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Mikhail Dobrin erfuhr vom Tod seiner Eltern und seiner kleinen Schwester eine gute Woche später. So lange hatte es gedauert, bis Nikolaj Petrovich Visnijakov die Mitteilung erhalten hatte, was da in seinem Namen angerichtet worden war und die Leute, die er damit beauftragt hatte, die näheren Umstände dieses, wie er es ausdrückte, ‚Unglücks‘ aufzuklären. So kam auch die Identität und der Aufenthaltsort des einzigen Überlebenden dieses Familiendramas ans Licht, Mikhail Pavlovitsch Dobrin, sechzehn Jahre alt, Schüler des Wildenburg-Internats am Rande des Ruhrgebietes.

Das Schicksal des Jungen war Visnijakov nicht gleichgültig. Soviel Verantwortungsbewußtsein hatte er immerhin, daß er es für seine Pflicht hielt, sich um ihn zu kümmern, nachdem was dessen Familie in seinem Namen angetan worden war. Er wollte ihm die schreckliche Nachricht selbst überbringen und danach schließlich mit ihm zusammen überlegen, wie es weitergehen sollte.

Hier, in seinem Haus, wollte er mit dem Jungen reden. Damit er sich wappnen konnte gegen das, was möglicherweise passieren mochte. Vorsorglich hatte er sogar einen Arzt und eine Krankenschwester beauftragt, sich zur Verfügung zu halten und sich notfalls um einen Patienten zu kümmern, der einen seelischen Schock erlitten hatte.

Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, wie sich herausstellte. Mikhail Dobrin nahm die Nachricht vom Tod seiner Eltern und seiner kleinen Schwester erstaunlicherweise recht gefaßt entgegen. Scheinbar jedenfalls. Solange er bei Visnijakov zu Besuch war, ließ er sich nichts anmerken.

Später jedoch, nachdem ihn Visnijakovs Fahrer mit der schweren Maybach-Limousine wieder zum Internat zurückgebracht hatte, sah die Sache anders aus. Sobald er in seinem Zimmer allein war, brach der Junge vollkommen zusammen. Er schrie und weinte hemmungslos, stundenlang, tagelang, denn es war Wochenende, und niemand hörte ihn, und kümmerte sich um ihn. Er war sich selbst überlassen in seinem Schmerz. Nirgendwo gab es einen Menschen, zu dem er hätte gehen können.

***

Hier, im Internat war er mehr geduldet als gelitten, und Verwandte hatte er jetzt keine mehr. Abgesehen von ein paar entfernten Onkeln und Tanten, die irgendwo in Kasachstan lebten und die er nicht kannte. Und Nikolaj Petrovich Visnijakov hielt er instinktiv nicht für jemanden, dem er sich anvertrauen wollte.

Obwohl der sehr freundlich und mitfühlend gewesen war. Natürlich hatte er dem Jungen verschwiegen, wie seine Familie zu Tode gekommen war und welche Mitschuld er, Visnijakov, daran hatte. Von einem tragischen ‚Unfall‘ hatte er geredet, für den niemand etwas gekonnt habe. Und Mikhail hatte oberflächlich keinen Grund, an Visnijakovs Geschichte zu zweifeln. Trotzdem war er mißtrauisch geblieben und hatte das großzügige Angebot des reichen Mannes, vorerst bei ihm zu wohnen, abgelehnt.

Visnijakov hatte Verständnis dafür gehabt, ihm jedoch versichert, daß er sich von nun an um ihn kümmern würde. Und das war auch geschehen. Visnijakov hatte den Nachlaß der Dobrints geregelt und erwirkt, daß er die Vormundschaft über Mikhail bekam, was diesem jedoch vorläufig verborgen geblieben war. Anfangs hatte er für diese Dinge keinen Sinn gehabt und danach waren sie ihm gleichgültig gewesen. Zumal sich in seinem Leben nichts änderte.

Er war nach wie vor allein. So war es vor dem Tod seiner Eltern gewesen, und so war es auch jetzt. Ob seine Eltern nun in Tyumen, viertausend Kilometer weit entfernt, lebten oder ob sie dort begraben waren, was machte das für einen Unterschied? Dachte er jedenfalls. Manchmal. Aber immer wieder wurde es ihm auch bewußt, daß es sehr wohl einen Unterschied machte. Bislang hatte er die Zeit im Internat bis zur Ankunft seiner Eltern als Überbrückung angesehen. Nun waren die Verhältnisse endgültig.

***

Im Internat ließ er nichts darüber verlauten. Nicht dem Direktor gegenüber, nicht zu den Lehrern und schon gar nicht mit seinen Mitschülern sprach er über sein Schicksal. Letzteres fiel ihm besonders leicht. Sie wollten ja ohnehin nichts von ihm wissen. Sie nannten ihn ‚Den Ruski‘ und sahen ihn an wie ein exotisches Tier, das wie zufällig in ihrer Umgebung lebte.

Anfangs war es ihm nicht leicht gefallen, sich damit abzufinden, aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt. Er war als Außenseiter im Internat empfangen worden, man hatte ihn stets als solchen behandelt und so war es nur folgerichtig, daß er dazu geworden war.

Nicht der einzige, aber doch ein gewaltiger Unterschied zu dem, wie er in Tyumen angesehen gewesen war. Dort hatte er viele Freunde gehabt, er war beliebt, ein toller Kumpel. Sogar seine Lehrer hatten ihn gemocht. Der Direktor seiner Schule hatte ihn am letzten Schultag vor seiner Abreise eigens zu sich kommen lassen, um sich von ihm zu verabschieden und ihm alles erdenklich Gute zu wünschen.

„Wenn Du alt genug wärst, würde ich jetzt gerne eine Karaffe Wodka mit Dir leeren“, hatte er gesagt und Mikhail ein paarmal feste auf die Schultern geklopft. „Auf eine glückliche Zukunft in Deutschland und daß Du uns und Deine Heimat nicht ganz vergißt. Do swidanja“

Der neue Direktor hatte es nicht einmal für nötig gehalten, ihn mit einem Handschlag zu begrüßen. Drei unpersönliche Minuten hatte Mikhail in seinem Büro verbracht, dann hatte der Direktor ihn in die Verantwortung des Sekretariats abgeschoben, wo man ihm sein Zimmer anwies und ihn für den Rest des Tages nicht mehr behelligte, damit er sich dort einrichten könne. Am nächsten Tag erwarte man ihn dann pünktlich um acht Uhr im Klassenraum der Klasse zehn zum Unterricht.

Dort hatte ihn der Klassenlehrer mit einem Kopfnicken begrüßt, ihn der Klasse vorgestellt und ihm seinen Platz angewiesen. Etwas mehr als eine Minute hatte das gedauert, dann begann der normale Unterricht, wie gewöhnlich.

Um die näheren Umstände und Gepflogenheiten im Internat mußte er sich selbst kümmern. Im Sekretariat hatte man ihm die Schul- und Hausordnung gegeben und eine Liste mit Büchern, die für den Unterricht benötigt wurden und die er sich in der Stadt besorgen sollte. Von seinen Mitschülern hatte sich keiner um ihn gekümmert.

Mikhail war das alles sehr seltsam vorgekommen. Aber er hatte es akzeptiert. Notgedrungen. Trotzdem fragte er sich, woher diese übertrieben ablehnende Haltung ihm gegenüber kam. Er konnte es sich nicht erklären.

Erst Wochen später begann er, den Grund dafür zu ahnen. In der Stadt, in deren Nähe das Internat lag, gab es eine relativ große Gruppe russischer Einwanderer, die ‚Spätaussiedler‘ genannt wurden, meist nur sehr schlecht Deutsch sprachen und normalerweise unter sich blieben, weil sie die Gepflogenheiten ihrer russischen Heimat nicht ablegen mochten, mit denen man in Deutschland wenig anfangen konnte und die man daher ablehnte.

Unnötig zu sagen, daß auch der Alkohol dabei eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Zusammen mit der dazu noch weithin grassierenden Arbeitslosigkeit vieler dieser ‚Spätaussiedler‘ und dem ihnen eigenen, russischen Temperament ergab sich dadurch eine höchst ungute Gemengelage, die nicht selten zu Polizeieinsätzen führte und schließlich ganz und gar nicht dazu angetan war, die russische Gemeinde in einem guten Licht erscheinen zu lassen. Kein Wunder also, daß man ihm, Mikhail Dobrin, dem Russen, den man für ein Mitglied dieser Gemeinde hielt, mit erheblichem Mißtrauen, ja sogar mit totaler Ablehnung begegnete.

Mikhail gab sich seinerseits allerdings auch wenig Mühe, seinen Lehrern und Mitschülern ihre Vorurteile abzugewöhnen. Zu sehr war er anfangs damit beschäftigt, sich zurechtzufinden und sich sein neues Leben in Deutschland einzurichten. Dann erreichte ihn die Nachricht vom Tod seiner Eltern, und danach war es ihm ohnehin völlig gleichgültig, was die anderen von ihm hielten. Danach war eigentlich gar nichts mehr wichtig.

Er lebte vor sich hin, meistens allein in seinem Turmzimmer und von den anderen unbeachtet. Mehr aus Langeweile als aus Interesse begann er, sich mit seinem Computer zu beschäftigen, den sein vermeintlicher väterlicher Freund und Gönner Nikolaj Visnijakov ihm zur Verfügung gestellt hatte.

Es dauerte nicht lange, bis er feststellte, daß ihm der Umgang mit Bits und Bytes nicht nur Spaß machte, sondern daß er auch ein beträchtliches Talent besaß, vorhandene Programme nach seinen Vorstellungen umzubauen und neue zu schreiben. Zuerst machte er es zum Spaß und zum Zeitvertreib, aber dann fand er heraus, daß sich damit nicht wenig Geld verdienen ließ.

Also fing er an, sich sein Talent vergolden zu lassen. Mit überraschend großem Erfolg. Allerdings freute ihn dabei mehr der Umstand, daß überhaupt Leute bereit waren, für seine Dienste Geld zu bezahlen, als die Summen, die sie ihm auf sein Konto überwiesen. Denn er war ja auf das Geld nicht angewiesen. Nikolaj Visnijakov sorgte dafür, daß es ihm an nichts mangelte.

Trotzdem verkaufte er das, was er sich ausdachte oder worum er gebeten wurde, es sich auszudenken. Blitzschnell beherrschte er die gängigen Programmiersprachen und codierte seine Programme ebenso mühelos wie andere Leute ihren Einkaufszettel schrieben. Er war ein Genie.

In seiner unmittelbaren Umgebung, im Internat, fiel das allerdings niemandem auf. Wie auch, es gab sich ja keiner mit ihm ab. Lehrer und Mitschüler mußten lediglich zur Kenntnis nehmen, daß er ein höchst schlaues Bürschchen zu sein schien, denn er lieferte seine Arbeiten auf einem Niveau ab, das andere vor Neid erblassen ließ. Lediglich seine mündliche Mitarbeit ließ ein wenig zu wünschen übrig. Er hatte zwar immer die richtigen Antworten auf die Fragen, die ihm von den Lehrern gestellt wurden, aber von selbst meldete er sich im Unterricht nie zu Wort. Er war wie eine Maschine, die zuverlässig das Richtige ausspuckte, wenn man auf den entsprechenden Knopf drückte.

„Die Gruppe der Edelgase.“ Der Chemielehrer sah ihn an und machte eine auffordernde Bewegung mit dem Kopf. Die meisten Lehrer taten das, wenn sie ihn aufforderten, eine Antwort zu geben. Mit seinem Namen sprachen sie ihn selten an.

„Helium, Neon, Krypton Xenon, Radon und Ununoctium“, antwortete Mikhail prompt.

„Ununoctium?“

„Es ist ein künstliches erzeugtes, radioaktives Edelgas, Ordnungszahl 118, erstmals hergestellt in 2006, bekannt auch unter dem Namen Eka-Radon. Ob es tatsächlich ein Edelgas ist, weiß man noch nicht. Es gibt zu wenig davon, um das eindeutig nachweisen zu können.“

„Klugscheißer“, meinte einer aus der Klasse. Er hatte es zwar leise gesagt, aber alle hatten es gehört und lachten. Der Lehrer ging nicht darauf ein, sondern fragte weiter:

„Radon?“

Mikhail hatte den Einwurf seines Klassenkameraden ebenfalls gehört, aber auch er beachtete ihn nicht. Er blieb weiterhin unbewegt sitzen, sah den Chemielehrer an und sprach mit ruhiger, gleichtönender Stimme. „Ordnungszahl 86, als Alphastrahler ebenfalls radioaktiv, aber natürlichen Ursprungs. Es kommt im Grundwasser vor und hat eine Halbwertszeit von drei Komma acht Tagen.“

Den Kommentar des Lehrers, er habe seine Hausaufgaben offensichtlich gemacht, nahm Mikhail mit unbewegtem Gesicht zur Kenntnis. Natürlich hatte er das. Sie waren ihm ja aufgetragen worden.

Und so wie in diesem Fall, war es immer, in diesem, ebenso wie in den anderen Fächern. Irgendjemand stellte eine Frage, und er antwortete. Schnell, präzise emotionslos. Auch in seinen schriftlichen Arbeiten spiegelten sich diese Eigenschaften wider.

Über seine Aussprache machte sich inzwischen niemand mehr lustig. Er redete eben so. Und vor dem, was er sagte, wenn er denn etwas sagte, bekamen sie mehr und mehr Respekt. Die bloße, unbegründete Abneigung, die ihm anfangs entgegengeschlagen war, nahm deutlich ab. Stattdessen begann Mikhail, seinen Mitschülern und Lehrern unheimlich zu werden. Der Effekt war allerdings der gleiche. So oder so, niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben. Für ihn änderte sich also nichts. Er blieb allein. Ständig.

Ob ihm das etwas ausmachte oder nicht, wußte niemand zu sagen. Falls es das tat, so ließ er das die anderen nicht merken. Manchmal fuhr er nachmittags in die Stadt, wenn ihm in seinem einsamen Turmzimmer die Decke auf den Kopf fiel. Dann streifte er durch den Stadtpark oder die Straßen und Gassen der Fußgängerzone. Meistens ohne etwas zu kaufen. Allenfalls das eine oder andere Kleidungsstück, das dann zwar unauffällig aber von erlesener Qualität sein mußte. Darauf legte er Wert, egal ob es sich um Hemden, Hosen, Strümpfe oder Unterwäsche handelte. Das Geld dazu hatte er ja.

Und er machte es sich zur Gewohnheit, niemals nachlässig gekleidet zum Unterricht zu erscheinen. Stets erschien er in Stoffhosen, sorgfältig gebügelten, einfarbig weißen, grauen oder hellblauen Oberhemden und blank geputzten Lederschuhen. Ein weiterer Grund für seine Mitschüler, die zumeist die übliche Uniform aus Jeans, Sweat oder T-Shirts und Sneakers trugen, sich über ‚den Ruski‘ lustig zu machen.

Gelegentlich traf er bei seinen Ausflügen auf Mitschüler aus dem Internat, die einzeln oder auch in Gruppen unterwegs waren. Anfangs wartete er darauf, daß jemand ihn ansprach, wenn er auf sie zuging. Aber das taten sie nicht. Einige deuteten mit einem Kopfnicken an, daß sie ihn erkannt hatten, die meisten aber drehten sich einfach weg. Nachdem er das wiederholt erfahren hatte, gewöhnte er sich an, ebenfalls achtlos an ihnen vorüberzugehen.

Hin und wieder erkundigte sich Nikolaj Visnijakov nach seinem Befinden. Er antwortete stets prompt und höflich. Doch seine Einladungen nahm er nicht an. Aus Gründen, die er sich nicht erklären konnte, widerstrebte es ihm, den Mann zu besuchen. Und Visnijakov bedrängte ihn nie. Wahrscheinlich sprach er die Einladungen nur aus Höflichkeit aus, und es war ihm ganz recht, daß Mikhail sie jedesmal ausschlug.

***

Mit Schularbeit und dem Schreiben von Computerprogrammen gelang es ihm halbwegs, seine Einsamkeit zu überwinden und seinen Schmerz zu betäuben, den ihm der Verlust seiner Familie noch immer bereitete. Nur die Nächte waren furchtbar, wenn er in seinem Bett lag und die Bilder seiner Eltern und der kleinen Svetlana, die er so sehr geliebt hatte, vor sich sah und nicht einschlafen konnte. Oft mußte er weinen, weil er es kaum zu ertragen vermochte.

So auch eines Sonntags früh, als er es nicht mehr aushielt, mit den quälenden Gedanken an seine Familie im Bett zu liegen. Panikartig sprang er aus dem Bett, flüchtete aus seinem Zimmer, dem Internat und sah per Zufall den wartenden Bus an der Haltestelle unterhalb der Burg stehen. Er fuhr damit in die Stadt und stieg an der Probsteikirche aus, weil deren Glocken gerade zur Frühmesse riefen. Sie erinnerten ihn an die Gottesdienste in der Snamenski-Kathedrale in Tyumen, die er mit seiner Familie regelmäßig besucht hatte.

Ohne daß er es eigentlich vorgehabt hatte, ging er in die Kirche hinein, kniete sich im Schatten eines Pfeilers hin und feierte die Frühmesse mit. Erstaunlicherweise kam er dabei vollkommen zur Ruhe, auf eine Art und Weise, die ihn dazu brachte, von diesem Sonntag an stets zur Frühmesse in die Stadt zu fahren.

Und obwohl er dort ein regelmäßiger Besucher unter nur wenigen wurde, die ihren Weg zu dieser frühen Morgenstunde in die Kirche fanden, bemerkte niemand den schmächtigen Jungen mit der Igelfrisur.

Auch am ersten Adventssonntag kniete Mikhail wieder auf seinem Platz neben dem Pfeiler. Und wie immer waren außer ihm nur ein paar Leute zur Frühmesse in die Kirche gekommen, meistens ältere. Das große Kirchenschiff der neugotischen Probsteikirche war fast leer. Das kalte Winterwetter mit dem frischen Neeschnee, der über Nacht gefallen war, tat sein übriges dazu.

Ihn konnte das nicht vom Besuch des Gottesdienstes abhalten. Er war anderes Wetter gewohnt. Die minus vier Grad erschienen ihm geradezu milde im Vergleich zu den minus zwanzig, die um diese Jahres- und Tageszeit in seiner Heimat herrschten. Andächtig folgte er der Liturgie, die hier eine ganz andere Form hatte als in der Heimat. Schwermütiger die Gesänge dort und viel ausladender. Doppelt so lange dauerte der Gottesdienst daheim. Hier war alles in einer Dreiviertelstunde erledigt. Trotzdem tat es ihm gut.

Eine Weile blieb er noch knien auf seinem Platz, nachdem die Meßfeier zu Ende war und die Kirche sich langsam leerte, bis er allein zurückblieb. Einmal mehr wurde ihm bewußt, daß die Zeit in Deutschland, das halbe Jahr, das er jetzt hier war, und der Verlust seiner Familie ihn zum Einzelgänger gemacht hatten. Er war ‚Der Ruski‘, ein sonderbarer Typ mit einem komischen Akzent, mit dem keiner so recht etwas anzufangen vermochte.

Er bemerkte den Priester, der die Meßfeier zelebriert hatte, erst, als er unmittelbar vor ihm stand.

„Kann ich Dir helfen?“ fragte der Mann. „Geht’s Dir nicht gut?“

Mikhail sah ihn von unten herauf an und schüttelte den Kopf. Als er sah, daß der Priester ihn anlächelte, lächelte er zurück.

„Nein, danke. Mir geht es ausgezeichnet.“

Das stimmte zwar nicht ganz, denn gerade hatte er wieder einmal an Svetlana gedacht, aber das brauchte er dem unbekannten Priester ja nicht unbedingt zu erzählen.

Obwohl ihm der Mann auf Anhieb sympathisch war. Er war noch ziemlich jung, Mitte dreißig vielleicht, eine hoch aufgeschossene Gestalt mit freundlich blickenden, grau-grünen Augen, hinter einer goldfarben geränderten Brille und dichtem, schwarzen Haar, das bis an den Kragen reichte.

„Du kommst jeden Sonntag zum Gottesdienst“, stellte der Geistliche fest. „Ich beobachte das jetzt schon eine ganze Weile. Und Du bist immer allein.“

Mikhail nickte, sagte aber nichts.

„Für die anderen aus der Familie ist es wohl noch zu früh?“ fragte der Priester weiter.

„Kaum“, antwortete Mikhail. „Ich lebe allein.“

Der Andere war erstaunt. „Du lebst allein? Wie alt bist Du denn, daß Du schon eine eigene Wohnung hast?“

„Ich bin sechzehn, und ich habe keine eigene Wohnung. Ich lebe im Internat auf der Burg“, gab Mikhail in seinem üblichen, emotionslosen und gleichförmigen Tonfall zurück, mit dem er stets die Fragen der Lehrer zu beantworten pflegte.

„Und dann kommst Du den weiten Weg hierher zur Frühmesse? Alle Achtung.“

„Das ist nicht besonders mühsam. Es fährt ein Bus. Und der kommt genau zur richtigen Zeit vor der Kirche an.“

„Das mag ja sein, aber trotzdem finde ich es bemerkenswert, daß jemand in Deinem Alter jeden Sonntag so etwas auf sich nimmt.“

Mikhail zuckte dazu nur mit den Achseln. Er war inzwischen aufgestanden und sah den Priester geradeheraus an.

„Du bist nicht von hier.“ Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.

„Nein. Ich komme aus Rußland.“

„Und Du bist Katholik?“

„Nein, russisch-orthodox. Aber eine russisch-orthodoxe Kirche gibt es hier nicht. Jedenfalls kenne ich keine. Davon abgesehen hält der Bus ja, wie gesagt, gleich vor der Tür dieser Kirche, und der Liebe Gott ist ja auch derselbe.“

Mikhail gestattete sich ein kleines Lächeln.

Der Priester hingegen lachte, daß es in dem leeren Kirchenschiff widerhallte.

„Nicht schlecht, diese Begründung. Demnach führen uns also die städtischen Verkehrsbetriebe einen weiteren Gottesdienstbesucher zu. Und noch dazu einen, der die Frühmesse besucht. Ich sollte dem Oberstadtdirektor einen Dankesbrief schreiben.“

Jetzt lachte auch Mikhail. Der Priester war ihm sympathisch. Auf jeden Fall war er der erste, der sich auf ein längeres Gespräch mit ihm einließ. Und er schien es auch noch weiterführen zu wollen, denn er ließ sich auf der Gesangbuchablage der Bank nieder.

„Seit wann bist Du denn im Internat?“

„Seit dem Beginn des Schuljahres.“

„Und, gefällt’s Dir dort?“

Wieder zuckte Mikhail mit den Achseln. „Die Schule ist gut. Sie sorgen dafür, daß man eine Menge lernt.“

Das war nicht ganz die Antwort, die der Geistliche erwartet hatte, weil sie weder Zustimmung noch Ablehnung ausdrückte.

„Heimweh?“ fragte er deshalb.

„Kaum“, antwortete Mikhail.

An der Art, wie der Junge diese knappe Antwort hervorpreßte, merkte der Pfarrer, daß er anscheinend einen wunden Punkt berührt hatte.

„Willst Du darüber reden?“ fragte er deshalb.

Mikhail zögerte einen Moment. Doch dann schüttelte er den Kopf. Beide schwiegen sie daraufhin. Eine unbehagliche Situation. Schließlich erhob sich der Priester von der Bank, auf der er gesessen hatte.

„Wenn Du es Dir anders überlegst, Du findest mich im Pfarrhaus, gleich neben der Kirche.“ Dann nickte er Mikhail zu, drehte sich um und schritt langsam zum Eingang der Sakristei. Mikhail blieb so lange sitzen, bis der Mann darin verschwunden war, dann ging er ebenfalls hinaus.

***

Er wartete eine gefühlte Ewigkeit auf den Bus, der ihn zurück zum Internat brachte. Es lag einen kleinen Fußweg entfernt von der Endhaltestelle der Buslinie, auf einem nicht allzu hohen Hügel. Eine alte Burg, die man vor Jahren restauriert und zu einer Internatsschule umgebaut hatte.

Eine Straße führte dort hinauf, die sich einmal um den Hügel herumwand und ein kleiner Fußweg, über den man in direktem Anstieg nach oben gelangte. Der Fußweg war nicht geräumt und tief verschneit, aber Mikhail nahm ihn trotzdem, denn er war wesentlich kürzer als die Straße.

Fast oben angelangt, kamen ihm zwei Mädchen entgegen. Er kannte sie beide. Kerstin und Lara. Sie gingen in seine Klasse. Gesprochen hatte er noch nie mit ihnen. Auch an diesem Morgen rechnete er nicht damit, daß es dazu kommen würde. Sie würden ihn vermutlich nicht einmal ansehen.

Plöztlich rutschte eine von ihnen auf dem glatten, steil abschüssigen Weg aus und fiel vornüber, geradewegs in seine Arme. Der Aufprall war stark genug, auch ihn von den Füßen zu holen. Hinterrücks stürzte er in den tiefen Schnee neben dem schmalen Pfad. Das Mädchen, es war Lara, stürzte auf ihn. Instinktiv hatte er sie festgehalten. Nun lagen sie am Boden, ihre Gesichter dicht voreinander.

„Choppla“, machte er mit seinem rauen, russichen Akzent und lächelte sie an.

Einen Moment lang war sie zutiefst erschrocken, aber dann entspannten sich ihre Gesichtszüge.

„Chast Du Dir wehgetan?“ fragte er besorgt.

Sie schüttelte den Kopf und wollte sich aufrichten, obwohl er sie immer noch festhielt, was schließlich dazu führte, daß sie beide auf die Seite rollten. Als er es merkte, ließ er sie los, sprang auf und hielt ihr die Hand hin. Sie griff danach und ließ sich von ihm hochziehen. Wieder lächelte er sie an und hielt dabei ihre Hand fest, ein wenig länger als nötig.

„Alles in Ordnung?“

Seine Stimme war sanft, klang fast liebevoll. Sie sah ihm direkt in die Augen. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Tut mir leid.“

„Nicht schlimm. Ist ja nichts passiert“, antwortete er. „Wo wollt Ihr denn hin, so eilig?“

„In die Stadt“, antwortete Kerstin, die inzwischen dazugekommen war. Sie faßte ihre Freundin am Ärmel. „Komm, Lara, wir müssen uns beeilen, sonst ist der Bus weg“, drängte sie.

„Ist er schon“, sagte Mikhail. „Vor zehn Minuten. Ich bin damit aus der Stadt gekommen.“

„So ein Mist“, schimpfte Kerstin und stampfte mit dem Fuß auf. „Der nächste fährt erst wieder in zwei Stunden. Was sollen wir denn jetzt machen?“

„Ich würde sagen, zurückgehen“, schlug Mikhail vor. „Oder wollt Ihr bei der Kälte zwei Stunden lang an der Haltestelle stehen?“

„Nee, ganz sicher nicht“, schnappte das Mädchen, drehte sich um und begann, den Weg wieder hinaufzusteigen.

Mikhail und Lara folgten ihr. Der Weg war gerade breit genug, daß sie nebeneinander hergehen konnten. Sie schwiegen und vermieden es, sich anzusehen.

Sie ist hübsch, dachte Mikhail, soweit man das bei der dicken Kleidung erkennen kann. Vorher war ihm das noch nie aufgefallen. Allerdings war er ihr auch noch nie so nahe gekommen wie vorhin, als sie gefallen war. Da hätte sie ihn beinahe geküßt. Unfreiwillig natürlich. Bei dem Gedanken daran mußte er unwillkürlich lachen.

„Warum lachst Du? Was ist denn so komisch“ fragte sie ihn.

„Ich mußte gerade daran denken, daß Du mir vorhin fast einen Kuß gegeben hättest.“

Sie sah ihn an, nickte und lachte ebenfalls. „Viel hat nicht gefehlt.“

Er sah sie an. „Eigentlich schade. Mir hätt’s gefallen.“

„Kaum“, widersprach sie. „Mit so viel Schwung, wie ich auf Dich draufgeknallt bin, hätt ich Dir dabei wahrscheinlich ein paar Zähne ausgeschlagen.“

„Stimmt auch wieder“, gab er zu. „Trotzdem schade.“

Sie schüttelte lachend den Kopf und wandte sich wieder von ihm ab. Den Rest des Weges legten sie wiederum schweigend zurück.

In der Halle des Internatsgebäudes gingen sie auseinander, ohne sich zu verabschieden. Die Mädchen stiegen die breite Holztreppe hinauf, und Mikhail verschwand hinter einer Tür, durch die man zur Wendeltreppe des Burgturms gelangte. Dort hinauf mußte er, denn sein Zimmer lag ganz oben in diesem Turm.

Es war eines der wenigen Einzelzimmer, über die das Internat verfügte, aber es war nicht besonders beliebt. Es war zwar recht groß und aus den Fenstern bot sich eine phantastische Aussicht, aber man mußte eben die Wendeltreppe fünf Etagen hochsteigen, um hineinzugelangen. Das war auf die Dauer recht mühsam. Außerdem hatte man keine Nachbarn, die man schnell mal treffen konnte.

Mikhail machte das nichts. Das Treppensteigen betrachtete er als Teil der Körperertüchtigung, und mit Nachbarn hätte er ohnehin nichts anfangen können. Es wollte ja niemand etwas von ihm wissen. Gerade wieder war ihm das bewußt geworden, als die beiden Mädchen einfach grußlos davongelaufen waren. Eigentlich hatte er auch nichts anderes erwartet. Aber einen kleinen Stich hatte es ihm dennoch gegeben.

Während er beim Treppensteigen darüber nachdachte, zog er die Handschuhe aus, setzte seine Mütze ab und öffnete seinen dicken Wintermantel. Ein Segen, daß seine Mutter ihm die Sachen eingepackt hatte, als er im Sommer nach Deutschland gefahren war. Damals hatte er sich darüber lustig gemacht, jetzt war er froh, daß er sie hatte. Sie waren zwar nicht besonders modern, und schick waren sie schon gar nicht, aber sie hielten ihn gut warm. Sollten andere sich darüber lustig machen. Ihn störte das nicht. Er brauchte jedenfalls nicht zu frieren.

Oben in seinem Zimmer, zog er den Mantel vollends aus und verstaute die warmen Sachen im Kleiderschrank. Dann stellte er sich vor eines der Fenster und sah hinaus. Blickte über die schneebedeckten Wälder unter ihm und in den grauen Winterhimmel. Richtung Osten. Dorthin, wo seine Heimat lag und wo seine Lieben begraben waren. Auf einmal hatte er wieder furchtbares Heimweh. Er vermißte sie so sehr. Seine Heimat, Mama und Papa und die kleine, geliebte Svetlana. Tränen strömten über sein Gesicht.

Vielleicht hätte er doch mit dem Pfarrer reden sollen. Der hätte ihm sicherlich zugehört. Andererseits, was wäre damit schon gewonnen? Ändern hätte der auch nichts können. Trotzdem, es wäre eine Gelegenheit gewesen, nach einem halben Jahr Schweigen, wieder mit einem Menschen zu reden. Ganz unverbindlich, außerhalb des Schulunterrichts, einfach so. Vielleicht würde er ihn doch gelegentlich mal ansprechen.

***

„Eigentlich ist er ja ganz nett, ‘der Ruski‘, meinte Lara, als sie und Kerstin sich in ihrem gemeinsamen Zimmer ebenfalls ihrer dicken Wintersachen entledigten.

Kerstin zuckte die Achseln. „Ich kann mit dem nix anfangen. Ein komischer Kerl ist das. Hast Du die altmodischen Klamotten gesehen, die er anhatte? So läuft doch heutzutage keiner mehr rum.“

„Aber garantiert hat er darin nicht gefroren“, hielt Lara dagegen. „Und anlächeln kann er einen trotzdem.“

Kerstin sah ihre Freundin eindringlich an. „Was soll das denn heißen? Hast Du Dich etwa in den verknallt?“

„Blödsinn!“ wehrte Lara sofort ab. „Verknallt doch nicht. Aber ich fand ihn irgendwie nett.“

Obwohl, so ganz sicher war sie sich doch nicht, ob sie ihn einfach nur ‚nett‘ fand, oder ob da nicht noch ein ganz klein bißchen mehr war. Sie hatte so ein komisches Gefühl gehabt, als er sie so angelächelt hatte und dann wieder, als er das mit dem Kuß sagte, den sie ihm beinahe gegeben hätte. Aber das wollte sie Kerstin gegenüber nicht zugeben.

„Soll ich Dir die Haare machen?“ fragte sie die Freundin stattdessen. „Jetzt, wo wir nicht in die Stadt können, haben wir ja Zeit dazu.“

Kerstin nickte und zog ihren Pullover aus. Sie gingen hinüber in das kleine Bad, das zu ihrem Zimmer gehörte.

„Was ist jetzt eigentlich mit Achim?“ fragte Lara, während sie sich mit Kerstins Haaren beschäftigte.

Kerstin zuckte mit den Achseln. „Was soll mit ihm sein? Garnix is mit ihm. Aus isses. Der war vielleicht ganz okay, aber letztlich war er doch nur darauf aus, mich ins Bett zu kriegen. Und als ich das nicht wollte, hat er Schluß gemacht.“

„Schade eigentlich. Ich fand, Ihr paßtet ganz gut zusammen.“

„Na ja, wie man’s nimmt. Soviel hatten wir uns auch wieder nicht zu sagen. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, er wollte nix anderes als mich flachzulegen. Und da hatte ich echt keinen Bock drauf. Jedenfalls nicht so schnell, wie er das wollte.“

„Aber grundsätzlich hättest Du’s gemacht?“

„Na klar. Warum nicht, wenn man länger zusammen ist und sich wirklich gern hat. Aber der wollte mir ja schon nach einer guten Woche an die Wäsche, und das ging mir eindeutig zu schnell.“

„Würd ich auch so seh’n“, stimmte Lara zu. „Hab ich ja auch, damals mit Lars. Der war auf dem gleichen Trip. Ein paarmal Händchen halten, ein paarmal küssen und dann gleich ab in die Kiste. Aber nicht mit mir! Von Achim hab ich eigentlich gedacht, der ist nicht so. Aber anscheinend doch.“

Kerstin nickte. „Ist er. Wahrscheinlich ticken die ganzen Jungs so.“

„Vielleicht. Keine Ahnung. Ich wüßte ehrlich mal gern, ob ‚der Ruski‘ auch so ist. Oder sogar noch schlimmer. Von den Russen sagt man das ja.“

Kerstin lachte. „Find’s doch einfach raus“, schlug sie vor.

***

Mikhail gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Er hatte lange aus dem Fenster gesehen, nachgedacht und dabei geweint. Aber schließlich hatte er sich doch zusammengerissen, sich an seinen Schreibtisch gesetzt und sich mit seinem Computer beschäftigt. Aber so recht wollte es an diesem Tag mit dem Programmieren nicht vorangehen.

Nach der Begegnung mit dem Pfarrer, ging ihm jetzt Lara nicht aus dem Sinn. Immer noch sah er ihr hübsches Gesicht, direkt vor seinem, ihre wunderschönen blauen Augen und die niedliche Stubsnase. Schade, daß der Weg zurück zum Internat so kurz gewesen war und sie nicht länger nebeneinanderher hergelaufen waren. Vielleicht wäre er dann wirklich dazu gekommen, mit ihr zu reden. Mehr als nur die paar Worte, die sie jetzt gewechselt hatten.

Obwohl er sich gar nicht sicher war, daß ihm dann auch was eingefallen wäre. Er hatte noch nie länger mit einem Mädchen geredet, geschweige denn, eine Freundin gehabt. Also, geschwärmt hatte er schon für eine. Ziemlich heftig sogar. Man konnte auch sagen, er war unsterblich in sie verliebt gewesen, obwohl er das nie zugegeben hatte. Ekaterina hieß sie, und sie wohnte in seiner Nachbarschaft. Aber seine Freundin hatte sie nicht sein wollen, eher ein guter Kumpel. Glaubte er zumindest. Ob das wirklich so war, hatte er nicht mehr die Zeit gehabt, herauszufinden.

Mit Jungs hatte er da kein Problem. Jedenfalls in Tyumen hatte er das nicht gehabt. Da waren sie eine ziemlich große Clique gewesen und er ganz selbstverständlich mittendrin. Aber hier?

Natürlich mußte der Weg zu einem Mädchen nicht unbedingt über eine Jungenclique führen, natürlich nicht. Aber wenn es ihm nicht mal gelang, mit den Jungs bekannt zu werden, was doch eigentlich überhaupt kein Problem sein sollte, wie sollte er es dann bei einem Mädchen schaffen? Er wußte es nicht, und eine Antwort fiel ihm auch nicht ein, nachdem er länger darüber nachgedacht hatte.

Seufzend gab er es auf und widmete sich wieder seinem Computerprogramm. Energisch versuchte er, Laras Bild aus seinen Gedanken zu verscheuchen. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Also ließ er das Programmieren vorerst sein und griff nach seiner Klarinette.

Das war ein weiterer Vorteil seines Turmzimmers. Hier oben konnte er spielen wann und so lange und so oft er wollte, ohne daß es jemand mitbekam und sich gestört fühlte.

Er spielte nicht schlecht. Zu Hause hatte er Unterricht gehabt und regelmäßig geübt. Unterricht hatte er jetzt nicht mehr, aber das Üben hatte er trotzdem nicht aufgegeben. Im Gegenteil. Das Spielen erinnerte ihn an zu Hause, und deshalb griff er ziemlich oft zu seinem Instrument. Gerade wenn er in so einer Stimmung war wie an diesem Tag.

Nachdem er eine Weile gespielt hatte, merkte er, daß er sich besser zu fühlen begann. So war es jedesmal. Also machte er weiter, bis seine trübe Stimmung endgültig verflogen war. Dann ging er hinunter zum Abendessen.

***

In den nächsten Tagen passierte nichts Außergewöhnliches. Mikhails Begegnung mit den beiden Mädchen hatte kein Nachspiel. Zwar sah er ein winziges Lächeln über Laras Gesicht huschen, als er am Montag Morgen das Klassenzimmer betrat, aber das dauerte nur einen Moment, dann sah sie schon wieder weg. Mit einem geistigen Achselzucken verbuchte er die gestrige Begegnung unter den Ausnahmen und hakte sie ab.

Der Geschichtsunterricht begann.

„Wir haben uns mit den Widerstandskämpfern gegen die Nationalsozialisten beschäftigt“, leitete der Lehrer die Stunde ein. „An wen denken wir da ganz besonders?“ Er sah Mikhail an. „Dobrin?“

„An seine Eminenz Kardinal Clemens August Graf von Galen“, antwortete Mikhail prompt und in seiner gewohnt ruhigen Manier.

Der Lehrer zog erstaunt die Brauen hoch. „Ich dachte mehr an Claus Schenk Graf von Stauffenberg.“

„In zweiter Linie“, erwiderte Mikhail. „Graf von Stauffenberg hat mit seinem Attentat vom 20. Juli 1944 nichts erreicht im Kampf gegen die Nationalsozialisten. Kardinal von Galen mit den ersten beiden seiner berühmten drei Predigten im Juli und August 1941 immerhin, daß die Beschlagnahme und Plünderung von Klöstern in Deutschland und die Vertreibung der Nonnen und Mönche, die sich meistenteils der Pflege von Kranken und Verwundeten und der Aufnahme von Obdachlosen gewidmet hatten, beendet wurde. Aufgrund der dritten Predigt wurde das weit greifende Eutanasieprogramm zunächst gänzlich eingestellt, bevor es dann allerdings, ein Jahr später, doch wieder aufgenommen wurde, wenn auch in einem verringerten Ausmaße. Aufgrunddessen halte ich Kardinal von Galen für bedeutender als Graf von Stauffenberg.“

Mikhail hatte seinen Lehrer bei seinen Ausführungen fest angesehen. Jetzt senkte er den Blick wieder und sah in sein Geschichtsbuch, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag. In der Klasse herrschte erstauntes Schweigen. Auch der Lehrer war überrascht.

„Bist Du Katholik?“ fragte er.

Mikhail sah auf und schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete er knapp.

„Und wieso kennst Du Dich dann mit katholischen Kardinälen aus?“

„Die Aufgabe lautete, sich mit dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten auseinanderzusetzen. Das habe ich getan. Und da ist mir natürlich die Person des Kardinals von Galen nicht entgangen.“

„Und Du hältst von Galen für bedeutender als von Stauffenberg?“

Mikhail nickte. „Aus den vorher angeführten Gründen.“

„Damit befindest Du Dich im Widerspruch zu den meisten Deutschen. Auch namhaften.“

„Das mag sein“, gab Mikhail achselzuckend zurück. „Aber es ändert nichts an meiner Schlußfogerung.“

„Ist das nicht ein wenig arrogant, junger Mann?“ Der Lehrer verzog das Gesicht zu einem hochmütigen Grinsen.

Mikhail fixierte ihn mit unbewegtem Gesicht. „Ich habe mir aufgrund der mir zur Verfügung stehenden Unterlagen eine Meinung gebildet. Diese vertrete ich mit den daraus begründeten Argumenten. Wenn Sie das als arrogant empfinden, kann ich dagegen nichts tun. Sollte meine Schlußfolgerung allerdings fehlerhaft sein, würde ich das gerne erfahren. Deshalb, unter anderem, sitze ich ja hier.“

Auch der Lehrer hatte seinen Schüler fest ins Visier genommen. Jetzt wandte er den Blick ab. „Nun ja“, sagte er und räusperte sich, „direkt fehlerhaft würde ich es nicht nennen. Ungewöhnlich vielleicht, oder unpopulär.“

„Erkenntnisse aus der Geschichte, wenn sie denn richtig sind, müssen nicht populär sein“, gab Mikhail zurück. „Die Aktion Graf von Stauffenbergs und seiner Mitstreiter war zweifellos höchst ehrenwert. Leider Gottes hat sie nichts bewirkt. Im Gegensatz zu den Predigten Kardinal von Galens. Die Popularität von Stauffenbergs mag darin begründet sein, daß er ein Mann der Tat war, von Galen hingegen eher ein Mann des Wortes. Damit macht man sich anscheinend weniger populär.“

„Ach ja?“ warf der Lehrer ein. „Das mußt Du mir begründen.“

Mikhail zeigte sich unbeeindruckt von dieser Forderung. „Die Ereignisse des 20. Juli 1944 sind mehrfach verfilmt worden. Im Gegensatz zum Wirken des Kardinals von Galen“, führte er aus. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als er fortfuhr: „Wer würde sich schon einen Film ansehen, in dem die Handlung darin besteht, drei katholische Gottesdienste zu zeigen? Die geben dramaturgisch nicht viel her, selbst wenn man die Reaktion der damaligen politischen Führung mit einbezieht in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit.“

„Widersprüchlichkeit? Worin bestand die?“

„Man war sich uneins, wie man mit Kardinal von Galen verfahren sollte“, erklärte Mikhail. „Der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, war dafür, den Bischof sofort aufzuhängen. Der Reichspropagandaminister, Doktor Josef Göbbels, sprach sich dagegen aus. Wohl aufgrund seiner katholischen Erziehung wußte er um die Gefühlslage der Katholiken. Im Münsterland, in Westfalen und dem Rheinland gab es zwei Millionen davon, deren Reaktion er daher fürchtete. Reichskanzler Hitler stimmte seinem Propagandaminister zu. Also blieb der Kardinal am Leben.“

In der Klasse war es totenstill. Alle hatten das Gefühl, diesmal erhielten sie ihren Geschichtsunterricht von Mikhail und nicht von ihrem Lehrer. Der schien das ähnlich zu empfinden.

„Du bist gut informiert. Erstaunlich gut für einen Russen.“

Mikhail ließ sich nicht provozieren. „Ich bin auch ein Deutscher“, sagte er ruhig, zog seinen deutschen Paß, den er, ebenso wie seinen russischen, immer bei sich trug, aus der Schultasche und legte ihn vor sich auf den Tisch.

Eine kleine Pause entstand. Ein weiteres Mal räusperte sich der Lehrer verlegen. „Dann bist Du wohl sehr an Geschichte interessiert?“

„Nein“, wies Mikhail, höchst undiplomatisch, die Vermutung seines Lehrers zurück. „Aber Geschichte gehört zum Unterrichtsstoff. Also muß ich mich damit auseinandersetzen.“

„Dafür, daß es Dich nicht interessiert, tust Du es aber ziemlich gründlich.“

Mikhail zuckte die Achseln. „Das kann ich nicht beurteilen.“

***

„Dieser Dobrin ist der arroganteste Bursche, der mir bis jetzt über den Weg gelaufen ist“, meinte der Geschichtslehrer zu seinen Kollegen, als er in der folgenden Pause ins Lehrerzimmer kam. „Aber es ist ihm nicht beizukommen. Gerade hat er mir rotzfrech erklärt, daß ihn mein Unterrichtsfach nicht die Bohne interessiere und mir dabei den Unterricht völlig aus der Hand genommen.“

„Ja, er macht seine Hausaufgaben gründlich“, stimmte der Chemielehrer zu. „Mir ist es neulich ähnlich gegangen. Ich wage kaum noch, ihm eine Frage zu stellen. Zum einen, weil seine Antworten ohnehin immer korrekt sind und zum anderen, weil er diese Antworten mit einem Hintergrundwissen belegt, daß ich mir manchmal wie ein Trottel vorkomme.“

„Er selbst stellt dagegen nie eine Frage“, mischte sich jetzt auch der Mathematiklehrer ein. „Die ganze Zeit sitzt er reglos auf seinem Platz und hört zu. Und spricht man ihn an, reagiert er wie eine Maschine. Kurz und präzise. Seine Klausuren erledigt er in der Hälfte der Zeit die die anderen brauchen. Dann sitzt er da und starrt Löcher in die Luft. Wie die Ergebnisse aussehen, brauche ich Ihnen ja wohl nicht erst zu sagen.“

„Er scheint durch nichts zu erschüttern zu sein.“ Der Geschichtslehrer schüttelte den Kopf. „Heute habe ich versucht, ihn zu provozieren, indem ich ihm vorhielt, daß er sich für einen Russen ziemlich gut in deutscher Geschichte auskenne. Wissen Sie, was er da gemacht hat?“

Die Anderen schüttelten die Köpfe.

„Er hat in aller Ruhe seinen deutschen Paß aus der Tasche gezogen, ihn vor sich auf den Tisch gelegt und gesagt, er sei ebenso auch ein Deutscher. Keine Emotionen, keinerlei ärgerliche Reaktion, nichts. Ich glaube, dieser Mensch ist völlig gefühlskalt.“

„Den Eindruck hab ich auch. Wenn ich mir als Klassenlehrer den Klassenverbund ansehe, stelle ich fest, daß dieser Russe völlig außen vor ist. Er spricht mit niemandem, beteiligt sich an keinerlei Aktivitäten seiner Mitschüler, macht niemals irgendwelchen Blödsinn mit, nichts. Er erscheint zum Unterricht, und anschließend verschwindet er wieder, als hätte es ihn nie gegeben. Kürzlich habe ich mal den Klassensprecher darauf angesprochen, aber der fragte nur, was man mit so einem ‚Spätaussiedler‘ denn wohl anfangen solle. Auf meinen Einspruch hin, daß es sich bei seinem Mitschüler Dobrin ja gar nicht um einen solchen handle, meinte er, das sei doch nicht wichtig. Diese Russen seien doch alle gleich, so oder so.“

„Aber das scheint ihn nicht zu stören. Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, daß er sich auch nur im entferntesten bemüht, in die Klassengemeinschaft hineinzukommen. Nicht mal zum Essen braucht er Gesellschaft. Oder haben Sie schonmal gesehen, daß er mit irgendjemandem zusammen am Tisch sitzt?“

Allgemeines Kopfschütteln. Es läutete zum Beginn der nächsten Unterrichtsstunde. Mit der Vermutung, daß es sich bei Dobrin wohl um einen Psychopathen handeln mochte, dem man besser aus dem Weg ging, trennten sich die drei Lehrer und machten sich auf den Weg in ihre Klassen.

Der Mathematiklehrer in die Mikhail Dobrints. Wohl fühlte er sich dabei keineswegs, denn es galt, die Ergebnisse der letzten Klausur zu besprechen, die er vor einigen Tagen hatte schreiben lassen und die er jetzt korrigiert zurückgeben wollte. Die beste Arbeit hatte, wie gewöhnlich, Mikhail Dobrin abgeliefert. Fehlerlos.

Wortlos händigte er ihm das Heft aus. Ebenso wortlos nahm Mikhail es entgegen und steckte es in seine Tasche. Ohne hineingesehen zu haben. Er wußte ja, daß er keinen Fehler gemacht hatte. Nicht nur der Lehrer sah darin den Audruck unglaublicher Arroganz.

***

Da der Umfang der gestellten Hausaufgaben sich an diesem Montag erfreulicherweise sehr im Rahmen hielt, entschloß sich Mikhail, am Nachmittag in die Stadt zu fahren. Er hatte festgestellt, daß sein Vorrat an Oberhemden unzureichend war. Offensichtlich brauchte die Wäscherei des Internats in letzter Zeit länger als vorher, die Wäsche zu bearbeiten, so daß er nicht mit dem auskam, was er hatte und seine Hemden länger zu tragen gezwungen war, als ihm das angenehm war.

Besonders schwierig oder aufregend war das nicht. Er wußte, was er wollte und wo er es bekam und wurde bei seinem Herrenausstatter auch sofort fündig. In weniger als einer Viertelstunde hatte er seinen Einkauf erledigt.

Als er wieder auf die Straße trat, kam ihm eine Gruppe von Mädchen aus dem Internat entgegen. Lara und Kerstin waren auch darunter, aber keine von beiden ließ sich anmerken, ob sie ihn erkannt hatten. Also ignorierte er sie auch. Wie gewöhnlich.

„Was der wohl hier in der Stadt macht?“ fragte Lara ihre Freundin, nachdem Mikhail an ihnen vorbeigegangen war.

„Frag ihn doch“, antwortete Kerstin.

„Na, so wichtig ist es mir jetzt auch wieder nicht“, gab Lara zurück. „obwohl, interessieren würd’s mich schon. Was macht so einer ganz allein in der Stadt?“

Kerstin zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Aber wir können ihm ja mal hinterhergehen, dann wissen wir’s.“

Die beiden trennten sich von den anderen Mädchen und folgten Mikhail in einer Entfernung, in der er sie keinesfalls bemerken konnte. Was unnötig war, denn er achtete überhaupt nicht darauf, ob jemand hinter ihm herging oder nicht.

Als er an der Propsteikirche vorbeikam, verlangsamte er seinen Schritt. Einen Moment zögerte er, dann ging er auf die Einganstür zu. Sie war unverschlossen. Er ging hinein.

„Was will der denn in der Kirche?“ fragte Lara erstaunt.

„Was fragst Du mich?“ antwortete Kersin. „Vielleicht trifft er sich mit dem, der ihm die Sache mit diesem Kardinal beigebracht hat, mit dem er heute Morgen so angegeben hat.“

„Also, ich find nicht, daß er angegeben hat“, entgegnete Lara. „Er kannte sich halt aus.“

„Auf jeden Fall hat er den Weber ganz schön fertiggemacht. Findest Du nicht? Der wußte am Ende gar nicht mehr, was er sagen sollte.“ Kerstin kicherte leise.

„Hat ihm bestimmt nichts geschadet“, stimmte Lara ihr zu. „Da hat er mal gemerkt, daß andere auch was wissen und nicht nur er selber. Ich find, der Mikhail hat das richtig gut gemacht. Trotzdem möchte ich mal gern wissen, was der werktags in der Kirche macht.“

Wenn sie es gewußt hätte, wäre es ihr vermutlich ziemlich unspektakulär vorgekommen. Nachdem Mikhail das leere Gotteshaus betreten hatte, setzte er sich in die nächstgelegene Bank. Die Einkaufstüte mit den neuen Oberhemden legte er neben sich. Er lehnte sich zurück und blieb unbeweglich sitzen. Weder fing er an zu beten, noch hing er sonst irgendwelche Gedanken nach. Sein Kopf war einfach leer.

So bemerkte er auch nicht den Pfarrer, der aus der Sakristei kam, den einsamen Besucher in der letzten Bank sitzen sah und langsam auf ihn zuging. Im Näherkommen erkannte er in ihm den jungen Mann, den er am Vortag nach der Frühmesse angesprochen hatte. Offensichtlich hatte er es sich überlegt und war gekommen, um zu reden.

„Na, hast Du’s Dir überlegt?“ fragte er, als er unmittelbar vor Mikhail stand, ohne daß der ihn bemerkt hatte.

Als Mikhail die Stimme des Pfarrers hörte, hob er den Kopf. Langsam füllten sich seine Augen und er sah ihn an. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

„Eigentlich nicht“, antwortete er. „Ich bin eher zufällig vorbeigekommen, und hereingegangen bin ich nur, weil wir heute Morgen in der Schule zufällig über Kardinal von Galen gesprochen haben. Schließlich hat diese Gemeinde ja mal zu seinem Bistum gehört.“

„Sowas weißt Du?“ Der Pfarrer war ehrlich erstaunt.

„Eher beiläufig“, winkte Mikhail ab. „Wir beschäftigen uns im Geschichtsunterricht gerade mit dem Widerstand im dritten Reich. Dabei bin ich auf den Kardinal gestoßen, und so weiß ich diese Dinge.“

„Dann hast Du Dich aber ziemlich gründlich damit befaßt, wenn Du sogar die Gemeinden seines Bistums kennst.“

„Tu ich ja gar nicht. Mir ist nur aufgefallen, daß diese auch dazugehört hat. Rein zufällig, weil ich doch hier gelegentlich zum Gottesdienst herkomme.“

„Und sonst? Was hältst Du von ‚Dem Löwen von Münster‘?“

„Er war ein großer Mann“, antwortete Mikhail schlicht.

Der Pfarrer lachte. „Das war er in der Tat. Eins-neunundneunzig, sagt man.“

„In jeder Hinsicht“, ergänzte Mikhail.

„Auch das ist richtig“, stimmte der Pfarrer zu. „Männer wie ihn findet man nicht oft.“

Eine Weile schwiegen sie.

Dann unterbrach der Pfarrer die Stille. „Und was ist mit Dir. Möchtest Du reden?“

Mikhail sah den Priester lächelnd an. „Ach wissen Sie, meine Geschichte ist weit weniger interessant als die des Grafen von Galen.“

„Das weiß ich erst, wenn ich sie gehört habe“, widersprach der Geistliche. „Vielleicht erzählst Du sie mir bei einer Tasse Tee. Ich wollte gerade hinüber ins Pfarrhaus gehen und mit eine aufbrühen. Wenn Du Zeit und Lust hast, kannst Du mir ja Gesellschaft leisten.“

Mikhail zögerte einen Moment, dann nahm er seine Einkaufstüte und stand auf.

„Warum nicht?“ sagte er und folgte dem Pfarrer aus der Kirche heraus.

Draußen standen immer noch Kerstin und Lara im Schatten eines der großen Bäume und beobachteten den Eingang. Obwohl Kerstin langsam ungeduldig wurde.

„Komm, jetzt laß uns gehen, Lara. Mir wird’s langsam zu kalt hier, und so wichtig find ich das jetzt auch wieder nicht, rauszukriegen, mit wem sich ‚der Ruski‘ in der Kirche trifft.“

Lara nickte. Im Grunde hatte Kerstin ja recht. Es war nicht wichtig. Obwohl, gestört hätte es sie schon, wenn Mikhail sich eventuell mit einem Mädchen getroffen hätte. Aber sehr wahrscheinlich war das nicht. Schon gar nicht in einer Kirche. Und außerdem, selbst wenn. Er wollte ja gar nichts von ihr. Das hatte er ihr ja am Morgen eindeutig zu verstehen gegeben. Einmal kurz gelächelt und dann gleich wieder woanders hingeguckt. Das sah nicht so aus, als würde er sich irgendwie für sie interessieren. Schade eigentlich. Er war sicherlich kein übler Kerl. Und sie mochte es gar nicht, wenn Kerstin ihn ‚den Ruski‘ nannte.

„Also, was ist jetzt?“ unterbrach Kerstin ihre Gedankengänge. „Ich friere.“

In diesem Moment wurde die Kirchentüre geöffnet und Mikhail trat heraus, in Begleitung eines Geistlichen. Die Mädchen blieben wie angewurzelt stehen. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten?

Sie erfuhren es nicht, denn die Beiden gingen hinüber zum Pfarrhaus und verschwanden darin.

„Was war das denn?“ fragte Lara erstaunt, nachdem sich die Tür des Pfarrhauses ins Schloß gefallen war.

Kerstin zuckte die Achseln. Ihr war kalt, und sie wollte nach Hause. Was ‚der Ruski‘ von dem Pfarrer wollte, war ihr mit einem Mal ziemlich gleichgültig.

„Was weiß ich“, sagte sie deshalb. „Komm, laß uns abhauen. Wer weiß, wann der wieder da rauskommt.“

***

Zum Abendessen sah Lara ihn dann wieder. Sie hatte gerade mit dem Essen angefangen, als Mikhail hereinkam. Er holte sein Essen ab und steuerte einen der leeren Tische an, ohne sich überhaupt umgesehen zu haben. Er hatte ja nie Gesellschaft beim Essen. Deshalb achtete er auch nicht darauf, wer sich sonst noch im Speisesaal aufhielt. Als er an Laras Tisch vorbeikam, bemerkte er sie nicht einmal.

„Willst Du Dich vielleicht zu mir setzen“, hörte Lara sich plötzlich sagen und war selbst völlig überrascht, daß ihr das herausgerutscht war.

Ebenso ging es Mikhail, daß ihn jemand angesprochen hatte. Wieder ließ er das Lächeln sehen, das ihr am Morgen so gut gefallen hatte.

„Wenn’s Dir nichts ausmacht“, sagte er vorsichtig.

„Hätt ich sonst was gesagt?“ gab sie zurück.

„Wahrscheinlich nicht“, antwortete er und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Es ist nur, damit hab ich nicht gerechnet. Seitdem ich hier bin, hat mich noch nie jemand angesprochen. Du bist die Erste.“

Sie schwiegen eine Weile und beschäftigten sich mit ihrem Essen.

„Ich hab Dich heute in der Stadt gesehen“, stellte Lara schließlich fest.

Mikhail nickte. „Ich Dich auch. Du warst mit Kerstin und einer ganzen Gruppe zusammen.“

„Gehst Du oft in die Stadt?“

Er schüttelte den Kopf. „Nur wenn ich etwas brauche.“

„Und was brauchtest Du?“

Er lachte. „Oberhemden“, gab er dann bereitwillig Auskunft.

„Oberhemden? Aber davon hat Du doch schon so viele“, platzte sie heraus.

Er sah sie erstaunt an. „Woher willst Du denn wissen, daß ich viele Oberhemden habe?“

„Na, muß doch, wenn Du jeden Tag mit einem frisch gestärkten ankommst.“

„Sowas fällt Dir auf?“

„Das fällt jedem auf. ‚Der Ruski‘ kommt jeden Tag in einer Hose aus feinstem Zwirn und einem sorgfältig gebügelten Oberhemd.“ Sie schlug sich vor den Mund, als sie merkte, was sie da gesagt hatte. „Entschuldige, das mit ‚dem Ruski‘ wollte ich nicht … “

„Macht nichts“, fiel er ihr lachend ins Wort. „Glaubst Du, ich weiß nicht, daß alle mich so nennen? Ich find’s nicht schlimm. Schließlich bin ich ja auch einer.“

„Aber sie meinen’s nicht nett.“

Mikhail zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Und wenn schon. Mich stört es nicht.“

„Aber mich. Irgendwie.“

Mikhail sah sie an. „Echt?“

Sie nickte und wich seinem Blick aus.

„Was hast Du denn in der Kirche gemacht?“ fragte sie nachdem sie eine Weile stumm weitergegessen hatten.

„Was macht man denn normalerweise in einer Kirche?“ fragte er lachend zurück.

„Und hinterher bist Du sogar mit dem Pfarrer weggegangen“, stellte sie fest.

„Hast Du mir nachspioniert?“

„Hat der Dir das über diesen Kardinal von Galen erzählt?“ fragte sie weiter, statt ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben.

„Nein, hat er nicht. Er hat mich zum Tee eingeladen.“

„Wieso das denn?“

„Er kennt mich, weil ich sonntags immer zur Frühmesse komme. Ich bin ihm wohl aufgefallen, weil, so viele in meinem Alter gehen da nicht hin.“

„Ich denke, Du bist gar nicht katholisch.“

„Bin ich auch nicht. Aber ich geh trotzdem hin.“

„Bringt das was?“

„Mir schon.“

Sie sah ihn an. Zum ersten Mal sah sie ihm direkt in die Augen. „Erzählst Du’s mir?“

Mikhail erwiderte ihren Blick. Dann schüttelte er langsam und kaum merklich den Kopf. „Später vielleicht“, sagte er.

Schweigend beendeten sie ihre Mahlzeit. Mikhail stand auf und nahm sein Tablett hoch. „Also, ich geh dann mal wieder“, sagte er. „Schön, daß ich bei Dir sitzen durfte.“

Dann drehte er sich um und ging weg. Nachdenklich sah sie ihm nach.

***

Am nächsten Morgen konnte er sich kaum mehr erinnern, wie er den gestrigen Abend verbracht hatte. Er wußte nur, daß er nach dem Essen mit Lara hinauf in sein Zimmer gegangen war, sich einen Tee gekocht und sich damit in den gemütlichen Sessel an dem kleinen Tisch gesetzt hatte. Dort hatte er lange nachgedacht.

Über das, was er dem Pfarrer erzählt hatte. Und wie dessen Reaktion ausgefallen war. Zuerst hatten sie sich über alles mögliche unterhalten. Aber dann war der Pfarrer doch auf den Punkt gekommen, und Mikhail hatte ihm seine ganze Geschichte erzählt. Nicht einmal war er dabei von dem Geistlichen unterbrochen worden. Der Mann hatte nur zugehört und ihn dabei aufmerksam angesehen. Und sehr zu Mikhails Überraschung gab es auch keinen Versuch des Trostes, nachdem alles gesagt war, sondern lediglich eine Feststellung.

„Keine schöne Situation, in der Du da bist, das kann man wirklich nicht sagen. Leider kann ich nichts daran ändern. Aber wenn es Dir hilft, dann komm bitte zu mir. Wenigstens können wir darüber reden, und wenn ich Dir dabei einen Rat geben kann, will ich es gerne tun.“

Artig hatte Mikhail sich bedankt, bevor er gegangen war. Und er war wirklich dankbar gewesen. Er war es auch jetzt noch. Es half tatsächlich, mit jemandem über seine Situation zu reden. Es erleichterte. Irgendwie.

Dann dachte er über das Abendessen mit Lara nach. Auch das hatte ihm gut getan. Nicht nur, weil sie als Mädchen ein echter Hingucker war und er die Gelegenheit gehabt hatte, bei ihr zu sitzen. Sondern vor allem, weil sie sich für ihn zu interessieren schien. Vielleicht mochte sie ihn sogar. Ein bißchen jedenfalls. Zumindest hatte es ihm gefallen, wie sie ihn angesehen hatte. Mit ihrem lächelnden Gesicht vor Augen, war er schließlich eingeschlafen. In seinem Sessel.

Aber jetzt war alles wie immer. Jedenfalls fast wie immer. Nach der Nacht im Sessel fühlte er sich ein wenig zerschlagen. Sein Nacken schmerzte. Er achtete nicht weiter darauf. Als er ins Klassenzimmer kam, waren die meisten seiner Mitschüler schon da. Auch Lara saß schon neben Kerstin auf ihrem Platz. Fast unmerklich nickte er ihr zu. Sie antwortetete mit einem blitzschnellen Augenzwinkern. Kerstin hatte davon nichts mitbekommen. Sie war mit dem Sortieren ihrer Hefte beschäftigt.

Während des Unterrichts blieb Mikhail für Lara unsichtbar. Sein Platz war ein Stück weiter in der Reihe, so daß sie ihn während des Unterrichts nicht sehen konnte. Und hören tat sie nur etwas von ihm, wenn er auf die Fragen der Lehrer antwortete. Laut und deutlich und sehr souverän. So wie er das immer machte.

Beim Mittagessen sah sie ihn überhaupt nicht. Und zum Abendessen kam er als einer der letzten, holte sein Essen von der Essenausgabe ab, suchte sich einen freien Tisch und ließ sich dort nieder. Lara, die mit Kerstin und einer Reihe anderer Mädchen zusammen am Tisch saß, schien er nicht gesehen zu haben. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken.

Lara fand das ein bißchen schade. Das Abendessen mit ihm gestern hatte ihr gefallen. Aber jetzt war das natürlich unmöglich. Selbst wenn sie ihn wieder an ihren Tisch hätte einladen wollen, es waren alle Plätze besetzt. Und sich einfach zu ihm zu setzen, das traute sie sich nicht.

Die Gelegenheit kam, als alle Mädchen an ihrem Tisch aufstanden und ihre Tabletts zu den Geschirrwagen trugen. Mikhail war noch nicht fertig mit Essen, eben weil er so spät gekommen war und saß noch auf seinem Platz. Um ihn herum war alles frei.

„Geht schonmal vor, ich komm gleich“, sagte Lara zu den anderen und fummelte umständlich ihr Tablett in eines der Fächer des Geschirrwagens.

Sie wartete, bis die anderen hinausgegangen waren, dann nahm sie zwei Becher Kaffee und ging zu Mikhails Tisch hinüber. „Magst Du auch’n Kaffee?“ fragte sie ihn.

Er sah überrascht auf, stutzte kurz und nickte. Wieder mit diesem Lächeln, das sie so berührt hatte, als sie mit ihm in den Schnee gepurzelt war.

Sie stellte einen der Becher vor ihn hin und setzte sich mit dem anderen ihm gegenüber.

Er legte sein Besteck zur Seite, griff nach dem Kaffeebecher und sah sie an. „Danke, das ist aber nett von Dir“, sagte er in einem Ton, der deutlich machte, daß er nicht so recht glauben konnte, was da passierte.

Er hatte einen Kaffee bekommen. Von einem Mädchen. Und dann noch von einem, das ausgesprochen hübsch war. Und nett war sie ja ganz offensichtlich auch. Sonst hätte sie ihm wohl kaum einen Kaffee ausgegeben.

Trotzdem war sein Gesichtsausdruck ein einziges Fragezeichen.

Lara lachte. „Na ja, ich hatte eben Lust auf’n Kaffee“, erklärte sie. „Und weil ich den nicht so gern allein trinke und die anderen schon gegangen sind, dachte ich, ich setz mich einfach mal zu Dir. Du bist ja auch allein, und Du siehst so aus, als ob Du auch gern’n Kaffee trinken würdest.“

Mikhail lachte zurück. „Das ist ja gut“, sagte er, ein wenig lauter als gewöhnlich. „Wie sehe ich eigentlich aus, wenn ich so aussehe, als ob ich einen Kaffee haben wollte?“

„Na ja, direkt so ausseh’n tust Du vielleicht nicht, aber ich hatte so’n Gefühl. Irgendwie.“

„Irgendwie war Dein Gefühl jedenfalls richtig“, sagte er, jetzt wieder leiser und tippte ihr dabei mit der Fingerspitze auf den Handrücken. Für Lara fühlte es sich an wie ein winziger, elektrischer Schlag.

„Jedenfalls find ich es sehr lieb, daß Du an mich gedacht hast“, fuhr er fort.

„Oder hätt’st Du lieber Tee gewollt?“ fragte sie. „Ich hab mal gehört, in Rußland trinkt man eher Tee als Kaffee. Stimmt das?“

„Weder, noch“, machte er mit einer Stimme, als ob er betrunken wäre, „in Rußland trinkt man hauptsächlich Wodka.“ Er riß seinen Kaffeebecher hoch. „Nastrovje!“

Beide mußten sie lachen.

„Nee sag mal ehrlich“, fragte sie schließlich, „Tee oder Kaffee?“

Mikhail zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wirklich. Bei uns zu Hause gab es immer Tee, wenn wir viel Zeit hatten. Weil das mit dem Tee, wenn man es richtig macht, das dauert eine Weile. Kaffee geht wesentlich schneller. Und deshalb gab es den auch, wenn wir weniger Zeit hatten. Zum Frühstück zum Beispiel.“

Er nahm einen Schluck aus seinem Becher. „So gut wie der hier war der zu Hause allerdings nicht. Da war mir der Tee schon lieber.“ Er trank noch einmal und sah sie dann wieder an. „Wenn Du Lust hast, kann ich Dir ja mal einen echt russischen Tee machen. In meinem Zimmer hab ich sogar einen Samowar. Allerdings nur einen elektrischen. Aber der tut es auch. Du mußt mich nur einmal besuchen.“

„Vielleicht mach ich das sogar“, meinte sie, trank ihren Becher leer und stand auf. „Danke für den Kaffee.“

„Was soll das denn heißen?“ fragte er lachend. „Ich muß danke sagen. Schließlich hast Du doch den Kaffee ausgegeben.“

„Wie auch immer“, sagte sie achselzuckend. „Auf jeden Fall war’s schön, mit Dir Kaffee zu trinken.“

Sie drehte sich um und ging weg.

***

In den nächsten Tagen lief alles im gewohnten Trott. Mikhail besuchte den Unterricht, nahm seine Mahlzeiten alleine ein, wie immer und zog sich ansonsten in sein Turmzimmer zurück. Von Lara sah er nichts weiter. Ihre Einladung zum Kaffeetrinken wiederholte sich nicht. Und seine Einladung zum Tee hatte er schon fast wieder vergessen. Anfangs hatte er noch darauf gewartet, daß sie sich dazu mit ihm verabreden würde. Aber sie tat es nicht.

Eines späten Nachmittags, draußen dämmerte es schon, und Mikhail saß in sein neuestes Computerprogramm versunken vor dem Bildschirm, klopfte es plötzlich an seine Tür. Erst erschrak er, weil er nicht damit gerechnet hätte, daß ihn je einer besuchen würde, aber dann ging er doch zur Tür hinüber.

Draußen stand Lara und lächelte ihn verlegen an. „Du hattest mir doch angeboten, mir mal’n russischen Tee zu kochen“, sagte sie schüchtern. „Gilt das Angebot immer noch?“

„Ja sicher“, strahlte er und riß die Tür auf. „Komm rein.“

Während sie eintrat, sah er sich vor der Tür um, konnte aber sonst niemand entdecken.

„Bist Du allein?“

Sie nickte. „Kerstin ist mit ein paar anderen in die Stadt gefahren. Auf den Weihnachtsmarkt, Geschenke für ihre Leute kaufen. Ich hatte keine Lust. Ich brauch keine Geschenke zu kaufen und außerdem ist mir das einfach zu kalt jetzt. Aber dann hab ich mich gelangweilt und mich dabei an Dein Angebot von neulich erinnert.“

„Das finde ich ja schön, daß Du mich tatsächlich mal besuchst“, sagte er und schloß die Tür hinter ihr.

Sie sah ihn an und war völlig überrascht über sein Aussehen. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Er war barfuß und trug ein rein weißes T-Shirt, das ihm bestimmt zwei Nummern zu groß war und ihm um seinen schmächtigen Körper flatterte und das ihm bis auf die Oberschenkel reichte. Genauso wie seine viel zu weite Hose aus dünnem, ebenfalls weißem Leinenstoff, durch den man seine nackten Beine sehen konnte.

Die leichte Bekleidung war angemessen, denn trotz der eisigen Temperaturen draußen, war es in seinem Zimmer wohlig warm. Sie sah sich um. Ein ordentlich gemachtes Bett, ein großer, altmodischer Kleiderschrank, ein mit Papieren übersäter Schreibtisch, auf dem zwei große Flachbildschirme standen, auf der anderen Seite des Zimmers ein kleiner, runder Tisch mit zwei altertümlichen Sesseln und schließlich drei schlichte Holzstühle, die zwischen den Fenstern standen, bildeten das Mobiliar des großen, halbrunden Raumes. Einige Teppiche lagen auf dem aus Holzbrettern bestehenden Fußboden. Drei Fenster waren in die runde Wand eingelassen mit breiten Fensterbänken davor, auf dessen einer der Samowar stand, von dem er gesprochen hatte. Neben der Eingangstür gab es noch eine weitere, durch die man in ein kleines Badezimmer gelangte. Der Raum war in ein gemütliches Dämmerlicht getaucht, denn es waren nur die Schreibtischlampe und eine Stehlampe neben dem kleinen, runden Tisch eingeschaltet. Ein letzter Rest Tageslicht fiel noch durch die Fenster.

„Schön hast Du’s hier“, stellte sie fest. „Hätt ich echt nicht gedacht.“

Er nickte. „Offensichtlich haben sie sich Mühe gegeben, das Zimmer attraktiv auszustatten, wohl, damit es überhaupt jemand nimmt.“ Er deutete mit dem ausgestreckten Arm auf einen der Sessel „Aber setz Dich doch. Und entschuldige bitte meinen Aufzug, aber ich habe nicht mit Besuch gerechnet.“

„Macht doch nichts“, winkte sie ab. „Im Gegenteil. Ich finde, Du siehst echt cool aus in den Klamotten. Außerdem war ich ja auch nicht angemeldet.“

„Das Gute kommt meistens unangemeldet“, philosophierte er und lächelte dabei. „Also Tee?!“

Sie nickte verlegen, setzte sich in den Sessel und sah ihm zu, wie er Wasser in den Samowar füllte, eine Teedose aus dem Schrank nahm und sie neben den Samowar stellte. Zwei Teegläser mit geschwungenen Metallhenkeln und ein Glas, dessen Inhalt aussah wie eine Konfitüre stellte er auf den Tisch. All das tat er lautlos und mit den geschmeidigen Bewegungen einer Katze, wie sie bewundernd feststellte.

„Darf ich mir Schuhe und Pullover auch ausziehen?“ fragte sie. „Du hast es ziemlich warm hier drin.“

Er sah sie an und hob die Hände. „Was immer Du möchtest. Mach es Dir so bequem wie Du magst. Du bist hier der Gast, und ich möchte, daß Du Dich wohlfühlst.“

Während er darauf wartete, daß das Wasser in dem Samowar zu kochen begann, zählte er eine bestimmte Anzahl Teelöffel voll mit Tee in eine silberne Kanne ab, auf den er dann das kochende Wasser laufen ließ. Anschließend füllte er den Samowar mit frischem Wasser auf und stellte die Teekanne oben drauf.

„Das ist jetzt ‚Tscheinik‘, das in der Kanne“, erklärte er. „Der muß jetzt etwa drei bis fünf Minuten ziehen, und dann kann sich daraus jeder bedienen und den Aufguß mit heißem Wasser verdünnen, so wie er es braucht.“

Er wartete die drei Minuten ab. Dann kam er mit der Kanne zum Tisch und goß die daraufstehenden Gläser halb voll.

„Ich gebe Dir zuerst einmal nur ein halbes Glas voll“, sagte er. „Damit Du noch Wasser nachgießen kannst, falls er Dir zu stark ist.“

Er brachte die Kanne wieder zurück auf den Samowar und setzte sich anschließend in den freien, zweiten Sessel. Dann nahm er das Schraubglas, öffnete den Verschluß und erklärte: „Das ist ‚Warenije‘, eine Art Konfitüre. Zuhause haben wir davon immer einen kleinen Löffel voll in den Mund genommen und dann den Tee drüberlaufen lassen. Aber das ist eigentlich eine Sauerei, weil beim zweiten Mal jeder mit seinem abgeschleckten Löffel in der Konfitüre herumbohrt.“ Er lachte und machte dann eine beschwichtigende Handbewegung. Aber man kann das Zeugs auch in den Tee einrühren und es dann damit zusammen trinken. Wenn Du willst, kannst Du aber auch Zitrone haben.“

„Nee, laß mal ruhig. Ich möchte gern probieren, wie Du den immer trinkst“, antwortete sie.

Wieder lächelten sie sich an, bevor sie einen Schluck aus dem Glas nahmen.

„Und? Zu stark?“ erkundigte er sich, nachdem sie getrunken hatten.

Sie schüttelte den Kopf. „Nee, ist ganz okay so. Und jetzt möchte ich’s mal mit der Konfitüre probieren. Wie heißt die nochmal?“

„Warenije“, antwortete er und gab ihr einen kleinen Löffel.

Sie nahm etwas von der süßen, klebrigen Masse in den Mund und trank einen Schluck Tee hinterher. Hatte sie zunächst ein bißchen skeptisch geschaut, so hellten sich ihre Gesichtszüge jetzt auf.

„Das schmeckt ja toll“, rief sie, nachdem sie alles runtergeschluckt hatte. „Aber echt.“

„Dann nimm Dir ruhig nochmal“, forderte er sie lachend auf. „Ich hab noch ganz viel davon.“

Sie nahm einen weiteren Löffel voll und einen weiteren Schluck, dann hob sie das Glas hoch und betrachtete das Etikett. „Das ist ja kyrillische Schrift“, stellte sie fest. „Hast Du das von zu Hause mitgebracht?“

„Nein, nein. Das kannst Du hier in der Stadt kaufen. Da gibt es ein Geschäft, die haben solche russischen Sachen. Wegen der vielen Spätaussiedler, die hier wohnen.“

Während sie nach und nach ihre Gläser leerten, schwiegen sie. Gelegentlich sahen sie sich an. Immer lächelten sie dabei.

„Magst Du noch?“ fragte er irgendwann später und hob ihr Teeglas hoch.

Sie nickte.

Lautlos erhob er sich, holte die Teekanne vom Samowar und goß die Gläser wieder voll. Beim Hinsetzen schlug er ein Bein unter. Es sah sehr lässig aus.

„Ich hab gar nicht gewußt, daß Du so’n cooler Typ bist“, sagte sie, als sie es sah.

Er lachte wieder sein leises, glucksendes Lachen. „Ich auch nicht“, antwortete er. „Bis jetzt hat das nämlich noch nie jemand festgestellt. Du bist die erste, die das sagt.“

Seine Antwort brachte sie ein wenig in Verlegenheit. Deshalb sah sie jetzt zum Schreibtisch hinüber. „Was machst Du da eigentlich? Das sind doch keine Schularbeiten, oder?“

„Nein, das ist etwas anderes. Mit den Schularbeiten bin ich schon längst fertig. Das sind Computerprogramme.“

„Was machst Du denn damit?“ erkundigte sie sich weiter.

„Ich gar nichts“, antwortete er. „Aber ich schreibe sie für Leute, die so etwas gebrauchen.“

„Wie jetzt? Du schreibst Computerprogramme? Sowas wie Word oder Excel oder so?“

„Nein, nein“, sagte er lachend, „solche aufwendigen Sachen natürlich nicht. Aber kleinere Sachen schon. Seiten für Internetauftritte beispielsweise oder Sicherheitsroutinen, Firewalls oder Abfrageprogramme, solche Sachen eben. Auch Spiele habe ich schon gemacht. Das bringt gutes Geld.“

„Aber gibt’s da nicht unheimlich viele, die das auch machen?“

Er lächelte sie an. „Schon möglich“, sagte er, leise kichernd. „Aber ich bin eben besser als die meisten.“

„Dann bist Du also’n Freak?“

„Ob ich ein Freak bin, weiß ich nicht“, meinte er achselzuckend. „Aber es macht mir jedenfalls eine ganze Menge Spaß.“

„Und was machst Du mit dem Geld?“

„Gar nichts. Es türmt sich auf dem Konto.“

„Aber hast Du denn gar keine Lust, gelegentlich mal was davon auszugeben?“

„Wofür denn? Ich habe doch hier alles. Nun, für Kleidung gebe ich gelegentlich schon etwas aus“, schränkte er ein und grinste. „Für Oberhemden, zum Beispiel.“ Er sah sie wieder an. „Aber wenn Du mal Geld brauchst, kann ich Dir gerne etwas abgeben.“

„Nee, danke. Ich hab ja selber genug. Aber es ist lieb, daß Du das anbietest.“

„Sicher, für Dich doch immer. Du bist ja auch lieb.“ Er lächelte sie unsicher an. „Lieb, sagt man so?“

Lara bekam einen roten Kopf. „Doch, schon. Manchmal sagt man sowas. Wenn man’s so meint.“

„Ich denke schon, daß ich es so meine. Ich wußte nur nicht genau, ob man das so sagen kann. Weißt Du, ich habe immer noch ein paar Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache.“

Sie lachte. „Also, das find ich ja nun überhaupt nicht. So wie Du immer redest, könnte man meinen, Du liest die Tagesschau vor. Immer ganz präzise gesprochen.“

„Das kann ich nicht beurteilen. Zu Hause haben wir immer so gesprochen. Darum habe ich es mir angewöhnt. Nur manchmal bin ich mir eben nicht sicher, ob man den Begriff, den ich gerade verwende, auch tatsächlich so gebrauchen kann. Das ist etwas schwierig, weil sich mache Begriffe eben auf vielerlei Art verwenden lassen.“

„Aber das ist doch wohl im Russischen ganz genauso, oder nicht?“

„Doch, natürlich. Aber da habe ich keine Probleme. Schließlich habe ich zu Hause in Rußland natürlich viel öfter russisch gesprochen als deutsch.“

„Tja, und nun ist es umgekehrt“, meinte sie und stand auf. „Ich glaub ich muß dann mal wieder.“

Sie zog ihre Schuhe an und ihren Pullover. Mikhail brachte sie zur Tür. Dort nahm er ihre Hände.

„Wenn Du Lust hast, kannst Du mich ja gelegentlich noch einmal besuchen“, sagte er leise und ohne sie anzusehen. „Jederzeit. Ich habe mich riesig gefreut, daß Du da warst. Es war eine Premiere, weißt Du. Der erste Besuch seit ich hier eingezogen bin.“

Sie sah auf ihre Hände, die er immer noch festhielt. „Mach ich bestimmt“, antwortete sie. „Es hat mir ziemlich gut gefallen bei Dir, und Du bist echt’n Super-Typ.“

Sie beugte sich vor und drückte ihm einen kleinen Kuß auf die Wange. Dann drehte sie sich um und lief eilig die Treppe hinunter.

***

„Wo warst Du denn?“ empfing Kerstin ihre Freundin als sie ins Zimmer kam. „Ich hab schon das ganze Haus nach Dir abgesucht und Dich nirgendwo gefunden.“

„Dann hast Du eben nicht das ganze Haus abgesucht. Im Turm oben warst Du nämlich nicht.“

Kerstin sah Lara mit erstaunt aufgerissenen Augen an. „Bist Du etwa bei ‚dem Ruski‘ gewesen?“ fragte sie ungläubig.

„War ich, falls Du nichts dagegen hast. Er hatte mich neulich eingeladen und hat mir echt russischen Tee gekocht. Den haben wir zusammen getrunken. Mit Warenije.“

„Mit was?“

„Warenije. Das ist so’ne Marmelade, die die Russen nehmen, um ihren Tee damit süß zu machen. Ist echt lecker. Mußt Du auch mal probieren.“

„Sag mal, tickst Du noch ganz richtig? Du rückst ‚dem Ruski‘ auf die Bude und trinkst Tee mit ihm? Wie abgedreht ist das denn?“

„Ich fand’s überhaupt nicht abgedreht. Das ist nämlich ‘n total netter Typ. Richtig süß ist der.“

„Also hast Du Dich doch in den verknallt.“ Kerstin schüttelte den Kopf. „Ausgerechnet.“

„Was heißt verknallt? Das hört sich so theatralisch an. Ich find ihn ganz gut, das ist alles. Und weil er mich eingeladen hat und ich nichts besseres zu tun hatte, bin ich eben mal zu ihm raufgegangen. Das ist alles.“

„Und weiter?“

„Wie weiter? Nix weiter. Er hat Tee gekocht, wir haben zusammengesessen und den getrunken. Und dann bin ich wieder gegangen.“

Lara nahm ihre Freundin am Arm und zog sie mit sich auf ihr Bett.

„Du, der hat’s total gemütlich da oben“, sagte sie, als sie beide nebeneinander auf dem Bett saßen. „Richtig kuschelig. Und Du hätt’st mal seh’n sollen, wie cool der aussah. Überhaupt nicht so wie sonst immer. Barfuß, T-Shirt, Leinenhose, echt entspannt.“

„Und was sagt er so?“

Lara zuckte mit den Schultern. „Tja, was sagt er so? Eigentlich wenig. Viel geredet haben wir nicht. Meistens übers Teekochen. Und daß er Computerprogramme schreibt und damit anscheinend ‘ne Menge Geld verdient. Von sich selber hat er nichts erzählt. Außerdem, so lange war ich ja auch nicht da. ‘Ne Stunde vielleicht oder so. Aber er hat sich richtig gefreut, daß ich ihn besucht habe. Das konnte man merken. Ich sei die Erste gewesen, die jemals mit ihm geredet hat, hat er gesagt. Irgendwie hat er mir auch leid getan. Ich geh bestimnmt wieder mal zu ihm hin, das hab ich mir vorgenommen.“

Kerstin sah die Freundin an und schüttelte mit dem Kopf. „Mann, Mann, Mann, bei Dir hat’s ja ganz schön geklingelt.“

„Weiß ich nicht.“ Lara ließ sich nach hinten aufs Bett fallen und schob die Hände unter ihren Kopf. „Und wenn, wär das so schlimm?“

***

Von diesem Tag an mußte Mikhail nicht mehr alleine essen. Wenn Lara ihn im Speisesaal sah, setzte sie sich zu ihm. Fast immer saßen sie sich gegenüber. Geredet wurde über Belangloses, meistens über Dinge, die den Schulunterricht betrafen. Persönliches war nicht dabei.

Es gab auch keinerlei Annäherungsversuche. Zumindest nicht von seiner Seite. Lara hätte sich schon manchmal gewünscht, daß er vielleicht etwas zutraulicher sein könnte. Er mußte ihr ja nicht gleich um den Hals fallen und sie abknutschen oder sowas. Aber das tat er nicht. Meistens sah er sie nur an und lächelte. Lächelte sein unglaublich zärtliches Lächeln, das sie jedesmal dahinschmelzen ließ und das er offensichtlich nur für sie reserviert hatte.

Kerstin schenkte er dieses Lächeln nicht. Obwohl er auch zu ihr sehr freundlich war, wenn sie gelegentlich mit am Tisch saß. Leider war er dann noch stiller als sonst. Was der quirligen Kerstin ganz und gar nicht behagte. Sie fand ihn langweilig. Nett aber langweilig. Und sie konnte nicht recht verstehen, was ihre Freundin an ihm fand. Wenigstens nannte sie ihn nicht mehr ständig ‚Den Ruski‘. Das war ja auch schonmal was, fand Lara.

„Wie haben sie eigentlich in Rußland zu Dir gesagt?“ wollte sie wissen.

„Mischa“, antwortete er. „Alle, die mich gut kannten, haben Mischa zu mir gesagt.“

„Darf ich auch Mischa zu Dir sagen?“ fragte Lara schüchtern.

„Warum nicht?“ sagte er achselzuckend. „Schließlich kennen wir uns ja jetzt auch schon ein bißchen.“

„Ja, leider.“

Sie erschrak, als sie hörte, was ihr da herausgerutscht war. Das hatte sie nicht sagen wollen.

Mikhail lachte. „Wieso leider? Wär’s Dir lieber, Du würdest mich überhaupt nicht kennen?“

„Nein. Mir wär’s lieber, ich würde Dich ein bißchen besser kennen.“ Jetzt hatte sie gesagt, was sie gesagt hatte, also konnte sie das auch ruhig zugeben.

Er lächelte sie an. „Das ist aber nett, daß Du das sagst.“ Es sah so aus, als wolle er nach ihrer Hand greifen, aber im letzten Moment zog er seine Hand doch zurück. „Komm doch einfach mal wieder auf einen Tee vorbei“, sagte er stattdessen. „Dann können wir ja ein bißchen quatschen.“

Er nickte ihr noch einmal kurz zu, dann ließ er sie stehen und ging weg. Sie sah ihm nach und wünschte sich, er wäre noch geblieben. Als er durch die Tür zum Turm verschwand, ging sie hinüber zu Kerstin und den anderen Mädchen.

„Na, hast Du wieder mit ‚dem Ruski‘ geflirtet?“ fragte eins von ihnen.

„Wir haben zusammen Mittag gegessen und uns unterhalten. Was dagegen?“ gab sie schnippisch zurück.

„Was Du nur an dem Langweiler findest?“ meinte die Andere kopfschüttelnd.

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