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Die Wissensgesellschaft braucht diese Einzigartigkeit

Für Henry Ford war es ein echtes Problem. »Ich brauche nur zwei Arme und zwei Beine«, seufzte er einmal, »aber immer bekomme ich noch einen Kopf dazu.« Und die Köpfe der Arbeiter in seiner Fabrik »Highland Park« in Detroit wehrten sich heftig gegen Henry Fords Zumutungen: Das Fließband, das Ford im Jahr 1913 eingeführt hatte, machte die Arbeit wesentlich produktiver – und so monoton, dass es nicht mehr auszuhalten war. Ein Jahrhundert zuvor mussten die englischen Fabrikanten die an Landarbeit und natürliche Zeitrhythmen gewöhnten Arbeiter dem Diktat der Uhr und der Maschine unterwerfen; das ging nicht ohne Rebellionen und große Reibungsverluste ab. Die Ford-Arbeiter wussten zwar, was eine Fabrik ist. Aber tagein tagaus am gleichen Platz stehen, immer den gleichen Handgriff verrichten, immer im Takt des Fließbands bleiben, das Denken abschalten, daran waren sie noch nicht gewöhnt. Kunststück: In Highland Park liefen ja auch die ersten Fließbänder der Welt.

Die Reaktion der Arbeiter war eine Abstimmung mit den Füßen. In den ersten Monaten nach Einführung des Fließbands stieg die Fluktuationsrate in der Ford-Fabrik (aufs Jahr hochgerechnet) auf 380 Prozent. Mit anderen Worten: Die durchschnittliche Verweildauer eines Ford-Arbeiters im Betrieb lag bei drei Monaten! Das betriebswirtschaftlich so vielversprechende Experiment mit der Fließfertigung drohte an der Ablehnung der Beschäftigten zu scheitern.

Henry Ford rettete sein Fließband, und den Kapitalismus gleich mit, indem er die Arbeiter schlicht kaufte: Am 6. Januar 1914, nach den Weihnachtsferien, verdoppelte er den Lohn auf fünf Dollar pro Tag, bei gleichzeitiger Verkürzung der Arbeitszeit von neun auf acht Stunden. Der Job an Fords Fließband war plötzlich der mit Abstand bestbezahlte für einen Arbeiter in ganz Detroit. Die Arbeitssuchenden standen in langen Schlangen vor dem Ford-Personalbüro, die Fluktuation ging dramatisch zurück, und nicht mehr lange, und die Ford-Arbeiter konnten sich ihren Traum vom Wohlstand erfüllen und das Auto kaufen, das sie in Highland Park zusammenbauten. Und ebenfalls nicht lange, und die Konkurrenten nah und fern mussten ihre Löhne ebenfalls steigern, um nicht ihre besten Leute an Ford zu verlieren. Für die Weltrevolution waren diese Arbeiter verloren – und der Siegeszug des Massenkonsums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fegte schließlich den weit weniger effizienten Kommunismus hinweg.

Auf diese Weise gewöhnten sich die Beschäftigten in der Industriegesellschaft während großer Teile des vergangenen Jahrhunderts daran, ihr Denken beim Betreten der Firma auszuschalten. Der Unternehmer, der Direktor, der Vorarbeiter gaben vor, was zu tun war. Und das wurde getan. Nicht weniger, aber auch nicht mehr, genau das, wofür man bezahlt wurde. Für den Arbeitgeber war es, wohlgemerkt, nicht etwa ein Problem, dass die Arbeiter ihren Kopf nicht benutzten – es war die Lösung. Wer Produktivität daran misst, dass immer das gleiche in möglichst kurzer Zeit möglichst oft hergestellt wird, der möchte von seinen Arbeitern keine Originalität, sondern Konformität.

Doch diese Konformität wird schon heute den Bedürfnissen der Menschen genauso wenig gerecht wie den Bedürfnissen der Wirtschaft. Ein Unternehmen von heute hat genau das umgekehrte Problem: Wenn seine Mitarbeiter nicht mitdenken, lebt es nicht mehr lange. Das gilt sogar für die Fabrikarbeitsplätze. Einer der entscheidenden Bestandteile des Erfolgsrezepts, mit dem Toyota zum größten und (meistens) profitabelsten Autokonzern der Welt wurde, heißt »Kaizen«, auf Deutsch: Veränderung zum Besseren. Mit systematischen und standardisierten Methoden werden die Toyota-Arbeiter seit etwa fünf Jahrzehnten an der Weiterentwicklung von Produktion und Unternehmen beteiligt. Die hierdurch erreichte Steigerung von Produktivität und Profitabilität führte dazu, dass in den vergangenen etwa 20 Jahren das Kaizen-Prinzip unter dem Namen »Kontinuierlicher Verbesserungsprozess« auch bei den europäischen Autobauern und anderen großen Industriekonzernen eingeführt wurde. Nachdem am Anfang des 20. Jahrhunderts die Arbeiter lernen mussten, in der Fabrik das Denken abzuschalten, wurde ihren Enkeln und Urenkeln am Ende des Jahrhunderts beigebracht, das Denken wieder anzuschalten.

Was für die Fabrikarbeiter gilt, gilt in noch weit stärkerem Maß für die Wissensarbeiter. Für Designer und Entwickler, für Forscher und Texter, für Ingenieure und Unternehmensberater, für all diejenigen, die dafür bezahlt werden, dass sie bei der Arbeit ihren Kopf benutzen. Denn sie wurden und werden niemals für Konformität bezahlt, dafür, dass sie alles genau so machen wie alle anderen auch – sie werden für Originalität bezahlt, dafür, dass sie etwas Neues entdecken, erfinden, machen, konstruieren.

Die Menschen, die zu einer Innovation beitragen, sind Individuen und nicht ohne weiteres austauschbar. Sie verfügen über eine Kombination von Wissen und Erfahrung, über die so, genau so, niemand anderes verfügt. Ein Teil dieses Wissens kann von der Person, die es besitzt, abgetrennt oder auf andere übertragen werden: durch eine Konstruktionszeichnung, ein Patent, eine mündliche Erklärung, durch Zuschauen bei der Arbeit oder durch ein Buch wie dieses. Aber ein großer Teil des Wissens, über das jeder einzelne Wissensarbeiter verfügt, wird niemals aufgeschrieben oder weiter verbreitet, es bleibt bei ihm und ist für ihn ein wichtiger Faktor in der Konkurrenz um Aufträge oder Arbeitsplätze.

Und nicht nur für den Wissensarbeiter selbst, sondern auch für das Unternehmen, für das er arbeitet, für die Stadt, in der er lebt, für das Land, dem er sich zugehörig fühlt. Ein Land, das sich seine Spitzenposition auf dem Weltmarkt immer wieder neu und gegen immer härtere Konkurrenz erkämpfen muss, braucht Menschen, die in der Lage sind, etwas Besonderes zu leisten, Spitzenleistungen zu erbringen. Nicht nur in einer Branche, sondern in vielen Branchen; nicht nur in einem Beruf, sondern in vielen Berufen; und nicht nur ein paar solcher Menschen, sondern so viele wie möglich.

Der langjährige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf war einer der ersten deutschen Politiker, die erkannten, dass beim Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft auch das Bildungssystem einen Übergang zu bewältigen hatte. »Unsere Bildungseinrichtungen und -perspektiven«, schrieb er bereits im Jahr 2002, »von der Schule bis zum lebenslangen Lernen, gewinnen eine neue Bedeutung. In der Wissensgesellschaft entwickeln sich Bildungsinstitutionen zu >Produktionsstätten< der für unser Land wichtigsten Ressourcen: Wissen und Können. Die Intelligenz, mit der wir zukünftige Probleme in Staat und Gesellschaft bewältigen, wird maßgeblich von ihrer Qualität bestimmt.«

Auch von der Quantität der Qualität? Im vorletzten Absatz habe ich in einer Ansammlung von wohltönenden Formulierungen und Forderungen, die von vielen Politikern oder Unternehmern so jederzeit in Festreden angebracht werden könnten, eine Behauptung mit eingeschmuggelt, die ganz und gar nicht selbstverständlich ist und in den Festreden regelmäßig fehlt: die Forderung, dass so viele Menschen wie möglich in die Lage versetzt werden sollen, etwas Besonderes zu leisten. Wer von den Herausforderungen von Weltmarkt und Wissensgesellschaft redet, will in der Regel nur die Besten, die Klügsten, die Innovativsten fördern, die Stammzellenforscher, Genomdesigner und Teilchenbeschleuniger, um die sich auch alle anderen Staaten und Universitäten reißen. Diese schmale Schicht digitaler Nomaden im globalen Dorf soll es dann sein, die auch dem Rest der Bevölkerung dazu verhilft, an den Segnungen der Wissensgesellschaft teilhaben zu lassen.

Einer der großen Vorteile der gerade zu Ende gehenden Epoche des angelsächsischen Kapitalismus war es, dass solche Ideologien auch wesentlich deutlicher ausgesprochen wurden als es in Festreden jemals geschehen könnte. So etwa von den schwedischen, etwas clownesken Management-Beratern Jonas Ridderstrale und Kjell Nordström. Diese wischten in ihrem New-Economy-besoffenen Buch »Funky Business« das katastrophale Bildungsniveau der Jugendlichen unterer Gesellschaftsschichten in den USA schlicht als unbedeutend weg: »Wenn die funky Leute wirklich 100-mal schlauer sind als der Rest, ist der Durchschnitt dann nicht ebenso uninteressant wie geografische Grenzen, öffentliche Fernsehkanäle, Fabriken, die noch auf der Ausbeutung von Muskelkraft basieren, und alte albanische Comics?«

Auf solchem extrem-elitären Gedankengut, und entsprechender Praxis, war beispielsweise die gesamte Zauberwelt des Investmentbankings US-amerikanischer Prägung aufgebaut. Ein paar verdammt smarte Jungs in ebenso smarten Banken oder Hedge-Fonds, die den Rest der Welt vor sich hertreiben und Multimillionen-Gehälter und -Boni kassieren. Und damit der Rest der US-Bevölkerung, der ja eigentlich so uninteressant wie albanische Comics sein müsste, die smarten Bänker gewähren lässt, darf er sich Häuser, Autos und Flachfernseher kaufen, ohne auch nur einen Cent Anzahlung dafür zu zahlen; zumindest nicht gleich. Und wenn der kalifornische Erdbeerpflücker seine Hypothek nicht mehr bedienen kann, kein Problem: Sein Kredit ist von den 100-mal schlaueren Bänkern längst an irgendwelche europäischen Dummköpfe weiterverbrieft worden – sollen die doch schauen, wie sie von uninteressanten albanischen Comics ihr Geld zurückbekommen.

Der Absturz dieser »Masters of the Universe« seit Sommer 2007 zeigt deutlich, wie fatal es sich auswirken kann, wenn ganze Volkswirtschaften auf der Leistungsfähigkeit einer schmalen, noch dazu auf wenige Sektoren beschränkten Wissenselite beruhen. Großbritannien und die USA haben im vergangenen Vierteljahrhundert ihre Produktionsbasis weitgehend aufgegeben und sich auf die immerwährenden Renditen aus der Finanzindustrie verlassen. Doch von der wird nicht viel übrig bleiben.

Zwei weitere Argumente möchte ich noch dafür anführen, die produktive Basis einer Wissensgesellschaft möglichst breit auszurichten. Das erste ist eine kleine, etwas milchmädchenhafte Rechnung, die ich im Jahr 2001 in meinem Buch »Die humane Revolution« aufgemacht habe. Ihr Ausgangspunkt war eine Prognose des US-Management-Professors Peter F. Drucker aus dem Jahr 1999: »Der wichtigste und tatsächlich einzigartige Beitrag des Managements im 20. Jahrhundert war die fünfzigfache Steigerung der Produktivität der Industriearbeiter. Die Produktivität der Wissensarbeit und der Wissensarbeiter auf ähnliche Weise zu steigern, dürfte sich als der Beitrag erweisen, den das Management im Laufe des 21. Jahrhunderts leisten muss.«

Und dann meine Rechnung: »Wenn auch weiterhin die Löhne mit der Produktivitätsentwicklung Schritt halten, entspräche das einem durchschnittlichen Gehalt von mehr als 250.000 Mark. Pro Monat! Allerdings brutto. Bei einer solchen Verfünfzigfachung der Produktivität läge das durchschnittliche Jahresgehalt in Deutschland höher als ein durchschnittlicher Sechser im Lotto. Was machen Sie, wenn Sie jedes Jahr einen Sechser im Lotto verdienen? Werden Sie dann auch im dritten Jahr noch arbeiten? Und wenn ja: was?«

Es soll hier keine Rolle spielen, ob Prognose und Rechenergebnis eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Vorhersagen, die auf einen Zeitraum von 100 Jahren zielen, kann man nach zehn Jahren noch nicht wirklich beurteilen. Aber mir hatte die Rechnung damals geholfen, ein Gefühl für die Dimension des damit verbundenen Wandels zu bekommen: Jedes Jahr einen Sechser im Lotto als Arbeitslohn! Wir alle verdienen dann im Durchschnitt so viel wie heute die besten Fußballprofis! Und einen solchen Durchschnitt schafft man nicht mit ein paar Mega-Stars und vielen albanischen Comics, sondern nur mit einem System, in dem tatsächlich ein großer Teil der Gesellschaft als Wissensarbeiter einzigartige Leistungen erbringt.

Wie diese Leistungen aussehen könnten: keine Ahnung. Aber es muss Spaß machen, sie zu erbringen. Denn wenn eine Gesellschaft noch weiter ökonomisch funktionieren soll (und das muss sie ja, weil die hohen Einkommen prognosegemäß durch entsprechend hohe Arbeitsproduktivität finanzierbar werden), kann sie das nur, wenn niemand mehr seine Arbeit als Zwang oder Pflichtübung ansieht, sondern jeder in ihr seine Herausforderung, seinen Kick oder seinen Sinn findet. Ergebnis dieser Überlegung war damals der Untertitel meines Buches: »Warum Sie in Zukunft an Ihrem Arbeitsplatz tun können, was Sie wollen.«

Das zweite Argument entfernt sich von dem, was wir heute noch Arbeitsplatz nennen. Zu dem, was wir heute Spielplatz nennen. In der Wissensgesellschaft werden die Grenzen zwischen solchen ehemals klar separierten Räumen verschwimmen. In den kommenden Jahren werden Information und Wissensvermittlung in der gleichen Weise mobil werden wie das Handy die Kommunikation mobil gemacht hat. Es ist längst nicht mehr zwingend, dass Erwerbsarbeit an Arbeitsplätzen stattfinden muss.

Manchmal gibt es etwas mühsame Zwischenschritte. So kommt es bei mir derzeit vor, dass ich drei Notebooks auf einmal laufen lassen muss: einen eigenen, auf dem unter anderem dieses Buch entsteht, ein Gerät des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, für das ich Chefredakteur der Zeitschrift GDI Impuls bin, und eines der Financial Times Deutschland, für deren Kundenzeitschriften-Tochter ich ein Objekt betreue. Bei beiden Unternehmen ist es ziemlich komplex, als Externer in die internen Netze zu gelangen sowie Zugang zur jeweils benötigten Software zu bekommen, also haben sie das Problem dadurch gelöst, dem Externen ihre eigene Hardware zur Verfügung zu stellen. Ganz einfach – aber jetzt kann ich nur noch am Esstisch im Wohnzimmer arbeiten, oder muss ständig mit drei Notebooks jonglieren; und nur mit Handgepäck ins Flugzeug zu steigen, kann ich auch vergessen.

Der nächste Schritt steckt schon in meiner Hosentasche: ein Speicherstäbchen, auf dem sich all jene Daten und Programme befinden, für die ich derzeit kundeneigene Notebooks herumschleppen muss. Ein Bekannter nutzt dieses System schon für seine multiplen beruflichen Identitäten. Er kann (fast) gleichzeitig als Außendienstler für die Firmen Müller, Meier und Schulze tätig sein, muss dem USB-Anschluss seines einen Notebooks nur den jeweils passenden Stick füttern. Sein Problem ist nur, dass diese Speicherstäbchen so klein sind und er ständig Angst hat, sie zu verlieren.

Nach dem wiederum darauf folgenden Schritt wird er auch diese Angst nicht mehr haben müssen. Wenn alle Vorgänge um Identifizierung und Zugangsberechtigung in einen nicht störenden Hintergrund verschoben werden, muss man nur noch sich selbst dabeihaben, mit Finger- Augen- oder Genabdruck, und das Notebook öffnet sich für jede meiner privaten oder beruflichen Welten. Und wozu überhaupt Notebook? Auch die Tätigkeiten, die derzeit noch der Computer für uns ausführt, werden nach und nach so in den Hintergrund treten, dass gar kein Gerät mehr gebraucht wird. Heute schon können spezielle Tafeln alle Änderungen elektronisch speichern, die man mit einem Stift an der dorthin projizierten Präsentation vornimmt. Bald kann es ausreichen, seinen neuen großartigen Design-Entwurf in den Sand des Spielplatzes zu malen, an dem man gerade auf seine Kinder aufpasst, den Rest erledigt die Technik dann schon.

Perspektivisch also kann jeder jederzeit an jedem Ort jeder Erwerbstätigkeit für jeden beliebigen Zeitraum nachgehen. Je nach individueller Perspektive kann das wie eine Drohung klingen: Ich werde keine arbeitsfreien Zeiten und Räume mehr haben, rund um die Uhr (24/7 sagt man wohl heute) bin ich vom Kapitalismus abhängig. Oder es klingt wie eine Verheißung: Ich kann selbst bestimmen, wann und wie viel ich arbeite, rund um die Uhr ist der Kapitalismus von mir abhängig. Und in der Regel wird das Resultat irgendwo dazwischen liegen: Technischer und gesellschaftlicher Wandel eröffnen dem Einzelnen neue Freiheiten, und legen ihm gleichzeitig neue Verpflichtungen auf.

Wenn derart der ehemals feste Block Erwerbsarbeit sich verflüssigt, dann werden in großer Zahl produktive Potenziale nutzbar, die derzeit noch weitgehend brach liegen. Das größte davon: Mütter. Die Mütter von heute sind nämlich nicht nur besser ausgebildet, als ihre Mütter es waren, sie verfügen auch in der Regel bereits über einige Jahre Berufserfahrung – weil sie sich immer häufiger erst für Kinder entscheiden, wenn sie bereits mitten im Berufsleben stehen. Und sie bilden Netzwerke, auf Spielplätzen, beim Tee, in der Krabbelgruppe, die Know-how, Kontakte und Erfahrungen aus unterschiedlichsten Branchen, Funktionen und Lebenswelten versammeln. In Berufsbildern ausgedrückt, sitzen Marketingfachfrau und Werbegrafikerin, Ärztin und Architektin, sitzt alles das, was sich traditionelle Arbeitsplatzbesitzer mühsam auf Kongressen und Seminaren an Kontakten zusammensuchen müssen, gemeinsam auf der Bank am großen Sandkasten im Stadtpark.

Bislang wird das in den Individuen wie in den Netzwerken steckende ökonomische Potenzial schlicht nicht genutzt. Die Infra- und Denkstrukturen von Staat und Unternehmen sind noch auf die Bürokratien der Industriegesellschaft ausgerichtet: Der Sandkasten hat keinen Platz in unserer heutigen Massenarbeitnehmerhaltung. Mütter, die Geld verdienen wollen oder müssen, werden deshalb noch immer dazu gezwungen, morgens das Kind in der Krippe abzuwerfen, in die City zu hetzen, vier Stunden im Hamsterrad zu japsen, mit schlechtem Gewissen und ohne Karrierechance zurückzujagen und dafür nach Steuern gerade so viel übrig zu behalten, dass Putzfrau und Babysitter noch bezahlt werden können.

Doch derzeit schon ändert sich dieses Muster, und es wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch weiter verändern. Wenn mit der Nutzung von Mütter-Netzwerken (M2M, Mother to Mother, könnte man sie nennen) neue Geschäftsmodelle möglich werden, werden diese Modelle auch Realität werden. Wenn Frauen die Möglichkeit bekommen, ihre beruflichen Qualifikationen auch in der Erziehungszeit zu nutzen und weiterzuentwickeln, werden viele das auch tun. Und wenn, und damit zurück zum eigentlichen Argument, auf diese und ähnliche Weisen die ökonomischen Potenziale jedes einzelnen Menschen jederzeit in jedem beliebigen Ausmaß realisiert werden können, sollte die Gesellschaft alles nur erdenkliche dafür tun, dass es diese Potenziale auch gibt – bei möglichst vielen Menschen, in möglichst hoher Qualität.

Dafür gibt es nur zwei Mittel: Leben und Lernen. Leben knüpft Kontakte und bringt Erfahrung, Lernen bringt Wissen. Wobei: Auch beim Lernen knüpft man Kontakte und sammelt Erfahrung; und auch beim Leben erwirbt man neues Wissen. Also wäre Leben gleich Lernen und Lernen gleich Leben? Es wäre. Aber es ist nicht. Aber es wird.

Eine Rakete zwischen allen Stühlen

Die klassische Schrift der Raketentechnik ist das 1923 erschienene Buch »Die Rakete zu den Planetenräumen« des aus Siebenbürgen stammenden Physikers Hermann Oberth. Der damals 29 Jahre alte Oberth beschreibt in diesem Buch alle wesentlichen Elemente, die für den Bau einer mit Flüssig-Treibstoff betriebenen Rakete mit mehreren Stufen erforderlich waren, seine Arbeiten bildeten die Grundlage für das erste deutsche Raketen-Programm, in dem Oberth ab 1929 mit Wernher von Braun und anderen Pionieren der Raketentechnik zusammenarbeitete.

Doch der Doktortitel, den er mit »Die Rakete zu den Planetenräumen« eigentlich erlangen wollte, blieb Oberth verwehrt. Die Physikalische Fakultät der Universität Heidelberg, an der er damals studierte, lehnte im Jahr 1922 die Annahme der Doktorarbeit ab: Der Bau von Raketen sei »keine klassische Physik«, mit Fahrten zu den Planeten beschäftige sich nicht die Physik, sondern die Astronomie. Die Heidelberger Astronomen allerdings lehnten die Promotion ebenfalls ab – sie beschäftigten sich zwar mit den Planeten, aber nicht mit der Fahrt dorthin.

Der derart abgewiesene Student packte seine Arbeit wieder zusammen und reichte sie notgedrungen als Diplomarbeit an der Technischen Universität Klausenburg in Rumänien ein. 1923 bestand er dort das Staatsexamen, seine Arbeit musste er auf eigene Kosten drucken lassen.

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