinkst du nie?«
»Nur ganz selten. Früher hab ich mal eine Zeit lang sehr viel getrunken, aber das hat mir nicht gutgetan. Seither trinke ich nur noch in absoluten Ausnahmesituationen.«
»Du musst ja keine fünf Liter trinken. Nur eine Flasche. Ich trinke auch nicht viel, und auch nicht jeden Tag, aber hin und wieder mal so ein, zwei Fläschchen Bier gönn ich mir abends ganz gerne, vor allem jetzt im Sommer.«
»Wenn ich jetzt eine Flasche trinke, trinke ich vielleicht demnächst noch mal eine, dann auch mal zwei und immer öfter. Das wird schnell zur Gewohnheit. Außerdem hat das ja auch Kalorien. Ich esse im Prinzip jeden Tag das Gleiche und halte so auch immer mein Gewicht.«
»Was denn, 70 Kilo?«
»71,5«, berichtigte Elias. »Ungefähr.«
»Also du könntest meiner Meinung nach ruhig ein bisschen mehr auf den Rippen vertragen. Aber ich will dich zu nichts zwingen. Wie wäre es dann mit einem Kaffee?«
Elias holte sein Handy aus der Hosentasche und blickte darauf; es war 20 Uhr 53.
»Nein, danke, im Moment nicht«, sagte er.
»Was hast du denn da grade geguckt?«, fragte Willi, ihn verwundert ansehend.
»Nach der Uhrzeit.«
»Ach, ist es dir zu spät für Kaffee? Freitagabend hattest du doch auch noch Kaffee getrunken.«
»Nein, ich …« Elias fühlte sich ein wenig überfordert. Wie sollte er das jetzt erklären? »Ich … hab die Angewohnheit, immer nur Kaffee zu trinken, wenn ich eine Zigarette rauche. Auf die Weise wird der tägliche Kaffeekonsum nicht zu hoch.«
»Kommt drauf an, wieviel du rauchst. Aber passt doch, wir können doch jetzt auf dem Balkon zusammen eine rauchen.«
Elias überlegte, ob er Willi nicht einfach sein recht komplexes Rauch- und Kaffeesystem ausführlich darlegen sollte, statt mühsam drum herum zu stammeln, nur weil es eben nicht ganz der Norm entsprach.
»Ich wende bei der Häufigkeit meiner Zigaretten eine bestimmte Methode an«, gestand er zögerlich.
»Aha. Lass mal hören.«
»Na ja, es ist ein wenig komplizierter. Ich hatte vor etwa fünf Jahren eine Zeit lang mal sehr viel geraucht, bestimmt dreißig Zigaretten am Tag; das war auch die Zeit, als ich ziemlich viel Alkohol getrunken hab. Dann hab ich beschlossen, die Anzahl der Zigaretten allmählich zu reduzieren, denn ganz aufhören wollte ich nicht; ich rauche schon sehr gerne. Ich bin auf die Idee gekommen, eine bestimmte Mindestzeitspanne zwischen dem Ausdrücken einer Zigarette und dem Anzünden der nächsten festzulegen und die dann sukzessive zu steigern. Ich hab damals mit 34 Minuten angefangen und das dann alle zwei oder drei Wochen, manchmal auch schon nach einer Woche, immer in Vier-Minuten-Schritten gesteigert. Dadurch hab ich täglich immer ein bisschen weniger geraucht.«
»Wie bist du denn auf 34 Minuten gekommen?«, fragte Willi mit verdutztem, aber hochkonzentriertem Gesichtsausdruck.
»Ich weiß nicht genau, diese Zahl ist mir einfach so eingefallen. Ich hätte auch 32 nehmen können oder 36.«
»Warum nicht einfach 30, eine halbe Stunde?«
»Nein, das wäre etwas zu wenig gewesen.«
»Okay, und bei wie viel Minuten bist du mittlerweile angekommen?«
»Ich bin irgendwann bei 74 Minuten angelangt, und da bin ich auch geblieben, noch weniger wollte ich nicht rauchen. Auf diese Weise komme ich auf etwa elf Zigaretten am Tag, manchmal auch zwölf, selten mal nur zehn.«
»Aha, und wann dürftest du die nächste Zigarette nach deiner Methode jetzt rauchen?«
»Ab 21 Uhr 33. Allerdings hab ich heute schon 27 Minuten gut, das heißt, es ginge auch schon ab 21 Uhr 14.«
»Hä?« Willi schien jetzt ziemlich verwirrt zu sein. »Was meinst du damit, dass du die gut hast?«
»Immer, wenn ich die Mindestzeitspanne überschreite und später eine rauche, was häufig vorkommt, bekomme ich die verspäteten Minuten quasi gutgeschrieben. Das können mal nur acht sein, mal vielleicht auch 17 oder noch mehr. Heute bin ich bisher halt auf 27 gekommen. Ich darf aber auch nur höchstens 19 Minuten vor dem eigentlichen Zeitpunkt rauchen, denn ansonsten ist der Abstand zwischen den einzelnen Zigaretten zu gering. Wenn ich meine Nächste gleich zum Beispiel 19 Minuten vor 21 Uhr 33, also schon um 21 Uhr 14, rauche, hab ich nur noch 24 Minuten gut. Allerdings brauche ich dieses Guthaben im Grunde niemals ganz auf; manchmal komme ich dadurch am Ende noch auf eine Zigarette weniger.«
»Aha. Bisschen merkwürdig, das Ganze, oder?«
»Ich bin eben nicht ganz normal. Hab ich dir ja schon von erzählt.«
»Wer ist schon normal? Ich meine, das klingt für mich alles schon ziemlich Banane, was du da erklärt hast, aber zumindest hast du damit geschafft, weniger zu rauchen. Und das zeigt auch wieder, dass du eine ziemlich große Disziplin hast. Für mich wäre das überhaupt nichts, so ständig die Minuten zu zählen, aber ich könnte auch nicht mehrere Stunden am Tag auf der Gitarre üben. Wie viel übst du am Tag?«
»Momentan so sechs Stunden. Früher hab ich mal zehn geübt. Mein Rekord liegt bei 13 Stunden.«
»Das ist echt krass.« Willi hielt für einen Moment inne und blickte in Richtung Küche. »So. Jetzt will ich aber mal eine rauchen und ein Bier trinken.«
Er ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Bitburger Pils heraus und ging zu einem links neben seinem Regalschrank an der Wand montierten Flaschenöffner. Darunter stand ein blauer, halbvoll mit Kronkorken gefüllter Metalleimer.
»Ich rauche übrigens auch sehr wenig«, sagte er, während er die Flasche öffnete und den Korken in den Behälter fallen ließ. »Manchmal nur fünf Zigaretten am Tag. Aber ich hab noch nie viel geraucht. Für mich ist das reiner Genuss. Willst du wenigstens ein Wasser haben?«
Das nahm Elias dankend an. Willi gab ihm ein Glas mit stillem Mineralwasser, dann gingen sie durch ein kleines, an die Räumlichkeit der Wohnküche angrenzendes Schlafzimmer auf einen etwa zweieinhalb Meter breiten Balkon mit Blick auf den Hof des Nachbarhauses. Dort standen zwei Stühle und ein kleines Tischchen mit einem Aschenbecher darauf. Draußen war es immer noch hell, und ein angenehmer Wind kühlte die schwülwarme Abendluft ein wenig ab.
»Funktioniert die Kaffeemaschine gut?«, fragte Willi, nun neben Elias an dem Tischchen sitzend, nachdem er sich eine Zigarette gedreht und angezündet hatte.
»Ja, sehr gut, vielen Dank noch mal«, antwortete Elias lächelnd. »Ich hoffe, dein Sohn hätte sie nicht doch gebraucht.«
»Nein, nein, der holt sich auch so einen Kaffeevollautomaten, wie ich ihn hab. Hab gestern noch mit ihm gesprochen.«
»Wie alt ist dein Sohn eigentlich?«
»Der ist ein paar Jahre älter als du. Siebenundzwanzig. Heißt übrigens Tobias.«
»Dann ist er nur ein Jahr älter als ich«, entgegnete Elias. »Ich bin 26.«
»Echt?« Willi blickte ihn erstaunt an. »Ich hätte dich auf Anfang Zwanzig geschätzt.«
»Ja, ich werde meistens jünger geschätzt.«
»Das kenne ich; ich auch.«
»Wie alt bist du denn?«, fragte Elias verhalten und hoffte, dass die Frage nicht unangebracht war.
»Was würdest du denn schätzen?«
»Na ja, äh …« Er wollte nichts Falsches sagen, einerseits Willi nicht auf die Füße treten, doch auf der anderen Seite auch nicht unehrlich sein. So aus der Nähe betrachtet konnte er durchaus schon Mitte fünfzig sein, aber vielleicht auch erst Anfang fünfzig. »So … um die fünfzig?«
»Ich bin 58«, erwiderte Willi grinsend. »Ich werde aber meistens so auf Mitte, Ende Vierzig geschätzt.«
Dies überraschte Elias, auch wenn er eine Einschätzung von Mitte, Ende Vierzig doch für übertrieben hielt. »Da hast du dich aber gut gehalten.«
»Tja, das hör ich öfter, Junge.«
»Ist deine jetzige Freundin die Mutter von deinem Sohn, also von Tobias?«
»Nein«, entgegnete Willi. »Mit der bin ich erst seit anderthalb Jahren zusammen. Mit Tobias‘ Mutter war ich 22 Jahre verheiratet. Wir sind aber schon seit zwölf Jahren geschieden.«
Willi erzählte Elias ein wenig von seiner Exfrau, die wohl ein Verhältnis eingegangen war, welches dann zur Scheidung geführt hatte. Etwa ein Jahr später hätte er seine vorvorletzte Freundin kennengelernt, mit der er zwei Jahre zusammen gewesen war. Danach folgten noch zwei weitere relativ kurze Beziehungen, bis er seine jetzige Freundin, die 44-jährige Ulrike, getroffen hätte.
»Der Altersunterschied zwischen mir und den Frauen ist mit der Zeit irgendwie immer größer geworden«, berichtete Willi. »Meine Exfrau war nur zwei Jahre jünger als ich, meine erste Freundin danach schon sieben Jahre. »Er grinste. »Und jetzt, bei Ulrike, sind es vierzehn Jahre.«
Elias hörte Willis Erzählungen gespannt zu. Er fand sie sehr interessant, war dies doch ein Bereich des Lebens, in dem er noch so gut wie gar keine Erfahrungen gesammelt hatte.
Allerdings drifteten seine Gedanken auch hin und wieder zu den Bendings ab; die schwammen ihm immer wieder schmerzend im Kopf herum. Er bekam Angst, vielleicht tatsächlich etwas sehr Wichtiges vernachlässigt zu haben.
Schließlich berichtete Willi noch ein wenig über sein momentanes soziales Leben, dass er oft mit Tobias, der nur einen Kilometer entfernt wohnte, und einem Kumpel, einem 37-jährigen Internisten namens Mike, in ein Café in der City ging oder zu Hause mit ihnen abhing. Außerdem ging er wohl dreimal pro Woche in das gleiche Fitnessstudio, das auch Joe besuchte.
Elias erzählte Willi im Gegenzug von seinem Krafttraining, das er regelmäßig zu Hause ausführte, und von seinen Eltern, die er bald einmal wieder anrufen müsste.
Die Zeit verging sehr zügig. Als Elias schließlich einen Blick auf sein Handy warf, war es bereits 21 Uhr 36. Er hatte ja eigentlich um halb zehn wieder in seiner Wohnung sein wollen. Da er jedoch durchaus Lust verspürte, noch ein wenig zu bleiben, entschied er, noch eine Zigarette hier zu rauchen und dann hochzugehen.
»Ich rauch dann jetzt mal meine Zigarette«, sagte Elias nun. »Und danach muss ich auch mal so langsam wieder hoch.«
»Alles klar, ich rauch noch eine mit«, entgegnete Willi und sah auf seine Armbanduhr. »Wird aber auch langsam Zeit mit deiner Kippe. Du wolltest doch schon vor zwanzig Minuten eine rauchen.«
»Ich hätte schon vor 22 Minuten eine rauchen können«, verbesserte Elias. »Aber es ist auch kein Problem, dass es jetzt etwas später ist, so verbrauch ich nichts von meinem Guthaben. Ich krieg jetzt sogar noch ein paar Minuten dazu.«
»Ich blick da ja noch nicht so ganz durch. Aber du machst das schon, Jung.«
Die beiden drehten sich also noch jeder eine Zigarette, und um 21 Uhr 39 zündete sich Elias seine an, dicht gefolgt von Willi.
»Jetzt hab ich 33 Minuten gut«, sagte Elias grinsend.
»Aha«, erwiderte Willi. »Schön. Sag mal, du drehst dir aber ziemlich dicke Teile, da passt ja meine zweimal rein.«
»So dick ist die gar nicht«, wehrte Elias ab. »Nur deine ist extrem dünn. Die sieht aus wie ein Streichholz. Und du rauchst wirklich nur fünf Zigaretten am Tag? Ich meine, jetzt hast du ja schon zwei innerhalb von ‘ner halben Stunde geraucht.«
Willi erklärte, dass er nicht allzu stark auf die Abstände zwischen den Zigaretten achtete. Wenn er Lust hatte, was vor allem in Gesellschaft öfter vorkam, rauchte er eben auch einmal zwei Zigaretten relativ kurz hintereinander, aber dafür manchmal während der gesamten Arbeitszeit überhaupt keine, oft am späten Abend erst seine zweite. Und wenn es einmal sechs oder sieben am Tag würden, wäre das auch nicht schlimm, dafür rauchte er mitunter auch mal nur drei.
Elias‘ Zigarette bot nur noch ein oder zwei Züge, als er beschloss, noch eine gewisse Sache anzusprechen, bevor er wieder hochging. Er wollte Willis Meinung zu dem hören, was Frau Kinateder ihm über das Leben in der Zukunft und in der Gegenwart dargelegt hatte, dass er sich schon jetzt eine Band suchen sollte, anstatt immer weiter auf ein Idealbild in der Zukunft hinzuüben. Er berichtete Willi von ihrem Besuch und davon, was sie zu dem Thema gesagt hatte.
»Das seh ich auch so«, bestätigte Willi nickend. »Betti ist eine sehr kluge Frau. Mir ist das zwar manchmal ein bisschen zu abgehoben, was sie da so für Theorien von sich gibt; die liest halt viel so esoterischen Kram. Aber im Endeffekt stimmt das schon, was sie sagt. Du übst jeden Tag stundenlang, nur alleine in deinem Kämmerlein. Stattdessen könntest du eigentlich arbeiten und Geld verdienen oder mit Kumpels chillen, rausgehen, was erleben, was weiß ich. Du investierst da eine Mörderzeit rein, und alles nur für die goldene Ananas.«
»Goldene Ananas?« Elias war irritiert.
»Für dich selbst halt, nur für dich. Es bringt dir überhaupt nichts ein, weil niemand da draußen weiß, dass du so gut spielst. Wenn du in einer richtigen Band spielen würdest, mit Auftritten und vielleicht auch Veröffentlichungen, dann würde sich der Aufwand lohnen … Also wenn ich auch nur zwei Akkorde spielen könnte, wär ich schon längst in ‘ner Band.«
Elias spürte ein Gefühl von Unmut in sich aufwallen.
»Also es bringt mir schon was ein«, merkte er an, während er seine Zigarette ausdrückte. »Die Technik, die ich mir mühsam erworben hab, die kann mir keiner mehr nehmen.«
»Aber was hast du denn davon? Dass du dich für dich allein ständig an deiner geilen Technik erfreuen kannst?«
»Ähm …« Elias stockte.
»Ich meine, ich finde das ja ganz toll, wie du spielst und was du technisch erreicht hast. Aber du musst damit nach draußen gehen! Als ich dir vorgeschlagen habe, mal mit meinem Bruder zu reden, hast du gesagt, dass es nicht eilt. Du zögerst viel zu lange. Du bist jetzt 26, in einem Superalter. Wenn du noch zehn Jahre wartest, bist du schon 36, und irgendwann ist der Zug abgefahren, also ich meine, um noch richtig was im Musikgeschäft zu reißen.«
»Na ja, du kannst ja deinen Bruder nur mal ganz allgemein fragen …«, sagte Elias verhalten. »Aber ich brauche eine Death-Metal-Band, die auch ein gewisses technisches Niveau hat … am besten Technical Death Metal.«
»Ich werde ihn fragen. Er soll sich mal umhören.«
Elias bedankte sich schüchtern, warf noch einen Blick auf die Uhrzeit, kündigte an, dass er jetzt leider aufbrechen müsste, und erhob sich. Er hätte eigentlich noch gerne seine kurze Begegnung mit der kleinen Mara angesprochen, aber das würde er dann bei der nächsten Gelegenheit tun.
»Kein Ding, Junge, ich sagte ja, du kannst jederzeit gehen; warst ja jetzt auch schon ‘ne ganze Weile hier. Wir sehen uns garantiert die Tage mal wieder.«
Sie verließen den Balkon, gingen durch das Schlafzimmer und die Wohnküche zur Haustür und verabschiedeten sich.
Als Elias wieder in seiner Wohnung war, machte er sich sogleich daran, seinen Teller mit Broten vorzubereiten, und setzte sich schließlich mit seinem Abendessen vor den Fernseher.
Nach dem Film, einem spannenden Thriller, den er heute während des Frühstücks auf Amazon herausgesucht hatte, kam in ihm auf einmal ein ungewohnter Impuls auf, die Idee, heute Abend einmal vom üblichen Ablauf abzuweichen und, anstatt sofort den nächsten Film zu schauen, doch verspätet noch seine Dreamsession einzulegen. Er spürte ein starkes Verlangen, die heute erfahrenen Eindrücke in Ruhe noch einmal auf sich wirken zu lassen.
Hierfür legte er sich nun, nachdem er noch eine Zigarette geraucht hatte, wie immer rücklings auf sein Bett.
Er ließ noch einmal seinen heutigen Besuch bei Willi Revue passieren, der überwiegend positive Emotionen in ihm wachrief, aber auch einige Gedanken, die ihn unangenehm zwickten, so wie beispielsweise Willis Kritikpunkt, dass er keine Bendings und Vibratos verwenden würde.
Elias hatte die Anerkennung, die Begeisterung von Willi am Freitag so genossen, das hatte ihm dermaßen gutgetan, dass diese kritische Anmerkung im Kontrast dazu ziemlich schmerzte. Aber vielleicht war es gut, dass Willi das angesprochen hatte, denn es wurde Elias nun, angeregt durch dessen Bemerkung, klar, dass Bendings und Vibratos in seinem Solospiel noch fehlten; also würde er den richtigen Schluss daraus ziehen und sie wieder verstärkt in seinem Übungsplan einbauen.
Als er dieses Thema gedanklich einigermaßen zu seiner vorläufigen Zufriedenheit abgehakt hatte, schweiften seine Gedanken noch einmal zu dem, was Willi über die goldene Ananas gesagt hatte, eine ziemlich merkwürdige Metapher, die Elias zuvor noch niemals gehört hatte. Das war auch der Grund, warum er ihre Bedeutung zuerst nicht wirklich hatte nachvollziehen können. Jetzt war ihm klar, was Willi damit meinte, und das war ein ziemlich deprimierender Gedanke, nämlich dass die ganze Energie und Mühe, die er täglich in seine Spieltechnik steckte, ihm womöglich gar nichts einbrachte, sondern völlig ins Leere ging, also im Grunde sinnlos war.
Es war immer sein Ziel gewesen, in den Dingen, mit denen er sich intensiv befasste, besser zu sein als die anderen. Er sah sich als Ausnahmeerscheinung an. In negativer Hinsicht hatte er das bereits häufig zu spüren bekommen, wenn er beispielsweise manche Dinge nicht so schnell verstand wie andere oder sich wieder einmal besonders ungeschickt verhielt, aber er wollte, wenn schon anders als alle anderen, dann wenigstens auch im positiven Sinn eine Ausnahme sein. Dies hatte er auch in seinem Leben bereits erfahren, zum Beispiel durch seine überragenden Leistungen in den Fächern Latein und Mathematik. Allerdings nützte es ihm nichts, wenn er etwas besonders gut konnte, wenn niemand das erfuhr. Also war es gut, dass Willi nun seinen Bruder nach einer Band für ihn horchen ließ; früher oder später wollte er sowieso in einer Band spielen, und Willi hatte schon recht, ewig hatte er auch nicht Zeit. Und auch wenn er mit seiner Technik noch nicht hundertprozentig zufrieden war, er konnte sich ja auch innerhalb einer Band durchaus noch weiterentwickeln.
Der Gedanke machte Elias jedoch auch Angst, dass der Zeitpunkt, auf den er all die Jahre hingearbeitet hatte, nun schon so nahe sein sollte. Er malte sich aus, wie er anderen Musikern vorspielte und fühlte Panik in sich aufsteigen. Was war, wenn er aus Nervosität schlechter spielte und sich völlig unter seinem Wert verkaufte? Na ja, Willis Bruder konnte sich ja mal umhören, und selbst wenn er eine Death Metal Band für ihn finden sollte, hieß das ja noch lange nicht, dass er sich auch dort melden müsste. Dieser Gedanke beruhigte ihn wieder ein wenig.
Während des restlichen Verlaufs seiner Dreamsession ging er im Kopf noch einmal die übrigen Teile seiner heute doch insgesamt recht langen Unterhaltung mit Willi durch. Sein Aufenthalt bei diesem hatte im Großen und Ganzen eigentlich richtig Spaß gemacht, es hatte sich also gelohnt, die Zeit zu investieren. Soziale Kontakte waren ihm in den letzten Jahren immer unwichtiger geworden; als Kind und Jugendlicher hatte er immer ein starkes Verlangen gehabt, dazuzugehören, aber mittlerweile wollte er das gar nicht mehr, hatte sich im Grunde völlig von der Welt abgekapselt.
Jetzt dachte er, dass ein sozialer Kontakt auch durchaus angenehm sein konnte; ein Gedanke, der ihm in seinem Leben bisher eher ziemlich selten in den Sinn gekommen war.
Diesmal brach er die Schiller-CD ausnahmsweise nicht nach einer Dreiviertelstunde ab, sondern hörte sie zu Ende, die kompletten 77 Minuten.
Der restliche Teil der Woche verlief ohne besondere Vorkommnisse. Am Mittwoch hatte er nachmittags wieder einen Termin mit Frau Pawlowska, die ihm dringend nahelegte, einmal wieder seine Wohnung zu putzen. Außerdem sollte sie ihm von Herrn Kohlstadt ausrichten, er möge doch jetzt allmählich einmal sein Fahrrad abholen; dabei könne er doch gleich auch die Bewohner noch einmal besuchen.
Elias erledigte sowohl das Putzen als auch das Abholen des Fahrrads am nächsten Tag, wofür er sich insgesamt ein Zeitfenster von etwa eineinhalb Stunden in der Mitte seines Übungsplanes einräumte.
Der Besuch der Bewohner ging dabei etwas unter; er verspürte gar keine besondere Lust, viel Zeit in dem Wohnheim zu verbringen und sagte bloß einmal allgemein Hallo. Selbst Andreas, mit dem er sich hier noch am besten verstanden hatte, hatte er im Grunde nicht sonderlich vermisst.
Da Elias sehr ungern Fahrrad fuhr und sich bisher erst wenige Male in den städtischen Straßenverkehr gewagt hatte, erbot sich Herr Kohlstadt, mit ihm gemeinsam die Strecke zu fahren. Dieses Angebot nahm Elias dankend an.
Was das Wetter anging, verlief die Woche eher nicht so freundlich. Dienstag war es fast den ganzen Tag regnerisch, Mittwoch und Donnerstag bewölkt bei um die zwanzig Grad. Nur am Freitag kam am Nachmittag die Sonne heraus, und die Temperaturen stiegen etwas an.
Elias beschloss, heute früher in den Garten zu gehen, um doch mal etwas mehr Sonne abzubekommen, und teilte daher seinen Übungsplan, wie auch am Donnerstag, in zwei Teile auf. Hier hatte er auch wieder eine kurze Begegnung mit Herrn Ingelheims Katze, die ähnlich wie beim letzten Mal verlief. Sie ließ sich zunächst streicheln, wurde aber dann durch ein lautes Geräusch eines viel zu schnell die Straße entlangfahrenden Autos vertrieben.
Willi, Joe, der kleinen Mara oder einem der übrigen Bewohner begegnete er in diesen Tagen nicht mehr.
Er hörte nur einmal am späten Abend im Treppenhaus Azizas Stimme und die eines Mannes. Sie diskutierten laut miteinander, doch worum es bei dem Gespräch ging, konnte Elias nicht hören. Er fragte sich, ob es sich vielleicht um Maras Vater handelte, von dem Maras Mutter, wie er seinem kurzen Gespräch mit dem Mädchen hatte entnehmen können, getrennt lebte.
Am Samstag schließlich hieß es für Elias wieder Wäsche waschen. In der Waschküche fand er Joe vor, der gerade seine Kleidungsstücke aus der Waschmaschine holte.
»Na, alles fresh?«, fragte dieser, als Elias den Raum betrat.
»Ja, soweit«, antwortete Elias. »Und bei dir?«
»Alles super. Und, hast du mal überlegt, ob du mit ins Studio kommen willst?«
»Nein, ehrlich gesagt noch nicht«, entgegnete Elias zögerlich. »Ich bin mir noch nicht sicher, ich … Na ja, ich spiele ja hauptsächlich Gitarre. Und ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, mit so vielen Leuten in einem Raum zu trainieren.«
»Wenn du alleine trainierst, kann dir keiner sagen, was du falsch machst. Im Studio hast du außerdem viel bessere Trainingsmöglichkeiten. Glaub mir, das macht viel mehr Spaß als allein zu Hause und bringt auch mehr. Schau es dir doch einfach mal an; glaub mir, du wirst begeistert sein!«
»Okay, ich lass es mir noch mal durch den Kopf gehen und sag dir dann Bescheid. Danke aber schonmal für das Angebot.«
»Kein Thema«, sagte Joe, der jetzt mit dem Ausräumen der Waschmaschine fertig war und sich erhob.
»Wie läuft eigentlich so ein Wettkampf ab, an dem du teilnimmst?«, fragte Elias, der Joes Muskulosität nach wie vor faszinierend fand.
»Kannst ja mal mitkommen und es dir ansehen«, schlug Joe vor. »Man präsentiert halt seine Muskeln in verschiedenen Posen. Du trittst gegen andere Männer in deiner Gewichtsklasse an, und dann gibt es Punktrichter, die das bewerten. Ist ‘ne geile Sache, solltest du dir echt mal ansehen.«
»Und dann gewinnt der, der die meisten Muskeln hat?«
»Das nennt man Masse, aber das ist nur ein Punkt. Es zählen auch die Muskeldefinition und Symmetrie. Es nützt nichts, wenn man eine Monstermasse hat, aber schwammig und verbaut aussieht.«
»Schwammig?«
»Ja, wenn man zu viel Wasser gezogen hat, das ruiniert die Definition. Oder wenn man halt noch zu fett ist. Ich hab mal einen Preis für den trockensten Athleten bekommen. Da hab ich drei Tage lang keinen Schluck Wasser getrunken.«
»Oh«, Elias war beeindruckt. »Das könnte ich nicht. Aber da hab ich schon von gehört, dass Bodybuilder vor einem Wettkampf teilweise ganz wenig trinken. Soll aber sehr ungesund sein.«
»Also für Weicheier ist dieser Sport nichts. Man muss an seine Grenzen gehen.«
»Hast du auch noch andere Preise gewonnen?«
»Einmal bin ich bei der Westdeutschen in meiner Klasse Zweiter geworden. Und beim letzten Wettkampf hätte ich eigentlich auch mindestens Zweiter werden müssen, aber da sind die Punktrichter irgendwie bekifft gewesen oder so. Ich hatte eindeutig die beste Form auf der Bühne, aber wen die da alles vor mir platziert haben, das war wirklich unglaublich.«
»Auf welchem Platz bist du denn gelandet?«
»Ich weiß nicht mehr genau, Fünfter oder so. Jedenfalls bin ich viel zu weit unten gelandet.«
Elias fiel wieder die Unstimmigkeit mit Joes Körpergewicht ein, und er fragte sich, wie nahe an der Wirklichkeit Joes Schilderungen wohl waren. Er fand derartige Diskrepanzen sehr unangenehm, verspürte jedoch Hemmungen, weitere Fragen dahingehend zu stellen. Joe schien auf jeden Fall stark von sich selbst überzeugt zu sein.
»So, mein Freund, jetzt geh ich mal die Wäsche aufhängen«, sagte Joe und unterbrach Elias‘ Gedankengänge. »Und dann bin ich wieder oben, muss jetzt gleich mal was futtern, hab tierischen Kohldampf. Wir sehen uns, hau rein.«
Joe ging durch die Kellertür in den Garten, und Elias machte sich daran, seine schmutzige Wäsche in die rechte, freie Maschine zu räumen. Er hätte das auch bei der Unterhaltung gerade schon tun können, aber er hatte während des Sprechens und Zuhörens gar nicht daran gedacht; außerdem war er sowieso nicht gut darin, etwas zu tun und sich dabei zu unterhalten, meistens lief die Tätigkeit dann im Schneckentempo ab oder er konnte dem Gesagten plötzlich nicht mehr richtig folgen und selber nur sehr verzögert etwas erwidern, je nachdem, ob er sich mehr auf die Tätigkeit oder das Gespräch konzentrierte.
Er beeilte sich mit dem Einräumen, denn es wäre ihm unangenehm, Joe, wenn dieser mit dem Aufhängen seiner Wäsche im Garten fertig wäre, noch einmal zu begegnen; schließlich hatten sie sich bereits verabschiedet. Das wäre dann irgendwie eine komische Situation, bei welcher Elias nicht wüsste, wie er am besten damit umgehen sollte.
Fertig mit Einräumen, drückte er auf den Startknopf, verließ eilig die Waschküche und stieg die Treppen zurück ins Dachgeschoss hinauf.
Elias hatte soeben sein vierzigminütiges Kurzhanteltraining durchgezogen, danach geduscht und war gerade im Begriff, die sperrigsten Songs eines Albums der Technical-Death-Metal-Band The Faceless, das er vor drei Stunden gehört hatte, noch einmal zu konsumieren und dabei den obligatorischen Teller Brote für seinen spätabendlichen Film vorzubereiten, als es an seiner Wohnungstür klopfte.
Sofort kam eine kneifende Nervosität in ihm auf, gemischt mit einem leichten Anflug von Panik. Das war jetzt überhaupt kein guter Zeitpunkt, ja der schlechteste, den man wählen konnte, um ihm einen Besuch abzustatten. Er mochte ohnehin keine unangekündigten Besuche, aber in diesem Moment war es besonders schlimm, schließlich ging es hier um sein wichtigstes tägliches Ritual, das er in den letzten Jahren kein einziges Mal hatte ausfallen lassen. Sich mit einem Teller Brote vor den Fernseher zu setzen, war die Krönung des Tages für ihn, was ihm ein Maximum an Entspannung und Zufriedenheit bescherte. Einen Abend ohne diese Zelebration lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Er wollte sie auch nicht nach hinten verlegen, denn er hatte um diese Zeit immer einen Riesenhunger, der letzte kleine Snack lag ja auch schon einige Stunden zurück. Was sollte er jetzt tun?
Es klopfte erneut. Elias überlegte, einfach so zu tun, als wäre er nicht da. Aber so ein Verhalten konnte er nicht gutheißen.
Er gab sich einen Ruck, öffnete die Tür, und Willi stand grinsend vor ihm.
»Hallo«, begrüßte Willi den etwas verkrampft dreinblickenden Elias. »Ich dachte, ich schau noch mal bei dir vorbei. Alles gut, Junge?«
»Hallo«, erwiderte Elias.
Er freute sich ja schon irgendwie, dass Willi an ihn gedacht hatte und ihn besuchte, nur hätte er lieber eine andere Tageszeit mit ihm vereinbart. Na ja, eine Viertelstunde könnte er sein Brot-Ritual ja noch nach hinten verlegen, vielleicht blieb er ja nicht so lange.
»Ja … komm ruhig mal rein.«
Willi betrat die Wohnung und ließ sich wie selbstverständlich auf den einen der beiden Stühle nieder, die Elias‘ Eltern mitgebracht hatten, auf dem er auch das letzte Mal gesessen hatte.
»Möchtest du einen Kaffee haben?«
»Ja, gerne.«
Elias schüttete Willi eine Tasse Kaffee ein (was leider auch bedeutete, dass er mit der Menge Kaffee heute nicht ganz hinkommen würde und nachher noch einmal welchen aufsetzen müsste), kippte einen Schuss Milch hinein und brachte sie Willi. »Mit Milch, war doch richtig, oder?«
»Jawohl.« Willi holte seinen Tabak heraus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. »Und, was sagt deine Uhr? Darfst du eine mitrauchen und ‘nen Kaffee trinken?«
»Leider nein«, sagte Elias. »Ich habe eben trainiert, und nach dem Training rauche ich immer erst eine, wenn ich gegessen habe. Hab ich mir so angewöhnt. Aber rauch ruhig.«
Er stellte den Kaffee vor Willi auf das schwarze Tischchen und setzte sich ihm gegenüber auf seinen Drehstuhl.
»Wenn du essen willst, mach dir ruhig was.« Willi nahm ein paar Schlucke aus seiner Tasse und zündete sich dann die Zigarette an. Irgendwie machte er nicht den Eindruck, als würde er so bald wieder gehen.
»Nein«, entgegnete Elias angespannt. »Ich warte noch was.«
Willi äußerte die Feststellung, dass Elias durch das Sonnen Farbe bekommen habe. Dadurch kamen sie auf das Thema Sonnenbänke (die Willi wohl bevorzugte) und plauderten schließlich eine Weile über deren Effizienz, welche Elias jedoch nicht so recht einleuchtete, da er glaubte, dass Sonnenbankbräune eine andere Farbe als Sonnenbräune sei. Willi hielt das für Quatsch. Anschließend trat eine kurze Gesprächspause ein. Willi nahm einen tiefen Zug von seiner wie immer streichholzdünn gedrehten Zigarette und blies Rauch in den Raum.
»Mal eine andere Sache«, sagte er jetzt. »Kommenden Freitag wollten wir mal wieder ins Auberge gehen. Hast du Lust mitzukommen?«
»Oh, äh … ich weiß nicht …«
Im ersten Moment ließ diese Frage einen Anflug von Schrecken in Elias aufkommen. Damit hatte er gar nicht gerechnet. Einen Augenblick später erfüllte ihn aber eine angenehme Erregung.
»Ich … geh eigentlich nie aus«, sagte er jetzt.
»Dann machst du das eben einfach mal. Wir gehen erst was essen und später gehen wir noch zu mir, ein paar Bierchen kippen. Dann lernst du auch mal meinen Sohn und den Mike kennen. Das wird lustig, wirst schon sehen.«
»Das ist wirklich nett. Ich … Kann ich es mir vielleicht noch überlegen?«
»Natürlich. War ja auch nur ein Angebot, ist keine Pflicht. Aber ich glaube wirklich, dass dir das mal guttun würde. Du musst doch mal hier raus, Junge.«
Elias fühlte sich ziemlich überfordert. Sein Hunger wurde immer stärker, und dann dieser unerwartete Vorschlag. Aber irgendwie verspürte er auch Spannung. Früher hatte er sich immer nach so etwas gesehnt - mit ein paar Kumpels um die Häuser ziehen und nicht an morgen denken.
Angeregt durch diese durchaus freudige Empfindung, fasste Elias spontan einen tollkühnen Entschluss.
»Ich glaub, ich mach mir jetzt doch meine Brote«, sagte er, wenn auch noch nicht ganz davon überzeugt, aber ohne die starke Anspannung von vorhin. Irgendwie fühlte sich diese Entscheidung sogar erlösend an.
»Mach das, Junge. Und leg ruhig mal was Mucke ein. Aber wenn‘s geht, kein Death Metal. Vielleicht was von Iron Maiden oder so.«
Daraufhin klickte Elias auf Youtube den 1986er Klassiker Somewhere in Time von Iron Maiden an, dem Willi begeistert zustimmte, und begann, sich nach gewohnter Art fünf Scheiben Mehrkornbrot zu belegen.
»Mach ruhig was lauter, während du da beschäftigt bist«, sagte Willi, angeregt zu den Klängen des ersten Songs wippend. »Ich hab die lange nicht mehr gehört.« Elias tat wie ihm geheißen und drehte die Musik noch ein wenig lauter. Als er sah, dass Willi seine Zigarette ausgedrückt hatte, riss er alle Fenster auf.
»Bevor ich esse, wollte ich noch mal richtig durchlüften«, sagte er dabei. »Ich lüfte sowieso immer nach jeder Zigarette.«
»Na, gut, dass wir keinen Winter haben«, bemerkte Willi. Dann machte Elias sich wieder an seine Brote.
Ihre Unterhaltung pausierte derweil, nur die kraftvoll-melodischen Riffs und Soli Iron Maidens erfüllten den Raum. Nach etwas weniger als zehn Minuten war er fertig, stellte den Teller mit den Broten auf seinen kleinen Tisch, drehte die Musik wieder ein wenig leiser, schloss alle Fenster (zwei davon ließ er wie immer auf Kipp), setzte sich auf seinen Drehstuhl und biss von einer der Brotscheibenhälften ab, wie gewohnt als erstes von der mit Frischkäse.
»Normalerweise esse ich meine Brote immer bei einem Film«, sagte er genüsslich kauend. »Das ist das erste Mal seit Jahren, dass ich keinen Film dabei gucke.«
»Ist das auch wieder so eine Macke von dir?«
»Na ja, ist so eine Angewohnheit.«
»Dann hab ich wohl deinen Plan so richtig durcheinandergebracht«, sagte Willi. »Aber ich glaube, es ist ganz gut, dass du auch mal was anderes ausprobierst.« Er warf einen Blick auf die Brote. »Isst du das jeden Abend?«
»Ja«, erwiderte Elias. »Ich esse jeden Tag ziemlich genau das gleiche.«
»Du bist echt ‘ne Marke! Also ich könnte das nicht; immer jeden Tag das gleiche, das würde mir dann irgendwann zu den Ohren rauskommen.«
Elias ging darauf nicht weiter ein, sondern fasste erneut einen spontanen Entschluss. »Ich glaube, ich komme am Freitag mit.«
»Super, Junge, das freut mich!«
»Ich will es aber noch nicht versprechen. Um wie viel Uhr wolltet ihr denn losgehen?«
»Wir treffen uns um sieben bei mir«, antwortete Willi. »Komm einfach zu mir runter.«
»Und wie kommen wir dahin?«
»Ganz gemütlich zu Fuß. Das ist hier in der City, ist ein Fußweg von ‘ner Viertelstunde.«
»Und dann essen wir da was und gehen danach zu dir?«
»Genau. Wir werden da aber schon so zwei, drei Stündchen bleiben.«
»Wie viel Geld muss ich denn so mitnehmen?«
»Also das Essen ist relativ günstig dort, kommt aber natürlich drauf an, was du haben willst. Wir wollen ja auch ein paar Bier trinken. Also so fünfundzwanzig, dreißig Euro müssten eigentlich reichen. Kriegst du das hin?«
»Ja; ich hab einiges gespart … Also ich sag mal so, wenn du nichts mehr von mir hörst, bin ich am Freitag um sieben Uhr bei dir unten, ansonsten würde ich noch absagen. Bin mir halt noch nicht hundertprozentig sicher. Vielleicht kommt mir ja auch was dazwischen.«
Willi schaute ihn ungläubig an. »Was sollte dir denn dazwischenkommen?«
Elias ging auf die Frage nicht ein. »Bist du denn die kommende Woche immer abends zu Hause, sodass ich dir Bescheid sagen könnte?«
»Das kann ich nicht genau sagen, ich treffe mich manchmal auch recht spontan noch mit meiner Freundin. Lass uns doch einfach mal Handynummern austauschen. Du hast doch WhatsApp, oder?«
Bei den letzten beiden Sätzen überkam Elias wieder ein recht gemischtes Gefühl. Einerseits war ihm das jetzt etwas zu viel, da er sehr wenig Erfahrung mit dem Austauschen von Nummern und überhaupt mit WhatsApp hatte. Er hatte dort nur drei Nummern, Frau Pawlowskas und die seiner beiden Elternteile gespeichert; mit den genannten telefonierte er aber meistens anstatt zu schreiben, daher hatte er sehr wenig Übung auf dieser kleinen Touchscreen-Tastatur. In der Schule hatte er nur wenige Kontakte gehabt, und das war schon eine ganze Weile her. Auf der anderen Seite fand er es aber auch aufregend, einmal wieder die Handynummer von jemanden zu bekommen; es gab Zeiten, da hatte er sich sehr einsam gefühlt und sich nach engeren Kontakten dieser Art gesehnt.
»Ja, hab ich«, antwortete Elias jetzt verhalten.
»Dann gib mir mal deine Nummer.«
»Oh, die weiß ich gar nicht auswendig.«
Elias hatte seine Nummer in letzter Zeit niemandem mehr nennen müssen. Auf die Schnelle wusste er auch gar nicht, wie er seine Nummer herausfinden konnte.
Willi schien seine Unsicherheit zu bemerken. »Dann geh mal auf Telefon, dann auf Kontakte und dann auf Meine Karte«, wies er ihn an. »Da steht deine Nummer. Und dann gib sie mir mal.«
Elias tat wie ihm geheißen.
»Okay, Moment, ich schreib dir mal was.« Willi fummelte an seinem Handy herum, ebenfalls ein iPhone, und es ertönte ein deutlich vernehmbares Bing. »So, jetzt hast du auch meine Nummer.«
Elias öffnete WhatsApp, tippte auf die neue Nummer und sah, dass Willi ihm einen lächelnden Smiley mit schwarzer Sonnenbrille geschickt hatte. Daraufhin speicherte er ihn ein (er konnte sich noch grob daran erinnern, wie das ging) schickte ihm einen grinsend seine weißen Zähne zeigenden Smiley zurück, und es bingte ein weiteres Mal.
»Dann hätten wir das ja«, sagte Willi mit zufriedenem Lächeln.
Nachdem Elias seine Brote gegessen, sich danach eine Zigarette angezündet und er und Willi sich derweil über die im Hintergrund laufende Musik von Iron Maiden unterhalten hatten, fiel Elias ein, dass er mit Willi noch über ein anderes Thema sprechen wollte.
»Am Montag hab ich kurz mit der kleinen Mara geredet«, sagte er jetzt. »Sie hat vor der Tür mit Straßenkreide gemalt. Kennst du sie und ihre Mutter?«
»Klar kenne ich die«, entgegnete Willi forsch. »Ich wohn doch schon seit Ewigkeiten mit denen in einem Haus; ich kenne die Kleine, seit sie ein Baby ist.«
»Ja, ich meinte auch eher, ob du sie gut kennst, also ob du was über die Familiensituation weißt. Ich vermute mal, diese Aziza lebt von ihrem Mann getrennt. Ich finde das Kind sehr sympathisch, deshalb frage ich. Interessiert mich irgendwie.«
»Ja, die Kleine ist sehr nett, sehr aufgeschlossen«, bestätigte Willi. »Die Mutter hat nur leider einen neben sich gehen. Die lebt nicht getrennt, die war gar nicht mit dem Vater verheiratet.«
»Er ist ein Hochofenbauingenieur, oder?«, fragte Elias.
»Ja, genau. Der hat mal was mit Aziza gehabt, da war sie erst 16 oder 17. Dann ist sie schwanger geworden, aber er hat wohl keinen Bock gehabt, sie zu heiraten; für ihn war das bloß ein kleines Techtelmechtel; das ist zumindest das, was ich so gehört hab. Und jetzt zahlt er schön Unterhalt für die Kleine. Er sieht sie aber glaub ich nur einmal im Monat oder so, der hat noch zwei andere Kinder, ganz kleine, und mit deren Mutter ist er auch verheiratet, soweit ich weiß.«
»Wie alt ist der denn?«
»Ich glaub 36 oder 37, so um den Dreh rum.«
»Und wie alt ist Aziza? Wohl dann 24, wenn sie mit 16, 17 schwanger geworden ist. Mara ist ja siebeneinhalb.«
»Ja, kommt hin.«
»Und was macht sie beruflich?«
»Da blick ich nicht so ganz durch. Sie ist wohl Friseuse, arbeitet aber glaube ich derzeit nicht. Ich nehme mal an, sie kriegt Sozialhilfe, und dann zahlt der Vater ja auch noch Unterhalt. Aber wie das genau bei denen geregelt ist, weiß ich nicht, das ist mir eigentlich auch ziemlich Peng, das geht mich nichts an. Ich kenne sie auch hauptsächlich vom Studio, da quatsch ich schon mal ‘ne Runde mit ihr.« Er grinste. »Da labert die mich immer mit ihrem Abnehmscheiß voll. Die macht jede Woche ‘ne andere Diät. Tja, Junge, die lebt auch von Luft und Liebe, genau wie unser Joe.«
»Dann würden die beiden ja eigentlich gut zusammenpassen.«
»Nee, die hat ganz was anderes im Sinn, die sucht einen Versorger, jemanden, der Asche hat. Von Maras Vater kriegt sie ja nur das Nötigste. Die hat sich auch schon an alle möglichen Männer bei uns im Studio rangemacht, Lehrer, Ärzte, und sogar an den Fitnessclubleiter.«
»Aber sie ist ja eigentlich schon recht hübsch.«
»Ja, sie hat ein hübsches Gesicht, aber einen Arsch wie‘n Brauereipferd. Die ist phasenweise mal fast jeden Tag im Studio, geht dann ohne Ende aufs Laufband, hat ständig andere Trainingspläne. Aber das mit dem Abnehmen kriegt sie nicht hin … Ich meine, eigentlich ist das ja ‘ne ganz Nette, sie tut mir auch irgendwie leid. Sie kriegt einfach ihr Leben nicht auf die Reihe. Und das ist bestimmt auch nicht leicht für die Tochter.«
In diesem Moment ertönte ein weiteres Bing. Willi zog sein Handy aus der Hosentasche und grinste. »Damit hätte ich ja heute nicht mehr gerechnet.« Dann war er eine Weile mit Schreiben beschäftigt. Elias drückte nun seine Zigarette aus und wartete etwa eine Minute ab.
»Ist das deine Freundin?«, fragte er.
»Ja, genau«, entgegnete Willi, das Handy wieder zurücksteckend, und strahlte Elias fröhlich an. »Ich fahr jetzt zu ihr.« Elias blickte auf sein Handy; es war 22 Uhr 16.
»Ist das nicht ein bisschen spät?« fragte er. »Ich meine, ich bleib immer lange auf, aber ich muss ja auch nicht arbeiten.«
»Meine Freundin morgen auch nicht, die hat sich ein paar Tage Urlaub genommen. Das lohnt sich schon noch. Ich schlafe ja dann auch bei ihr.«
»Hast du morgen auch frei?«
»Nö. Ich fahr dann morgen früh von ihrer Wohnung aus zur Arbeit.«
»Und wann musst du aufstehen?«
»Halb sieben.«
»Oje … Ich stehe immer um 11 Uhr 12 auf.«
»Da verschläfst du ja den halben Tag… Das ist ja auch wieder ‘ne merkwürdige Uhrzeit, warum nicht 11 Uhr oder von mir aus 11 Uhr 15?«
»Kann ich nicht erklären, 11 Uhr 12 schien mir genau die passende Uhrzeit zum Aufstehen zu sein.«
Willi entgegnete nichts; Elias war sich auch nicht sicher, ob er überhaupt zugehört hatte, er schien gerade mit seinen Gedanken woanders zu sein, starrte ein wenig wie in Trance das Poster von Obscura und den Katzenkalender an. Dieses kurzzeitige Schweigen machte für Elias wenig Sinn. Dann nahm Willi ihn wieder ins Visier; sein gedanklicher Exkurs schien beendet.
»Ja, Junge, so isset … So, ich bin weg.«
Ziemlich ruckartig erhob er sich aus dem Stuhl, steckte seinen Tabak und sein Feuerzeug wieder ein und bewegte sich zur Tür. »Wir sehen uns dann spätestens Freitag. Und mach ruhig mal ‘ne Ausnahme an dem Tag, trink mal ein paar Bier mit uns! Ich besorg auf jeden Fall ‘n Kasten für uns.«
»Okay, ich guck mal«, erwiderte Elias immer noch etwas unsicher. »Also ich weiß halt noch nicht ganz genau, ob ich mitkomme, aber wahrscheinlich schon.«
»Ja, meld dich einfach.«
Mit diesen Worten verließ Willi die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
Elias öffnete erneut alle Fenster und setzte sich zurück auf seinen Drehstuhl. Er musste jetzt erst einmal umstrukturieren. Sein Abendplan war aus den Fugen geraten. Der Genuss, gemütlich einen Film schauend seine Brote zu essen, war ihm für heute verwehrt geblieben, der Zug war abgefahren. Irgendwie hatte er jetzt auch gar keine Lust, einen Film zu gucken.
Er entschloss sich schließlich, zunächst einmal ein Album zu hören, und zwar etwas Melodischeres, um die abenteuerliche Perspektive mit aufregend-schönen Leadgitarrenklängen zu untermalen, die sich ihm für Ende nächster Woche eröffnete und welche ihn einerseits mit Unsicherheit und Angst, auf der anderen Seite aber auch mit Spannung und einer gewissen Vorfreude erfüllte. Im Grunde stand sein Entschluss schon fest, dass er mitgehen wollte; er räumte sich lediglich gerne bei jeder anstehenden, das Gewohnte durchbrechenden Sache die Möglichkeit ein, zur Not doch kurz vorher ausweichen zu können. Er überlegte gar, einmal wieder eine amtliche Melodic-Death-Metal-Scheibe von Dark Tranquility, Soilwork oder Amon Amarth einzulegen, entschied sich dann aber für das jüngste Werk von Obscura, das Album Diluvium. Dieses war zwar durch seine starken technischen und progressiven Anteile und seine kompositorische Komplexität eigentlich keine einfache Kost, da er es aber schon etliche Male gehört hatte, daher nahezu in und auswendig kannte, und es wirklich hochmelodisch, noch deutlich eingängiger als die Vorgängeralben war, hielt er es trotzdem für eine gute Wahl.
Er brach also nun die immer noch laufende Musik von Iron Maiden ab und legte das Album von Obscura, das er auf CD besaß, in den Player. Dann stellte er eine sehr gemäßigte Lautstärke ein, legte sich aufs Bett und drückte auf Play. Immer wieder driftete seine Aufmerksamkeit während des Hörens zu dem bevorstehenden Abend mit Willi, dessen Sohn und diesem Mike, einmal auch kurz zu der kleinen Mara und Aziza, dann wieder zurück zu kommendem Freitag. Er hatte zum Glück noch ganze fünf Tage Zeit, sich mental darauf einzustellen.