Читать книгу Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre - Dennis Schütze - Страница 9

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1. Einleitung

1.1 Rock and Roll

1.1.1 Zum Begriff Rock and Roll

„Rock and roll is a river of music that has absorbed many streams: rhythm and blues, jazz, rag time, cowboy songs, country songs, folk songs. All have contributed to the big beat.“

(Rock and Roll-Promoter Alan Freed im Film „Rock, Rock, Rock“, 1956)

Die Worte „rock“ und „roll“ bzw. „rocking“ und „rolling“ tauchen in Songtexten der afro-amerikanischen Populärmusk der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in regelmäßigen Abständen immer wieder auf. Sie werden in ihrer Kombination („rockin’ and rollin’“) von schwarzen Rhythm and Blues-Sängern gerne als spielerische Umschreibung für den Geschlechtsakt verwendet. Zur Bezeichnung einer musikalischen Stilistik wird der Begriff ab dem Juli 1951, als der Disk-Jockey Alan Freed bei dem Radiosender WJW in Cleveland, Ohio eine Show mit dem Schwerpunkt Rhythm and Blues startet, die sich dezidiert an junge, weiße Hörer richtet und den Namen „Moondog’s Rock and Roll Party“ trägt. Durch seine Sendung, die Veranstaltung von Konzertreihen und Auftritte in Kinofilmen hat er einen entscheidenden Anteil an der Etablierung des Begriffs, der jedoch bis heute nur lose definiert ist. Ein wichtiges gemeinsames Merkmal der Vertreter der neuen Stilistik ist von Anfang an die Zusammenführung von schwarzen und weißen Musiktraditionen und Zuhörern und damit das bewusste Verwischen der bis dahin geltenden stilistischen Zuordnungen. Da der neu entstandene Musikstil Rock and Roll keiner bestehenden kommerziellen Kategorie eindeutig zuzuordnen ist, erscheinen Chartnotierungen von veröffentlichten Singles zum Teil in zwei, manchmal sogar allen drei bis dahin bestehenden Kategorien der Billboard-Charts (Popular, Rhythm & Blues und Country & Western). Diese Unklarheit bezüglich der Zugehörigkeit ist wie bei kaum einer anderen Stilistik bis heute spürbar. In der um Einteilungen sicherlich nicht verlegenen Musikbranche existiert bis heute keine kommerzielle Kategorie mit dem Titel „Rock and Roll“. Auch eine entsprechende Billboard-Chart, auf die man bei der Beschäftigung mit dem Thema gerne zurückgreifen würde steht nicht zur Verfügung.

Während die Entstehung des Begriffs Rock and Roll als Bezeichnung für die musikalische Stilistik relativ klar hergeleitet werden kann, gibt es unter Fachleuten bis zum heutigen Tag eine äußerst kontroverse Diskussion bezüglich der musikalischen Anfänge des Genres. Zum Teil sind komplette Bücher dieser Frage gewidmet (z.B. Dawson 1992). Obwohl landläufig die 1950er Jahre als Blütezeit des Rock and Roll gelten, werden von manchen Forschern erkennbare musikalische Merkmale des Rock and Roll bereits in Tonaufnahmen aus den 1910er und 1920er Jahren gefunden (Johnstone 2007). Spätestens jedoch im Country Blues der 1930er und Jump Blues der 1940er Jahre meinen Gillett (1980), Dawson (1992) und Tosches (1999) den inoffiziellen, musikalischen Beginn des Genres gefunden zu haben, auch wenn damals noch niemand den Begriff Rock and Roll zur Beschreibung des Musikstils verwendete. Auch wird das Ende des Genres sehr unterschiedlich wahrgenommen. Für einige endet die Ära des Rock and Roll bereits im Jahr 1956 (Tosches 1999), also in dem Jahr, in dem Elvis Presley seinen ersten nationalen Hit verzeichnen konnte. Gillett (1980) beendet in seinem Standardwerk „Sound and the City“ die dazugehörige Diskographie dagegen erst im Jahr 1971. Im folgenden eine tabellarische Übersicht, gelistet nach Erscheinungsjahr zum veranschlagten Beginn und Ende der Rock and Roll-Ära in einer Auswahl einschlägiger anglo-amerikanischer Fachliteratur, die hierzu eine numerische Angabe wagt.

AutorPublikationBeginnEnde
Belz, Carl196919531961
Gillett, Charlie197019541971
Shaw, Arnold197419541960
Tosches, Nick198419451956
Dawson, Jim & Propes, Steve19921944--
Garofalo, Reebee199719501959
Johnstone, Nick200719541958

Abb. 1: Beginn und Ende der Rock and Roll-Ära in verschiedener Fachliteratur

Es bleibt in dieser Frage also einiger interpretatorischer Spielraum, was vermutlich damit zusammenhängt, dass Rock and Roll neben der Bezeichnung für ein musikalisches Genre der 1950er Jahre in einer zweiten, sehr viel unverbindlicher gebrauchten Bedeutung als eine jugendlich-rebellische Geisteshaltung verstanden wird, die sich aus den Biographien einiger Figuren der Populärkultur herauslesen lässt und längst nicht auf den Bereich der Musik begrenzt ist. In der Literatur sind es Autoren wie Jack Kerouac, im Bereich Film Schauspieler wie Marlon Brando, James Dean und Marilyn Monroe, in der Kunst Maler wie Jackson Pollock, die sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in ihrer privaten Lebensführung zum Teil bis heute für eine wilde, intuitive und unangepasste Lebensweise ohne Rücksicht auf Verluste, den sogenannten Rock and Roll-Lifestyle stehen. Zusätzlich erschwert wird die Sachlage durch den Umstand, dass diese Geisteshaltung natürlich nicht auf das Zeitalter des Rock and Roll beschränkt ist, sondern sowohl vorher und in der medialen Wahrnehmung der Pop/Rockkultur vor allem danach in allen möglichen Schattierungen als eines der Grundelemente einer künstlerischen Biographie gilt (Bertrand 2005, Barker 2007).

Um die Ära des frühen Rock and Roll einerseits von den folgenden Musikstilen mit musikalischen Anteilen des Rock and Roll, auf der anderen Seite aber auch von mythologisch aufgeladenen Rock and Roll-Livestyle abzugrenzen, hat sich in Fachkreisen teilweise die Bezeichnung „Early Rock and Roll“ herausgebildet. Durch den Zusatz Early sind Musikstile der 1960er Jahre und folgende definitiv aus der Auswahl ausgeschlossen. Eine für die vorliegende Arbeit nötige Eingrenzung des Begriffs erfolgt im nächsten Abschnitt.

1.1.2 Zeitliche und territoriale Eingrenzung

„[…] It was in the brief span between 1954 and 1956 that the rock aesthetic displaced the jazz-based aesthetic in American popular music.“ (Peterson 1990, S. 97)

Um eine Untersuchung von einflussreichen und bedeutenden Instrumentalparts einer Ära vorzunehmen ist es erforderlich, das zu untersuchende Genre zeitlich und territorial einzugrenzen. Auch wenn Angaben zu Entstehungszeit und ersten Manifestationen unter Spezialisten divergieren, so lässt sich ohne Gefahr behaupten, dass der Musikstil Rock and Roll eine erwähnenswert große Bedeutung in der Öffentlichkeit ab dem Jahr 1954 entwickelt hat. Als Marker für den Beginn gelten Aufnahme und Veröffentlichung von Bill Haleys „Rock around the clock“ und Elvis Presleys Sun-Debut-Single „That’s all right“ (beide 1954). Obwohl „Rock around the clock“ erst Anfang 1955 als Soundtrack zu dem Film „Blackboard Jungle“ seine volle kommerzielle Durchschlagskraft entfaltet (Dawson 2005) und die ersten fünf Sun-Singles von Elvis Presley der Jahre 1954/55 nur regionale Erfolge in seiner Heimatstadt Memphis, Tennessee werden (Escott 1991), so werden gerade diese beiden Titel allgemein als Wendepunkt in der Geschichte der Populärmusik interpretiert und bleiben in keiner ernstzunehmenden Geschichtsschreibung des Genres unerwähnt (Belz 1972, Gillet 1980, Dawson 1992, Friedlander 1996, Tosches 1999, Stuessy 1999, Reebee 2002, Johnstone 2008). Der Höhepunkt des Genres kann mit Presleys großen, nationalen und bald auch internationalen Erfolgen nach seinem Labelwechsel von Sun Records zu RCA-Victor datiert werden. Ab der ersten RCA-Veröffentlichung „Heartbreak Hotel“ im Frühjahr 1956 landet diese und jede weitere Single-Veröffentlichung bis zum Antritt seines Militärdienstes sofort in den Top-10 der Billboard-Charts. Neben Presley, der nach Verkaufszahlen und Medienpräsenz in den 1950er Jahren das Genre klar dominierte, konnten aber auch andere Musiker und Bands des Rock and Roll in der Zeit um 1956 große kommerzielle Erfolge feiern. Die alteingesessene amerikanische Schallplattenindustrie, die das Genre und ihre Künstler anfangs noch als „fad“ (engl.: Moderscheinung) belächelt hatte (Gillett 1980, Reebee 1991), geriet mit dem anhaltenden kommerziellen Erfolg Presleys und anderer Künstler (z.B. Chuck Berry, Little Richard, Jerry Lee Lewis oder Carl Perkins), die bei kleinen, unabhängigen Labels unter Vertrag standen zunehmend unter Zugzwang. Sie suchten neue Künstler und es eröffneten sich dadurch Chancen für nachfolgende, junge Musiker einer zweiten Generation (Friedlander 1996) wie Buddy Holly, Eddie Cochran oder Gene Vincent (Tschmuck 2003).

Kehrseite dieser großindustriellen Suche nach jungen Talenten der Schallplattenindustrie war die Entstehung des sogenannten Schlock Rock (Gillet 1980, Reebee 2002). Im Fahrwasser des Sängers Pat Boone, der schon ab Mitte der 1950 Erfolge mit entschärften Coverversionen erfolgreicher Rock and Roll-Titel feiern konnte, entstanden ab 1958 immer mehr für das Selbstverständnis der weißen Mittelschicht ungefährliche, in ihrer musikalischen und textlichen Aussage entschärfte und von der Industrie kontrollierte Musik jugendlicher Sänger wie z.B. Paul Anka, Connie Francis, Neil Sedaka, Bobby Vee und Bobbie Vinton.

Das Ende des Genres kann mit dem Ausklang des Jahres 1960 datiert werden. Die meisten wichtigen Vertreter hatten im Anschluss keine Hits mehr (Bill Haley, Little Richard, Chuck Berry, Carl Perkins, Gene Vincent), wechselten das Genre (Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Johnny Cash) oder waren verstorben (Buddy Holly, Ritchie Valens, Eddie Cochran). Besonders der Einzug von Elvis Presley zum amerikanischen Militär im Jahr 1958 und der damit verbundene stark reduzierte musikalische Output bis zu seiner Entlassung im Jahr 1960 deuteten eine einschneidende Veränderung bereits deutlich an. Sein von ihm und seinem Management gleichzeitig aktiv betriebener Imagewechsel vom Rock and Roll-Rebell zum singenden und tanzenden Schauspieler in kommerziell erfolgreichen, aber musikalisch und inhaltlich anspruchslosen Kinoproduktionen wurde von späteren Beobachtern mit großer Enttäuschung aufgenommen. Im Jahr 1980 sagt John Lennon: „Elvis really died the day he joined the army [1958]. That‘s when they killed him, and the rest was a living death.“ (www.elvispresleynews.com/Beatles.html) Der Tod von Buddy Holly bei einem Flugzeugabsturz am 3. Februar 1959 wurde von der folgenden Generation gar als „the day the music died“ (McLean 1972) begriffen. Die Ära des klassischen Rock and Roll wurde ab Ende der 1950er Jahre schleichend abgelöst vom bereits erwähnten Schlock-Rock, dem amerikanischen Folk-Revival und ab dem Jahr 1964 schließlich und endlich von den Bands der British Invasion. Wie bei jedem Ausklang einer Ära waren die Übergänge aber auch hier fließend und so wurden noch bis in die frühen 1960er Jahre Titel veröffentlicht, die - zumal aus gitarristischer Sicht - noch dem Rock and Roll zugerechnet werden können z.B. von Ricky Nelson, Roy Orbison oder einige später dem Surf Rock zugerechnete Titel (Gillet 1980, Reebee 2002).

Territorial wird die Untersuchung auf die Bundesstaaten der USA begrenzt, da Rock and Roll seiner Entstehung nach ein amerikanisches Phänomen darstellt. Nicht-amerikanischer Musik im Stile des frühen Rock and Roll kann zumeist schnell ein direkter amerikanischer Einfluss nachgewiesen werden. So wird der in England ab 1958 kommerziell erfolgreiche Sänger Cliff Richard in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt, weil er insbesondere in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren in den USA nicht einen einzigen Top-Ten oder Top-40-Hit landen konnte und auch aus instrumentenspezifischer Sicht keinerlei Einfluss auf die Entwicklung des Genres in den USA nahm. Auch deutsche Rock and Roll-Interpreten wie Ted Herold, Peter Kraus oder Tommy Kent sind nationale Phänomene, wie sie in Folge der weltweiten Vermarktung des Rock and Roll auch in anderen Ländern entstehen. Sie spielen in der internationalen Wahrnehmung des Genres keine Rolle.

1.1.3 Die E-Gitarre im Rock and Roll

„Rock and Roll was about black music and white rural music finding an audience in white urban teenagers, but the resistance to the guitar in particular was based on class rather than on race prejudice. Rockers like Elvis, Jerry Lee Lewis, and Carl Perkins were viewed – not only in the North – as white trash, and the fact that many of them were playing guitar only added to the evidence that they were no better than hillbillies.“ (Brookes 2005, S. 176)

Instrumentenspezifisch hatte es zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine neuartige Entwicklung gegeben, die präzise datiert werden kann. In den Jahren 1950-52 kamen die ersten klassischen Solidbody-Modelle der Firmen Fender und Gibson auf den Markt und markieren damit den Beginn einer neuen Ära im Gitarrenbau, der weitreichende Folgen haben sollte. Der kalifornische Tüftler und Unternehmer Leo Fender entwickelte mit verschiedenen Geschäftspartnern bereits seit Mitte der 40 Jahre Verstärker und Steel-Gitarren und widmete sich ab 1949 der Entwicklung einer Solidbody-Gitarre (ohne Resonanzraum) mit verschraubten Hals und elektromagnetischem Tonabnehmer. Das Modell Esquire (ab 1950) verfügt über einen einzelnen Single-Coil-Tonabnehmer in Stegposition. Das Nachfolgemodell Telecaster (ab 1951) löst das Vorgängermodell ab und wird bereits serienmäßig mit einem zusätzlichen zweiten Tonabnehmer in Halsposition bestückt. Die neue Gitarre bietet insgesamt drei verschiedene Tonabnehmerkombinationen und wird durch ihren günstigen Preis schnell zu einem sehr großen Verkaufserfolg. Das E-Gitarrenmodell Stratocaster (ab 1954) ergänzt die Fenderproduktpalette bzgl. Komfort und klanglicher Möglichkeiten. Es bietet serienmäßig eine ergonomische Korpusform, drei Single-Coil-Tonabnehmer in Hals-, Mittel-, und Stegposition und ein federgelagertes Vibratosystem unter dem Gitarrensteg. Außerdem befinden sich im Katalog der Firma Fender von Beginn an auch immer Röhrenverstärker, die ideal auf die eigenen Instrumente abgestimmt sind (Smith 1995, Bacon 2001). Das „Les Paul“ genannte Gitarrenmodell der traditionsreichen Firma Gibson ist das Ergebnis einer Kollaboration zwischen Gibson und dem Gitarristen und Technik-Tüftler Les Paul und war eine direkte Reaktion auf den Verkaufserfolg der Telecaster von Fender. Bereits in den Jahren 1945-46 war Paul mit den Plänen einer Solidbody-Gitarre auf die Firma zugekommen, wurde aber zunächst abgewiesen. Ab 1951 wurde dann gemeinsam entwickelt. Mit dem einer Archtop-Gitarre nachempfundenen Korpusform und einem verleimten Hals setze sich die Les Paul (ab 1952) optisch und technisch von den Konkurrenzprodukten aus dem Hause Fender ab. Anfangs wurde die Les Paul mit zwei P-90 Single-Coil-Tonabnehmern bestückt (Steg und Halsposition). Ab 1957 wurden diese durch die nebengeräuschärmeren Humbucker-Tonabnehmer ersetzt. Damit setzte sich die Les Paul auch klanglich noch einmal deutlich von den Fendergitarren ab. Die einfache Bauweise ohne Hohlkörper (und im Falle von Fender mit verschraubten Hälsen) erlaubte erstmals die Massenproduktion im Gitarrenbau und es war somit möglich die Preise der bis dahin gängigen Archtop-Gitarren deutlich zu unterbieten. Durch diese Verbilligung, aber auch durch die technische Möglichkeit der problemlosen Verstärkung wurde die Solidbody-Gitarre innerhalb weniger Jahre mit weitem Abstand zum meistverkauften und populärsten Musikinstrument der USA und zum integralen Bestandteil des sich gerade entwickelnden Musikstils Rock and Roll (Smith 1995, Bacon 2001).

Die neue Entwicklung im Gitarrenbau fällt zusammen mit einer Phase der Umstrukturierung der üblichen Bandbesetzungen. Waren bis zum Ende es zweiten Weltkriegs noch stark besetzte Swing- und Tanzorchester mit verschiedenen Bläsersektionen und Rhythmusgruppe die Regel, wurden die Formationen zum Ende der 1940er Jahre aus Kostengründen oft systematisch ausgedünnt. Zuerst wurden die Instrumentengruppen auf jeweils nur ein Instrument reduziert (z.B. Jump Blues) und schließlich in den 1950er Jahren zum Teil nur noch in Form des Tenorsaxophons eingesetzt. Die klassische Big-Band-Besetzung war Mitte der 1950er Jahre bereits ein Relikt aus der vergangenen Ära des Swing. Abgelöst wurden die alten Bands von kleinen bis kleinsten Besetzungen, von denen einige, wie z.B. im Rockabilly, sogar ohne Schlagzeuger auskamen. Die Sänger agierten zumeist gleichzeitig als Rhythmusgitarristen und wurden zum Teil nur von einem Sologitarristen und einem Kontrabassisten begleitet (Presley, Cash, Perkins). Dies war erst mit der technischen Erneuerung der E-Gitarre möglich geworden. Eine Handvoll Musiker konnte sich bei Auftritten oder Aufnahmen nun mit einem einer Bigband ebenbürtigen klanglichen Volumen präsentieren und dabei den eigenen Sound und die Performance wesentlich spontaner und individueller gestalten. Die beteiligten Musiker spielten zumeist so genannte Head-Arrangements, die üblicherweise im Kollektiv entwickelt und nicht notiert wurden. In diesen kleinen Besetzungen und oft mit einfachen, selbstverfassten Songs hebelten musikalische Amateure in Zusammenarbeit mit einigen unabhängigen Produzenten für kurze Zeit die Dominanz der allmächtigen Orchester, Musikverlage und Major Label aus wobei das Instrument E-Gitarre oft eine entscheidende Rolle spielte. Nicht zufällig bestand die Mehrheit der bedeutenden Musiker des Rock and Roll aus singenden Gitarristen (Prown 1997, Chapman 2000, Bacon 2001, Dawson 2003, 2005).

1.1.4 Sound, Personalstil und Signature-Lick

„Everyone else wanted to be Elvis; I wanted to be Scotty [Moore]“

(Keith Richards zit. in Moore 1997, Umschlagtext)

Anders als z.B. im Bereich der klassischen Musik ist ein hoher Wiedererkennungswert ein primäres Ziel von kommerziell ausgerichteter Populärmusik. Naturgemäß erregt eine gewöhnliche und unoriginelle Musikproduktion in der Masse der Veröffentlichungen weniger Aufmerksamkeit als eine neuartige und eigenständige Produktion und hat damit größere Chancen verkauft zu werden. Dieser Wiedererkennungswert kann durch unterschiedlichste musikalische und außermusikalische Faktoren hervorgerufen werden. Im Rock and Roll der 1950er Jahre hatten durch bedeutende Veränderungen in der Medienlandschaft erstmals auch außermusikalische Faktoren eine große Bedeutung. Die Präsenz in Fernsehsendungen, Kinofilmen und Presseberichten hatte direkten Einfluss auf die Verkaufszahlen von Produkten. Das Management von Presley, Nelson und Cochran wusste durchaus diesen Umstand für sich zu nutzen, während die Karrieren von Künstlern wie Perkins, Vincent oder Lewis durch das Desinteresse oder die bewusste Ablehnung der Medien zu einem frühen Ende führten. Auch wenn von einigen Seiten behauptet wird, dass die Mechanismen Populärmusik in besonderem Maße den marktwirtschaftlichen Prinzipien der kommerziellen Vermarktung unterliegen und einige Phänomene diese These zu unterstützen scheinen (Payola-Skandal), werden im Folgenden die werkimmanenten Faktoren einer näheren Betrachtung unterzogen, die Rock and Roll-Songs einen hohen oder auch geringen musikalischen Wiedererkennungswert verleihen. Zentrale Begriffe sind in diesem Zusammenhang Sound, Personalstil und Signature-Lick, die zwar auf unterschiedlichen Ebenen operieren, aber eng miteinander verknüpft sind (Frith 1978, Wicke 1987/93, Brackett 1995).

Sound

Der Sound einer Aufnahme wird zu einem großen Anteil durch die Klangästhetik und Arbeitweise des jeweiligen Produzenten bestimmt. Bei den kleinen, unabhängigen Ein-Mann-Plattenfirmen der 1950er Jahren wie Sun, Chess, Atlantic oder Imperial waren die Betreiber zumeist A&R, Aufnahmeingenieure und Vertriebsleiter in einer Person. Dadurch waren sie in der interessanten Lage, die eigenen Vorstellungen auf mehreren Produktionsebenen verwirklichen zu können. Die in diesem Umfeld symptomatisch niedrigen Budgets und die Beschränkung der Möglichkeiten durch kleine Räumlichkeiten und altmodische Gerätschaften führte in Kombination mit der technischen Unbedarftheit von Technikern und Musikern zu oftmals erfrischend unkonventionellen Ergebnissen. Üblich war die simultane Live-Aufnahme der Musik in einem Studioraum mit einem oder mehreren Mikrofonen auf Bandmaschine. Anders als bei den großen Firmenstudios, bei denen die gebuchten Sessions zum großen Teil von erfahrenen Studiomusikern und festangestelltem Aufnahmepersonal mit bewährten Standardroutinen nach einem strengen zeitlichen Plan abliefen, wurde bei den unabhängigen Firmen noch während der zeitlich meist unbegrenzten Aufnahme-Sessions sowohl auf Technikerseite, als auch auf Musikerseite ganz bewusst ausgiebig ausprobiert, verändert und verbessert, um einen einzigartigen eigenen Sound zu kreieren. Dabei entstanden über die Jahre zum Teil sehr innovative Verfahren, die zum Markenzeichen des Produzenten und/oder Studios wurden, von anderen Produzenten kopiert und ihrerseits zu erprobten Routinen wurden. Die Arbeit des Produzenten wurde somit zu einem entscheidenden Faktor bei der Erstellung der Aufnahme und manchen eilte durch ihren persönlichen Werkkatalog unter Eingeweihten schon bald ein exzellenter Ruf voraus (Escott 1991, Wicke 1997, Cunningham 1998, Broven 2009).

Herausragendes Beispiel für einen Produzenten mit äußerst eigenständiger Herangehensweise ist Sam Phillips von Sun Records im Memphis (Escott 1991). Er gründete sein Studio im Jahr 1950 und die Plattenfirma Sun im Jahr 1952. In den ersten Jahren nahm er vorwiegend lokale Blues und Rhythm and Blues-Musiker zum Teil für das eigene Label zum Teil im Auftrag für andere Firmen auf. Im Jahr 1954 begann seine zwei-jährige Zusammenarbeit mit Elvis Presley, die sich in fünf Single Veröffentlichungen bis Ende 1955 niederschlug. „’The Sun-Sound’ is still an industry catchphrase, connoting a raw, sparse production, long on feel and short on contrivance.“ (Escott 1991, Preface) Der einzigartige Sun-Sound besteht aus mehreren Komponenten. Wichtigster Bestandteil dürfte die enge und persönliche Zusammenarbeit zwischen dem Produzenten und seinen Künstlern gewesen sein. Phillips lässt seinen Künstlern während der Aufnahmen viel künstlerischen Spielraum und wartet geduldig auf den einen, „magischen“ Take. Aus musikalischer Sicht ist auffällig, dass Phillips sich auf kleinste Besetzungen, oft ohne Schlagzeug und fast immer ohne Bläser spezialisiert. Fast alle seiner Künstler sind junge, musikalische Amateure der Arbeiterschicht, die unter seiner Regie mit traditionellen Mitteln einen unverkünstelten und originellen Stil erschaffen. Einen einheitlichen Sound erhalten Phillips Produktionen durch den Einsatz des sog. Slapback-Delays, einem technischen Trick, der den Aufnahmen dieser kleinen Besetzungen eine zum damaligen Zeitpunkt ungewöhnliche klangliche Breite und räumliche Tiefe verleiht. In diesem von Phillips entwickelten Verfahren wird dem originalen Summensignal mit Hilfe einer zweiten Bandmaschine ein kurzes, technisch erzeugtes Echo hinzugemischt, das die Aufnahme auf einfache Weise größer und markanter erklingen lässt. Dieser Bestandteil des typischen Sun-Sounds ist bei allen seinen Produktionen bis Anfang der 1960er Jahre zu hören. Zu seinem Katalog gehören die frühen Werke von z.B. Elvis Presley, Carl Perkins, Jerry Lee Lewis, Johnny Cash, Charlie Rich, Carl Mann, Roy Orbison (Escott 1991, Cunningham 1998, Sinofsky 2003).

Neben Phillips sind weitere bedeutende Produzenten des Rock and Roll-Ära Leonard und Phil Chess aus Chicago (z.B. für Chuck Berry, Bo Diddley), Dave Bartholomew aus New Orleans (z.B. für Fats Domino), Lee Hazlewood (z.B. für Duane Eddy) und Norman Petty aus Clovis in New Mexico (z.B. für Buddy Holly, Roy Orbison). Sie alle entwickelten in Zusammenarbeit mit ihren Künstlern höchst individuelle Techniken und Vorgehensweisen, die im weiteren Verlauf der Geschichte die Aufgaben des bis dahin nicht existenten Musikproduzenten als Klangdesigner begründen (Escott 1991, Cunningham 1998, Broven 2009).

Personalstil

Auf Seiten des Künstlers gibt es, ähnlich wie auf Produzentenseite, übergreifende Erkennungsmerkmale, die im Folgenden unter dem Begriff Personalstil zusammengefasst werden. Ein solcher Personalstil kann sich in einer Vielzahl möglicher Parameter niederschlagen und ergibt in der Summe seiner Teile ein individuelles Abbild der kontinuierlich gepflegten Eigenheiten eines Künstlers, das ihn deutlich erkennbar von anderen seines Fachs unterscheidet. Einige der wichtigsten musikalischen Bestandteile eines Personalstils im Genre Rock and Roll sind der Gesangsstil des Sängers, charakteristische instrumentale bzw. solistische Einlagen, instrumentale Besetzung der Begleitband und Songauswahl bzw. Songwriting.

Die populäre, amerikanische Unterhaltungsmusik wurde seit etwa den 1930er Jahren von dem sanft-weichen so genannten „Crooning“ im Stil von Bing Cosby, Frank Sinatra, Nat King Cole oder Dean Martin bestimmt. Der hochenergetische Gesangsstil der Sänger des Rock and Roll unterscheidet sich deutlich von dieser traditionellen Gesangsästhetik ihrer Zeitgenossen.

Die feine und souveräne Coolness des Crooning wird im Rock and Roll ersetzt durch ein emotionales und nervöses Shouting, das zusätzlich mit ungewöhnlichen Artefakten angereichert wird. Für die Unterkategorie des Rockabilly, von dem viele solcher Artefakte in den Mainstream übergehen sollten, schreibt Morrison: „The characteristic vocal, however, is full of passionate emotion (real or stimulated) and eccentricities: raspiness, exaggerated enunciation, added and deleted words and syllables, hiccuping, melisma, feathering and falsetto, interjections, and melodic distortions.“ (Morrison 1998, S.16). Als erster Wegbereiter dieses neuen Stils gilt Johnnie Ray, der in seinen Shows, von der eigenen Emotionalität ergriffen, oft weinend zusammenbrach (Shaw 1978). Sehr treffend wird er oft beschrieben als „the man who made Elvis Presley possible“ (Dellar 1996). In Presleys frühen Aufnahmen für Sun Records manifestieren sich die oben erwähnten Manierismen dann in einer bis dahin nicht gekannten Dichte und beeinflussen nachweislich stark den Gesangsstil von nachfolgenden Rock and Roll-Sängern wie Carl Perkins, Buddy Holly, Gene Vincent oder Eddie Cochran (Morrison 1998).

Neben der gesanglichen Leistung ist ein charakteristisches Merkmal des Rock and Roll, dass einem Sänger fast ausnahmslos auch ein markanter instrumentaler Gegenpart gegenüber steht. Es gibt die klassischen Gesangs/Solisten-Paarungen wie Presley/Moore, Vincent/Gallup oder Nelson/Burton, auf der anderen Seite aber auch Künstler, die diese Aufgabe in Personalunion leisten wie Chuck Berry, Carl Perkins, Jerry Lee Lewis, Buddy Holly oder Eddie Cochran. In beiden Konstellationen manifestiert sich im vokal-instrumentalen Zusammenspiel im Idealfall ein wiedererkennbarer musikalischer Stil. Gerade bei den Paarungen ist deutlich zu erkennen, dass mit dem Ende einer Zusammenarbeit mit markanten Instrumentalisten für die Sänger meist auch die kreative Phase der Künstlerkarriere zu Ende ging (Hawkins, Mann, Vincent, Nelson) und fortan bestenfalls die kommerzielle Verwertung zurückliegender musikalischer Leistungen in der Vordergrund rückte.

Die instrumentale Besetzung ist ein weiteres, konstituierendes Merkmal eines Personalstils. Von Vorteil sind hier ungewöhnliche sich vom musikalischen Mainstream deutlich unterscheidende Besetzungen. Solche Unterschiede können sich sowohl in der Stärke der Besetzung als auch in der Art der Instrumentierung in Begleitung oder instrumentalen Passagen niederschlagen. Den in der populären amerikanischen Unterhaltungsmusik bis dahin üblichen großen Besetzungen mit Big Band, Streichern und Chor wurden im Rock and Roll kleine Besetzungen (Trio, Quartett) gegenübergestellt, die meist ohne Bläsersektion und - abgesehen vom Doo-Wop - fast immer ohne Backgroundgesänge angelegt waren und auf diese Weise sowohl den Sänger als auch den Solisten prominent exponierten. Einige besonders markante Besetzungen seien hier genannt:

- Elvis Presley (1954-57): Elvis Presley (Gesang, Gitarre), Bill Black (Kontrabass), Scotty Moore (E-Gitarre), ab 1955: D.J. Fontana (Schlagzeug)

- Carl Perkins (1955): Carl Perkins (Gesang, Gitarre), Jay Perkins (Gitarre), Clayton Perkins (Kontrabass), W.S. „Fluke“ Holland (Schlagzeug)

- Jerry Lee Lewis (1956/57): Jerry Lee Lewis (Gesang, Piano), Roland Janes (E-Gitarre), J.M. Van Eaton (Schlagzeug)

- Buddy Holly & The Crickets: Buddy Holly (Gesang, Gitarre), Niki Sullivan (Gitarre), Joe B. Mauldin (Bass), Fred Below (Schlagzeug)

- Chuck Berry (1955): Chuck Berry (Gesang, Gitarre), Johnny Johnson (Piano), Willie Dixon (Kontrabass), Jasper Thomas (Schlagzeug)

Auch wenn aus heutiger Sicht im Pop/Rock einige der oben genannten Besetzungen die Norm darstellen, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in den 1950er Jahren in der populären Musik eine Ausnahme darstellten. Das klassische Quartett (Gitarre, Gitarre, Bass, Schlagzeug) wurde erst mit dem internationalen Erfolg der Beatles zur Pop/Rock-Standardbesetzung, das sogenannte Powertrio (Gitarre, Bass, Schlagzeug) erst mit dem Erfolg der Jimi Hendrix Experience im Jahr 1967 (Chapman 2003).

Die Songauswahl bzw. das Songwriting soll hier als letztes wesentliches stilbildendes Element betrachtet werden. Eine Besonderheit des Rock and Roll ist, dass im Gegensatz zur damals gängigen Praxis der populären Unterhaltungsmusik die Protagonisten ihr Songmaterial aus ungewöhnlichen Quellen bezogen oder komplett selbst verfassten. Während Bill Haley, Elvis Presley oder Jerry Lee Lewis vorzugsweise bereits existierende Rhythm and Blues oder Country and Western-Songs übernahmen und diese in ihrer Interpretation in ein neues Genre überführten, so verfassten Künstler wie Chuck Berry, Carl Perkins, Johnny Cash, Roy Orbison sowohl Text als auch Musik komplett in Eigenregie. Musiker wie Little Richard, Buddy Holly, Gene Vincent oder Eddie Cochran haben immerhin Teile ihres kommerziell erfolgreichen Repertoires selbst verfasst. Die Songauswahl bzw. das Songwriting des Rock and Roll zeichnet sich im Allgemeinen nicht durch besonders innovative Akkordverbindungen oder neuartige melodische Ideen aus. Diese sind deutlich den bereits existierenden Stilistiken Rhythm and Blues, Country and Western und Gospel entlehnt. Was neben der extrovertierten Präsentation aber erfrischend neu wirkt, sind die unprätentiösen, oft lustigen und dabei einfach gehaltenen Texte; ein Umstand, der der unverbildeten, naiven und zum Teil, im positiven Sinne, amateurhaften Herangehensweise der Schreiber geschuldet sein dürfte. Die Texte, die von meist jungen Schreibern direkt an eine jugendliche Zuhörerschaft gerichtet sind, befassen sich mit einigen typischen Themen der amerikanischen Jugend der 1950er Jahre und haben immer wieder Nonsens-artige Anteile, die gerade wegen ihrer offensichtlichen Sinnfreiheit auffallen. Dabei etablieren sie Floskeln bzw. fiktive Charaktere, die im weiteren Verlauf in den popkulturellen Mainstream übernommen und auch in Songtexten nachfolgender Genres aufgegriffen werden. Beispiele populärer Nonsens-Textteile sind z.B. „Awopbobaloobopalopbamboom“ (in „Tutti Frutti“), „Ready Teddy, go, man, go“ (in „Ready Teddy“), „One for the money, two for the show, three to get ready, now go, man, go“ (in „Blue Suede Shoes“), „Roll over Beethoven“ (in „Roll over Beethoven“) oder „Bebopalula“ (in „Bebopalula“). Populäre fiktive Charaktere aus Rock and Roll-Songs sind z.B. Long Tall Sally, Miss Molly, Peggy Sue, Mary Lou, Lollipop, Skinny Jim, Sweet Little Sixteen, Charlie Brown, Spider Murphy oder Skinny Minnie.

Signature-Lick

Der englische Begriff „Lick“ bezeichnet eine kurze, melodische Phrase innerhalb eines instrumentalen Abschnitts eines Musikstückes.

„In popular music genres such as rock music, a lick is ‚a stock pattern or phrase’ (Middleton 1990) consisting of a short phrase, or series of notes that is used in solos and melodic lines. The term is most often used by rock musicians who play the guitar. […]

A lick is different from the related concept of a riff in that riffs can also include repeated chord progressions. Licks are usually associated with single-note melodic lines rather than chord progressions. However, like riffs, licks can be used as the basis of an entire song. […]“ (Wikipedia 2010, Artikel: lick (music))

Trotz seiner relativen Kürze kann ein gut eingesetzter Lick die Eingängigkeit und den Charakter eines auf etwa 3 Minuten angelegten Popsongs entscheidend prägen. Wenn ein Lick so typisch ist, dass er von erfahrenen Hörern einem bestimmten Instrumentalisten zugeordnet werden kann, wird er zum sogenannten Signature-Lick, der ähnlich wie bei einer Unterschrift (engl.: signature) eine unverkennbare Zeichnung oder Prägung aufweist. Für improvisierende Instrumentalisten der Stilrichtungen Jazz, Blues, Rock und Pop und im besonderen Maße für Gitarristen ist das systematische Erlernen solcher Licks und Signature-Licks ein Teilbereich der täglichen Überoutine, weil damit kleinste sinnvolle musikalische Bausteine gesammelt werden können (Berliner 1994). Nicht ohne Grund erscheint bei dem amerikanischen Verlag Hal Leonard seit vielen Jahren mit großem Erfolg die Serie „Guitar Signature Licks“ mit dem Untertitel „A Step-by-step Breakdown of the Guitar Styles and Techniques of […]“ (z.B. Rubin 2001). Jeder erfahrene Gitarrist verfügt über eine eigene, sogenannte „Bag of Licks“. Das ist ein Fundus aus selbst entwickelten, direkt von anderen Spielern übernommenen oder weiterentwickelten Varianten angeeigneter Licks. Bei freien, solistischen Passagen ist auch der Einsatz allgemein bekannter, klassischer Licks als bewusstes musikalisches Zitat verbreitet. Einerseits als Referenz gegenüber den eigenen Vorbildern, anderseits aber auch mit dem Hintergedanken den souveränen Umgang mit verschiedenen stil-spezifischen Traditionen in der musikalischen Praxis spielerisch unter Beweis zu stellen. Zur Veranschaulichung werden im folgenden drei Beispiele klassischer Rock and Roll-Licks dargestellt. Das folgende Notenbeispiel zeigt den eintaktigen Begleitlick von Presleys letzter Sun-Single „ Mystery Train“, eingespielt von Scotty Moore in seinem typischen, reduzierten Fingerpicking-Stil.

Nbsp. 1: Elvis Presley: „Mystery Train“ (1955)

Das zweite Notenbeispiel zeigt das zweitaktige Intro zu „That’ll be the day“ von Buddy Holly, ein simpler, aber effektiver Bluesabgang, der in den Akkord B7-Dur (V. Stufe) mündet und am Ende des Gitarrensolos ein zweites Mal eingesetzt wird.

Nbsp 2: Buddy Holly: „That’ll be the day“ (1957)

Das letzte Notenbeispiel zeigt die auch über die Stilistik Rock and Roll hinaus klassisch zu nennende Introduktion zu „Johnny B. Goode“. Der weitere Verlauf des Intros, die Chorus-Fills, das zweimal 12-taktige Gitarrensolo und selbst die einfache Gitarrenbegleitung des Songs machen jedes Detail dieser Aufnahme zu einer denkwürdigen Lehrstunde zum Thema Rock and Roll-Gitarre. Dies belegen zahlreiche Coverversionen prominenter Musikerpersönlichkeiten (u.a. Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Jimi Hendrix, Johnny Winter und Peter Tosh) und andere Verweise innerhalb der Popkultur (Soundtrack von American Graffiti, 1973; Schlüsselszene des Films „Back to the Future“, 1985).

Nbsp. 3: Chuck Berry: „Johnny B. Goode“ (1958)

Neben den Begriffen Lick und Signature-Lick ist beim Umgang mit kurzen, musikalischen Motiven im Pop-, Rock-, oder Jazz-Kontext auch der Begriff Riff gebräuchlich. Beim Riff handelt es sich um eine „in Jazz und Rock verbreitete Technik, gekennzeichnet durch ständige (ostinate) Wiederholung einer zwei- oder viertaktigen Melodiefigur. Der Riff bleibt auch bei Harmoniewechsel weitgehend unverändert [und] wird häufig als Background für einen […] Solisten verwendet […]“ (Wicke 1997, S. 433). Der Riff unterscheidet sich vom Lick bzw. Signature-Lick durch seinen repititiven und begleitenden Charakter und seine relative Kürze, die ein Riff einerseits einprägsam, für eine Interpretation charakteristisch und den dynamischen Verlauf entscheidend machen können. Auf der anderen Seite hat ein Riff durch sein Auftreten als Unisono- bzw. Ensemble-Stimme nur selten solistische Funktion und ist durch seine kompakte und aus musikalischer Sicht meist universelle, aber einfache Struktur nur selten besonders individuell oder charakteristisch für einen Personalstil (Beispiel für eine Ausnahme wäre z.B. das zweite Solo von „Rock around the clock“ von Bill Haley and His Comets). In der Praxis ist die Trennlinie zwischen den Begriffen Riff und Lick bzw. Signature-Lick manchmal unscharf und stehen sich nicht etwa unvereinbar gegenüber. Ein Beispiel aus der Ära des Rock and Roll, auf das beide Begriffe zutreffend angewendet werden könnten, ist das Begleitriff und gleichzeitig unverkennbare Signature-Lick von „Susie Q“ in der Version von Dale Hawkins mit James Burton an der Gitarre.

Nbsp. 4: Intro - „Susie Q“ (Dale Hawkins, 1957)

Sowohl einfache Licks als auch die mit einer bestimmten Person assoziierten speziellen Signature-Licks entstammen meist einer oder mehrerer bereits bestehender Spieltraditionen und erhalten durch eine zusätzliche Besonderheit des Spielers einen individuellen und damit unverwechselbaren Charakter. Die musik-etymologische Herkunft und originäre Besonderheit solcher Licks zu bestimmen, wird Inhalt des dritten Teils dieser Arbeit sein. Vorausgeschickt werden darf an dieser Stelle, dass die Zeichnung einer Signatur sich auf verschiedensten Ebenen manifestiert und eine nähere Bestimmung daher über die gängigen musikanalytischen Parameter wie Melodieführung, zugrundeliegende Harmonik und Rhythmik hinausgehen wird.

Eine grundsätzliche Prämisse dieser Arbeit ist, dass musikalische Stilrichtungen, Personalstile oder andere charakteristische Merkmale eines Genres wie instrumentale Licks oder Signature-Licks nicht aus dem Nichts entstehen. Vielmehr sind diese, zu einem bestimmten Zeitpunkt von Zeitgenossen als neuartig empfundenen, klanglichen Manifestationen grundsätzlich Ergebnisse langwieriger, komplexer und zum Teil unbewusst ablaufender Entwicklungsprozesse. Dieser Umstand lässt sich damit begründen, dass kein Mensch ohne sozio-kulturellen Kontext aufwächst, sondern spätestens ab der eigenen Geburt mit den determinierenden Bedingungen seiner Zeit, seines Wohnorts, der Gesellschaft, seiner Familie, Freunde usw. konfrontiert ist. Egal ob dem Einzelnen die musikalischen Gepflogenheiten, Hörgewohnheiten oder spielerischen Traditionen später gefallen oder nicht so sind sie doch für die ersten Jahre eines Menschenlebens fundamentale und somit in höchstem Maße konstituierende Bedingungen. Auch eine später eventuelle radikale Abkehr von solchen eigenen kulturellen Wurzeln ist trotzdem dem intuitiven Wissen um sie geschuldet (Gembris 1998). Ausgehend von dieser Überlegung erscheint es interessant, die Herkunft eines eng gefassten musikalischen Genres und die Bezüge innerhalb dieses Genres zu erforschen. Diese Aufgabe kann aus verschiedenen investigativen Richtungen angegangen werden. Ist das Forschungsobjekt an eine bestimmte Person gebunden, wird dabei die regionale Herkunft des Urhebers, die Umstände seiner kulturellen Sozialisation, sein Zugang zu Lehrern, Mentoren oder musikalischen Vorbildern eine Rolle spielen.

Für eine solche Betrachtung ist es erforderlich, ein Grundwissen von den populären amerikanischen Gitarrenspielweisen aus der Zeit vor den ersten kommerziellen Erfolgen des Genres Rock and Roll zu haben. Die aus gitarristischer Sicht fundamentalen und allgemein bekannten Spielweisen der Jahre von etwa 1930 bis etwa 1950 werden im Folgenden anhand von repräsentativen Beispielen mit Erläuterungen dargestellt (Sokolow 1998, Rubin 2005).

1.1.5 Nordamerikanische Spieltraditionen der Gitarre (ca. 1930-1950)

„I can’t think of single western [movie] in which a song sung to a piano means a damn thing.“ (Brookes 2005, S. 144)

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind auf dem Territorium der USA einige essentielle gitarristische Spieltraditionen entstanden, die im Folgenden kurz beschrieben werden sollen. Die große Popularität der Gitarre in der nord-amerikanischen Musik ab den 1920er Jahren hängt aus musikhistorischer Sicht eng zusammen mit einigen Innovationen im Gitarrenbau und dem Wechsel der Bespannung von Darmsaiten zu den lauteren, verstimmungsfreieren und brillianter klingenden Stahlsaiten (bei Martin Guitars ab ca. 1921). Hiermit beginnt die Abkehr vom viersaitigen Tenorbanjo als dem Standard-Akkordinstrument in den populären Stilen Dixieland, Swing und Folk hin zur sechssaitigen, akustischen Gitarre als dem neuen Standard (Schwab 1998). In den 1930er Jahren entstehen in Folge dieses Wandels einige einflussreiche und fundamentale Spielweisen, die das nordamerikanische Gitarrenspiel über Jahrzehnte prägen werden. Im Allgemeinen wird jede dieser Spielweisen mit jeweils einem prominenten Vertreter in Verbindung gebracht und einige sind in Folge dessen nach eben diesen Repräsentanten benannt.

American Folk: Carter Style (Carter Scratch)

Die Sängerin und Gitarristin Maybelle Carter (1909-1978) spielt bei den ersten Aufnahmen der Carter Family im Mai 1928 bzw. Februar 1929 erstmals im später sogenannten Carter Style oder Carter Scratch. Die Spielweise kann in begleitendes und solitisches Spiel unterteilt werden. Während der Gesangsbegleitung werden einzelne Basssaiten mit einem aufgesteckten Daumenpick gespielt (meist Grundton auf Zählzeit 1, Quinte auf Zählzeit 3) und auf den Diskantsaiten mit Zeige- und/oder Mittelfinger der rechten Hand im Strummingstil (auf Zählzeiten 2 u. 4) begleitet.

Nbsp. 5: Einfache Begleitung im Carter-Stil

Mitunter wurde diese einfache Begleitung mit einem zusätzlichen Aufwärtsanschlag in der rechten Hand zu einer durchlaufenden Achtelfigur verdichtet:

Nbsp. 6: Einfache Begleitung (Variation) im Carter-Stil

Das solistische Spiel wird in dieser Spielweise bei Intros, Zwischenspielen, Soli und Endings eingesetzt. Dabei werden einstimmige Bassläufe oder Melodieteile auf den tiefen Saiten der Gitarre gespielt und - wie bei der Begleitung - auf den oberen Diskantsaiten komplementär mit Akkordfragmenten begleitet. Durch die Vorgabe der Melodie (oft die Strophen- oder Chorusmelodie des Songs) werden die strengen Formeln der Begleitung aufgebrochen. Als Beispiel im Folgenden das Intro zu dem Carter Signature-Song „Keep on the sunny side“ von 1928, der über Jahre ihre charakteristische Erkennungsmelodie bei Konzerten und Radioshows war (Sokolow 1999).

Nbsp. 7: Intro - „Keep on the Sunny side“ (Carter Family, 1928)

Über Maybelle Carters Beitrag zur Entwicklung stilcharakteristischer Spielweisen der Gitarre in Nordamerika schreibt Sokolow:

„Maybelle Carter is a giant influence in country guitar. […] The Carter Scratch is still a fundamental country guitar style, although most guitarists use a flatpick to approximate Maybelle’s sound, and they play in the other first positions keys (E, A, D and G) as well as in Maybelle’s favourite, C. […] For a down-to-earth country sound, you can’t beat the Carter Scratch.“ (Sokolow 1999, S. 14)

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ergänzt:

„As important to country music as the family‘s repertoire of songs was Maybelle‘s guitar playing. […] While Maybelle did use a flatpick on occasion, her major method of guitar playing was the use of her thumb (with a thumbpick) along with one or two fingers. What her guitar style accomplished was to allow her to play melody lines (on the low strings of the guitar) while still maintaining rhythm using her fingers, brushing across the higher strings. Before the Carter family‘s recordings, the guitar was rarely used as a lead or solo instrument among white musicians. Maybelle‘s interweaving of a melodic line on the bass strings with intermittent strums is now a staple of steel string guitar technique. Flatpickers such as Doc Watson, Clarence White and Norman Blake took flatpicking to a higher technical level, but all acknowledge Maybelle‘s playing as their inspiration.“ (Wikipedia 2010, Artikel: Carter Family)

Country Blues: Robert Johnson

Für die gitarristische Spielweise im akustischen Country Blues wird im Folgenden der Sänger und Gitarrist Robert Johnson (1911-1938) näher betrachtet. Obwohl ihm zu Lebzeiten kein bedeutender kommerzieller Erfolg beschieden war, gilt sein Gitarrenspiel heute als außerordentlich repräsentativ für den Stil des amerikanischen Country Blues gegen Ende der 1930er Jahre (Wald 2004). Zudem ist sein Werk aufgrund der ingesamt lediglich 29 Einspielungen übersichtlich und - wegen der großen Bedeutung, die Johnson auf die Vertreter des British Blues Rock (Rolling Stones, Eric Clapton, Peter Green) hatte - außerordentlich gut dokumentiert und aufgearbeitet (z.B. Hal Leonard 1992, 1999). Johnsons Gitarrenspiel umfasste Besonderheiten wie verschiedene offene Stimmungen, Einsatz des Kapodasters, Slide/Bottleneckspiel, Flagolettes und Fingerstylespiel. Im Folgenden ist eine vergleichweise einfache Begleitung des Bluesstandards „Sweet Home Chicago“ (1937) in Standardstimmung in Noten und Tabulatur dargestellt. Johnson spielt und singt in der im Gitarrenblues weit verbreiteten Tonart E-Dur bei einem Tempo von ca. 94 bpm.

Nbsp. 8: Sweet Home Chicago (Robert Johnson, 1937)

Im Gegensatz zu einigen seiner anderen Einspielungen hält Johnson hier die Harmonie- und Taktfolge des einfachen 12-taktigen Bluesschemas mit einem sog. Quickchange auf die IV. Stufe (Takt 2) präzise ein. Die Begleitung ist triolisch rhythmisiert und lässt sich in zwei Ebenen unterteilen. Auf den drei tiefsten Saiten der Gitarre läuft eine formalhafte Begleitung mit dem Grundton in Achtel-Notenwerten und einem Wechsel von Quinte auf große Sexte darüber (B-C#-B-C#). Auf der IV. Stufe (A-Dur) wird der Wechsel um die kleine Septime erweitert (E-F#-G-F#). Die herausragende Besonderheit dieser Passage, die auch in anderen Johnson-Einspielungen auftaucht (z.B.: „I believe I’ll dust my broom“, 1937) erklärt Wald folgendermaßen:

„It is hard for us now to tell what was so revolutionary about this song at the time it was recorded. The song‘s boogie bassline has now completely passed into the standard guitar repertoire, but at the time it would have been nearly brand new, a guitarist‘s version of something people would only ever have heard on a piano.“ (Wald 2004, S. 136)

Zusätzlich zu dieser rhythmisierten Begleitformel setzt Johnson auf Zählzeit 1 die sukzessiv gespielte Sexte (G-E) ein und bringt damit auf einer zweiten Ebene ein ganztaktig ausklingendes Klangostinato ins Spiel. In der letzten Zeile (Takt 9-12) gibt Johnson diese Spielweise auf und wechselt nach der V. Stufe (B-Dur) in eine dreitaktige in jeder Strophe wiederkehrende Turnaround-Formel, die über einen chromatischen Abgang über den Septimakkord (E7) in die V. Stufe führt. Besonders diese überlegt gesetzten letzten drei Takte des Beispiels sind neben der vermutlich von Boogie-Piano-Einspielungen übernommenen Begleitformel ein charakteristisches Merkmal von Robert Johnsons Spielstil.

Fingerstyle: Travis-Picking & Chet Atkins-Picking

Das Travis-Picking ist eine Weiterentwicklung eines traditionellen, regionalen Gitarrenstils aus dem westlichen Teil des US-Bundesstaates Kentucky. Die Aufgaben der rechten Hand werden dabei zweigeteilt. Während der Daumen auf die vollen Zählzeiten ein geerdetes Fundament mit einem formelhaften Wechsel zwischen Bass und Akkordfragmenten auf den unteren Saiten liefert, spielt der Zeigefinger darüber die einstimmigen und oft synkopierten Melodien. Merle Travis (1917-1983), der zum Namenspatron dieses besonderen Fingerpicking-Stils avancierte, erlernte diese Spielweise in Grundzügen von Mose Rager und Ike Everly (dem Vater der später berühmten Everly Brüder) und erregte ab 1937/38 als Gitarrist von verschiedenen Radioshows unter Gitarristen einiges Aufsehen.

„His trademark mature style incorporated elements from ragtime, blues, boogie, jazz and Western swing, and was marked by rich chord progressions, harmonics, slides and bends, occasional blows on the soundboard, and rapid changes of keys. He could shift quickly from finger-picking to flatpicking in the midst of a number by gripping his thumb pick like a flat pick. In his hands, the guitar resembled a full band.“ (Wikipedia 2010, Artikel: Merle Travis)

Als Beispiel im Folgenden eine standardisierte Darstellung der ersten beiden Formteile aus dem Travis-Signature-Song „Cannonball Rag“. Das Stück war jahrelang eine charakteristische Erkennungsmelodie bei Konzerten und Radioshows, liegt in verschiedenen Einspielungen vor (z.B. 1952, 1968, 1978) und wurde in Varianten auch unter Titeln wie z.B. „Cannon Ball Rag“, „Cannonball Stomp“, „Cannonball“ oder „Cannon“ veröffentlicht (Bresh 2004). Einige für Travis besonders charakteristische Spielweisen werden in sämtlichen Einspielungen idealtypisch eingesetzt, so z.B. die Kombination aus Wechselbassspiel im Daumen der rechten Hand und Melodie im Zeigefinger, mit dem Handballen abgedämpfte Basstöne, perkussive Effekte, Einsatz erweiterter vier- und fünfstimmiger Akkorde, Lagenspiel über das gesamte Griffbrett, Einsatz von Chromatik und Dominantketten.

Nbsp. 9: Cannonball Rag (Merle Travis, 1952)

Als direkter Nachfolger und einflussreicher Weiterentwickler des Travis Picking gilt der erfolgreiche Country-Gitarrist und Produzent Chet Atkins (1924-2001), der diesen Stil zu neuen virtuosen Höhen führte. Bezüglich der Unterschiede zwischen den Spielstilen von Travis und Atkins sagt der Gitarrist und Travis-Sohn Thom Bresh:

„The Merle Travis-Style is very, very different than Chet Atkins even though Chet took the Travis-Style another step. […] Chet articulates very clean, hitting one string and mute it. Travis didn’t do that. He would take that thumb […] and he would hit both of these strings and strumm it but mute it. […] He just grabbed something and played it just for the rhythm. So you got that real sort of a tight rhythm.“ (DVD: Bresh 2004)

Um die charakteristischen Unterschiede der beiden verwandten Spielstile und die obige Aussage von Bresh zu veranschaulichen, werden im Folgenden jeweils ein einfaches Begleitpicking im Stil von Travis und Atkins ohne melodische Anteile einander gegenübergestellt.

Nbsp. 10: Begleitung im Travis-Stil

Travis spielt in der Akkordfolge konsequent das Saitenpaar 5 und 6 auf die Zählzeiten 1 und 3 und das Saitenpaar 3 und 4 auf die Zählzeiten 2 und 4. Durch die mechanische Gleichförmigkeit im Daumen der rechten Hand wird sein Anschlag dadurch sehr kraftvoll und perkussiv. Falls sich im Akkordvoicing auf der tiefsten Saite nicht der Grundton befindet, spielt er stattdessen wie im vorliegenden Fall die Quinte des Akkordes. Daher ergeben sich in der Akkordnotierung oftmals sogenannte Slashakkorde mit einem vom Grundton abweichenden, tiefsten Ton. Bei Travis entsteht durch die Verwendung von zwei Registern zwar eine Zweiteilung in der Begleitung, aber kein deutlich hörbarer, konsequenter Wechselbass wie z.B. beim Carter Scratch oder eben dem Spiel von Chet Atkins, das mit dem folgenden Beispiel illustriert werden soll.

Nbsp. 11: Begleitung im Atkins-Stil

Bei Atkins entstehen durch die saubere Trennung der Stimmen ein konsequenter Wechselbass und komplimentäre Akkordklänge auf die Zählzeiten 2 und 4. Das erinnert an den rhythmischen Aufbau der virtuosen Stride Piano-Technik der 1920er Jahre. Sein Spiel wirkt im Gegensatz zu Travis vielschichtig und gleichzeitig klanglich aufgeräumt. Dieses filigrane satz- und spieltechnische Prinzip hält er auch bei größer angelegten musikalischen Arrangements weitgehend durch. Beispielhaft für sein umfangreiches musikalisches Werk wird hier seine Einspielung des Popsongs „Mister Sandman“ vorgestellt. Atkins hat den Song, der im Original von einem weiblichen Gesangsquartett (The Chordettes, 1954) stammt, selbst für Gitarre gesetzt und stellte damit bereits am Anfang seiner musikalischen Karriere sein gitarristisches und satztechnisches Können (mehrere Modulationen im kompletten Stück, Spiel bis in höchste Gitarrenlagen, eigens entwickelte Spieltechniken mit vier Fingern der rechten Hand) und die bis dahin noch wenig erforschten klanglichen Möglichkeiten der Gitarre (mehrstimmiges, solistisches Spiel, Vibrato-Hebel) einer breiten Öffentlichkeit vor (DeCurtis 1992, Sokolow 2000, Bresh 2004).


Nbsp. 12: Intro & Thema - „Mister Sandman“ (Chet Atkins, 1954)

Swing: Charlie Christian-Style

Charlie Christian (1916-1942) war als Mitglied des Benny Goodman Ensembles von 1939-1941 einer der ersten und einflussreichsten E-Gitarristen Nordamerikas. Durch die elektrische Verstärkung (‚horn-like’) und Christians kreatives Single-Note-Spiel in mittleren und hohen Lagen wird die E-Gitarre bei ihm zum gleichberechtigten Soloinstrument neben Klarinette, Saxophon und Trompete (Schütze 2003). Außerdem gehören Christians Improvisationen in Minton’s Playhouse aus dem Jahr 1941 zu den raren Tondokumenten aus der Übergangsphase vom Swing zum Bebop. Obwohl sein Spielstil stark vom Blues und dem Denken in sogenannten Shapes (dt.: ‚Griffbildmuster’) geprägt ist, sind seine für den damaligen Zeitpunkt zum Teil vergleichsweise lang angelegten Improvisationen immer sehr flüssig und gelten durch den Einsatz von Chromatik und Alterationen als melodisch sehr innovativ. Während der Übergangsphase des Jazz von Unterhaltungsmusik zur Kunstmusik begründet Christian mit seinem Spiel die Gitarre als Soloinstrument und beeinflusst damit viele nachfolgende Gitarristen auch weit über die Stilistik des Jazz hinaus (Schwab 1998). Als Beispiel für den Spielstil Charlie Christians folgt eine Transkription des Gitarrensolos der populären Einspielung „Flying Home“ (1939) des Benny Goodman Ensembles. Die Einspielung beinhaltet mit Christians 32-taktigen Solo seine erste dokumentierte Aufnahme und machte ihn in unmittelbarer Folge als E-Gitarristen national bekannt. Sein oben beschriebener, originärer solistischer Stil ist hier bereits voll entwickelt und schlägt sich in variantenreichen Bluesriffs (Takt 1-16 und 25-32) und flüssigen Singlenote-Linien mit arpeggierten, chromatischen und alterierten Anteilen (Takt 17-24) nieder.

Nbsp. 13: Gitarrensolo - „Flying Home“ (Charlie Christian, 1939)

Electric Blues: T-Bone Walker Style

Eine ähnliche pionierhafte Rolle wie Charlie Christian im Bereich Swing und frühem Bebop gebührt dem Gitarristen Aaron ‚T-Bone’ Walker (1910-1975) für seine Leistungen im Bereich des Jump Blues bzw. Rhythm and Blues. Ab Mitte der 1940er Jahre setzte er mit seinen Aufnahmen bei Capitol und Black and White Records neue Standards für die Begleitung und den solistischen Einsatz der elektrischen Bluesgitarre („Call it stormy Monday“ 1948, „T-Bone Shuffle“ 1949).

„It took Walker to exploit electricity. By using his amplifier‘s volume control to sustain pitches, and combining this technique with the single string-bending and finger vibrato practiced by traditional bluesmen, Walker in effect invented a new instrument. He was able to reproduce both the linear urgency of jazz saxophonists and the convoluted cry of blues and gospel songers. In addition, he developed a chordal style on fast numbers, a pumping guitar shuffle that led eventually to the archetypal rock & roll guitar style of Chuck Berry.“ (Palmer in DeCurtis 1992, S. 9)

Der eigentlich als Tänzer und Sänger ins Showgeschäft gekommene Walker erregt über die rein musikalische Leistung hinaus Aufsehen durch seine für die damalige Zeit spektakulären Showeinlagen. Während seiner Auftritte spielt er seine Gitarre im Spagat, im Liegen, auf dem Rücken oder mit den Zähnen. Elemente dieser vaudeville-artigen und stark auf visuellen Effekt ausgelegten, so genannten „stage antics“ finden sich wieder im Repertoire einiger nachfolgender Rock and Roller (z.B.: ‚Duck Walk’ von Chuck Berry, provokative Spielhaltungen am Klavier bei Little Richard oder Jerry Lee Lewis), später auch bei den Showeinlagen von Jimi Hendrix, den zerstörerischen Eruptionen von Pete Towneshend oder den choreographierten Auftritten von Steve Vai (DeCurtis 1992, Robillard 2003). Als Beispiel für den Spielstil T-Bone Walkers folgt eine Transkription des Gitarrensolos der selbstreferentiell betitelten Einspielung „T-Bone Shuffle“ (1949). Sein oben beschriebener, solistischer Stil ist in dem 24-taktigen Gitarrensolo bereits voll entwickelt und schlägt sich nieder in variantenreichen Bluesriffs inklusive der für Walker charakteristischen Merkmale: Spiel in einer Lage (III), Bending auf den Saiten 2 u. 3 („one-note guitar lick“) und Repeating-Licks (Takt 13-15). Der Aufbau der Melodik und der Phrasierung im Gitarrensolo setzt sich aus improvisatorisch kombinierten, bereits bestehenden Motiven, Phrasen und Licks zusammen, die in auffällig ähnlicher Form auch in anderen Walker-Einspielungen wie „It’s a low down dirty deal“ (1949) oder „Alimony Blues“ (1951) zu finden sind.

Nbsp. 14: Gitarrensolo - „T-Bone Shuffle“ (T-Bone Walker, 1949)

1.2 Problemstellung

Für den weiteren Verlauf der Arbeit bestehen drei Aufgabenkomplexe, deren jeweilige Problematik vor dem nächsten Arbeitschritt im Folgenden kurz dargestellt werden soll.

1.2.1 Erstellung einer Auswahl stilprägender Einspielungen

Der Musikstil Rock and Roll wurde unter 1.1.1 und 1.1.2 begrifflich, zeitlich und territorial eingegrenzt. Bei der Suche nach den stilprägendsten und einflussreichsten Instrumentalsparts dieser Ära stößt man auf fundamentale Fragen: Welches sind die stilprägenden und einflussreichen Werke der Ära? Was ist unter Stilprägung und Einfluss zu verstehen? Können diese Faktoren nachvollziehbar ermittelt und dargestellt werden? Was genau ist in diesem Zusammenhang ein Werk? Wie kann eine für die Ära repräsentative Auswahl von Werken erstellt werden?

Dies führt zu der Frage wie Musik als Teil der menschlichen Kultur von der Nachwelt erinnert wird und wie sich diese Erinnerung in verschiedenen Phasen des Vergessens manifestiert. Vor diesem Hintergrund soll eine Methode entwickelt werden, anhand der in einem nachvollziehbarem Prozess eine möglichst breit angelegte Auswahl von Einzelwerken generiert wird, die von der Nachwelt bzgl. der Gitarre als besonders typisch für die Ära des Rock and Roll erinnert wird. Falls graduelle Unterschiede bzgl. der Bedeutung einzelner Werke existieren, könnten diese in einem hierarchischen Ordnungssystem dargestellt werden. Eine theoretische Grundlage für die Entwicklung einer solchen Methode stellen hierbei die Überlegungen des deutschen Ägyptologen Assmanns (1997) dar. Inwieweit an sein Modell zum kulturellen und kommunikativen Gedächtnis angeknüpft, welche Methode davon ausgehend entwickelt werden kann und welche Auswahl gitarren-relevanten Interpreten und typischen Einzelwerken der Ära sich daraus ergibt wird in Kap. 2 dargestellt.

1.2.2 Analysen exemplarischer Einspielungen

Sind einzelne stilprägende und einflussreiche Einzelwerke bzw. Einspielungen mit Relevanz für die Gitarre erst ermittelt und systematisiert, dann ergeben sich für eine folgende Analyse weitere Fragen: Sollen alle oder nur ein Teil der Einzelwerke einer Analyse unterzogen werden? Anhand welcher methodischen Ansätze sollen die Analysen erstellt werden? Welche traditionellen musikwissenschaftlichen Ansätze, welche modernen Ansätze aus dem Bereich der Popularmusikforschung stehen zu Verfügung und werden der Problematik gerecht? Sollten für die vorliegende Sachlage fallspezifische Methoden entwickelt werden? Eine funktionierende Methode sollte Antworten geben können auf Fragen: Was sind die formalen, rhythmischen, melodischen und harmonischen Besonderheiten der Einspielung? Welche Besonderheiten gibt es bzgl. Instrumentierung, Arrangement, Produktion und Sound? Was macht den Gitarrenpart der Einspielung stilspezifisch interessant und im Vergleich zu anderen gitarristischen Erscheinungen der Ära herausragend, wegweisend oder innovativ?

Eine wesentliche Grundlage der Analyse ist die Erstellung einer präzisen Transkription aller relevanter Stimmen bzw. Instrumente, insbesondere der Gitarren, einer Einspielung. Sämtliche im weiteren Verlauf der Arbeit dargestellten Transkriptionen wurden zu diesem Zweck vom Autor auf Grundlage der Originaleinspielungen erstellt. Angaben zum methodischen Aufbau und die eigentlichen Analysen sind in Kap. 3 niedergeschrieben.

1.2.3 Suche nach musikalischen Einflüssen auf und von einer spezifischen Einspielung

In einem abschließenden Teil soll der Einfluss auf eine spezifische Einspielung und der Einfluss von einer spezifischen Einspielung auf nachfolgende musikalische Werke der Populärmusik untersucht werden. Aus dieser Aufgabenstellung ergeben sich folgende Fragen: Welche Indikatoren können als Hinweis auf einen möglichen Einfluss gewertet werden? Anhand welcher Kriterien kann ein möglicher Einfluss als wahrscheinlich gelten oder sogar zweifelsfrei nachgewiesen werden? Auf welchen Wirkungskreis ist ein möglicher Einfluss sinnvoll zu begrenzen (USA, englischsprachige Länder, westliche Welt, Datum der Veröffentlichung bis zur Gegenwart)? Exisiert eine natürliche, eventuell prognostizierbare Demarkationslinie, an der der Einfluss eines stilprägenden und vormals einflussreichen Werkes, Personalstils oder Signature-Licks endet oder verebbt? In diesem Teil der Arbeit könnte die Evolution einer gitarristischen Rock and Roll-Phrase, also eines charakteristischen Riffs oder Licks der Ära vom ersten nachweisbaren Erscheinen zum Signature-Lick bzw. musikalischen Allgemeingut entwickelt werden und falls möglich, eine Art Stammbaum oder Typologie nachgezeichnet werden.

Abschließend sollte es nach dieser Betrachtung möglich sein die musikstilistisch charakteristischen Merkmale der Rock and Roll-Gitarre zu beschreiben und den Spielstil musikhistorisch und instrumentenspezifisch zu verorten. Die Untersuchungen zum Einfluss auf und dem Einfluss von einem Werk werden direkt im Anschluss an die jeweiligen Analysen in Kap. 3 präsentiert.

Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre

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