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ОглавлениеAm nächsten Tag erschien Mikhail nicht zum Unterricht. Niemand kümmerte sich darum. Man nahm es zur Kenntnis, der Lehrer machte einen Vermerk im Klassenbuch und ging dann zur Tagesordnung über.
Als Mikhail sich auch im Laufe des weiteren Vormittags nicht sehen ließ und auch nicht zum Mittagessen auftauchte, wurde Lara unruhig.
„Was meinst Du, ob ich mal nach ihm sehen sollte?“ fragte sie Kerstin. „Vielleicht ist ihm was passiert.“
„Quatsch“, antwortete Kerstin barsch. „Was soll dem denn passiert sein? Wahrscheinlich hatte er keinen Bock auf Schule und hat mal’n Tag blau gemacht.“
„Glaub ich nicht“, gab Lara zurück. „Dafür halt ich den nicht. Das hat er doch noch nie gemacht.“
„Na, dann geh halt nachseh’n, dann weißt Du’s“, fertigte Kerstin sie ab und ließ sie stehen.
Lara hatte ein komisches Gefühl als sie die steile Wendeltreppe zu Mikhails Turmzimmer hinaufstieg. Zaghaft klopfte sie an seine Tür. Es kam keine Antwort. Sie öffnete die Tür und sah hinein. Mikhail war nirgendwo zu sehen. Der Schreibtisch war, wie schon bei ihrem ersten Besuch, unaufgeräumt, auf dem Boden lagen Kleidungsstücke verstreut und sein Bett war nicht gemacht. Beunruhigt trat sie ein und schloß die Tür hinter sich.
Dann hörte sie im Badezimmer die Toilettenspülung rauschen. Einen Moment später kam Mikhail heraus. Er trug ein T-Shirt und Boxershorts und sah kreidebleich aus im Gesicht. Ohne sie zu bemerken, schlich er langsam hinüber zu seinem Bett und legte sich ächzend hinein.
Vorsichtig ging sie zu ihm hin. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie sah.
„Hallo Lara“, sagte er mühsam. Es war mehr ein Flüstern.
„Mischa, was ist denn los mit Dir?“ fragte sie besorgt. „Geht’s Dir nicht gut?“
Er schüttelte den Kopf. „Ziemliche Bauchschmerzen. Habe anscheinend etwas Falsches gegessen. Muß auch andauernd zum Klo.“
„Soll ich’n Arzt holen?“ fragte sie, und als sie nicht sofort eine Antwort bekam, fügte sie hinzu: „Ich hol’n Arzt.“
Sie wollte sich umdrehen und weggehen, aber er hielt sie am Handgelenk fest.
„Nicht. Es ist bestimmt nicht so schlimm. Das wird schon wieder weggehen.“
Er wollte sie loslassen, aber sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest, während sie sich auf die Bettkante setzte.
„Du siehst aber gar nicht so aus, als wenn Du das bald wieder lossein würdest“, stellte sie fest und legte ihre Hand auf seine Stirn. „Du bist ja auch ganz heiß. Bestimmt hast Du Fieber.“
Er nickte. „Habe ich. Ich hab’s schon gemessen. Achtunddreißig-neun.“
„Das ist aber gar nicht wenig, Mensch. Du bist echt krank, Mischa. Wir sollten doch den Arzt holen. Wo genau tut’s denn weh?“
Mikhail schlug die Bettdecke zurück und schob den Saum seiner Boxershorts ein wenig nach unten. „Hier“, sagte er und legte seinen Finger auf die rechte Leiste.
„Sieht nach Blinddarm aus, wenn ich mich nicht irre“, meinte Lara und strich mit der Hand über die entsprechende Stelle.
Obwohl sie ihn nur ganz sanft berührt hatte, zuckte er doch heftig zusammen. Es mußte wohl sehr schmerzhaft sein.
Lara fackelte nicht lange und sprang auf. „Hast Du’n Handy?“ fragte sie aufgeregt.
„Auf dem Schreibtisch“, antwortete er.
Sie brauchte eine Weile, bis sie es unter dem Wust von Büchern, Heften und Papieren gefunden hatte. Dann wählte sie die Notrufnummer.
Vierzig Minuten später war Mikhail auf dem Weg ins Krankenhaus. Lara hatte recht gehabt, es war der Blinddarm. Und weil Mikhail so lange gewartet hatte, war es jetzt sogar ziemlich eilig. Er kam sofort in den Operationssaal.
Lara, die sich nicht hatte davon abbringen lassen, ihn ins Krankenhaus zu begleiten, lief unruhig vor der geschlossenen Glastür zu den Operationssälen auf und ab. Lange mußte sie sich allerdings nicht gedulden. Kaum zwanzig Minuten nachdem sie Mikhail dort hineingebracht hatten, ging die Tür wieder auf. Ein junger Arzt kam auf sie zu. Er trug einen violetten OP-Anzug und hatte den Mundschutz locker um den Hals hängen.
„Alles in Ordnung“, sagte er zu Lara im Näherkommen. „Aber es ist gerade nochmal gut gegangen. Eine Stunde später, und das Ding wäre geplatzt. Du hast ihn so eben noch rechtzeitig entdeckt.“
Sie war unendlich erleichtert und atmete hörbar aus. „Was wird jetzt mit ihm?“
„Er bleibt hier, bis er wieder wach ist“, antwortete der Arzt. „Dann verlegen wir ihn auf die normale Station. Ein paar Tage nur, zur Beobachtung. Dann kann er wieder nach Hause. So schlimm war der Eingriff ja nicht. Morgen kannst Du ihn besuchen, wenn Du möchtest.“
„Heute kann ich ihn nicht mehr sehen?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nein, heute nicht mehr. Es wird eine Weile dauern, bis er wieder wach ist. Wir haben ihm eine ordentliche Dröhnung verpaßt, weil wir ja nicht wußten, wie schlimm es war.“
Lara nickte und reichte dem Arzt die Hand. „Dann werd ich mal geh’n“, sagte sie leise.
Der Arzt hielt ihre Hand fest und lächelte sie an. „ Du mußt Dir keine Sorgen machen. Er kommt schon wieder in Ordnung.“
***
Lara nahm den Bus, der die externen Schüler in die Stadt brachte. Das Mittagessen ließ sie ausfallen, so eilig hatte sie es, zu Mikhail zu kommen.
Er grinste sie an, als sie das Krankenzimmer betrat. Zwar sah er immer noch etwas blaß aus, aber kein Vergleich zu seinem Zustand am Tag zuvor. „Chigh Lara“, begrüßte er sie.
Lara war so erleichtert, daß sie ihm spontan ein Küßchen auf die Stirn drückte. Überrascht sah Mikhail sie danach an.
„Was war das denn?“
„Mann, bin ich froh, daß Du wieder okay bist“, platzte sie heraus.
Lächelnd griff er nach ihrer Hand und zog sie zu sich auf die Bettkante. „Hast Du Dir etwa Sorgen gemacht? Um mich?“
„Was hast Du denn gedacht?“ gab sie zurück. „Klar um Dich, um wen denn wohl sonst?“
„Das war zwar unheimlich lieb von Dir, aber wohl doch nicht so ganz nötig. Der Arzt hat gemeint, es wär halb so schlimm gewesen.“
„Das hab ich aber ganz anders gehört. Der gestern hat mir gesagt, noch ‘ne Stunde später, und Dein Blinddarm wär geplatzt. Keine Ahnung, was das heißt, aber er meinte, Du hättest ziemliches Glück gehabt. Tut’s denn immer noch weh?“
„Nur wenn ich lache“, antwortete er grinsend. „Also erzählst Du mir am besten nur traurige Geschichten.“
„Ich erzähl Dir überhaupt keine Geschichten. Am liebsten würd ich nur hier bei Dir sitzen und darauf warten, daß Du wieder in Ordnung kommst.“
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Das dürfte aber ziemlich langweilig werden.“
Sie streichelte seine Hand. „Das ist mir egal“, sagte sie leise.
Dann schwiegen sie.
Nach einer Weile sagte er: „Du bist sehr lieb, Lara.“
Sie sah ihn an und lächelte. „Was soll ich machen? Du ja auch.“
Wieder drückte er ihre Hand. „Bei Dir fällt mir das auch nicht schwer.“
Sie rutschte ein Stück näher zu ihm hin und legte seine Hand in ihren Schoß ohne sie loszulassen. Zu sagen wußte sie im Moment nichts. Sie war nur froh, bei ihm zu sein und seine Hand halten zu dürfen.
Als sie ihn nach einer Weile wieder ansah, hatte er die Augen geschlossen. Anscheinend war er eingeschlafen. Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen durch sein Gesicht.
Aber er schlief nicht. Er schlug die Augen auf, griff nach ihrer Hand und drückte die Fingerspitzen gegen seine Lippen. Vorsichtig zog sie die Hand zurück und strich ihm über die stacheligen Borsten auf seinem Kopf.
„Wenn Du wieder zu Hause bist, trinken wir dann wieder Tee zusammen?“ fragte sie leise.
„Wann immer Du möchtest“, antwortete er.
„Am liebsten ganz oft.“
„Dann mußt Du eben ganz oft zu mir raufklettern.“
„Das macht mir nichts aus. Wenn’s bei Dir oben wieder diesen leckeren Tee gibt, mach ich das gerne.“
„Nur wegen dem Tee?“
Sie schüttelte verlegen den Kopf und sah neben dem Bett auf den Fußboden. „Nicht nur.“
Er drückte stumm ihre Hand.
„Wie lange mußt Du jetzt hierbleiben?“ fragte sie nach einer Weile.
„Ein paar Tage. Sie haben mich richtig aufgeschnitten. Nicht nur mit solch einem Rohr in mir rumgebohrt, wie sie das normalerweise tun. Dann hätte ich heute schon wieder nach Hause gekonnt. Aber so.“
Er hob die Hände und ließ sie dann neben sich auf die Bettdecke fallen.
„Schöner Mist“, kommentierte sie.
Er kicherte leise. „Das kannst Du laut sagen. Aber es gibt Schlimmeres. Wenigstens bist Du ja jetzt da. Das ist eine schöne Überraschung. Damit hatte ich gar nicht gerechnet.“
Er lächelte sie an sie lächelte zurück.
„Das hab ich mir gedacht, und drum bin ich gekommen. Weil Du doch anscheinend sonst niemand hast.“
Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich augenblicklich. Traurig sah er jetzt aus. Und er gab ihr keine Antwort. Sie bemerkte es natürlich, und daher verkniff sie sich die Frage nach seiner Familie. Vielleicht waren sie zerstritten, und man hatte ihn hierher ins Internat abgeschoben oder sowas. Besser sie rührte nicht daran. Keine schlafenden Hunde wecken. Es ging sie ja auch eigentlich nichts an.
Als sie keine weiteren Fragen stellte, entspannte er sich wieder. Und er nahm ihre Hand. Sie hatte nichts dagegen.
Lange schwiegen sie. Beide wußten sie nicht recht, worüber sie reden sollten. Sie mochten sich, soviel war klar, aber keiner von beiden traute sich, dem anderen das zu sagen. Es war auch nicht nötig, man konnte es sehen.
Langsam setzte draußen die Dämmerung ein.
„Du solltest jetzt lieber wieder gehen“, sagte er. „Es wird schon dunkel. Und ich mag es nicht, wenn ich weiß, daß Du im Stockfinstern da draußen herumläufst.“
„Aber das macht doch nichts“, erwiderte sie. „Das hab ich doch schon oft gemacht.“
„Trotzdem.“
Sie lachte und drückte seine Hand, die sie immer noch festhielt. „Du bist süß, daß Du Dir Sorgen machst. Aber das ist unnötig.“
„Ist es nicht“, beharrte er. „Du bist ein Mädchen. Und ein sehr hübsches noch dazu. Da solltest Du nicht allein durch die Dunkelheit gehen. Dumm nur, daß ich nichts hier habe. Sonst würde ich Dir ein Taxi bestellen.“
Sie beugte sich über ihn und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. „Das ist super-lieb von Dir, Mischa, daß Du Dir solche Sorgen machst. Aber das ist wirklich nicht nötig. Es ist ja kaum mal fünf Uhr. Da laufen die bösen Buben noch nicht draußen rum.“
Sie drückte ihm mit spitzen Lippen einen Kuß auf die Nasenspitze. „Aber damit Du beruhigt bist, geh ich trotzdem mal.“
Im Aufstehen zog sie sein Handy aus der Hosentasche und hielt es ihm hin. „Hier, das hab ich Dir für alle Fälle mal mitgebracht. Ich ruf Dich an, wenn ich wieder im Internat bin. Damit Du Dir keine Sorgen mehr machst.“
Er strahlte sie an. „Prima Idee. Das würde mich unheimlich beruhigen.“
Lachend drückte sie wieder seine Hände.
An der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. „Morgen komm ich wieder. Versprochen.“
Dann war sie weg.
***
Solange er im Krankenhaus bleiben mußte, besuchte sie ihn jeden Tag. Ihre Freundin Kerstin spottete darüber, aber das war ihr egal. Irgendeiner mußte sich doch um ‚Den Ruski‘ kümmern, oder? Und weil’s sonst niemand tat, machte sie das eben. Was ihr nicht einmal schwer fiel. Denn sie mochte ihn wirklich, Mischa, ihren ‚Ruski‘.
Viel zu erzählen hatten sie sich nicht. Lara berichtete von der Schule und was es sonst so im Internat Neues gab, aber viel war das nicht. Die meiste Zeit saß sie auf seinem Bett, hielt seine Hände und sah ihn einfach nur an. Wenn er lächelte, spürte sie ein Kribbeln in ihrem Bauch. Schmetterlinge!
Dann wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und mit einem Taxi wieder ins Internat gebracht. Mitten am Vormittag, als alle im Unterricht saßen. Mühsam kletterte er die fünf Stockwerke hoch bis zu seinem Zimmer. Seine Operationswunde tat höllisch weh dabei. Zwar hatte er sich im Sekretariat zurückgemeldet, doch niemand kümmerte sich um ihn. Selbst die Nachricht, die er für Lara hinterlassen hatte, ignorierte man.
Oben, in seinem Zimmer, brauchte er eine Weile, bis er wieder zu Atem gekommen war. Er ließ sich in einen der Sessel fallen und wartete, bis die Schmerzen allmählich nachließen. Dann zog er sich aus bis auf T-Shirt und Unterhose und legte sich in sein Bett.
Sofort nach Unterrichtsschluß machte Lara sich wieder auf den Weg ins Krankenhaus. Das Mittagessen ließ sie ausfallen und Kerstins spöttische Kommentare dazu ignorierte sie einfach. Wie auch schon in den vorangegangenen Tagen.
Die fehlenden Mittagsmahlzeiten hatte ihre Spuren hinterlassen. Lara war dünner geworden. Sie hatte es gesehen, als sie sich am Morgen im Badezimmer im Spiegel betrachtete. Sie war immer schon ziemlich schlank gewesen, aber jetzt war ihr Bauch noch flacher und die Beckenknochen staksten heraus. Sie nahm es mit einem Schulterzucken zur Kenntnis.
Eilig lief sie von der Bushaltestelle zum Krankenhaus. Als sie das leere Zimmer sah, in dem Mikhail am Tag zuvor noch gelegen hatte, bekam sie einen Riesen-Schreck. Wo war er geblieben? Es würde ihm doch nichts passiert sein? Etwa, daß sich sein Zustand verschlechtert hatte und man ihn auf eine andere Station verlegt hatte oder sowas? Aufgeregt lief sie zum Stationszimmer und fragte nach Mikhail.
„Keine Sorge, kleines Fräulein“, sagte einer der Ärzte, ein älterer Mann mit einem gewaltigen Schnauzbart, der aussah wie der alte Kaiser Wilhelm. „Deinem Freund geht’s gut. Er ist heute Morgen entlassen worden und sollte eigentlich wieder zu Hause sein.“
Erleichtert ließ Lara sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Die Stationsschwester wollte protestieren, aber der Arzt hielt sie zurück.
„Hast Du Dir solche Sorgen gemacht?“ fragte er Lara mitfühlend.
Sie nickte. „Warum hat er mir gestern nichts gesagt?“
„Gestern wußte er es noch nicht“, antwortete der Arzt. „Erst heute Morgen, nachdem wir ihn nochmal untersucht hatten, haben wir uns entschlossen, ihn nach Hause zu schicken. Seltsam nur, daß er Dir da keine Nachricht hinterlassen hat.“
„Hat er bestimmt. Nur sein Handy war leer, und ich hatte vergessen, ihm das Ladegerät mitzubringen.“ Ihre Sorge wich jetzt ihrem Zorn. „Er hat bestimmt im Sekretariat Bescheid gesagt, weil ich ja im Unterricht saß, aber die haben’s mir nicht weitergegeben. Sowas Blödes!“
Sie stand auf, bedankte sich und lief zurück zur Bushaltestelle. Als der Bus endlich kam, war sie durchgefroren. Und immer noch zornig. Sie blieb es während der ganzen Fahrt, auf dem Weg hinauf zur Burg und noch immer, während sie die gewundene Treppe zu seinem Turmzimmer hinaufstürmte. Immerhin zwang sie sich, die Tür leise zu öffnen. Es konnte ja sein, daß er schlief.
Ihr Zorn verrauchte augenblicklich, als sie ihn in seinem Bett liegen sah. Er hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen und schlief tatsächlich. Leise stellte sie einen Stuhl neben sein Bett und setzte sich, völlig außer Atem von dem schnellen Lauf und dem anstrengenden Treppensteigen.
Ihr Schnaufen weckte ihn auf. Er schlug die Augen auf, erkannte sie und lächelte sie an. „Lara, das ist ja schön, daß Du da bist“, sagte er mit leiser aber auch fester Stimme, die ihr signalisierte, daß es ihm nicht schlecht ging.
Zärtlich strich sie über seine Stachelhaare. „Mann bin ich froh!“ stieß sie heraus. „Ich hatte solche Angst, als ich ins Krankenhaus kam und Du warst nicht da.“
Er sah sie erstaunt an. „Du warst im Krankenhaus? Aber ich hatte Dir doch einen Zettel dagelassen.“
„Hab ich nicht gekriegt. Hat diese dämliche Tusse da unten einfach nicht weitergegeben. Na, der werd ich nachher was erzählen!“
Mikhail schüttelte den Kopf und griff nach ihrer Hand. „Tu das nicht, Lara. Was bringt es denn? Was passiert ist, ist passiert, und jetzt bist Du ja da. Wenn Du da unten Theater machst, gibt es nur böses Blut, und wir müssen es dann ausbaden. Oder denkst Du vielleicht, die nehmen sich davon was an? Glaub doch das nicht. Es war doch nur der blöde ‚Ruski‘. Den nimmt doch hier sowieso keiner ernst.“
„Aber das geht doch nicht.“ Lara war immer noch empört. „Die können Dich doch nicht einfach ignorieren.“
„Können sie doch“, erwiderte Mikhail. „Zumindest haben sie das bis jetzt hervorragend geschafft. Du bist die Einzige hier in dem Laden, die das nicht tut. Und ich will nicht, daß Du deswegen Ärger kriegst.“
„Aber irgendwas müssen wir doch machen“, widersprach sie.
Er nickte. „Müssen wir auch. Das heißt, Du nicht, aber ich.“ Er grinste sie an. „Ich werde uns nämlich mal einen Tee kochen.“
„Ja, darfst Du denn aufstehen?“ fragte sie ungläubig.
„Darf ich“, beruhigte er sie. „Ich soll mich zwar schonen, aber die ganze Zeit im Bett liegen muß ich nicht.“
Er schlug die Decke zurück und wälzte sich vorsichtig aus dem Bett. Daß er sich ihr dabei in Unterhosen präsentierte, hatte er völlig vergessen. Erst als er im Badezimmer die Teekanne mit Wasser füllte, bemerkte er es im Spiegel. Peinlich sowas! Zum Glück hatte er seine Jeans im Badezimmer liegen lassen, als er sich am Morgen ausgezogen hatte. Schnell streifte er sie wieder über.
Mit rotem Kopf ging er wieder zurück ins Zimmer. „Entschuldige bitte meinen Aufzug“, sagte er und goß verlegen das Wasser aus der Kanne in den Samowar. „Ist mir gar nicht aufgefallen, daß ich nichts anhatte.“
„Stimmt nicht“, sagte sie lachend. „Erstens hattest Du noch was an, und zweitens siehst Du ziemlich gut aus. Macht also gar nichts.“ Sie stand auf. „Wo hast Du denn die Teegläser und Deine ‚Warenije‘?“
„Warenije, das hast Du Dir gemerkt?“
Sie nickte. „Hab ich. Wo ist sie also?“
„Da hinten im Schrank“, antwortete er lachend.
Sie nahm die Sachen heraus und stellte sie auf den kleinen Tisch zwischen den beiden Sesseln.
„Du bist wirklich süß, Lara“, meinte er, als er den fertigen Tee in die Gläser schüttete. „Und ich freue mich unheimlich, daß Du da bist.“
Dann saßen sie da, tranken Tee und schwiegen sich an.
***
In den nächsten Tagen brachte Lara Mikhail das Essen hinauf in sein Turmzimmer. Das Treppensteigen war ihm einfach noch zu beschwerlich mit der frischen Operationsnarbe. Er hatte es versucht, in den Speisesaal zu kommen, aber Lara sah, wie er sich quälte.
„Kommt nicht in die Tüte, daß Du Dich dreimal am Tag hier runterschleppst und dann vor lauter Schmerzen doch nicht richtig essen kannst“, sagte sie. „Ich komm rauf zu Dir und wir essen zusammen bei Dir oben.“
Mikhail fügte sich widerspruchslos. Es wurden lustige Mahlzeiten zu zweit. Beide tauten sie allmählich auf, verloren aber trotzdem nicht ihre Scheu voreinander. Es blieb beim Händchenhalten. Mehr trauten sie sich nicht.
Lara erzählte ihm von ihrer Familie. Oder ihrer gewesenen Familie, besser gesagt. Ihre Eltern waren geschieden. Das war der Grund, warum sie ins Internat gekommen waren. Ihr älterer Bruder war ebenfalls im Internat. Aber in einem anderen, weit weg, in Süddeutschland. Sie verstanden sich nicht besonders gut, deshalb.
Mikhail bedrückte das, als sie es ihm sagte.
„Ich habe meine kleine Schwester sehr geliebt“, sagte er. „Sie war halb so alt wie ich und ein richtiger Wildfang. Aber ganz, ganz lieb. Immer wenn sie was wissen wollte oder wenn sie etwas bedrückt hat, kam sie zu mir. Ich vermisse sie sehr.“
„Aber Du wirst sie doch sicher bald mal wiedersehen“, versuchte Lara ihn zu trösten.
Er schüttelte den Kopf. Tränen schossen ihm in die Augen. „Nein“, sagte er leise. „Ich werde sie nie mehr wiedersehen. Sie ist tot. Wie meine Eltern auch.“
Er fing an zu weinen.
Lara war zutiefst erschüttert. Sie sprang auf, ebenso wie er auch. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, aber er wehrte sie ab. Ging stattdessen zum Fenster, durch das man nach Osten sehen konnte und zeigte hinaus. „Da hinten, ganz weit im Osten, da liegen sie begraben.“
Er schluchzte hemmungslos.
Lara ging zu ihm hin und legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter. Sie sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen, das nicht nicht allzu banal angehört hätte? Also schwieg sie und wartete geduldig, bis er sich langsam wieder beruhigte.
Er sah sie an. „Du hast Deine Familie noch, Lara. Versuche bloß, sie festzuhalten. Auch wenn Deine Eltern sich nicht mehr verstehen. Aber Dein Papa bleibt immer noch Dein Papa, und Deine Mama bleibt Deine Mama. Andere hast Du nicht, und andere kriegst Du auch nicht. Ebenso wie Deinen Bruder. Tu alles, damit Ihr Euch vertragt. Glaub mir, es ist schrecklich, wenn man niemanden mehr hat.“
Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, öffnete eine der Schubladen und nahm seine Klarinette heraus. Er setzte das Instrument zusammen und begann zu spielen. Sie kannte die Melodie von irgendwoher, aber sie wußte sie nicht zuzuordnen.
„Was war das?“ fragte sie, als er geendet hatte.
„Das war Lara’s Theme“, antwortete er. „Aus einem alten Film: Doktor Schiwago.“ Er lächelte sie an. „Sie paßt zu Dir, diese Melodie, denn Du bist Lara, und bei Dir kann sich erfüllen, was das Lied sich wünscht.“
Dann begann er leise zu singen:
“Somewhere my love
There will be songs to sing
Although the snow
Covers the hope of spring
Somewhere a hill
Blossoms in green and gold
And there are dreams
All that your heart can hold
Someday we'll meet again, my love
Someday whenever the spring breaks through
You’ll come to me,
Out of the long ago
Warm as the wind,
Soft as the kiss of snow
Till then my sweet,
think of me now and then.
God speed my love
till you are mine again
Where are the beautiful days?
Where are the sleigh rides to dawn?
Where are the tender moments of splendor?
Where have they gone, where have they gone?
Somewhere my love
There will be songs to sing
Although the snow
Covers the hope of spring
Till then my sweet
Think of me now and then
God speed my love
Till you are mine again
Dann weinten sie beide. Sie standen nebeneinander vor dem Fenster, sahen schweigend hinaus und hielten sich an den Händen. Lange, lange standen sie so da. Als der Tag vergangen war, wußten sie, daß sie sich mehr als nur gern hatten.
***
Am nächsten Tag kam Mikhail wieder zum Unterricht. Lara begrüßte ihn mit einem Kuß auf die Wange. Es war das erste Mal, daß sie das tat. Vor der ganzen Klasse. Sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er ihr sympathisch war und sie sich um ihn kümmerte. Aber nun wollte sie es allen auch zeigen. Mikhail war so überrascht, daß er es einfach zuließ.
Alle ihre Klassenkameraden waren vollkommen verblüfft, baß erstaunt. Niemand sagte etwas. Alle sahen sie mit aufgerissenen Augen und Mündern zu, wie Lara, die hübsche Lara, die garantiert jeden haben konnte, ‚Den Ruski‘ küßte. Ausgerechnet den, und dann auch noch vor der ganzen Klasse. Das gab’s ja wohl gar nicht. Das konnte doch einfach nicht wahr sein!
Selbst Kerstin, die ja schon eine ganze Weile wußte, daß ihrer Freundin ‚Der Ruski‘ nicht gleichgültig war, war davon überrascht.
„Du kannst den doch nicht einfach küssen“, zischte sie, als sie sich auf ihre Plätze setzten.
„Kann ich wohl. Hast Du ja gesehen“, erwiderte Lara schnippisch.
Dann kam der Lehrer herein und begann mit dem Unterricht, so daß Kerstin keine Möglichkeit hatte, den Disput fortzuführen. Ebensowenig beim Mittagessen, denn Lara setzte sich selbstverständlich zu Mikhail, während Kerstin sich zu den Mädchen aus ihrer Klasse gesellte.
Dafür bekam sie danach die geballte Ladung, als sie und Kerstin sich nach dem Essen in ihrem Zimmer trafen.
„Sag mal, Du hast doch wohl auch’n Knall, daß Du Dich so an Mikhail hängst. Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ausgerechnet der!“
Lara stemmte die Fäuste in die Hüften und sah Kerstin angriffslustig an.
„Was heißt hier eigentlich: Ausgerechnet der? Du kennst ihn doch gar nicht. Hast nicht die Spur einer Ahnung, wie der eigentlich ist. Aber mußt Du ja auch nicht. Ich mag ihn jedenfalls. Ich hab ihn sogar richtig gern. Er ist sowas wie mein Freund, und deshalb geb ich mich mit dem ab. Und genau deshalb geh ich auch jetzt rauf zu ihm und mach mit ihm Schularbeiten.“
Sprach’s, nahm ihre Sachen und knallte die Tür hinter sich zu.
Kerstin blieb erstaunt zurück. So energisch kannte sie ihre sonst so sanfte Freundin gar nicht. Anscheinend war doch was dran, an ‚Dem Ruski‘. Das würde sie jetzt rauskriegen.
Entschlossen machte sie sich auf den Weg zum Turmzimmer. Ohne anzuklopfen ging sie hinein. Sie war ziemlich verblüfft, als sie die Beiden sah. Sie saßen nebeneinander am Schreibtisch und steckten die Köpfe über einem Schulbuch zusammen. Aber das war es nicht, was sie so verblüffte. Es war vielmehr Mikhails Aufzug, mit dem sie gar nicht gerechnet und den anfangs auch Lara so verblüfft hatte.
Nie und nimmer hätte sie gedacht, daß der sich sowas anziehen würde. Sie starrte ihn an wie eine Erscheinung.
„Kerstin, das ist mal ‘ne Überraschung“, begrüßte er sie, freundlich lächelnd. „Mit Dir hab ich ja gar nicht gerechnet. Was treibt Dich denn hier rauf?“
Mit Mühe gelang es Kerstin, sich von seinem Anblick loszureißen. Sie sah sich in dem Zimmer um, das sie jetzt zum ersten Mal betreten hatte.
„Gemütlich hast Du’s hier“, stellte sie fest, statt auf seine Frage einzugehen. „Hätt ich gar nicht gedacht.“
„Ich auch nicht, als ich im Sommer hier eingezogen bin“, stimmte er zu. „Das einzige was fehlt, ist ein Fahrstuhl.“ Er wies auf einen der Sessel. „Setz Dich doch. Willst Du was trinken? Ich habe eben Tee gemacht für Lara und mich. Wir brüten gerade über den Mathehausaufgaben, da tut so ein Tee ganz gut.“
„Als ob Du damit Schwierigkeiten hättest“, meinte Kerstin lapidar und setzte sich.
Mikhail ging zu Lara an den Schreibtisch und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Komm, Lara, machen wir eine Pause und setzen uns dazu.“
Lara nahm in dem zweiten Sessel Platz. Mikhail schenkte den Tee ein, holte sich einen Stuhl und setzte sich zu den beiden Mädchen.
„Na, was sagst Du?“ fragte Lara ihre Freundin.
„Was soll ich sagen?“ antwortete Kerstin. „Gemütlich ist das hier. Hab ich ja schon gesagt. Und Ihr seid hier echt am Arbeiten? Das glaub ich ja nicht.“
„Und was hast Du geglaubt, was wir hier machen?“ fragte Lara zurück.
„Na ja…“, machte Kerstin verlegen und bekam einen roten Kopf.
Mikhail lachte.
„Hast Du gedacht, Du erwischst uns in einer verfänglichen Situation, oder warum bist Du hier so reingeplatzt?“ fragte Lara weiter.
Mikhail nahm ihre Hand. „Jetzt laß doch, Lara. Es ist doch schön, daß Kerstin hier heraufgekommen ist. Ich freue mich, wenn ich Besuch kriege. Außer Dir hat das ja bis jetzt noch keiner gemacht.“
„Eben. Und weil ich das jetzt mache, muß natürlich auch gleich jemand nachgucken, was da so abgeht.“ Lara war ziemlich wütend auf ihre Freundin. Sie fühlte sich von ihr kontrolliert. „Weil, das geht ja gar nicht, daß sich einer mit ‚Dem Ruski‘ abgibt. Da stimmt doch was nicht.“
Kerstin sprang auf. „Wenn ich Euch störe, kann ich ja auch wieder gehen.“
Mikhail hielt sie am Handgelenk fest. „Du störst uns nicht, sonst hätten wir Dir wohl kaum einen Tee angeboten. Also setz Dich wieder hin.“ Mit sanfter Gewalt zog er sie in den Sessel zurück. Dann sah er zwischen den beiden Mädchen hin und her. „Und bitte, bitte, streitet Euch nicht. Nicht meinetwegen. Das mag ich nicht.“
Wenig später saßen sie um Mikhails Schreibtisch herum und arbeiteten. Es war ein bißchen eng zu dritt an nur einem Tisch, aber es ging. Es ging sogar ziemlich gut, denn Mikhail hatte eine Art, Sachen zu erklären, die den beiden Mädchen das Verständnis leicht machten. Als sie ihre Schularbeiten erledigt hatten, gab Kerstin das auch unumwunden zu.
„Also, mir Dir kann die Sache ja sogar richtig Spaß machen“, sagte sie.
„Freut mich, wenn Du das hilfreich fandest“, antwortete Mikhail. Er lächelte Lara an und nahm ihre Hand. „Lara meint das anscheinend auch seit einer Weile.“
Lara lächelte ihn an. „Aber nicht nur das Lernen macht Spaß mit Dir.“
„Ach ja, was denn sonst noch?“ fragte Kerstin ironisch.
„Alles“, antwortete Lara unbestimmt. „Er ist eben ein guter Typ. Auch wenn’s sonst keiner wahrhaben will.“
„Zumindest sieht er echt abgefahren aus, wenn ich mir seine Klamotten so anseh. Kann man gar nicht glauben, so wie er sonst rumläuft“, gab Kerstin zu.
Mikhail grinste und stand auf. „Ich glaube, ich geh mal rüber, noch einen Tee kochen. Ihr könnt ja derweil ruhig weiter über mich reden.“
„Was machst Du eigentlich die ganze Zeit, wenn Du Dich hier oben in Deiner Kammer vergräbst?“ fragte Kerstin, als sie wieder um den kleinen Tisch herumsaßen und Tee tranken.
„Ich sitze am Computer“, antwortete Mikhail.
„Ist das nicht auf die Dauer ’n bißchen langweilig? Immer nur daddeln und surfen?“
Mikhail schüttelte den Kopf. „Tu ich ja gar nicht. Ich schreibe Programme. Unter anderem auch welche, mit denen man daddeln oder surfen kann.“
„Und das macht Spaß?“ Kerstin war nicht überzeugt.
„Mir schon. Und Geld gibt es auch noch dafür. Und gar nicht mal wenig. Netzwerke aufrüsten tu ich auch. Zum Beispiel das hier im Internat. Das war so marode, daß sich jeder hier reinhacken konnte wie es ihm gerade gepaßt hat. Ich habe das mal in Ordnung gebracht. Aber dafür hat es kein Geld gegeben. Weil es nämlich gar keiner gemerkt hat.“ Er kicherte leise. „Nur gewundert haben sich einige. Weil das System nicht mehr so oft zusammengekracht ist. Eigentlich überhaupt nicht mehr, nachdem ich es aufgemöbelt hatte.“
„Und warum hast Du das niemandem gesagt?“
Mikhail winkte ab. „Denkst Du vielleicht, die hätten mir dafür ‘n Auftrag gegeben? Nie im Leben. Doch nicht ‚Dem Ruski‘! Wenn überhaupt, hätten sie es irgend eine Firma machen lassen und dann auch noch kräftig dafür bezahlt. Und das fand ich nicht nötig. Abgesehen davon, mit wem hätte ich wohl darüber reden sollen? Außerhalb des Unterrichts bin ich doch sowas wie schlechte Luft für alle. Also habe ich es einfach so gemacht. Ich fand es witzig.“ Er kicherte leise. „Vor allem weiß ich jetzt über sämtliche Beurteilungen Bescheid. Und was in den Klassenarbeiten drankommt. Manchmal sogar mitsamt den Aufgaben. Die Lehrer sind ja unheimlich leichtsinnig. Wenn überhaupt, dann hatten sie ihren Kram mit Paßwörtern geschützt, die ich in nicht mal anderthalb Stunden raushatte. Und zwar alle. Am längsten dabei hat es gedauert, eine Routine zu schreiben, die die Paßwörter abfragt. Hat mich eine gute Stunde gekostet. Der Rest war dann Spielerei.“
„Sowas hast Du gemacht?“
„Na klar. War doch ganz einfach.“ Mikhail zuckte mit den Schultern.
„Kein Wunder, daß Du immer so gute Noten schreibst. Wenn Du die Aufgaben schon vorher kennst.“
Er schüttelte energisch den Kopf. „Nee, Du, deswegen bestimmt nicht. Was die da in Mathe und Physik und so fragen, find ich nicht besonders schwer. Da ist es mir ziemlich egal, ob ich die Aufgaben vorher weiß oder nicht. Und in den anderen Fächern, wenn Du in Deutsch einen Aufsatz schreiben mußt, dann mußt Du den eben schreiben. Ob Du das Thema jetzt zwei Tage vorher kennst oder nicht. Was macht das für einen Unterschied? Nein, Prüfungen ausspionieren finde ich echt langweilig. Viel interessanter sind die E-Mail Accounts von den Lehrern.“
„Die kannst Du auch lesen?“
„Ja sicher kann ich die lesen. Ich sag Dir doch, ich bin an alles herangekommen, was die auf ihrem Server haben.“
„Und was machst Du damit?“
„Na, gar nichts. Ich werde mich schwer hüten. Aber ich könnte natürlich alles mögliche machen. E-Mails löschen, zum Beispiel. Oder neue kreieren, die der Absender nie geschrieben hat. Oder welche verändern, daß genau das Gegenteil von dem drinsteht, was derjenige ursprünglich geschrieben hat und lauter solche Sachen. Aber sowas mache ich nicht. Das ist ja kriminell.“
„Aber wenn Du wolltest, könntest Du jedem beliebigen so richtig eine reindrehen?“
„Könnte ich. Tue ich aber nicht. Warum auch? Mir tut ja keiner was, daß ich mich irgendwie rächen müßte.“
„Na, ich weiß nicht“, warf Lara jetzt ein, die dem Dialog zwischen Kerstin und Mikhail bis dahin stumm gefolgt war. „So schäbig wie sie Dich bisher behandelt haben. Also, ich glaub, wenn ich so’ne Möglichkeit hätte, mich zu revanchieren, ich hätt’s getan.“
„Aber ich glaube das nicht“, widersprach Mikhail. „Was hättest Du denn machen wollen? Gefälschte E-Mails verschicken, so mit gefakten, peinlichen Bildern im Anhang, oder ihm Kinderpornos auf die Festplatte spielen und ihn dann hochgehen lassen oder sowas? Sowas würdest Du nie machen, dafür halte ich Dich einfach nicht.“ Er griff nach ihrer Hand. „Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß Du jemanden so richtig kaputtmachen könntest. Und das würdest Du. Stell Dir nur mal vor, Du würdest das bei einem Lehrer tun, den Du nicht ausstehen kannst, weil er Dich immer nur nierdermacht, und man würde zum Beispiel Kinderpornos auf seinem Rechner finden. Der wär doch für den Rest seines Lebens glatt ruiniert. Job los, wahrscheinlich Familie weg und in den Knast würde er auch noch kommen. Für Sachen, die er gar nicht gemacht hat. Nur, das soll er mal beweisen! Nein, nein, Du, nicht mit mir. Und Du brächtest das auch nicht. Nicht, wie ich Dich kenne.“ Er lächelte sie an. „Und nur, weil sie mich alle links liegen lassen, schon gar nicht. Das ist ja wohl Pipikram gegenüber dem, was man da anrichten könnte.“
Die beiden Mädchen hatten ihm mit wachsendem Erstaunen zugehört.
„Dann kannst Du ja ‘ne ganze Menge“, sagte Kerstin ehrfürchtig.
Aber Mikhail winkte ab. „Quatsch. Was ich kann, können viele. Nur kaum einer macht es auch tatsächlich. Die allermeisten sind ja anständig.“
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nur eins ist mal klar. Ihr solltet verdammt vorsichtig sein mit dem, was Ihr auf Euren Laptops habt. Allemal, wenn sie an irgend einem Netz hängen. Meistens ist es nicht besonders schwer, da hineinzukommen.“
„Und wie ist das bei Dir?“ fragte Kerstin.
„Du meinst, ob sich bei mir jemand reinhacken kann?“ Er wiegte den Kopf hin und her. „Also absolut ausschließen kann ich es nicht. Aber wenn es einer versucht, wird er es nicht leicht haben. Die, die es bis jetzt probiert haben, haben es jedenfalls nicht geschafft.“
„Hat’s denn schonmal einer probiert?“
„Einer? Eine ganze Menge Leute haben das schon versucht. Es wäre ja auch einiges zu holen bei mir. Aber geklappt hat es eben noch nie. Allerdings weiß ich, daß sie es probiert haben. Weil ich meine Firewalls so programmiert habe, daß sie die Versuche registrieren.“
„Und Du, hast Du’s auch schonmal bei anderen gemacht?“
Er nickte. „Hab ich. So kann man rauskriegen, was bei anderen nicht funktioniert und es dann besser machen. Aber das ist riskant. Wenn man erwischt wird, kann das ziemlich übel ausgehen.“
„Aber Du bist noch nicht erwischt worden?“
Er schüttelte lachend den Kopf. „Nein. Bis jetzt noch nicht. Bis jetzt war ich immer besser als die anderen.“
„Du bist’n echter Freak, was?“
„Sehe ich aus wie ein Freak?“
„Nee, eben nicht. Das ist ja das Unheimliche“, sagte Kerstin.
***
„Mein lieber Scholli, da hast Du Dir aber einen angelacht“, sagte Kerstin am Abend zu Lara, als sie sich beide auszogen, um ins Bett zu gehen. „Der hat’s ja faustdick hinter den Ohren. Da kann man ja richtig Angst kriegen.“
„Könnte man“, gab Lara zu. „Krieg ich aber nicht, weil er zu mir immer ziemlich lieb ist. Hast Du ja selbst gesehen, heut Nachmittag.“
Kerstin nickte. „Hab ich. Und ich muß echt Abbitte leisten. Er ist wirklich nett. Und irgendwie cool ist er auch. Die Klamotten, die er heut Nachmittag anhatte, waren ja wohl der Hammer.“
„So läuft er immer rum, wenn er da oben allein ist, hat er mir gesagt. Also, meistens jedenfalls.“
„Aber er hat immer was an?“ fragte Kerstin neugierig.
„Bis jetzt hab ich ihn noch nicht ohne was gesehen“, antwortete Lara bestimmt. „Soweit sind wir ganz bestimmt noch lange nicht.“
„Aber zusammen seid Ihr schon?“
Lara zog die Schultern hoch. „Irgendwie wohl schon. Aber sicher bin ich mir nicht. Ich weiß nur, daß er immer ganz lieb zu mir ist. Aber mehr als Küßchen geben hat er bis jetzt noch nicht gemacht. Er ist unheimlich vorsichtig, irgendwie.“
„Dürfte er denn?“
Lara zog es vor, auf diese Frage nicht zu antworten. Stattdessen wandte sie sich ab und streifte ihr Nachthemd über.
Kerstin grinste. Natürlich dürfte er, dachte sie. So wie Du den anhimmelst. Würd mir ja genauso gehen.