Читать книгу Der ganz normale Alltag - Dennis Weis - Страница 6
Auf den Weg zur Arbeit
ОглавлениеDie Kinder waren angeschnallt und sie hatten ihre Taschen bzw. Schulranzen dabei. Er richtete in seiner Perfektion die Spiegel nochmals und startete das Auto.
Er musste rückwärts heraus, was sich als schwierig gestaltete, denn an einer Schule zu wohnen, hat Verkehrsunruhen zu bestimmten Zeit als Nachteil. Die Schule war nicht die seines Sohnes, was er als Geschenk des Lebens betrachtet hätte. Trotzdem gelang es ihm, dort herauszukommen, um die Fahrt zu beginnen.
Noch bevor er das erste Mal abbog, geschah etwas Furchtbares: Das Auto soff ab. Der aufmerksame Fahrer hinter ihm machte mit einem lauten Hupen darauf aufmerksam. Sicherlich wäre ihm ohne gar nicht aufgefallen, dass er stehen geblieben war. Das Hupen wiederholte sich, denn durch die entstandene Hektik wollte es ihm einfach nicht gelingen, den Motor wieder in Gange zu kriegen.
„Papa, können wir die Benjamin Blümchen CD hören, die wo er den Zoo rettet?“ fragte Maja.
„Nicht jetzt“, entgegnete er mit einer Stimme wie die besessene Regan Teresa MacNeil in der „Der Exorzist“, natürlich in der ungeschnittenen Fassung.
Maja weinte.
„Alles gut“, versuchte er seine Tochter zu beruhigen.
Maja ließ sich aber nicht beruhigen.
Hinter ihm bildete sich eine Schlange von Autos. Er konnte die Ungeduld der Leute im Rückspiegel sehen und er spürte den Hass.
Abermals machte der Fahrer hinter ihm sich durch ein Hupen bemerkbar. Er konnte zudem erkennen, dass der Fahrer irgendetwas vor sich hin brabbelte. Wahrscheinlich nichts Angenehmes.
Nach dem dritten Anlauf, startete der Motor wieder. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, nein, ein Berg aus Steinen. So konnte sich der Stau, den er verursacht hatte, lösen. An der Ampel wollte er die Benjamin Blümchen CD einwerfen, welche Maja gefordert hatte- bis dahin hatte sie geweint. Die Schreie, die sie abgab, terrorisierten seine Gedanken. Es fiel ihm schwer, sich auf die Straße zu konzentrieren. Von daher kam ihm eine rote Ampel sehr gelegen.
Als er die Hülle fand, musste er feststellen, dass sie leer war. Das sah auch Maja, die ihr Weinen auf eine dreistellige Dezibelzahl erhöhte.
„Wo ist die CD?“ fragte er frustriert, denn er wusste, dass es dumm war, es vergegenwärtigte seiner Tochter abermals, dass die gewünschte CD fort war. Das Weinen nahm eine Stufe einer bedrohlichen Katastrophe an.
Schnell kramte er im Handschuhfach nach. Er fand eine andere CD von Benjamin, dem dicken Elefanten, der wohl in dieser Situation einfach „Törööö“ gemacht hätte und fein raus wäre.
„Maja, geht auch die, in der er der Giraffe hilft?“ wollte er in seiner Verzweiflung wissen.
Das Weinen wurde, und das hätte er, hätte es jemand zuvor einmal erzählt, selbst nicht geglaubt, ein tödliches Ausmaß an. Lennard, der bis dahin wie die Schweiz dort saß, hielt sich die Ohren zu.
Der Vater hatte das Gefühl, aus den Ohren zu bluten. Er schaute nach hinten, im Verdacht, die CD könnte auch dort liegen. Und er sollte Recht behalten, sie lag unter dem Beifahrersitz, gerade so, dass er sie sehen konnte. Maja war angeschnallt, Lennard konnte nichts hören, außer natürlich dem Geschrei seiner Schwester.
Jetzt bräuchte man einen Helden. Wo ist Superman, wenn man ihn braucht? Er versuchte, sich zu verbiegen, um an diese lebensrettende CD zu gelangen. Er schnallte sich kurz ab und schlängelte seinen Körper zwischen die beiden Vordersitze. Mit allerletzter Kraft konnte er die CD mit dem Klammergriff ergreifen.
Dann hupte es. Er kam schnell hoch, sodass ihm schwindelig wurde und bemerkte, dass die Ampel grün geworden war. Korrekterweise schnallte er sich erst an, um dann weiter zufahren. Maja schrie noch immer. In seiner als Mann, Unfähigkeit des Multitaskings, hatte er nicht bemerkt, dass er falsch abgebogen war. Die CD hatte er, entgegen der Straßenverkehrsordnung in der einen Hand, während er mit der anderen lenkte. Deshalb war er nicht abgebogen.
Dieser Umweg kostete ihm erwartungsgemäß Zeit, die er ohnehin nicht hatte. Das ganze Leben läuft bekanntermaßen in Zeitraffer, besonders wenn man Kinder hat. Wie schnell sie groß werden. Gestern geboren, heute Schule, Morgen Studium, Enkelkinder, alt.
Im Gegensatz dazu, aber nicht in widersprechender Weise, liegen die Augenblicke, die ewig dauern. So einer sollte nun folgen. Die falsche Ausfahrt genommen zu haben, auch innerstädtisch, kostete immer etwas. So landete er hinter einem Stau. Offenbar war vorn ein Unfall passiert. Er konnte es nicht erkennen. Gerade in dem Moment als er kehrt machen wollte, fuhren mehrere Autos hinter seinem Wagen.
Er konnte nicht wenden, da der Radius zu klein war. Wenngleich er in Mathematikunterricht nicht der allerbeste gewesen war, er sah dies. Immerhin hatte er nun Zeit, die Benjamin Blümchen CD einzuwerfen, um die Sirene auf der hinteren Sitzbank verstummen zu lassen.
Das Problem war nur, dass es schon 7.50 Uhr war und sein Sohn zu spät zur Schule kommen sollte. Das störte Lennard aber nicht, hoffte er doch insgeheim, dass die Schule ausfalle. Er, als Vater und Arbeitnehmer im klassischen Sinne, konnte aber kein frei nehmen, schon gar nicht mit einer Entschuldigung seiner Eltern.
Es fuhr ein Polizeiwagen an ihm vorbei. Die Geschichte sollte wohl länger dauern. Nicht, dass er kein Mitgefühl hatte, es war vielmehr die Frage, warum jetzt und warum hier? Wahrscheinlich war es eine Art Prüfung. Sich dem zu stellen, was einem schwer fiele. Manchen Menschen halfen solche Gedanken. Bei ihm war dies nicht der Fall. Er ärgerte sich schlicht und einfach.
Nach einer Weile kam ein weiterer Polizeiwagen. Vielleicht war ganz vorne kein Unfall, sondern ein Überfall? Er machte den Motor aus. Benjamin trötete weiter. Er beschloss auszusteigen. Nun konnte erkennen, dass ein Mercedes einem VW hinten draufgeknallt war. Die Wagen versperrten den Weg, sodass niemand vorbeikam.
Als er sich umdrehte, konnte er sehen, wie hinter ihm die ersten wendeten und wegfuhren. Er schnupperte Hoffnung. Schnellstens stieg er in den Wagen, um ihn zu starten. Nachdem es hinter ihm frei wurde, brachte er all seine Qualitäten als Autofahrer in eine Waagschale und drehte in gekonnter Art sein Auto. Er legte einen Start hin, den selbst Brian O’Connor aus The Fast and the Furious hätte erblassen lassen.
Er konnte so zurück in die Spur. Lennard ließ er um 8.13 Uhr aus dem Auto. Er war zu spät. Jetzt passte es ihm auch nicht mehr, denn er merkte, dass der Schultag nicht ausfiel. Maja war um 8.22 Uhr im Kindergarten. Er kam um 8.41 Uhr auf der Arbeit an.