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IV Lehr- und Kriegsjahre
ОглавлениеIm März 1939 begann ein neues Kapitel im Leben des Sjoerd Gaastra, das seinen weiteren Lebensweg prägen sollte.
Nach dem Ablegen des Abiturs konnte er nicht mehr länger im Hause seiner Tante bleiben, da er aber mit 18 Jahren auch noch nicht volljährig war, musste er Friesland verlassen und zu seinen Eltern nach Deutschland ziehen. Die hatten eine Unterkunft in einer neu gebauten Siedlung in der Nähe Bielefelds in Kracks/Senne II gefunden.
Am 30. März 1939 kam er in Ostwestfalen an und begab sich am 31. März 1939 zum Bielefelder Arbeitsamt um sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Dort empfahl man ihm eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren. Wegen seiner Sprachkenntnisse mit dem Schwerpunkt Außenhandel. Da eine Berufsausbildung wie in Deutschland in den Niederlanden unbekannt ist, wusste er damit nichts Rechtes anzufangen. Ihm wurden mehrere Firmen genannt die ihm aber alle unbekannt waren, unter anderem auch die Seidenweberei C.A. Delius & Söhne. Da er sich unter Seide etwas vorstellen konnte und auch Seidenraupen aus Indonesien kannte, entschied er sich am gleichen Tag in der Goldstraße vorzustellen. Für das Personal zuständig war Wolf Delius, der aufmerksam die Zeugnisse studierte, die er wegen eines anderen Bewertungsschemas nicht verstand (in den Niederlanden ist ein „12“ die beste Zensur und die „1“ die schlechteste), aber der junge Mann gefiel ihm und er sagte er wolle es mal mit ihm versuchen. Die Verabschiedung durch Wolf Delius verlief folgendermaßen: „Also morgen um 7.30 meldest Du dich beim Pförtner. Wie heißt du eigentlich richtig? Schörd ist doch ein blöder Name, du bist der Sigurd“. Bis zum Tode des Herrn Wolf Delius blieb es dabei. Zur Silberhochzeit meiner Eltern schickte Wolf Delius aus seinem Weinkeller eine Flasche Rotwein des Hochzeitsjahrgangs 1945 mit einem Handschreiben: „Sehr geehrte Frau Gaastra, sehr geehrter Sigurd …“
Am 1. April 1939 begann die Lehre mit einer Führung durch die Firma und Vorstellung der kaufmännischen Angestellten die sich in den folgenden 3 Jahren um die Ausbildung des Nachwuchses kümmern sollten. Bei diesem Rundgang erspähte er auch Fräulein Tiemann, die in der Musterabteilung angestellt war, aber beruflich nichts mit ihm zu tun haben würde. Blitzartig hat er dann entschieden „die möchte ich heiraten“. Von einmal getroffenen Entscheidungen war mein Vater so gut wie nicht abzubringen, auch wenn abzusehen war, dass sie nicht richtig waren. Das Problem war nur, wie er sich Fräulein Tiemann nähern könne, die als eine der schönsten weiblichen Angestellten galt.
Auf dem Schreibtisch von Fräulein Tiemann stand eine der wenigen Addiermaschinen, und er nutze jede sich bietende Gelegenheit dort ein paar Zahlen zusammen zu rechnen. Der Leiter der Exportabteilung Dr. Geks erwischte ihn mal mit einem Zettel, auf dem 3 Zahlen zum Addieren standen und hat ihn dann „zusammen geschissen“ (Originalzitat meines Vaters). Dazu muss man aber wissen, dass mein Vater zeitlebens ein ausgezeichneter Kopfrechner war. Ich will hier mal eine Szene schildern, die ihn bei einem Restaurantbesuch in höchstes Verzücken versetzte:
V: „Herr Ober, bitte die Rechnung!“
O: „Moment der Herr (nimmt einen Zettel und rechnet murmelnd zusammen) 27 Mark 30 der Herr.“
V: Kurzer stirnrunzelnder Blick auf den Zettel, Kopfschütteln „Stimmt nicht.“
O: Halblaut nachrechnend „Entschuldigung, 26 Mark 30.“
V: „Stimmt noch immer nicht!“
O: Rechnet noch mal „Doch der Herr, das ist richtig“
V: „Junger Mann, jetzt machen wir das mal zusammen.“ Endergebnis 28 Mark 30 Pfennig.“
O: „Das ist ja 1 Mark mehr.“
V: „Ja und? Ich habe doch nicht gesagt Sie hätten zu viel berechnet, ich habe doch nur gesagt, dass Ihre Rechnung nicht stimmt.“
Mein Vater war höchst zufrieden, der Ober hatte sich sein Trinkgeld redlich verdient und dem Sohn und Ehefrau wurde mal wieder die väterliche Rechenkunst und Überlegenheit demonstriert.
Anlässlich des 25-jährigen Betriebsjubiläums rief mich Herr Frank, der Leiter der Buchhaltung an um zu erfragen, womit die leitenden Abgestellten ihrem Kollegen eine Freude machen könnten. Im Laufe des Gespräches sagte er mir: „Ihr Vater ist der einzige Reisende im Haus, dessen Spesenabrechnung immer stimmt. Der bringt aus jedem Land auch die kleinste Münze zurück, egal ob Lire, Penny, Öre, Cent oder Centime, was nur Arbeit macht. Aber bei der nächsten Reise bekommt er das Kleinzeug wieder mit. Seine Spesenabrechnungen müsste ich gar nicht nachrechnen, aber ich mache es trotzdem, ich würde ihn zu gerne bei einem Fehler erwischen.“
Ich glaube nicht, dass es ihm gelungen ist.
Fräulein Tiemann war an dem jungen Lehrling in keiner Weise interessiert. Er war schließlich 5 Jahre jünger als sie, hatte kein nennenswertes Einkommen und auch keine beruflichen Perspektiven. Außerdem wohnte er in der nicht besonders beleumdeten Senner Siedlung, und nicht im Bielefelder Westen. Einziger Pluspunkt war vielleicht seine stets korrekte Kleidung. Die Situation wandelte sich mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges im September 1939. Im Laufe der immer größeren Verluste dämmerte es Fräulein Tiemann, dass ein Mann, der als Ausländer nicht zum Kriegsdienst einberufen werden konnte, der ohne körperliche Schäden, wenn auch ohne „Eisernes Kreuz“ den Krieg überstehen würde, doch nicht die schlechteste Aussicht wäre.
Hier ist zu bedenken, dass mein Vater nicht freiwillig oder aus politischer Überzeugung ins Deutsche Reich kam. In den Niederlanden gab es einen anderen Blick auf Deutschland, nicht durch Propaganda vernebelt. Nur wenigen ist auch heute nicht bekannt, dass es Bestrebungen gab die Olympischen Spiele 1936 wegen der bereits bekannten Verfolgung politischer Gegner und Juden, kurzfristig nach Amsterdam zu verlegen. Die NS-Führungsriege wurde weltweit als lächerlich empfunden. Der in seinen Reden keifende Hitler, der Mussolini rhetorisch nicht das Wasser reichen konnte, der wie ein aufgeblasener Luftballon wirkende Göring, der hinkende, verwachsende Goebbels und schmächtige, glupschäugige Himmler wirkten jenseits der Reichsgrenzen nicht gerade als Lichtgestalten. Mit wachen Augen beobachtete mein Vater das Umfeld und entzog sich frühzeitig allen Versuchen einer politischen Vereinnahmung, besonders der Marine und der SS.
Allem Soldatischem, mit Ausnahme von Marschmusik, stand er ablehnend gegenüber. Nie nahm er ein Gewehr oder eine sonstige Waffe in die Hand. Das lag in einem prägenden Erlebnis in frühester Jugend. Er hatte von seinem Vater im Alter von ca. 10 Jahren ein Luftgewehr geschenkt bekommen, das natürlich ausprobiert werden musste. Zuerst auf unbewegliche Ziele und dann auf Vögel. Nach diversen Fehlschüssen traf er doch noch einen Reisfinken. Er lief zu der Stelle, wo der Vogel zu Boden gestürzt war und fand ihn verletzt aber noch lebend vor. Der Reisfink verstarb in seinen Händen. Darauf lief er nach Hause, versteckte das Gewehr in der hintersten Ecke eines Schrankes und rührte nie wieder ein Gewehr an. Sicherlich spielte auch seine Berührung mit dem Hinduismus und der religiösen Behandlung aller Lebewesen, einschließlich Tieren eine Rolle. Dieses Erlebnis erzählte er mir, als ich wohl im gleichen Alter wie er war und ihn bat mit mir auf der Kirmes des Schützenfestes an einer Schießbude zu schießen. Er hat mich nie daran gehindert zu schießen, was ich auf der Kirmes immer gerne und auch erfolgreich getan habe, aber der Wunsch nach einen Luftgewehr kam bei mir nicht auf. Und ich hätte es sowieso nicht bekommen.
Zu seiner Verteidigung brauchte er auch keine Waffe. Er war sehr reaktionsschnell und hatte enorme Kraft in seinen Händen. Besonders Frauen erinnern sich schmerzhaft seines freundschaftlichen Händedrucks. Es ist auch vorgekommen, dass er im Überschwang der Freundlichkeit Finger gebrochen, bzw. angebrochen hat. Grundsätzlich ging er allen Gefahren und Unannehmlichkeiten aus dem Wege und provozierte sie auch nicht.
Als Niederländer konnte er in den wenigen Monaten des Friedens und bis zum völkerrechtswidrigem Überfall auf sein Heimatland 1940 noch ungehindert die ausländischen Sender auf seinem hochgerüsteten Radio empfangen und war dadurch auf die drohende Kriegsgefahr entsprechend vorbereitet. Nach dem für Deutschland siegreichem Polenfeldzug besuchte ein eingezogener Kollege Delius und wurde natürlich über die Ereignisse ausgefragt, man war begierig Informationen aus erster Hand zu bekommen. Mein Vater erzählte mir, dass die Auskünfte sehr vage waren, aber in dem Satz endeten: „Wenn wir für das, was da geschieht, zur Rechenschaft gezogen werden, dann wird uns kein Gott gnädig sein.“ Da dämmerte es meinem Vater, dass die aus dem Äther empfangenen Nachrichten keine Feindpropaganda waren. Er zog schon früh die Lehre, dass es lebenserhaltend sei, sich nicht zu äußern und sein Wissen mit anderen zu teilen.
Es gab noch ein anderes prägendes Erlebnis. Ein Nachbar aus der Siedlung Senne II kommentierte im Beisein anderer Siedlungsbewohner eine auf Bielefeld fliegende Bomberstaffel mit den Worten: „Morgen steht dann wieder in der Zeitung, dass die englischen Verbrecher Bethel angegriffen und Heime beschädigt haben, aber von den Schäden und Toten in Bielefeld sagen die Lügner nichts.“ Der Nachbar wurde am nächsten Tag von der Polizei an seinem Arbeitsplatz zu einer „Befragung“ abgeholt. Nach zwei Tagen erhielt die Ehefrau die Nachricht, ihr Mann hätte sich an seinen Hosenträgern erhängt. Der einziger Kommentar der Ehefrau dazu: „Komisch, er hat noch nie in seinem Leben Hosenträger besessen.“
Als wir wieder in Bielefeld wohnten haben wir nach einem Besuch am Grabe meines Großvaters auch das Erinnerungsmahl für die Opfer der NS-Diktatur auf dem Sennefriedhof besucht und mein Vater sagte zu meiner Mutter: „Sieh mal, das steht der XXX auch mit drauf, dann war er wohl doch kein Selbstmörder. Hast du neulich in der „Freien Presse“ gelesen, dass der Nachbar und vermutliche Denunziant einen Posten bei der Stadt hat und befördert wurde.“ Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern, weil er das in einer ganz ungewohnten Tonlage sagte. Ich hatte immer eine sehr emotionale Bindung an beide Elternteile und bemerkte entsprechende Stimmungen. Dieses war so eine Situation. Jetzt bei der Niederschrift sind mir die beiden Namen nicht mehr bekannt, aber ich glaube, wenn ich vor dem Mahnmal stehe weiß ich wieder wer das Opfer war, der mutmaßliche Denunziant wird wohl (leider) unbekannt bleiben.
Mein Vater fuhr immer mit der Eisenbahn von Kracks nach Bielefeld. Vom Bahnhof führte ihn der Weg zur Goldstraße immer über den Klosterplatz. Es war eine größere Menschenmenge mit kleinen Koffern und Handgepäck versammelt, die an ihrer Kleidung den gelben Stern trugen. Durch seine Informationen der Feindsender wusste er sofort, dass es eine Reise ohne Wiederkehr sein würde. Bei Delius wurde das Ereignis nicht weiter kommentiert. Aber es gab auch Kollegen, die über die „Umsiedlung der jüdischen Schmarotzer“ zufrieden waren. Besonders tat sich da ein Mitlehrling hervor, der in der in der NS-Jugendorganisation führend tätig war und in der Erinnerung meines Vaters immer mit dem „Völkischen Beobachter“ in der Anzugtasche herum gelaufen ist. Dieser Lehrling, höheres Lehrjahr, konnte es nicht abwarten zu den Waffen gerufen zu werden um an der Vergrößerung des Reiches mitzuwirken. Er versuchte meinen Vater immer vom nahen Sieg zu überzeugen. Der hörte sich das auch an und dachte sich seinen Teil. Es gehörte zur Strategie des Überlebens viel zu wissen um vorbereitet zu sein, aber nicht alles von dem Wissen preis zu geben.
Das erste gemeinsame Foto
Besagter Lehrling führte später eine Buchhandlung und wurde Präsident eines Bundesligaclubs. Mein Vater kaufte alle seine Bücher bei ihm und frage jedes Mal vertraulich nach dem Stand des Endsieges und den geheimen Wunderwaffen, über die er seinerzeit angeblich genau Bescheid wusste. Mein Vater schenkte mir 1968 zum Geburtstag das „dtv-Taschenbuchlexikon“ in 20 Bänden, von dem aber erst fünf Bände erschienen waren. 15 Monate lang bin ich in diese Buchhandlung gegangen um den neuesten Band abzuholen und kam dadurch dem Buchhändler in näheren Kontakt. Ich glaube beim 18. Band klagte er mir sein Leid mit meinem Vater und bat mich: „Können Sie Ihren Vater nicht mal bitten, mich damit endlich zufrieden zu lassen, ich habe mein Opfer im Krieg gebracht. Ich schäme mich jetzt meiner Dummheit, aber Ihr Vater hat auch nie durchblicken lassen, dass er über besser Informationsquellen verfügte als ich mit Stürmer und Völkischem Beobachter.“ Auf meine Frage, was das denn geändert hätte antwortete er flüstern: „Dann wäre er nicht ihr Vater geworden.“ Ich kann nicht sagen, dass mein Vater nachtragend gewesen wäre, aber er vergaß auch nichts, ob negativ oder positiv.
Die Sache mit Fräulein Tiemann war inzwischen soweit fortgeschritten, dass eine Familiengründung beschlossen wurde, also 1943 (mein Vater hatte seine Lehre abgeschlossen und war in der aus zwei Personen bestehenden Exportabteilung fest angestellt) gab es eine ordentliche Verlobung. In Ermangelung von Gold und Geld, – aber ohne Verlobungsringe wäre es ja keine ordentliche Verlobung gewesen – hat der Schwiegersohn in spé seinem Schwiegervater für einige Zigarren dessen Ehering abgekauft. Meine Großmutter hatte ihren Ehering in dem Hungerwinter des 1. Weltkrieges beim Suchen von Bucheckern verloren. Ihr Ehemann durfte als Dreher bei den Ankerwerken seinen Ring nicht bei der Arbeit tragen, der wurde darum auch nicht mehr getragen sondern verschwand in der Kassette. Dieser ursprünglich schlichte breite Ring wurde aus Kostengründen einfach durchgesägt, an den Schnittstellen etwas abgerundet und für die Braut enger gemacht. Die Verlobungsringe waren somit eine Neuanfertigung aus Altgold. Die Ringe spielen bei der Hochzeit noch eine Rolle, aber dazu später. Wegen der engen Verbindung zur Familie Delius, sowohl von Seiten meines Vaters, wie auch meiner Mutter war es selbstverständlich, dass die Firma für eine Wohnung sorgen würde. Die gab es in der Güsenstraße, in einem Haus, welches auch zum Firmenkomplex gehörte. Eine drei Zimmerwohnung wurde vollständig eingerichtet. Die Möbel wurden vom Ersparten meiner Mutter und ihrer Mitgift gekauft, die Aussteuer in den Schränken untergebracht und mein Vater zog dort ein und war polizeilich als Bewohner angemeldet und froh dem elterlichen Haus entkommen zu sein.
Bei der Familie Gaastra in der Senne hatte sich die Situation dramatisch verschlechtert. Meine Großmutter litt zunehmend unter Malariaschüben, das Mitbringsel aus Indonesien und war nicht mehr in der Lage, ihren inzwischen aus acht Personen bestehenden Haushalt zu führen. Das hatte sie aber auch nie gelernt, mit 22 Jahren hatte sie geheiratet und war mit ihrem Erstgeborenem nach Indonesien ausgewandert. Dort stand jede Menge Personal zur Verfügung und Geldsorgen waren ihr schon vom elterlichen Haus her unbekannt. Mein Großvater war desillusioniert und hatte sich, auch gesundheitlich angeschlagen, aufgegeben. Die Bewohner der Siedlung duldeten die asoziale Familie nicht mehr und sorgen dafür, dass Familie Gaastra in einen abseits gelegenen Kotten mit dem Namen „Kuckuck“ umgesiedelt wurde. Sogenannte „Braune Schwestern“ kümmerten sich um die Familie. Der Älteste, ausgesprochen penibel und reinlich, war froh, dieses Elend hinter sich lassen zu können. Trotzdem versuchte er das Möglichste zur Unterstützung der Familie beizutragen.
Der absolute Tiefpunkt ist erreicht, der Kotten mit dem Namen „Kuckuck“, ohne sanitäre Anlagen. Wasser musste aus einem Brunnen geschöpft werden. Noch nie war ein Familienzweig so tief gesunken, schon gar kein Familienoberhaupt. Für meinen peniblen Vater war das eine Horrorzeit. Der Kotten wurde 1962 wegen Baufälligkeit abgebrochen. Diese Behausung hätte mein Vater nur noch zum Ende seines Lebens mit dem Umzug in eine Gefängniszelle toppen können. Dazu wäre es aber nicht gekommen.
Der Eheschließung stand also nichts mehr im Wege. Außer den Nürnberger Rassengesetzen, die zur Eheschließung den Ariernachweis verlangten. Rein visuell entsprachen die Brautleute den Anforderungen, blond und blauäugig. Aber das wurde bei deutscher Gründlichkeit schwarz auf weiß verlangt. Bei der Braut kein Problem, entstammte sie mütterlicherseits einem Lippischem Bauerngeschlecht und väterlicherseits eines Ravensberger Bauerngeschlechtes (den Meyer zu Olderdissen). Der Bräutigam hätte einen über Jahrhunderte reichenden lückenlosen Stammbaum vorlegen können, wenn der jemals in Bielefeld angekommen wäre. Zweimal ist er nachweislich auf dem Postwege durch Bombardierungen verloren gegangen. Aber die Erstellung der amtlichen Unterlagen dauerte jedes Mal unverhältnismäßig lange. Vermutlich sollte seitens der Familie in Friesland die „Kollaboration“ verhindert werden.
Familienmitglieder waren im aktiven Widerstand, teilweise sogar führend, tätig. Eine 14tägige KdF-Ferienreise unternahmen die Brautleute 1943 nach Rupolding. Der Urlaub verregnete total und meinem Vater waren die Berge seitdem verhasst. Da es aber kriegsbedingt keine große Auswahl an Ferienzielen gab nahmen die Verlobten das Angebot zu einem weiteren Urlaub in Garmisch an. Der KdF-Reisezug startete in Hannover am 14. Juli 1944. Dort warteten die Reisenden stundenlang auf dem Bahnsteig darauf, dass der Zug bereitgestellt würde. Statt des Zuges kam dann die Durchsage man möge sich wieder auf die Heimreise begeben, da die Züge anderweitig benötigt würden. In Bielefeld angekommen suchte mein Vater dann dem Radio die entsprechenden Informationen zu entlocken. Es war D-Day gewesen, die Landung der Alliierten in der Normandie. Da war ihm klar dass die Endphase des Krieges begonnen hatte. Im Büro hing eine große Landkarte auf der die Angestellten mit Stecknadeln täglich den Frontverlauf markierten. Ab jetzt die taktischen Rückwärtsbewegungen Rommels und das Warten auf die neuen geheimen Wunderwaffen. Im Geiste glich mein Vater den Frontverlauf nach seinen Informationen ab und überlegte sich, nicht ohne Angst, wie der Endsieg wohl aussehen möge. Es waren auch ganz persönliche Ängste, was würde mit ihm als „Fremdarbeiter“ geschehen.
Alles veränderte sich am 30. September 1944. Es war ein sehr warmer Sonnabend und mein Vater beschloss anlässlich des schönen Wetters nach Kracks zu fahren um die ehemaligen Nachbarn zu besuchen. Er überlegte sich, ob er mit dem Fahrrad oder der Eisenbahn fahren sollte und entschied sich wegen der Wärme für die Bahn. Er kleidete sich sehr sommerlich, eine kurze Hose, ein kurzärmeliges Sommerhemd und Sandalen, ohne Strümpfe. Als er auf dem Bahnsteig stand, um die Abfahrt des Zuges zu erwarten, wurde Fliegeralarm gegeben. Ein größerer Bomberverband näherte sich Bielefeld. Alle suchten schnell Sicherheit im Bahnhofsbunker. Nach wenigen Minuten wurde Entwarnung gegeben, die Flugzeuge hatten Kurs auf Osnabrück genommen. Die Alliierten hatten bereits die Lufthoheit über Deutschland gewonnen und seitens der Flugabwehr kaum noch Widerstand zu erwarten, so dass die Angriffe auch bei Tageslicht geflogen wurden. Nach zehn Minuten wurde noch einmal Alarm gegeben, die Bomber hatten Osnabrück nur überflogen um ihre todbringende Last über Bielefeld abzuwerfen. Erneut suchten alle Schutz im Bahnhofsbunker während sich die Stadt in ein Inferno verwandelte. Der Bahnhofsbunker erhielt mehrere Volltreffer, hielt aber stand. Im Inneren des Bunkers müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben. Die zusammen gedrängten Menschen wurden durcheinander gewirbelt und konnten sich nicht auf den Beinen halten. Eine Panik brach nicht aus, weil die Eingeschlossenen wussten, dass es keinen Ausweg aus der Situation gab. Nach der Entwarnung dauerte es noch eine längere Zeit bis die Bunkertüren geöffnet werden konnten. Alle waren nur froh darüber noch am Leben zu sein. Die vor ihnen liegende brennende Stadt wurde in den Ausmaßen kaum wahrgenommen. Da die Innenstadt nicht mehr zugänglich war, machte sich mein Vater auf zur Wertherstraße zu seinen Schwiegereltern. Den Westen der Stadt hatten nur wenige Bomben getroffen. Am nächsten Tag gelang es meinem Vater dann in die fast gänzlich zerstörte Güsenstraße zu gehen und stand fassungslos vor den rauchenden Trümmern des Hauses. Das gesamte Hab und Gut des Brautpaares war ein Opfer der Flammen geworden. Alles was er noch hatte war buchstäblich das was er auf dem Leib trug. Und sein Portomanie und den Hausschlüssel. Den hat er dann voller Verzweiflung in die Trümmer geworfen.
Ein neuer Abschnitt begann. Meine Mutter blieb weiter bei ihren Eltern wohnen und mein Vater wurde von der Familie Delius aufgenommen. Zu der Produktionsstätte Jöllenbeck gehörte ein großes Westfälisches Bauernhaus, welches bisher für betriebliche Veranstaltungen, Betriebsfeste und ähnliches, genutzt worden war. Neben Herbert und Clara Delius, deren Haus ebenfalls zerstört war, bekam „Sigurd“ ein Zimmer in dem Bauernhaus unter dem Dach zur Verfügung gestellt. Die Produktion der Firma Delius & Söhne wurde eingestellt und es gab somit auch nichts mehr zu exportieren. Soweit möglich wurde er zu Aufräumungsarbeiten heran gezogen. Täglich fuhr er mit dem Fahrrad zu seiner Braut und seinen Schwiegereltern. Dort hatte er bereits vorher den Volksempfänger zu einem „Weltempfänger“ umgerüstet um sich über die Entwicklung an den Fronten auf dem Laufenden zu halten.
Sein Wissen teilte er nur mit seinem Schwiegervater, einem aufrechten Sozialdemokraten lassalscher Prägung. Ein sogenannter „Salonsozialist“, der mit Carl Severing (dem letzten Preußischen Innenminister vor der Machtübernahme) zusammen an der Drehbank gestanden hatte und im Metallarbeiter-Verband zusammenarbeitete. Dort wurde eine lebenslange Freundschaft begründet. Mein Großvater sprach keine Fremdsprache und sein Schwiegersohn übersetzte ihm die wesentlichsten Nachrichten. So gelangten die Informationen an Carl, der nach der Verdrängung aus dem Staatsdienst sein Haus in der Lampingstraße bewohnte. Die beiden alten Herren trafen sich zu unverdächtigen Spaziergängen im „Adolf-Hitler-Park“. Meine Großmutter, die ihren Sohn im Krieg verloren hatte versteckte zwei Deserteure in der Wohnung und gab ihnen die Kleidung des gefallenen Sohnes um wenigsten zwei Müttern den Sohn zu erhalten. Leider hat sie nie erfahren ob es gelungen ist. Der Blockwart hatte davon erfahren, aber geschwiegen. Vermutlich hatte mein Großvater ihm gesteckt, Vorsorge für den Endsieg der anderen Seite zu treffen. Jedenfalls wurde dieser Blockwart als erster in Bielefeld aus der englischen Haft entlassen. Mein Großvater hatte seinen Freund Carl gebeten sich bei den Engländern entsprechend zu verwenden.
In Jöllenbeck erlebte mein Vater dann das vorläufige Ende des Krieges. Als der Geschützdonner bereits zu hören war, beseitigte er auf die Schnelle alle Spuren der NS-Zeit. In einem kleinen Kanonenofen wurde „Belastungsmaterial“ verbrannt, Hitlerbilder, Wimpel etc., alles was ein Hakenkreuz zeigte und brennbar war verschwand im Ofen. Alle Bewohner des Bauernhauses trugen die belastenden Dinge zusammen und halfen bei der Vernichtung. Nur als die der Firma verliehene „Goldene Fahne“ in die Flammen wandern sollte erhob Herbert Delius Protest, er meinte die Fahne vielleicht doch noch mal gebrauchen zu können. Aber seine Frau Clara, die als ehemalige Stadträtin schon 1933 von den Nazis aus dem Rathaus vertrieben wurde, sprach ein Machtwort. Da mein Vater durch die Radioberichte der Alliierten bestens informiert war wusste er auch wie mit Widerständlern verfahren wurde. Seine Strategie war „alles muss sauber sein, wir waren nie für das System, denn hier muss möglichst viel heile bleiben damit wir, wenn die Waffen schweigen, wieder produzieren können. Mein Vater veranlasste Herbert Delius mit seiner Autorität als ein Delius dafür zu sorgen, dass es nicht zu unsinnigen Widerständen in Jöllenbeck kommt. Wie später bekannt wurde hatte in der Nähe ein Großvater mit seinem Enkel und zwei Panzerfäusten versucht die vorrückenden Truppen aufzuhalten, die dann größere Gegenwehr vermuteten und den Hof in Schutt und Asche legten und die beiden „Helden“ mit dem Panzer förmlich überrollten.
Als die Truppen das Firmengelände erreichten, hat mein Vater seine einzige Kampfhandlung im Krieg begangen als er ihnen mit einer weißen Fahne und seiner „Fremdarbeiterkarte“ entgegen ging. Da er Englisch sprach war es auch einfach für ihn entsprechend aufzutreten. Die „Fremdarbeiter“ genauer gesagt „Zwangsarbeiter“ aus den eroberten Ländern hatten entsprechende Legitimationskarten da sie in ihren Rechten erheblich eingeschränkt waren. So durften sie bei Fliegeralarm nicht die Schutzräume aufsuchen. Das traf bei meinem Vater nicht zu, weil er ja schon vor dem Kriege nach Bielefeld gezogen war, aber verwaltungstechnisch gehörte er als Staatsbürger einem eroberten Land an und wurde somit auch entsprechend als Fremdarbeiter geführt. Was aber auch dazu führte, von den Engländern nach der Kapitulation für ein paar Tage in einem Sammellager gesteckt zu werden, von wo aus die Insassen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden sollten. Der Lageraufenthalt hatte aber auch Vorteile. Nachdem mein Vater nachweisen konnte, dass er bombengeschädigt war und kein Zwangsarbeiter oder Kollaborateur, wurde er nach entsprechender Prüfung in die Administration der Sieger übernommen.
Das offizielle Verlobungsfoto