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Die Mutter – Jantje Westerbaan

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Von meiner Großmutter kann ich mir die Lebensdaten gut merken, denn sie wurde am 31. Januar 1900 geboren. Der 31. Januar war der Geburtstag von Königin Beatrix und somit ein Feiertag, an dem geflaggt wurde. Ich sagte auch zu Ehren meiner Großmutter, die ein untadeliges, aber entbehrungsreiches Leben geführt hatte. Kein schwarzes Schaf, bestenfalls ein leicht graues Schaf. Sie war das letzte Kind einer neunköpfigen Kinderschar. Ihr Vater war Binnenschiffer mit einem eigenen Schiff. Das verkaufte er, als das Schiff der Familie keinen genügenden Wohnraum bot und kaufte sich von dem Erlös einen kleinen Bauernhof am Stadtrand von Leeuwarden wo er erfolgreich eine Viehzucht betrieb. Was aus den Geschwistern meiner Großmutter geworden ist weiß ich nicht, denn nur zu einem Bruder und einer Schwester bestand Kontakt. Das war aber auch wohl dem Umstand geschuldet, dass meine Großmutter eine Nachzüglerin war und durch den Aufenthalt in Indonesien sich ihrer Familie entfremdete. Der Vater führte ein streng calvinistisches Leben, ohne in der Kirchengemeinde eine besondere Stellung oder ein Amt eingenommen zu haben. Aber mit seinen Verbindungen sorgte er dafür, dass sein Enkel ein Stipendium bekam um das Christliche Gymnasium zu besuchen. Darum musste ich auch einen weiteren Schulweg nehmen, weil ich aus dieser Tradition heraus auch auf eine christliche Schule gehen sollte und nicht auf die allgemeine Schule im Dorf. Diese Bevorzugung vor seinen Brüdern hat mein Vater versucht auszugleichen, indem er auf das Erbe seiner Tante verzichtete.

Die Tante wohnte in Oldenburg, war ursprünglich sehr vermögend und hatte unter anderem meinen Vater als Erben eingesetzt und zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Mein Vater verzichtet zu Gunsten seiner beiden Brüder auf die ihm zu stehende, nicht unbedeutende Vergütung und seinen Erbteil mit dem Argument: „Dafür durfte ich zur Schule gehen und etwas lernen, meine Brüder nicht.“ Was mich dabei verwundert, war der Rückfall meines Vaters in die Denkungsweise des 19. Jahrhunderts. Seine Schwestern gingen leer aus, denn Mädchen brauchten ja keine bessere Schulausbildung!

Diese Tante, einzige Schwester meines Großvaters, war somit meine Großtante und in zweiter Ehe mit einem Wempe aus der Juweliersfamilie verheiratet, den sie bei einen Familientreffen kennen gelernt hatte. Das beträchtliche Vermögen schmolz dahin, als sie wegen eines über 10 Jahre dauernden Siechtums privatärztlich versorgt wurde. Das Geld war bei ihren Ärzten, Pflegerinnen und dem Malteser Hilfsdienst gelandet. So ließ sie sich jeden Freitag vom Malteser Hilfsdienst zum Aalessen an das Zwischenahner Meer fahren. Meistens noch in Begleitung von Freundinnen. Auch Neffen und Nichten sahen in meiner Großtante einen Geldesel. Nur die Familie ihres ältesten Bruders wurde nicht bedacht. Außer vielleicht meinem Vater der aber jegliche Zuwendungen von seiner Tante ablehnte. Eine Ausnahme wurde bei mir gemacht und ich bekam Geschenke mit Familienbezug. Ich war ja der „Kronprinz“ und das zukünftige Familienoberhaupt. In erster Ehe war meine Großtante mit Adrian Tulp verheiratet, Sohn eines Notars in Leeuwarden. Ich setze mal voraus, dass den Lesern Rembrandts Bild „Die Anatomie des Dr. Tulp“ bekannt ist. Adrian Tulp, in der Familie „Oom Ari“ genannt war der letzte Spross dieser Familie und von Beruf Sohn. Meine Großtante unterstützte ihn auf weltweiten Reisen dabei das Vermögen zu dezimieren und, nachdem die Kasse leer war sich scheiden zu lassen. Damit war sie Erzfeindin meiner Großmutter geworden, aber dazu später, wenn ich das Leben meiner Großmutter behandele. Adrian Tulp war es der sich den Nazis zuwandte und nach Bielefeld zog und vermutlich auch meinen Großvater samt Familie in die Stadt am Teutoburger Wald holte.

Sicherlich fällt auf, dass ich die „Großtante“ betone, ich könnte sie auch als Tante Foek benennen, Namensgeberin war unsere Stammmutter mit dem Kaffeehaus in Heerenveen. Also Tante Foek und meine Mutter verstanden sie großartig und waren auch fast gleichaltrig. Meine Mutter sagte mal zu ihr: „Du bist ja schon Großtante.“, was sicherlich nicht als Vorwurf gemeint war. Die darauf hin lautstark konterte. „Und DU hast mich dazu gemacht!“ Da entpuppte sich meine Großtante als eine typische Gaastra, schuld an diesem Umstand war nicht ihr Neffe, sondern seine Ehefrau. Den Gaastras wird nachgesagt, sie müssten immer Recht haben, das stimmt aber nicht, die Gaastras müssen nicht immer Recht haben, sie haben immer Recht und sind dabei durchaus uneinsichtig. Ein Problem ist das nur, wenn zwei Gaastras aufeinander treffen. Das habe ich mit meinem Vater ausgiebig ausgekostet. Aber zurück zu Tulp. Alles was von dieser Familie übrig geblieben ist, außer einem berühmten Bild, sind einige silberne Besteckteile und drei kostbare Japanische Porzellanfiguren, die mir als zukünftiges Familienoberhaupt ausdrücklich übergeben wurden. Nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten oder hochgestellten Besuchern. kommen die Besteckteile zum Einsatz. Letzte Gelegenheit war eine von mir gegebene Kaffeetafel mit dem Niederländischen Botschafter und Kulturattaché nebst Ehefrauen anlässlich der Königskrönung.


Vor der Abreise nach Indonesien, 1921

Es ist nicht nachvollziehbar, was gegen eine Verbindung der jungen Leute sprach, außer ihrer Jugend. Es war kein großer Reichtum vorhanden, also nicht mit einer größeren Mitgift der Braut zu rechnen. Anders als bei meiner Urgroßmutter, die brachte ordnungsgemäß ihr Kostgeld für 50 Jahre mit. Aber was hatte der Bräutigam schon anzubieten? Sie entstammt einer Bauernfamilie ohne intellektuelle Ansprüche. In ihrem Elternhaus gab es nur ein Buch, und das war die Bibel. Und die wurde ausgiebig gelesen. Zum Leidwesen meines Vaters vor jeder Mahlzeit. Nach Berichten meines Vaters wurde langsam und genau vorgelesen, und immer ein ganzes Kapitel. Besonders im Alten Testament konnten die Kapitel sehr lang sein. Die Brüder gingen alle einem ordentlichen Beruf nach und die Schwestern waren gut verheiratet. Wenn meine Großmutter von ihren Schwiegereltern sprach, dann waren das immer „mijnheer und mevrou“, also Herr und Frau und das war nicht aus Achtung, sondern Verachtung. Meine Großmutter sagte mir einmal: „Wenn mein Vater Freitags zum Viehmarkt ging hatte der mehr Geld in der Tasche als mijnheer Gaastra im ganzen Monat verdiente.“ Und das war sicherlich zutreffend, galten die Friesischen Bauern allgemein als sehr wohlhabend. Wenn meine Großmutter mir gegenüber von meinen Urgroßeltern sprach, und nur mir gegenüber, von „oue oomoe und oue opa“, die niederländische Form von Ur-Opa und Ur-Oma. Im familiären Sprachgebrauch war das nur die „Mozartstraat“. Das war der feine Unterschied, und entsprach der „Hackordnung“, der Kronprinz und das zukünftige Familienoberhaupt durfte nicht von den Stammeltern entfremdet werden.

Auch äußerlich war an meiner Großmutter nichts auszusetzen, wie auf den wenigen erhaltenen Fotos zu sehen ist. Im Vergleich macht meine Großmutter auf mich einen angenehmeren Eindruck als mein Großvater. Aber das ist wohl nicht gerecht und subjektiv von mir empfunden.

Die bäuerliche Herkunft spielte in der Besatzungszeit natürlich keine Rolle, im Gegenteil, es wurde bei der Familie Westerbaan eifrig antichambriert, denn bei den Bauern waren Lebensmittel wie Milch, Käse und Butter immer reichlich vorhanden. Zur Ehrenrettung meiner vaterseitigen Urgroßeltern sollte ich aber nicht unerwähnt lassen, dass sie 2 jüdische Familien vor der Vernichtung bewahrten, für die auch Lebensmittel beschafft werden mussten. Es ist nicht auszuschließen, dass darum über den eigenen Schatten gesprungen wurde um bei der ansonsten ignorierten Bauernfamilie zu betteln. Vielleicht war den Westerbaan die Hilfe für die jüdischen Mitbürger bekannt und darum auch eine entsprechende Hilfsbereitschaft vorhanden. 1946 war das dann wieder vergessen. Mein Vater wurde in seinen letzten Lebensjahren auch von gelegentlichen Gedächtnislücken befallen, wenn sie ihm nützlich waren.

Aber was half es, alle Vorsichtsmaßnahmen die Liebenden zu trennen nutzten nichts, es wurde geheiratet. Das heißt es musste geheiratet werden. Nur war der Bräutigam nicht mehr vorhanden, denn der schwamm auf dem Meer Indonesien entgegen. Meine Großmutter wurde von ihrem Vater des Elternhauses verwiesen, schwanger und nicht verheiratet sprengten die Grenzen der christlichen Nächstenliebe. Wie der Name schon richtig sagt heißt es ja auch „Nächsten“-Liebe, also nicht zu der Naheliegenden. Meine Großmutter brachte ihren Sohn im Hause ihrer Schwester zur Welt, die zur gleichen Zeit mit ihrem zweiten Kind schwanger war. Es kam zur Ferntrauung, in den Niederlanden wird das als „Trauung mit dem Handschuh“ bezeichnet. Die Organisation zog sich hin, denn Telefon und Fax gab es zwischen Kolonie und Mutterland nicht. Die Schiffspassage dauert 4 Wochen, entsprechend lange der Informationsaustausch mindestens 2 Monate. Zu einem vereinbarten Zeitpunkt erschienen die Brautleute vor einem Standesbeamten, auf einem Stuhl lag stellvertretend ein Herren, bzw. Damenhandschuh. Als Trauzeuge vertrat der jüngste Bruder seinen Schwager und sprach das „Ja-Wort“, die Brauteltern und der Rest der Familie war der Zeremonie fern geblieben. Die verpasste Hochzeit wollten meine Großeltern mit ihrer Silberhochzeit nachholen. Dazu kam es aber nicht weil mein Großvater zwei Jahre vorher verstarb. An der Hochzeit ihres ältesten Sohnes konnte meine Großmutter nicht teilnehmen, weil die Heirat in Friesland nicht bekannt geworden war. Sie hoffte dann wenigsten die Silberhochzeit meiner Eltern zu erleben, aber auch das war ihr nicht vergönnt. Zur Hochzeit gab es zwei Geschenke, die von meiner Großmutter wie Augäpfel gehütet wurden. Von ihren Eltern bekam sie einen Messingwandleuchter, der aus dem Hause ihrer Großeltern stammte, also nichts gekostet hatte aber doch ein Stück mit Bedeutung war. Der Leuchter ist Teil des Fideikommis und befindet sich in meiner Obhut. Von den Geschwistern wurde ein Geneverset geschenkt. Manufaktur Gouda, 1920. Das Set bestand aus zwei Krucken für alten und neuen Genever, klein und groß, und einem Tablett. Bei der Verteilung des Nachlasses wurden die Stücke unter den drei Brüdern aufgeteilt, der große Bruder bekam die große Krucke, der kleine die kleine Krucke. Der Mittlere das Tablett. Mit der Auflage einer späteren Zusammenführung in den Fideikomis.

Auf Java angekommen musste meine Großmutter erfahren, dass sich ihr Mann mit einer Geschlechtskrankheit infiziert hatte, deren Behandlung langwierig war und das dazu führte, weiterer Nachwuchs auf sich warten ließ. Nach vier Jahren kam das zweite Kind zur Welt, Sohn Albert. Der dritte Sohn Johann und die Tochter Mippi wurden noch in Indonesien geboren. Die Töchter Saapke und Maaike wurden in Friesland geboren. Mein Vater hatte eine vage Erinnerung daran, dass es wohl auch einige Fehlgeburten gegeben hat.

Über die Zeit in Indonesien berichte ich in dem Kapitel über die Jugendjahre meines Vaters. Nach der Rückkehr aus Indonesien setzte sich die Abwärtsspirale in Bewegung und es begann für meine Großmutter eine entbehrungsreiche Zeit, die nicht nur den politischen und wirtschaftlichen Umständen geschuldet war. Die Familie war inzwischen auf 8 Personen angewachsen und meine Großmutter hatte damit alle Hände voll zu tun und keine Zeit und Gelegenheit für eigene Aktivitäten oder geschäftliche Betätigungen. Zusätzlich war sie noch mit der Malaria infiziert, wodurch sie oft aufs Krankenlager geworfen wurde. Mit dem Aufenthalt in Bielefeld war dann der Tiefpunkt erreicht. Die Malariaschübe wurden durch den gesundheitlichen Allgemeinzustand immer häufiger. Mit dieser Krankheit konnte in Bielefeld niemand umgehen, weder die Nachbarn, noch die sozialen Hilfsdienste. In Friesland war das anders, denn viele Familien hatten Indonesienheimkehrer und denen waren der Krankheitsverlauf und der Umgang damit bekannt. In Indonesien war die Krankheit nicht der Rede wert, denn die Erkrankten lagen im Bett und warteten auf das Ende der Fieberattacke. In der Senne trug mein Vater die Hauptlast und war damit überfordert. Von dem despotischen Vater war keine Unterstützung zu erwarten, die Schwestern waren zu jung. Die beiden Brüder machten eine Lehre und hatten sich dem Einfluss des älteren Bruders entzogen. Die „Braunen Schwestern“ wurden zur Hilfe gerufen, aber kapitulierten. Als bei meinem Großvater Hodenkrebs diagnostiziert wurde, war es klar Familie Gaastra in die besetzten Niederlande abzuschieben. Mein Vater war inzwischen volljährig und konnte in Bielefeld bleiben. Albert brachte seine Geschwister zu seiner Tante, der Schwester der Mutter, die immer wieder der Notnagel war. Meine Großeltern folgten einige Wochen später, im Oktober 1943. Auf der Rückreise wurden sie während eines Bombenangriffs auf dem Dortmunder Bahnhof bestohlen. Mit nur zwei Koffern erreichten sie schließlich Heerenveen, wo die Bahnlinie wegen kriegsbedingter Beschädigung endete. Meine Großmutter lieh sich bei einem Bauern eine Schubkarre, legte die beiden verbliebenen Koffer hinein und ihren todkranken Mann in Decken gehüllt auf die Koffer und machte sich bei schlechtem Wetter auf den Weg in das 64 km entfernte Leeuwarden, damit der in seiner Heimatstadt, wie es sein Wunsch war, sterben konnte.

Bei allen Widrigkeiten und Demütigungen kam eines für meine Großmutter absolut nicht infrage, eine Trennung oder Scheidung. Darum kam sie auch mit ihrer Schwägerin nicht zurecht, mit der sowieso eine offene Rechnung wegen des Versuchs ein Zusammensein der Liebenden zu verhindern bestand. Mit einer Scheidung, die darauf basierte, dass ein Vermögen gemeinsam ausgegeben wurde um kurz danach eine neue lukrative Ehe einzugehen, war die Dame für meine Großmutter gestorben. Dass sich meine Mutter sich gerade mit diesem Familienmitglied besonders gut verstand, machte die Schwiegertochter keinesfalls sympathisch und belastete das Verhältnis nachhaltig. Als ihr jüngster Sohn sich scheiden ließ, wurde das auf das äußerste missbilligt, obwohl die ganze restliche Familie den Schritt als längst überfällig betrachtete. Als der Sohn nach zwei Jahren eine neue Partnerin fand, an der es absolut nichts auszusetzen gab, heiratete er sie. Meine Großmutter war da schon pflegebedürftig und in einem Pflegeheim untergebracht. Nach der Trauung besuchte er seine Mutter um sie zu informieren und die neue Schwiegertochter offiziell vorzustellen. Meine Großmutter wies die zur Begrüßung ausgestreckte Hand zurück und drehte sich demonstrativ zur Wand. Es gab dann zwischen Mutter und Sohn keinen Kontakt mehr. Als ich vor wenigen Jahren in Verbindung mit meiner eigenen Scheidung darüber sprach, stritt mein Vater dieses Vorkommnis ab und wollte angeblich auch nie etwas davon gehört haben, verwies es in das Reich der Fabel. Beim nächsten Besuch bei meiner Tante habe ich sie gebeten den Sachverhalt zu bestätigen, was sie zum Ärger meines Vaters auch tat. Den größten Ärger bekam ich dann ab, weil es ungehörig war solche schwarzen Seiten der Familiengeschichte zu wissen. Dass ich als Familienoberhaupt vielleicht mehr wusste, weil mir auch mehr zugetragen wurde hatte er wohl verdrängt. Die Gradlinigkeit seiner Mutter in punkto Ehe hat er dabei nicht gesehen. Es dürfte meine Großmutter sehr getroffen haben, dass von ihren 14 Enkelkindern 10 geschieden sind, oder mit geschiedenen Ehepartnern verheiratet.

Nach dem Tode meines Großvaters stellte sich die Frage der Vormundschaft für die noch minderjährigen Kinder. Dieses Amt wurde meinem Urgroßvater angetragen, der es mit der Begründung ablehnte er hätte vollstes Vertrauen zu seiner Schwiegertochter, dass sie ihre Kinder (im seinem familiären Sprachgebrauch „Brut“) selber erziehen könne und keiner Kontrolle bedürfe. Meine Großmutter stellte das mir gegenüber so dar, dass es das einzig positive gewesen wäre, das er jemals über sie gesagt hätte. So kann das auch gesehen werden, aber ich halte es eher für einen Selbstbetrug. Aktueller Hintergrund war ein anderer. Leeuwarden war eine Kleinstadt mit ca. 60.000 Einwohnern, in der wenig geheim blieb und in der die Familie Gaastra nicht unbekannt war. Die Mädchen waren durch die sanitäre Situation im „Kuckuck“ nicht mit einem WC vertraut und hockten sich in den Vorgarten der Tante. Das auch noch in einer äußerst bürgerlichen Wohngegend! Das machte in der Stadt sofort die Runde, mit einer zusätzlichen politischen Färbung. Da kommt diese Kollaborateurfamilie aus dem Reich des germanischen Übermenschen zurück, und das ist der Erfolg! Das sieht man doch was aus dem Reich zu erwarten ist! Es bestätigte was hinter vorgehaltener Hand über das Land der Besatzer gemunkelt wurde, eine totale Verrohung der Menschen hinter der Grenze, ein absinken auf ein tierisches Niveau. Dieses Vorkommnis landete in Windeseile bei meinen Urgroßvater und bestärkte ihn darin sich den Zweig Gaastra-Westerbaan mit allen Möglichkeiten vom Halse zu halten.

Das funktionierte auch bis zu meinem Auftauchen in Leeuwarden. Ich war ein so liebes und nettes Kind (diese Behauptung stammt nicht von mir!) und war als erstes Enkelkind und Urenkel von Grußmutter und Urgroßmutter gleichermaßen begehrt. Kaukasischer Kreidekreis in Neuauflage, nur dass ich nicht hin und her gezerrt wurde, sondern grenzenlos verwöhnt von zwei Frauen, die sich unversöhnlich gegenüber standen. In punkto verwöhnen bin ich in die Fußstapfen meines Großvaters getreten, zum Glück aber nicht mit den weitreichenden Folgen. Unbewusst spaltete ich auch meine Eltern, meine Mutter schlug sich auf die Seite der „Mozart Straat“ mein Vater naturgemäß auf die Seite seiner Mutter.

Aber es wurde keine Gelegenheit ausgelassen meine Großmutter zu demütigen. So zum Beispiel zu einem Familienfest, wo „vergessen“ wurde sie einzuladen. Anlass war die Ernennung des zweitjüngsten Sohnes (Onkel Fre, unser „Seeheld“) zum Kapitän. Fre wollte gerne zur See fahren wo seine Mutter absolut dagegen war. Die Marineschule in Den Helder verlangte Schulgeld. Meine Urgroßmutter bestärkte ihrem Mann darin, das zu verweigern. Das war verständliche Mutterliebe. Es kam aber die Bruderhilfe aus Indonesien, mein Großvater zahlte das Schulgeld und fiel seinen Eltern in den Rücken. Eine Möglichkeit sich die Liebe wenigstens eines Bruders zu erkaufen, was auch geklappt hat. Der „Seeheld“ war der einzig, der immer und rückhaltlos zu seiner Schwägerin gehalten hat und immer wenn er Landgang hatte und seine Eltern besuchte auch seiner Schwägerin einen Besuch abstattet. Was in der „Mozart Straat“ gar nicht gerne gesehen wurde. Fre heiratete eine Frau aus Alkmaar und ließ sich da auch nieder. Kam darum nur selten nach Leeuwarden. Wenn er auf See war, konnte er seine Schwägerin nicht materiell unterstützen, war aber eine große moralische Stütze. Die erste „Große Fahrt“ führte ihn als Offiziersanwärter nach New York. Wo er zu dem Zeitpunkt ankam, als die Niederlande von Deutschland überfallen und besetzt wurden. Der Rückweg war ihm also versperrt und viele seiner Kameraden heuerte er bei der US-Marine an. Dort stieg er bis zum Steuermann auf, wurde drei Mal torpediert und hoch dekoriert. Als der Krieg in Europa beendet war, befand er sich mit seinem Geschwader im Pazifik wo der Krieg noch andauerte. Er wurde zwar sofort entlassen, musste aber von der Westküste über Land an die Ostküste weil ihm ein Flug von der Marine nicht zugestanden wurde und auch die Weiterreise nach Amsterdam erfolgte mittels Truppentransporter. Nach 7 Jahren Abwesenheit kam Fre zu seiner Frau zurück. Seine inzwischen siebenjährige Tochter kam von der Schule nach Hause, schlich sich zu ihrer Mutter in die Küche und frage ihr Mutter: „Wer ist der fremde Mann, der vorne in unserem Wohnzimmer sitzt?“ Als er nach einigen Jahren das Kapitänspatent erhielt, richteten seine Eltern aus Dankbarkeit ein großes Familienfest aus. Fre war das einzige Familienmitglied, das, abgesehen von einigen Widerstandskämpfern, aktiv am II. Weltkrieg teilgenommen hatte. Als Fre nachfragte, wo denn seine Schwägerin Jantje mit ihren Kindern bliebe, machte sich betretenes Schweigen breit und es musste eingestanden werden sie sei „vergessen“ worden. In seiner Dankesrede brüskierte er seine Eltern damit, indem er die Anwesenden zwang einen Toast auf seinen verstorbenen Bruder auszusprechen, ohne dessen Hilfe er es nicht zum Kapitän gebracht hätte.

Kapitän Fre war aber ein wirklicher Seeheld, denn als in den Niederlanden ein Gesetz eingeführt wurde, nach dem Kapitäne mit 55 Jahren die Brücke verlassen mussten, nahm er widerwillig Abschied. Bei seiner letzten Fahrt geriet er vor der holländischen Küste in ein schweres Unwetter, dem auch ein norwegisches Schiff zum Opfer zu fallen drohte. Die siebenköpfige Besatzung konnte gerettet werden. Aber Kapitän Gaastra gibt kein Schiff auf, auch kein fremdes! Er konnte auf seiner letzten Fahrt noch einmal zeigen, was er bei der US-Marine gelernt hatte. Das angeschlagene Schiff wurde eingefangen, längsseits genommen und vertäut nach Rotterdam geschleppt. Bei der Einfahrt in den Rotterdamer Hafen wurde er von den Feuerlöschbooten mit Wasserkaskaden empfangen. Fernsehen und Zeitungen berichteten ausführlich darüber. Der Norwegische König verlieh ihm einen Orden, den er aus der Hand des Botschafters entgegen nahm, wieder vor laufenden Fernsehkameras. Nach diversen Kriegsauszeichnungen krönte er seine seemännische Laufbahn mit einem zivilen Orden. Den er aber nie getragen hat, sowie es auch kein Foto von ihm mit Ordensschmuck gibt. Fre vertrat die Meinung, nie etwas geleistet zu haben für das er einen Orden verdient hätte, alles was er getan hätte wäre nichts anderes als seine Pflicht gewesen. Jeder Seemann hätte den Untergang eines Schiffes verhindert. Ob andere Seefahrer ohne die Erfahrungen aus dem Krieg das gekonnt hätten, bleibt dahingestellt. Es war die Aufforderung Lord Nelsons vor der Schlacht von Trafalgar: „Ich verlange von Jedermann, dass er heute seine Pflicht tut!“, der er folgte. Fre ist bisher der einzige Seefahrer im Stammbaum und der hat die Latte so hoch gelegt, dass die nachfolgenden Generationen wohl besser an Land bleiben.

Solche Familienmitglieder sind natürlich die Zierde eines Stammbaumes. Aber die Familie schmückte sich schon vorher mit einem Seehelden, mit dem holländischen Seehelden schlechthin, Admiral Michael Adrian de Ruyter 1607 - 1677. Nur hatte der einen Makel, er war nur angeheiratet. Unsere „Stammmutter“, die mit dem Kaffeehaus in Heereveen, war eine geborene de Ruyter und stamme aus dieser Familie. Unser Familienarchiv in Heerenveen hütet als Reliquie eine Seekiste des Admirals mit seinem Namen und Wappen. Als bisher einziger Admiral auf der Welt hat de Ruyter die Engländer in 2 Seeschlachten bezwungen. Ein wichtiger Mann für den Niederländischen Freiheitskrieg. Aber ich persönlich halte ihn im Stammbaum doch etwas zu weit entfernt um sich mit ihm zu schmücken.

Die Rückkehr nach Leeuwarden verbesserte die Situation in keiner Weise, im Gegenteil. Neben der wirtschaftlichen Situation im besetzen Land, kam die gesellschaftliche Ächtung. Wenn es in Leeuwarden einen Slum gab, dann war es das Gebiet, in dem der Familie einen Bleibe zugewiesen wurde. Ich kann mich an das Haus noch sehr gut erinnern. Es bestand aus einem kleinen Wohnzimmer, einem Flur, der gleichzeitig als Küche genutzt wurde. Unter dem Dach befanden sich 3 Miniräume als Schlafzimmer. Der Garten bestand aus einen ummauerten Hof, in dessen einer Ecke sich ein Holzverschlag als Abtritt befand. In diesem Loch, denn anders ist es nicht zu bezeichnen, wohnten 7 Personen. Auch wir haben die ersten Wochen dort „wohnen“ müssen. Was aber nur möglich war, weil ein Zimmer geräumt wurde. Johann und Albert wurden ausquartiert. Albert fand Aufnahme bei der Familie seiner Freundin (und späteren Frau), deren Familie auch nicht gerade am besten beleumdet war. Für die „Mozart Straat“ Sodom & Gomorra. Aber keinesfalls ein Grund Abhilfe zu schaffen, sondern in unchristlicher Nächstenliebe nachzutreten. Alle Gaastras wohnten standesgemäß in eigenen Häusern. Meine Mutter war von den Verhältnissen so geschockt, dass sie meinen Vater verlassen und nach Bielefeld zurück zu kehren. Da wurde meine Großmutter aktiv, die ansonsten in Legasthenie verfallen war und sorge amtlich dafür, dass meine Mutter nach Deutschland zurückkehren konnte, aber ich war Niederländer und durfte, genau gesagt musste im Lande bleiben. Selbst wenn beide Elternteile wieder in Bielefeld gewohnt hätten wäre ich bei meiner Großmutter geblieben. Wer meine Mutter kannte, weiß, das hätte sie nie zugelassen, dann lieber weiter gelitten. Das war der Zeitpunkt, an dem meine Urgroßeltern eingreifen mussten. Wer von beiden die treibende Kraft war ist nicht mehr feststellbar, in einem Punkt herrschte Einigkeit, ich, der Kronprinz durfte nicht in die Hände der ungeliebten Schwiegertochter fallen. Die hätte nämlich den größten Anspruch gehabt. Da konnte dann schnell gehandelt werden und meinem Vater wurde das Haus in Snakkerburen zur Miete angeboten. Das lag an der Stadtgrenze Leeuwardens, aber nicht in Leeuwarden und wir wohnten somit nicht in der Provinzhauptstadt. Und es gab noch einen anderen günstigen Aspekt, in die Stadt führte nur ein Fußweg oder eine Deichstraße, die ganz nah an der Mozart Straat vorbei führte. So konnte meine Mutter regelmäßig meine Urgroßeltern besuchen. Wenn sie Besorgungen in der Stadt machte, bei denen ich ein Klotz am Bein gewesen wäre, gab sie mich lieber in der Mozart Straat in Obhut als im Slum der Schwiegermutter. Soweit ich mich erinnern kann, war mir das egal, denn bei beiden Parteien wurde ich verwöhnt. Qualitätsunterschiede bei den Süßigkeiten spielten für mich (noch) keine Rolle. Aber ich war lieber bei meiner Großmutter, denn da waren mehrere Kinder, mit denen ich spielen konnte. Bei meinen Urgroßeltern ging es steif und förmlicher zu.

Aber es spielte noch eine dritte Person eine bedeutende Rolle, die im Hintergrund die Fäden zog. Das war die einzige Tochter meiner Urgroßeltern meine Großtante Foek, über die ich schon berichtet habe. Sie und ihre Mutter waren ein Herz und eine Seele, und sie waren Intrigantinnen hoch 3, zu denen sich später noch eine Schwester meines Vaters gesellte. Nach der Scheidung von Tulp heiratete sie einen entfernten Vetter, Herbert Wempe (der Name ist hier auch schon gefallen), Direktor eines arisierten Bankhauses in Amsterdam. Wenn mein Großvater bräunliche Flecken auf seiner schon nicht ganz weißen Weste hatte, waren die von Herbert Wempe tiefbraun. Nach dem Kriege wurde er auf der Insel Texel interniert oder inhaftiert, das ist eine unterschiedliche Betrachtungsweise. Johann, der jüngste Bruder meines Vaters meldete sich zur Armee. Nicht weil er entsprechende Ambitionen hatte, sondern eine gesicherte Verpflegung, die bei seiner Mutter nicht gewährleistet war. Und siehe da, Enkel Johann landete bei der Wachmannschaft auf Texel, mit dem Geheimauftrag des Großvaters seinen Onkel mit Kaffee, Zigaretten und Schokolade zu versorgen. Mein Onkel Johann erzählte mir dann auf meine Nachfragen (zum Leidwesen meines Vaters habe ich viel nachgefragt, nach seiner Ansicht sogar zu viel) das wäre für ihn mit erhöhten „Beschaffungskosten“ verbunden gewesen, aber er hätte dadurch neben dem kargen Wehrsold noch eine Nebeneinnahme gehabt. Das war ein Dilemma, in dem mein Urgroßvater steckte, sein Bruder nahm den „Schierlingsbecher“ weil er die Verlobung seiner Tochter mit einem deutschen Offizier zugelassen hatte. Mein Urgroßvater sorgte dafür, dass sein deutscher Schwiegersohn im Lager ein angenehmeres Leben hatte. Dass eine Schwiegertochter, nur wenige Kilometer entfernt mit fünf Kindern am Rande des Existenzminimums hauste war deren eigenes Verschulden. Niemand hatte sie gezwungen seinen Sohn zu heiraten. Im Gegenteil. Tante Foek und meine Mutter verstanden sich vom ersten Augenblick an prächtig obwohl sie charakterlich keine Berührungspunkte hatten. Es war der Makel, mit einem „Feind und Besatzer“ verheiratet zu sein, der die beiden Frauen zusammenschweißte Foek informierte meine Mutter über die Familieninterna, besonders über die Schattenseiten und die Leichen im Keller. Das war keine Böswilligkeit, sondern für meine Mutter ein Schutzschild gegen Angriffe. Alles Negative der Familiengeschichte (auch Vorkommnisse aus viel früherer Zeit, und davon gab es reichlich) habe ich von meiner Mutter erfahren, die damit die offene Rechnung mit Ihrer Schwiegermutter beglich.

Der (reichliche) Besitz Herbert Wempes wurde eingezogen. Natürlich in den Augen meiner Urgroßmutter völlig zu Unrecht, dezimierte es doch auch das erheiratete Vermögen ihrer Tochter, die sie jetzt bei sich aufnehmen und auch versorgen musste, und das dann auch standesgemäß. In Vergessenheit geriet, dass wenige Jahre vorher der Sohn mit seiner Familie nach Deutschland abgeschoben wurde weil keine Bereitschaft einer Unterstützung bestand. Nach seiner Entlassung ist Herbert nach Oldenburg in sein Elternhaus gezogen und wurde Bezirksdirektor einer namhaften Bausparkasse, in den fünfziger Jahren in Ostfriesland eine Lizenz zum Gelddrucken. Das Vermögen wuchs beständig und unter anderem legte er sich ein größeres Anwesen in Spanien zu. Dabei spielten Freunde aus der „Legion Condor“ eine Rolle. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Netzwerke auch nach den 1.000 Jahren noch hervorragend funktionierten.

Über diese Kapitel der Familiengeschichte habe ich mit meinem Vater so gut wie nie gesprochen, weil ich wusste es ist sinnlos. In diesen Angelegenheiten machte sich schon sein Gedächtnisschwund bemerkbar, der sich besonders in den letzten zwei Lebensjahren verschlimmern sollte. Es war meinem Vater gar nicht recht, dass ich Zugang zum Familienarchiv hatte und was viel schlimmer war, auch nutzte. Mein Vater betrieb seine Vogelstraußpolitik, bzw. verschloss im dunklen Keller die Augen. Der dicke Bundeskanzler und im Nebenberuf promovierter Historiker, dessen Doktorarbeit auf unerklärlicher Weise nicht mehr auffindbar ist, hat das schöne Wort geprägt „von der Gnade der Späten Geburt“. Ich bin ein Kind der 68ziger, der Generation die Fragen stellte, die aber nicht beantwortet wurden. Und darum wühle ich im Familienarchiv. Oder sollte es Familiendreck genannt werden?

Wofür ich meinen Vater bewundere, dass er wie ein Löwe für seine Mutter gekämpft hat, um ihr eine Rente zu verschaffen. Nach 12 Jahren Dienst in den Kolonien konnte mein Großvater mit einem Rentenanspruch den Dienst quittieren, was er auch getan hat. Das war eine Regelung, die in allen Kolonien Gültigkeit hatte, auch in den karibischen Besitzungen. Diese Renten waren aber an den dortigen Lebensstandard angepasst, der erheblich niedriger als im Mutterland lag. Zum Beispiel entfielen Heizkosten, die in den Niederlanden einen erheblichen Teil des Einkommens ausmachen konnten. Nach 12 Dienstjahren wurde auch eine Abfindung gezahlt, die mein Großvater mit seinen geschäftlichen Misserfolgen verbraucht hatte, und auch keine weitere Beschäftigung bekommen hatte. Ins niederländische Rentensystem hatte er somit nie etwas eingezahlt und keine Ansprüche. Als meine Großmutter Witwe geworden war beantragte sie eine Pension, die aber abgelehnt wurde. Da muss aber die Situation in den Niederlanden der Nachkriegszeit bedacht werden.

Die Niederlande waren neutral und dachten wie im Ersten Weltkrieg auch ungeschoren davon zu kommen. Ein Trugschluss wie sich erweisen sollte. Das Land wurde ohne Kriegserklärung und entsprechender Vorbereitung angegriffen. Im Deutschen Reich waren die Kriegsvorbereitungen bereits im September 1936, unmittelbar nach den Olympischen Spielen, begonnen. 60 Millionen Deutsche standen 16 Millionen Niederländern gegenüber, und die Niederländer hatten keine Rüstungsindustrie. Nur die Flotte war einigermaßen verteidigungsfähig. Deren Aufgabe war aber mehr der Schutz der überseeischen Gebiete. Als der wegen des Überfalls Japans nötig gewesen wäre, erreichte sie das Kriegsgebiet nicht mehr, bzw. war von den Besatzern beschlagnahmt. Neben der mangelhaften Ernährung der Bevölkerung, weil erhebliche Lebensmittelmengen ins Reich transportiert wurden, war es auch der Terror gegen die Bevölkerung. Das war nicht nur die Vernichtung der Juden. Über eine Million Fahrräder wurden „beschlagnahmt“. Da muss ich immer etwas schmunzeln wenn ich besonders hier in Berlin höre oder lese, dass die bösen Russen einfach die Fahrräder geklaut hätten. Aber bekanntlich: wenn zwei das gleiche tun, ist es noch immer nicht dasselbe. Vermutlich war ein Teil dieser Fahrräder nur ein „Durchgangsposten“ und stammte aus dem geplündertem Holland. Wohnraum wurde vernichtet, Rotterdam und andere Küstenstädte wurden ausradiert. Das war genauso unnütz wie die Bombardierung Dresdens, oder Bielefelds. In Friesland, in der Nähe Schlotens, mussten die Bewohner eines Dorfes ihre Häuser innerhalb einer Stunde verlassen (inklusive Vieh), weil Werner von Braun dort eine Abschussrampe für die V2-Waffen errichtete. Bevor die Alliierten das Dorf erreichten, wurde es mit der Raupe dem Erdboden gleich gemacht. Dabei wurden von dieser Rampe nur zwei Raketen abgefeuert, denn die Anlieferung aus Peenemünde klappte nicht mehr. Dazu waren viele Familien betroffen weil arbeitsfähige Männer als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt wurden und dort wegen der Arbeits- und Lebensbedingungen, oder durch Kampfhandlungen umgekommen sind. Zwangsarbeitern war es verboten, Schutzräume aufzusuchen. Nach dem Kriegsende verbesserte sich die Lage aber nicht, eher wurde sie noch schlimmer. In Deutschland jammerte man über die Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die den Alteingesessenen zur Last fielen. In den Niederlanden waren es die Rückkehrer aus Indonesien, das nach dem Abzug der Japaner seine Selbstständigkeit erkämpft hatte. Die Eingliederung von Ostpreußen im Ravensberger Land oder in Niedersachsen war weniger problematisch als die Eingliederung von Menschen aus dem tropischem „Smaragdgürtel“. Die wussten nicht mehr mit einem Ofen zum heizen umzugehen, die kannten auch keine Jahreszeiten und kamen im Mutterland auch mit dem Verkehr nicht zurecht, denn in Indonesien gab es den von den Engländern eingeführten Linksverkehr. Ostpreußen, ein polnisches Herzogtum, hat 200 Jahre zu Preußen, defakto Deutschland gehört. Niederländisch Indien fast auf den Tag genau 350 Jahre, zu Holland. Das waren mehr als zehn Generationen. Diese Menschen einzugliedern war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Dazu kam noch ein Gesundheitsproblem, unter dem auch meine Großmutter litt, die Malaria, von der ein großer Teil der Rückkehrer befallen war.

In dieser Situation wird nun die aus dem Reich zurückgekehrt Witwe eines vermeintlichen Kollaborateurs vorstellig, um für sich und ihre „Brut“ eine Unterstützung zu verlangen. Wie frech war dieses Weib eigentlich! Wenn sie eine Rente verlange, dann solle sie sich doch an die Eisenbahngesellschaft auf Java wenden. Die Entscheidungsträger in den Gremien waren alles „aktive Widerstandskämpfer“ Männer voller Heldenmut, deren Heldentum vorwiegend darin bestand sich weggeduckt zu haben. Wir hatten in der Familie einige echte Widerstandskämpfer, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben und ggf. auch geopfert hätten. Diese Familienmitglieder haben nie ein Problem mit meiner Mutter gehabt, da hat es auch nie Vorwürfe gegeben, Probleme machten die Maulhelden, die den Kampf gegen die Deutschen erst aufnahmen, als der der Krieg und die Besatzungszeit schon einige Jahre zurück lagen. Je größer der zeitliche Abstand wurde, je größer wurden die Heldentaten. Was auch ermöglicht wurde, weil Zeitzeugen, die dazu etwas hätten sagen können inzwischen das zeitlich gesegnet hatten.

Mein Vater hat dann einen langen Schrift- und Nervenkrieg für seine Mutter geführt. Der Tenor war, die Antragstellerin war, im Gegensatz zu ihrem Mann gänzlich unpolitisch und auch nicht in der Nazipartei. Als „rechtlose“ Ehefrau hatte sie gehorsam zu folgen, wohin auch immer der Ehemann hin ging. Schließlich war ihr dass in dem calvinistischem Elternhaus eingebläut worden. Untermauert wurde das mit der Umsiedlung nach Indonesien und der nicht gewünschten Rückkehr nach 12 Jahren in eine ungewisse Zukunft. Der Frau die Unterstützung zu versagen hieße sich mit den Nazis auf eine Stufe zu stellen und eine Sippenhaft zu verfolgen. Letztendlich bekam meine Großmutter eine minimale Rente bewilligt, und sogar eine Nachzahlung für mehrere Jahre. Davon konnte sie sich dann dringend benötigten Hausrat und Wäsche kaufen und das Mobiliar vervollständigen. Als äußerster Luxus wurde ein Radio angeschafft.

Interessant ist, dass die Bemühungen meines Vaters wegen der Rente für seine Mutter von seinem Großvater dokumentiert wurden. Mein Urgroßvater hatte über meinen Vater ein Dossier angelegt, das von mir im Familienarchiv aufgefunden wurde. Der Schriftwechsel meines Vaters war als Maschinenabschrift vorhanden, obwohl mein Vater mangels einer Schreibmaschine alles handschriftlich verfasst hatte. Ich habe mit meinem Vater darüber gesprochen, der erschüttert war, dass er von seinem Großvater bespitzelt wurde.

Im Jahre 1958 ist meine Großmutter umgezogen, in ein Reihenhaus mit Garten in einer von der Gemeinde errichteten Neubausiedlung, und das nur weil das Wohngebiet als gesundheitsgefährdend eingestuft, und der Slum von der Stadt beseitigt wurde. Das neue Haus war für sie ein Palast, ein Wohnzimmer, drei Schlafzimmer, ein Bad, eine separate Toilette und eine richtige Küche. Dazu noch einen separaten Abstellraum für Kartoffeln, Kohlen und Fahrräder. Zu dem Zeitpunkt wohnten aber noch vier ihrer Kinder bei ihr. Ein Schlafzimmer bewohnten die drei Töchter, ein Schlafzimmer der inzwischen verheiratete jüngste Sohn mit seiner Frau. Wohnraum war noch immer knapp. Bis kurz vor ihrem Tode hat sie in dem Haus wohnen können.

Die finanzielle Lage meiner Großmutter hat sich nicht nachhaltig gebessert. Als sie Witwe wurde, war sie erst 44 Jahre alt, also noch ein Alter wo sie eine Arbeit hätte aufnehmen können, wenn sie denn eine entsprechende Ausbildung gehabt hätte. Wegen der Malariaschübe war sie als Arbeitnehmerin unzuverlässig. Sie wäre krankheitsbedingt häufig ausgefallen. Meine Großmutter verdiente sich ein paar Gulden als Betreuerin für alte Damen, wo es nicht so wichtig war, dass sie regelmäßig erscheinen musste. Die Arbeit wurde dafür auch nicht entsprechend bezahlt. Sie konnte keine großen Sprünge machen, aber von unschätzbarem Wert und geliebt wurde sie von ihren zahlreichen Enkelkindern. Denen kam die „unkonventionelle“ Haushaltsführung entgegen. Für die meine Mutter als reinliche Bielefelderin einen anderen Ausdruck gehabt hätte.

Als mein Großonkel 2005 verstarb wurde ich offiziell Familienoberhaupt und hatte Zugriff auf das Familienarchiv. In dem Jahr vor seinem Tode haben wir viel miteinander telefoniert und ich wurde in eine Menge Interna eingeweiht, die nicht belegt, oder beweisbar sind. Mit Beginn meines Ruhestandes habe ich mich dann intensiver mit der Familie befasst und Kontakte weiter gepflegt, die mein Großonkel geknüpft hatte. Unser Zweig ist nicht nur über die ganze Niederlande verstreut, sondern hat auch einen Ableger in Bonn (von unseren Stamm und mir der einzige Gaastra in Deutschland, obwohl es hier mehrere gleichen Namens gibt). Weitere Zweige bestehen in Belgien, Canada, Tasmanien und auf den Philippinen. Auch zu meinen Vetter Andries in Heerenveen habe ich einen engen Kontakt und ihn regelmäßig besucht. Einmal sogar mit meinem Vater, weil er den unbedingt kennenlernen wollte. Diese Visite war meinem Vater sichtlich unangenehm. Das Warum haben wir nicht geklärt.

Wenn ich meinen Vater in Bielefeld versorgen musste, hatten wir ja viel Zeit miteinander zu reden, aber noch längst nicht alles beredet. In dieser Zeit habe ich viel über seine Erlebnisse während des Krieges erfahren, andere Dinge wurden ausgeblendet, obwohl er offiziell über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte. Viele Fragen hätten noch besprochen werden können, weil wir glaubten, noch genügend Zeit vor uns zu haben. Es war nicht absehbar, dass er das Gespräch mit mir plötzlich abbrechen würde. Aber der Grund ist verständlich.

Bein unseren Besuchen in Leeuwarden hat mein Vater regelmäßig das Grab seiner Eltern besuch. Das Grab seiner Großeltern, das nur einen Steinwurf entfernt war, wurde von ihm nie besucht.

Sjoerd Gaastra 1921-2013

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